Neue Memoiren einer Mistgabel 2 -  - E-Book

Neue Memoiren einer Mistgabel 2 E-Book

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Beschreibung

"Das Land hat Perspektiven. Wenn man sie erkennt, kann man das Land riechen und bedingungslos lieben." Mit dem zweiten Band von Kurzgeschichten zwischen Ackerbau und Viehzucht ist wiederum eine wunderbare Auslese gelungen, die pures Lesevergnügen garantiert. Lustige, aber auch tragische Episoden geben tiefe Einblicke in die Vielfalt des "harten, aber ehrlichen Lebens" auf dem Lande. Sie erzählen von glücklichen Erinnerungen, von gelebter Tradition auf den Höfen wie auch von den Zwängen und Härten des wirtschaftlichen Überlebens für die Menschen, für die die Landwirtschaft die Existenz bedeutet. Eine Hommage an das Leben auf dem Land: liebevoll erzählt, kurzweilig und lehrreich zugleich.

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Neue Memoiren einer Mistgabel

vierundzwanzig Kurzgeschichten von Freiheit und Verwurzelung

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Die Autoren

Impressum

Vorwort

„Die Enten werden gelber“, so lautet die Überschrift des Jugendnatur- reports, der regelmäßig von der Universität Marburg erstellt wird. Die Verfasser stellen darin fest, dass von Studie zu Studie immer mehr Kinder auf die Frage nach der Farbe von Enten mit „Gelb“ antworten.

Während das Bewusstsein für die Umwelt und ihre Probleme wächst, nimmt das Sein in der Natur und damit die Kenntnis elementarer Zusammenhänge immer mehr ab.

Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Vorstellungen vom Leben derjenigen, die in dieser Natur arbeiten und sie nutzen: die Bäuerinnen und Bauern. Immer seltener haben Menschen die Möglichkeit, die Leistungen der Landwirtschaft direkt zu erleben, sie im Wortsinne zu erfassen. Sie sind vielmehr darauf angewiesen, dass ihnen Fakten in Wort und Bild vermittelt werden.

Und auch die Landwirtschaft ist darauf angewiesen. Wie jede andere Berufsgruppe benötigt sie die Akzeptanz der Verbraucher, muss sie deren Wünsche kennen und sich daran orientieren.

Um die Kommunikation zwischen Stadt und Land zu fördern, wurde vor über 40 Jahren der Verein information.medien.agrar – die i.m.a – gegründet. Sie wird getragen von Persönlichkeiten und Organisationen der gesamten Agrar- und Ernährungswirtschaft.

Gemeinsam mit dem deutschen Bauernverband hat die i.m.a nun Autorinnen und Autoren aus ganz Deutschland gebeten, Kurzgeschichten rund um die Landwirtschaft zu verfassen und so insbesondere Jugendlichen einen Einblick in das Leben auf dem Lande zu geben.

Der Landwirtschaftsverlag Münster-Hiltrup hat die eingereichten Geschichten gesichtet und im vorliegenden Band eine Auswahl zusammengestellt. Die i.m.a bedankt sich für die damit geleistete Unterstützung ihrer Arbeit und wünscht allen Leserinnen und Lesern dieses Buches eine vergnügliche wie auch Erkenntnis und Verständnis fördernde Lektüre.

Hermann Bimberg

information.medien.agrar e.V.

NEU-LAND für Jana

Dr. Sylvia Eggert

Die Farben auf dem Land sind anders. Das Gelb wiegt sich, das Blau fliegt dahin, und das Grün duftet. Und das Rot – das glüht, morgens manchmal und abends hin und wieder. So wie heute. Aber Jana hatte das Besondere an den Farben auf dem Lande noch nicht bemerkt, obwohl sie seit sechs Wochen dort wohnte. Sie nahm auch jetzt die Farbe der Abendsonne nicht wahr, die warmen Strahlen in ihrem Glutrot. In Jana war es einfach nur wutrot. Seit sechs Wochen, seit Beginn der Sommerferien. Da hatten ihre Eltern sie mit in das winzige Häuschen auf dem Lande genommen, das sie gekauft hatten – ohne ihre Tochter zu fragen. Die Möbelträger hatten einen Tag vor der Zeugnisausgabe die Sachen aus der Stadtwohnung hierher verschleppt. Jana hatte protestiert und geschimpft und geweint. Sie wollte nicht weg, nicht fort aus der Stadt, nicht weg von ihrer Klasse und vor allem nicht weg von ihrer Freundin Lara. Aber es half alles nichts. Die Eltern hatten es nur gut gemeint. Jana sollte in der Natur aufwachsen und die frische Landluft atmen können. Von wegen. Seit Beginn der Sommerferien, seit sechs Wochen, hockte das Mädchen in seinem Zimmer. Jana wollte nichts und niemanden sehen. Sie hatte mit der Wut zu kämpfen, die sich wie ein Ballon in ihr ausgebreitet hatte und sie so ausfüllte, dass sie manchmal meinte, gleich zerspringen zu müssen. Sie hatte die meiste Zeit auf ihrem Bett gelegen – für den Fall, dass er wirklich geschehen würde – der große Knall. Aber er blieb aus. Und so hatte sie Zeit genug, ihr neues Zimmer zu studieren: die buckligen, schiefen Wände mit den winzigen Öffnungen darin, die sich Fenster nannten, die krummen Balken, die sich bogen, als hätte von den früheren Hausbewohnern jemand schrecklich gelogen, und den Putz, der wie eine picklige weiß-blasse Haut das ganze Zimmer einhüllte.

Sie hasste dieses neue alte Zimmer, genau wie sie das ganze neue alte Haus hasste, auf das die Eltern so stolz waren. Wie waren sie nur auf die Idee gekommen, dass sich Jana hier wohl fühlen konnte? Sie, die ihr ganzes bisheriges Leben in der Großstadt verbracht hatte.

Es ging ihr schlecht in diesem Dorf, in dem wahrscheinlich mehr Tiere als Menschen lebten. „Kuhkaff“, so hatte sie Neuendorf insgeheim getauft, denn manchmal hörte sie irgendwo in der Nähe das Muhen der Kühe. Obwohl Jana nicht ein einziges Mal durch das Dorf gegangen war, meinte sie genau zu wissen, wie es da zuging. Sie hatte sich in der Fantasie ihr Bild von dem Ort gemalt: öde Felder, auf denen Traktoren lärmten, dazwischen die Dorfstraße, an der alte windschiefe Häuser standen, Hühner, die um die Wette gackerten mit tratschenden Bäuerinnen in Schürze und Gummistiefeln. Dazu der Geruch nach ewiger Arbeit. Und nach Kühen und Schweinen. An die Kinder wagte sie kaum zu denken. Sie stellte sie sich verdreckt in abgewetzten Klamotten vor, kleine kauzige Hinterwäldler, die noch nie was von Computern, DVD- oder MP3-Playern gehört hatten.

Apropos Kinder. Morgen würde sie das erste Mal ihre neuen Mitschüler sehen. Bei dem Gedanken daran machte sich wieder der prall gefüllte Luftballon in ihrem Bauch bemerkbar. Nur dass irgendjemand die Wut darin gegen Angst ausgetauscht hatte. Jana schaute Hilfe suchend zu Jack. Sein Poster hatte sie aus der Stadtwohnung gerettet und wieder über ihrem Bett angebracht – hier in dem neuen alten Zimmer. Jack ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Er war ein mutiger Pirat, der scheinbar nie Schiss hatte. Jana wusste, dass man solche Wörter eigentlich nicht sagt. Aber Angst, die so groß ist, ist nun mal Schiss.

Das Mädchen wünschte sich, genau so unerschrocken zu sein wie Captain Jack Sparrow. Aber sowie sie an morgen dachte, rutschte ihr das Herz in die Hose. Sie rollte sich in ihre Bettdecke wie in einen Kokon und träumte, sie könnte sich in einen Schmetterling verwandeln und einfach davonfliegen, zurück nach Hause – in die Stadt oder hinaus aufs Meer, um mit Jack und seinen Leuten davonzusegeln bis ans Ende der Welt. Langsam verwandelten sich Janas Tagträume in Nachtträume, und schließlich schlief sie tief ein.

Am nächsten Morgen war Nachbars Hahn schneller als der Wecker. „Mistflitzer!“, fluchte Jana. Nach dem Waschen hatte sie noch Zeit, denn das Frühstück bestreikte sie. Sie würde sowieso nichts herunterbekommen. Der Angstballon saß noch immer dort, wo eigentlich ihr Magen hingehörte. So warf sie einen letzten Blick auf Jack, der ihr zuzuzwinkern schien. Dann schnappte sie den Schulrucksack und machte sich auf den Weg zum Schulbus – immer geradeaus die Dorfstraße entlang.

Jana war überrascht von dem Geruch, der ihr entgegenschlug. Es stank weder nach Kühen noch nach Schweinen. Es roch frisch und reif. Außerdem schien Jana eine Sonne entgegen, wie sie noch nie zuvor eine Sonne gesehen hatte – so groß und rund. Jana staunte, wie sich deren Licht in den reifen Feldern gebärdete. Es war, als male es das Gelb zu Gold. Fast glaubte sie, irgendwo zwischen den Halmen das Rumpelstilzchen mit seinem Spinnrad sitzen zu sehen. Sie blinzelte und fuhr zusammen, als plötzlich eine freundliche Mädchenstimme hinter ihr fragte: „Na, du bist wohl die Neue?“

„Hm“, antwortete Jana tonlos und lief stumm weiter, während das Mädchen zu ihr aufschloss.

„Wir gehen zusammen in eine Klasse“, sagte die Fremde.

„Aha“, brummte Jana – ohne aufzusehen.

„Du bist bestimmt mächtig aufgeregt, weil alles so neu ist, stimmt’s? Ich möchte heute nicht in deiner Haut stecken …“

Die Stimme des Mädchens klang so mitfühlend, dass Jana die Fremde nun doch verstohlen von der Seite betrachtete. Sie sah freundliche Augen und ein sommersprossiges Gesicht. Irgendwie erinnerte dieses Gesicht Jana an das ihrer Freundin Lara.

„Ich heiße übrigens Mara.“

Jana stutzte. Sie holte tief Luft: „Ich bin Jana.“

„Schöner Name. Jana und Mara. Das reimt sich …“

„Fast.“

Dann schwiegen die beiden wieder. Die Getreidehalme flüsterten in die Stille, die Jana und Mara begleitete. Bis der Schulbus sie verschluckte. Jana setzte sich neben Mara. Sie durfte am Fenster sitzen. Zuerst betrachtete Jana ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe, dann das von Mara, und schließlich schaute sie hinaus. Sie sah viele schmucke Häuschen, dazwischen bunte Gärten. Und ab und zu auch Hühner, Kühe und Pferde. Tratschende Bäuerinnen in Schürze und Gummistiefeln entdeckte sie nur einmal – zwei Omis, die fröhlich lächelnd den Kindern im Schulbus zuwinkten. Zuletzt zog freie hügelige Landschaft draußen vorüber, die sich im Morgenlicht genau so zu recken und zu strecken schien wie die Kinder im Bus.

In dem kleinen Dorf Lerna spuckte der Schulbus die lärmende Kinderschar aus. Jana folgte Mara zum Schulgebäude. Das sollte die Schule sein? Im Vergleich zu ihrer früheren Großstadtneubauschule sah das hier aus wie ein winziges Zwergenhäuschen. Auch das Klassenzimmer war klein, grüßte freundlich und gemütlich die plappernden Kinder, die sich nach den Ferien viel zu erzählen hatten. Als Jana hereinkam, trat Stille ein. Alle starrten die Neue an – neugierig, nicht unfreundlich.

Trotzdem dachte Jana: Mensch, glotz nicht so! Und sie merkte, wie der Angstballon im Bauch größer wurde. Als sich die Kinder einen Moment später wieder ihren Gesprächspartnern zuwandten und das fröhliche Geschnatter fortgesetzt wurde, atmete Jana auf.

Während sie noch unschlüssig herumstand und nicht wusste, wohin sie sich setzen sollte, zählte sie die Stühle, die in einem Halbkreis aufgestellt waren. Sechzehn Sitzplätze. Also doch so etwas wie ein Zwergenhaus. In ihrer alten Klasse waren 29 Kinder gewesen.

„Wofür ist der denn?“, fragte sie Mara und zeigte auf einen großen Teppich, der in der Mitte des Klassenzimmers lag.

„Das ist der Erzählteppich“, erklärte Mara, die noch immer bei Jana stand. „Dort treffen wir uns im Morgenkreis.“

Jana kam nicht mehr dazu zu fragen, was es damit auf sich habe, denn jetzt betrat die Lehrerin das Klassenzimmer. Aber sie hatte gerade noch Zeit genug für den Gedanken, dass dies ein fliegender Teppich sein müsste. Dann könnte sie jederzeit verschwinden … zurück in die Stadt oder zu Jack Sparrow. Der würde sie beschützen.

Mit dem Eintreten der Lehrerin verebbte das Schwatzen der Kinder.

„Möchtest du neben Mara sitzen?“, fragte Frau Munter und reichte Jana die Hand.

Jana nickte nur.

Da strich ihr die Lehrerin sanft über den Kopf. „Es wird sicher ein bisschen dauern, bis du dich bei uns eingewöhnt hast. Aber wir werden uns Mühe geben, dir dabei zu helfen, stimmt’s?“

Der Halbkreis ihrer neuen Mitschüler nickte.

„Wie die Hühner auf der Stange“, musste Jana in sich hineinschmunzeln. Sie schluckte, als sie die Runde der Kinder betrachtete, die sie so aufmunternd anschauten. Von wegen kleine schmutzige Hinterwäldler …

Am Ende des Unterrichtstages war Jana voller Eindrücke. Alles war noch neu. Aber eins hatte sie schon bemerkt. Die Dorfkinder waren nicht viel anders als ihre alten Schulkameraden aus der Stadt. Hier wie dort gab es Nette und Grummelige, Dünne und Pummelige, Große und Kleine, Stille und Wilde. Als Jana am Mittag mit dem Bus zurück nach Neuendorf fuhr, saß Mara wieder neben ihr. Jana durfte wieder den begehrten Fensterplatz haben. Wie am Morgen betrachtete Jana zuerst ihr Spiegelbild in der Scheibe, dann Maras, und schließlich schaute sie hinaus.

Und da sah sie zum ersten Mal, dass die Farben auf dem Land andere waren. Das Gelb wiegte sich, das Blau flog dahin, und das Grün duftete – nach Hoffnung. Vielleicht würde das alles hier ja doch irgendwann einmal ihr Zuhause.

Irgendwann.

Später.

Das Gewitter

Heidelore Kluge

Man gut, dass Marie Kahlenberg ihren Schwiegervater bei sich wohnen hat. Ist ja so schon schwer genug für eine Witwe, die Wirtschaft zu führen, aber wenn dann noch zwei Kinder da sind … Aber der alte Kahlenberg ist ja noch mächtig kregel und rührig, so dass auf dem Hof alles wie am Schnürchen läuft.

An dem Tag, von dem ich jetzt erzählen will, war der Alte mit Marie und dem zehnjährigen Olaf, der so ein richtiger Stoppelhopser ist, schon früh losgefahren, um noch rechtzeitig das Heu von der Waldwiese hereinzubringen. Es war nämlich schon am frühen Morgen so schwül gewesen, dass man wohl mit einem kräftigen Gewitter rechnen musste. Bloß Annemie war zu Hause geblieben, weil Marita, die wertvolle Herdbuchsau, die sie von Bürgermeister Hasenpoot gekauft hatten, sich diesmal beim Ferkeln besonders schwertat. Schon am Abend vorher hatten die Wehen angefangen, aber bis jetzt war noch nichts weiter passiert.

Die Annemie war nun eine ganz besondere Deern. Vielleicht lag das daran, dass sie ohne Vater aufwuchs. Na, jedenfalls war sie der Meinung, dass sie eines Tages eine ganz berühmte Dichterin sein würde. Und weil sie nichts weiter zu tun hatte, als ab und zu mal in den Schweinestall zu gucken, holte sie ihr dickes schwarzes Heft vor und fing an, Gedichte zu schreiben. „Wenn der Donner in der Ferne grollt, erbleicht im Schloss das Mädchen hold …“, sinnierte sie vor sich hin, und schon flitzte ihr Bleistift über das Papier. Da flusterte mit eins ein mächtiger Windstoß durch die Bäume. Annemie sprang auf und horchte. Ganz in der Ferne war schon das Schnaufen und Keuchen des alten Treckers zu hören, der dem abgelegenen Gehöft allmählich näher kam. War aber auch höchste Zeit, denn der Himmel war schon ganz duster geworden, und jetzt fielen auch schon die ersten Regentropfen. Und kaum hatte der alte Kahlenberg den Trecker mit zwei schwer beladenen Anhängern in die Scheune gefahren, da brach das Unwetter auch schon mit aller Macht los.

„Nichts Neues bei Marita“, meldete Annemie, als die Familie dann in der großen Küche beim Kaffee saß. „Schlürf nicht so“, ranzte der alte Kahlenberg Olaf an. Er hielt viel von guten Manieren, aber Olaf hatte sich gerade vorgestellt, seine Kakaotasse wäre die Südsee und er selbst ein Unterseeboot. Aber gerade in dem Moment wurde die halbdunkle Küche von einem Blitz taghell erleuchtet, und gleich darauf folgte ein gewaltiger Donnerschlag. Marie Kahlenberg fing richtig zu bibbern an, sie graulte sich immer schrecklich bei Gewittern. Annemie wollte die Mutter ablenken, und so erzählte sie: „Im Radio haben die vorhin gesagt, dass ein Bankräuber ausgebrochen ist.“ Aber Marie Kahlenberg bibberte nur noch mehr. Bloß Olaf interessierte sich für den Ausbrecher. Er war ganz zapplig vor lauter Aufregung.

„Erzähl mal“, forderte er seine Schwester auf.

„Er ist einsachtzig groß und dunkelhaarig. Keine besonderen Kennzeichen“, teilte seine Schwester ihm mit.

„Peng, peng“, machte Olaf. Er hatte sich inzwischen von einem Unterseeboot in einen Bankräuber verwandelt.

Zwischen zwei Donnerschlägen hörte man es an der Haustür klopfen. Wer mochte denn bei diesem Unwetter noch unterwegs sein? Olaf lief zur Tür und brachte gleich darauf einen triefend nassen jungen Mann mit in die Küche.

„Tag auch“, sagte der Mann. „Das Unwetter hat mich überrascht. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich bei Ihnen warte, bis es vorbei ist?“ Keiner sagte was, und so setzte sich der Mann einfach auf einen freien Stuhl.

Schließlich schob Marie Kahlenberg ihm eine Tasse hin. „Mögen Sie vielleicht einen Kaffee?“

„Danke, gern“, sagte der junge Mann. Er war groß und dunkelhaarig.

„Keine besonderen Kennzeichen“, flüsterte Olaf seiner Schwester aufgeregt ins Ohr.

„Es sollte mal einer nach der Sau gucken“, knurrte der alte Kahlenberg und versuchte, alle Familienmitglieder gleichzeitig anzugucken. Aber die saßen wie die Ölgötzen und rührten sich nicht. So stand er denn schnaufend auf und stiefelte aus der Küche. Da sprang Marie auf. „Warte, ich komm besser mit!“ Im dunklen Flur sah sie, wie ihr Schwiegervater in einer Ecke herumhantierte.

„Was machst du denn da?“, flüsterte sie.

„Ich lade das Gewehr, für alle Fälle“, sagte der Alte grimmig. „Und du solltest besser das Silber verstecken.“

Marie plinkerte erschreckt mit den Augen. „Meinst du denn …?“

„Kann man ja nie wissen“, sagte ihr Schwiegervater. „Und jetzt guck ich mal nach der Marita.“

In der Küche trank der junge Mann inzwischen ganz gemütlich seinen Kaffee. Jedes Mal, wenn er Annemie ansah, wurde diese ganz rot. Schließlich stand sie auf und drückte sich aus der Küche. Olaf rückte näher an den jungen Mann heran.

„Toll, wie Sie das geschafft haben“, flüsterte er.

„Was meinst du denn?“ Der Mann guckte ihn an, als wüsste er von gar nichts.

„Lassen Sie man“, winkte Olaf ab. „Ist doch klar, dass Sie da nicht drüber reden wollen. Aber ich verrate Sie bestimmt nicht. Großes Ehrenwort!“

Der junge Mann sah ziemlich verbiestert aus. Aber Olaf bohrte schon weiter. „Kann ich vielleicht etwas für Sie tun?“

Jetzt nickte der Mann. „Vielleicht könntest du mir ein Handtuch geben?“

Olaf schoss sofort zum Herd und kam mit drei Geschirrhandtüchern zurück.

„Wollen Sie damit eine Wunde verbinden?“, fragte er und guckte den unerwarteten Gast hoffnungsvoll an.

Aber der Mann wollte sich bloß abtrocknen.

Es dauerte eine Weile, bis Marie und der alte Kahlenberg in die Küche zurückkamen.

„Na also! Drei Stück sind schon da!“, verkündete der Alte. Olaf zuckte zusammen.

„Drei Polizisten?“, fragte er erschrocken.

Sein Großvater sah ihn kopfschüttelnd an. „Quatsch, Ferkel!“

„Wo ist denn Annemie?“, fragte Marie Kahlenberg jetzt. „Olaf, warst du die ganze Zeit alleine hier? Du meine Güte …“

Sie setzte sich aufjappend an den Tisch und guckte ängstlich den jungen Mann an, der noch immer vergeblich versuchte, sich mit den inzwischen ebenfalls nassen Geschirrhandtüchern trockenzureiben.

Annemie kam in die Küche zurück und setzte sich ans Fenster, ganz vertieft in ein Blatt Papier, das wohl aus ihrem dicken schwarzen Heft stammte. „Komm vom Fenster weg“, sagte der alte Kahlenberg.

„Das Gewitter zieht ja schon ab“, murmelte Annemie und wurde schon wieder rot, weil der junge Mann sie anguckte. Aber tatsächlich hörte man den Donner jetzt nur noch in der Ferne, und auch der Regen hatte nachgelassen.

„Dann kann ich ja gehen“, sagte der Mann und stand auf. Keiner widersprach ihm. Olaf verschwand eilig aus der Küche.

„Ich bringe Sie noch raus“, stotterte Marie und machte ein ängstliches Gesicht.

Im Flur drückte Annemie dem Fremden einen Zettel in die Hand.

„Was ist das?“, fragte er.

Aber da war Annemie schon verschwunden. Der junge Mann faltete kopfschüttelnd das Papier auseinander.

„Auf der Flucht bei Gewitter, das ist bitter“, entzifferte er. „In Liebe entbrennt die Maid, denn der Fliehende tut ihr leid …“

„Oje, oje.“ Mit eiligen Schritten ging der junge Mann zur Haustür. Aber da wurde er von Olaf aufgehalten.

„Ich hab was für Sie“, nuschelte der Junge. „Können Sie sicher gut gebrauchen.“

„Was ist denn das nun wieder?“, fragte der junge Mann und beguckte sich das Sammelsurium, das ihm Olafs braungebrannte Pfoten entgegenstreckten.

„Eine Karte von Brasilien. Hab ich aus dem Schulatlas rausgerissen“, erklärte Olaf. „Dann zwei Kaugummis, mein restliches Taschengeld – leider nur noch dreiundfünfzig Cent –, ein Taschenmesser und mein Katapult.“

„Und was soll ich damit anfangen?“, fragte der junge Mann.

„Na, Sie konnten doch nichts mitnehmen, wie Sie aus dem Kaschott ausgebüxt sind!“

„Oje, oje“, sagte der junge Mann wieder und ließ sich dann von Olaf alles in die Hosentaschen stopfen.

Am Sonntag saß die ganze Familie Kahlenberg auf ihren gewohnten Plätzen in der kleinen Dorfkirche. Die Gemeinde wartete gespannt auf die erste Predigt von Pastor Hannemann, dessen Vorgänger schon nach drei Monaten Pfarrdienst in Lütjensiel schlappgemacht hatte.

Ein großer junger Mann mit dunklen Haaren betrat die Kanzel. Großvater Kahlenberg verschanzte sich hinter seinem Gesangbuch.

„Bloß gut, dass ich ihm nicht auch noch eine Ladung Schrot in die Kehrseite verpasst habe“, dachte er.

Auch Marie Kahlenberg guckte ziemlich verbiestert. „Man soll doch nicht immer gleich das Schlechteste von den Menschen denken“, ging es ihr durch den Kopf.

Und Annemie plinkerte mit den Augen, wurde rot und nahm sich vor, gleich nächste Woche in den Kirchenchor einzutreten, den Pastor Hannemann leiten würde.

Bloß Olaf konnte seine Gedanken nicht für sich behalten. „Da freut man sich, dass man mal einen richtigen Bankräuber zu sehen kriegt – und dann ist er man bloß Pastor“, brummelte er.

„Amen“, sagte Pastor Hannemann von der Kanzel.

Maikäfer

Sabine Göttel

Ich stand am Ufer und hatte Angst. Angst um Marian. Er tauchte einfach nicht mehr auf. Auf seinen dünnen Beinen war er in den Teich gewatet; zitternd, die Arme vor der Brust verschränkt und ohne sich umzudrehen. Immer weiter war er ins frühsommerlich kühle Wasser gelaufen, bis ich ihn kaum noch sehen konnte. Dann stiegen ein paar Blasen auf, und dann war er weg.

Ich stand da mit einer Gänsehaut unter dem Badeanzug und starrte auf die Stelle, an der er verschwunden war. Wieso hatte ich Angst um Marian? Ich konnte Marian nicht leiden. Marian war ein Jahr älter, und Marian war hässlich.

Marian war schlecht erzogen. In der Pause stand er auf der Schulhofmauer und pinkelte auf den Misthaufen von Bauer Klein. Dabei sang er „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ und zeigte seine eklige Zahnlücke. Von braunen Stummeln umgeben, kam die bestimmt nicht von spät ausgefallenen Milchzähnen, sondern stammte von verlustreichen Kämpfen mit ebenbürtigen Gegnern. Mit Klaus, Christian und Thomas wollte Marian nichts zu tun haben. Er schlug sich lieber mit den Jungs aus der fünften Klasse.

Marian war hässlich. Hier und da kräuselte sich eine Locke aus den fettigen Haaren in die Stirn; seine Haut war blass, fast durchsichtig, und die zahlreichen Sommersprossen wuchsen hinter den Brillengläsern zu schmutzigen Flächen heran. Marian trug eine Brille und konnte kaum lesen und schreiben. Ich dagegen war schön und eine gute Schülerin.

Er bekam den letzten freien Platz im Klassenzimmer, unseren Notsitz gewissermaßen, und dass der hinter dem Kamin für den Schulofen lag, schien Marian nicht weiter zu stören. Meistens saß er da und schaute aus dem Fenster, und wenn es kalt war, setzte er seine Brille ab, legte den Kopf neben sie auf die kamingewärmte Schulbank und schlief.

„Richtige Glasbausteine“, lästerte Klaus, der keine Brille trug. Klausens Eltern hatten eine Menge dieser schicken Glasziegel in ihrem neuen Haus verbaut, und auch wir hatten welche, sogar bunte waren dabei. Mein Vater setzte sie nach Feierabend eigenhändig ein, als wir einen Teil des Flurs im ersten Stock für ein Bad abtrennten. Dann hatten wir sogar ein zweites Klo und mussten nicht mehr in den Keller gehen.

Aber damals wohnte Marian noch nicht bei uns im Dorf. Er war erst aufgetaucht in der Zeit, als mein Vater den Kohleherd durch einen modernen Ölbadeofen ersetzte und wir samstags keine Plastikwanne mehr in die Küche stellen mussten.

Nach den Sommerferien stand Marian neben Lehrer Müller vor den beiden Klassen und grinste.

„Das ist Marian“, sagte Lehrer Müller. „Er geht ab heute in die vierte Klasse.“

Klaus stieß mich von hinten an. „Der ist doch bestimmt viel älter als wir und geht in unsere Klasse?“, flüsterte er.

„Komischer Name“, sagte Annette, die neben mir saß.

„Sein Vater kommt aus Polen“, sagte Andrea.

„Quatsch, Polen liegt doch in Russland, und da ist eine Mauer aus Eisen drum herum, da kann keiner rüber“, meinte Christian.

Klausens Mutter wusste besser Bescheid. „Der Marian, das ist ein Kind von der Maria. Er hat bis vor kurzem bei seinem Vater in Süddeutschland gewohnt, und jetzt hat ihn die Maria zu sich genommen, weil sein Vater zurückgegangen ist in die Ostzone“, sagte sie an Klausens zehntem Geburtstag und schob uns ein weiteres Stück Obstboden auf den Teller.

„Der Marian ist ein armer Junge“, sagte sie noch. „Seht zu, dass ihr ein bisschen nett zu ihm seid.“

Nett sein zu Marian? Nett sein zu einem, der zu uns überhaupt nicht nett war?