Neues vom Tatort Tegel - Friedrich Ani - E-Book

Neues vom Tatort Tegel E-Book

Friedrich Ani

4,9

  • Herausgeber: Jaron Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Zum 25. Jubiläum der Reinickendorfer Kriminacht gibt es endlich „Neues vom Tatort Tegel“: Nach zehn Jahren bringt Krimi-Urgestein Horst Bosetzky in Zusammenarbeit mit dem Bezirksamt Reinickendorf zum zweiten Mal eine Sammlung von Kurzgeschichten aus der Feder von deutschsprachigen Kriminacht-Stars heraus. Mit dabei sind: Friedrich Ani, Nina George, Felix Huby, Volker Kutscher, Ingrid Noll, Matthias Wittekindt und Sybil Volks. Auch der 2016 mit dem „Krimifuchs“, dem regelmäßig auf der Kriminacht verliehenen Preis, ausgezeichnete Rainer Wittkamp und RBB-Moderator Uwe Madel, der alljährlich durch die Veranstaltung führt, gehören zu den Beiträgern des Bandes. 1992 fand die Kriminacht unter dem Motto „Tatort Tegel“ zum ersten Mal statt. Ins Leben gerufen unter anderem von Horst Bosetzky und Helge Schätzel, dem Direktor der Reinickendorfer Volkshochschule, errang sie schnell überregionale Bedeutung. Eine bunte Mischung aus Lesungen von gestandenen und emporstrebenden Autoren, garniert mit Musik und Talk, macht diese Veranstaltung Jahr für Jahr zu einem Highlight der deutschsprachigen Krimiszene. Mit 25 spannenden Geschichten von herausragenden Autorinnen und Autoren verspricht „Neues vom Tatort Tegel“ allen Krimi-Fans Unterhaltung vom Feinsten.

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Seitenzahl: 334

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Horst Bosetzky (Hrsg.)

Neues vom Tatort Tegel

25 Geschichten von Stars der deutschsprachigen Krimiszene

Jaron Verlag

Dieses Buch entstand mit Unterstützung durch das Bezirksamt Reinickendorf von Berlin, Abteilung Bauen, Bildung und Kultur

Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin, und Autoren

(Ingrid Noll »Der Machandelbaum« © 2010 Ingrid Noll / Diogenes Verlag AG Zürich)

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Dieter Raupach layoutlabor, Berlin

Foto: © grafxart – Fotolia.com

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN: 978-3-95552-242-1

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

KATRIN SCHULTZE-BERNDT

25Jahre Reinickendorfer Kriminacht

UWE MADEL

Anzügliches zur Kriminacht

FRIEDRICH ANI

Kardigglding

TILO BALLIEN

Bei ihr ist noch Licht

MECHTILD BORRMANN

Brief an einen Sohn

HORST BOSETZKY

Das Theatermesser

OLIVER BOTTINI

Nach dem Krieg

PETER BROCK

Burgundertod

JAN EIK

Alles was Recht ist

PETRA GABRIEL

Linas Rache

NINA GEORGE

Das Licht von Dahme

STEPHAN HÄHNEL

Das entscheidende Spiel

FELIX HUBY

Ein Birnbaum in seinem Garten stand

BETTINA KERWIEN

Die lachende Ratte

SUSANNE KLIEM

Beweisstück

VOLKER KUTSCHER

Plan B

PAUL LASCAUX

Sennentuntschi reloaded

UWE MADEL UND ANDREAS PÜSCHEL

Pech auf der ganzen Linie

SUSANNE MISCHKE

Das Brautkleid

STEFFEN MOHR

Ein Fall von Harakiri

INGRID NOLL

Der Machandelbaum

THOMAS RAAB

Zwei Ochsen auf der Metzgerinsel

CHRISTOPH SPIELBERG

Happy Birthday

FRANZISKA STEINHAUER

In Würde

SYBIL VOLKS

Unterm Hammer

MATTHIAS WITTEKINDT

Alle die ihn nicht kannten

RAINER WITTKAMP

Vorstadtrambos

Die Autorinnen und Autoren

25 Jahre Reinickendorfer Kriminacht

Sehr geehrte Leserinnen und Leser, liebe Krimifreunde,

in 25 Jahren hat sich Reinickendorf zu einem echten Krimi-Mekka entwickelt: Seit 1993 zieht die Reinickendorfer Kriminacht einmal im Jahr Autoren und Fans der Szene an. In den vergangenen 25 Jahren haben weit über 100 Krimischriftsteller, Gerichtsmediziner und Polizisten gelesen, aus ihrem Leben berichtet und das Publikum begeistert.

Die Reinickendorfer Kriminacht ist ein jährlicher Höhepunkt im vielfältigen literarischen und kulturellen Leben Reinickendorfs, der für den Bezirk Reinickendorf weit über Berlin hinaus im gesamten deutschsprachigen Raum wirbt. Sie zählt zu den erfolgreichsten Veranstaltungen um das Genre der Kriminalliteratur und ist darüber hinaus die älteste Kriminacht in Deutschland. Hier treffen sich Spitzenautoren und Newcomer, Filmemacher und Fans auf Augenhöhe. Mit den Reinickendorfer Sprach- und Lesetagen, den Veranstaltungsreihen um die Jubiläen der Tegeler Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, den Kunstausstellungen und den Reinickendorfer Classics zeigt sich, wie lebendig und vielseitig das künstlerische und intellektuelle Berlin jenseits der Innenstadt ist.

Natürlich hat sich die Kriminacht in 25 Jahren verändert. Anfangs fand sie im Sommer als Open-Air-Festival unweit der größten Justizvollzugsanstalt Europas auf der Humboldt-Insel statt und siedelte wetterbedingt schließlich in die Humboldt-Bibliothek um, wo sie vor nun fast 20 Jahren ihre Heimat gefunden hat. In seiner Kurzgeschichte »Das Theatermesser« in der vorliegenden Anthologie fängt Horst Bosetzky den besonderen Charme und das Begeisterungspotential dieses kriminalliterarischen Unterfangens ein. Übrigens verdanken wir ihm, -ky, viel, wie seine Kurzgeschichte beweist. Gemeinsam mit Helge Schätzel, dem Erfinder der Kriminacht und Leiter des Amtes für Weiterbildung und Kultur im Bezirksamt Reinickendorf, hat er die Kriminacht über viele Jahre organisiert. Für manche Kriminacht schrieb er szenische Lesungen, die von Schauspielern aufgeführt wurden und bei denen er – ein echter Clou! – selbst mitspielte.

Seit 1995 ehrt der Bezirk Reinickendorf mit dem »Krimifuchs« herausragende Leistungen von Autoren der Kriminalliteratur, und seit 2000 wird der Preis im jährlichen Wechsel mit der Kategorie »Autoren« auch in der Kategorie »Medien« verliehen. 2012 erhielt Horst Bosetzky den »Ehren-Fuchs« aus Anlass der 20. Ausgabe der Kriminacht.

Die Liste der Krimiautorinnen und -autoren, die in den 25 Jahren in Reinickendorf auftraten, liest sich wie das Who’s who der deutschsprachigen Kriminalliteratur. Und es erklärt sich bestimmt aus dem Genre heraus, in dem gemordet, gemeuchelt, verraten, ermittelt, verfolgt und erstochen wird, dass diese mörderische Autorengemeinschaft eine überaus menschenfreundliche, umgängliche und humorvolle Spezies ist. Sie jedes Jahr wiederzutreffen ist eine wahre Freude!

Wie mörderisch und hinterhältig, wie blutrünstig, perfide und durchtrieben hier ermittelt wird, erleben Sie dank dieser Anthologie. Manche Beiträge wurden extra für den 25. Geburtstag der Kriminacht geschrieben.

Ich wünsche unserer Kriminacht weitere mörderische Jahre am Tatort Reinickendorf und Ihnen viel Spaß bei der Lektüre des Buchs »Neues vom Tatort Tegel«, das mit 25 spannenden Geschichten von herausragenden Autorinnen und Autoren einen Überblick zur aktuellen deutschsprachigen Kriminalliteratur bietet.

Ihre Katrin Schultze-Berndt

Bezirksstadträtin für Bauen, Bildung und Kultur in Reinickendorf

UWE MADEL

Anzügliches zur Kriminacht

»Sie haben ja heute gar nicht Ihren roten Anzug an – das geht aber nicht!« Auch der Krimi-Fan in Reinickendorf ist wie die meisten Berliner: direkt, schnoddrig, aber im Herzen gut. Was wie ein Anranzer klingt, ist eigentlich ein liebevoller Hinweis. Der Wunsch nach etwas Beständigem in einer Zeit, in der so vieles unbeständig ist.

Den roten Kordanzug habe ich zum ersten Mal 2004 getragen, bei meiner Premiere in der Humboldt-Bibliothek. Es war die 12. Kriminacht – aus heutiger Sicht quasi die Halbzeit.

Ich dachte, das dunkle Rot würde gut zu Mord und Totschlag passen, zu atemloser Stille, wenn Friedrich Ani seinen Tabor Süden nach Vermissten suchen lässt, wenn Cora Stephan als Anne Chaplet ihre kriminellen Fantasien auslebt oder wenn Horst Bosetzky den Serienmörder Karl Großmann auf die Bühne bringt – in einer szenischen Lesung, einer Welturaufführung. Darunter geht’s nicht bei der Kriminacht.

Ich habe den Anzug immer getragen. Auch als ich 2010 selbst mit dem »Krimifuchs« geehrt wurde, dem wichtigsten und einzigen Krimi-Preis in Berlin.

Es war eine überraschende Auszeichnung. Niemand hatte vorher etwas verraten. Mir war gesagt worden, der Preisträger in diesem Jahr wisse noch nichts von seinem Glück. Es solle ein Geheimnis bleiben, erst gelüftet in der Laudatio von Jan Eik. Es dauerte eine Weile, bis mir auf der Bühne schwante, dass ich selbst gemeint war. Ein sehr besonderer Moment, denn plötzlich stand ich gedanklich in einer Reihe mit echten Krimifüchsen wie Günter Lamprecht, Felix Huby, Fred Breinersdorfer oder Jochen Senf – Autoren und Schauspielern, die ich noch immer sehr verehre. Bis heute hat die handgemalte Urkunde einen Ehrenplatz in meinem Arbeitszimmer.

Leider gibt es unter den vielen Preisträgern bislang nur zwei weibliche Krimifüchse. Thea Dorn und Pieke Biermann. Dabei haben die Frauen in Reinickendorf oft besonders raffiniert gemordet. Getreu der alten Ermittlerweisheit: Männer töten, um zu behalten, Frauen, um loszuwerden. Vielleicht wird sich hier bei aller Sehnsucht nach Beständigkeit in den nächsten 25 Jahren doch noch etwas ändern?

Was macht die älteste Kriminacht in Berlin so außergewöhnlich? Aus meiner Sicht ist das vor allem diese sehr besondere Drei-Komponenten-Mischung. Organisator Helge Schätzel ist es immer gelungen, herausragende Autorinnen und Autoren einzuladen mit wirklich spannenden Lebensläufen. Viele Lehrer, aber auch Juristen und Ärzte. Was zur Frage führt, ob bestimmte Berufe den Hang zum Verbrechen auf verhängnisvolle Weise fördern.

Zu jeder Kriminacht gehören aber auch brillante Musiker, die viel mehr liefern als nur Zwischentöne. Und der dritte Erfolgsgarant sind die Zuschauer im stets ausverkauften Saal, die von der ersten bis zur letzten Minute gespannt dabei sind. Mit Grusel in den Augen und Mitgefühl – oder mit Lachtränen, wenn literarisch gesehen ein Polizeieinsatz mal wieder komplett danebengeht.

Ja, und dann ist da noch die Sache mit dem Anzug. Ich verspreche, der Abend mit dem kleinen Schwarzen 2016 bleibt eine Ausnahme. Die Farbe der Kriminacht ist rot. Blutrot!

FRIEDRICH ANI

Kardigglding

Eine Kriminalgeschichte aus dem wahren Leben

Als Hauptkommissar Neidhard Kardigglding an den Tatort kam, brannten die Halogenscheinwerfer und tauchten den Hinterhof in ein hässliches Licht. Der Mann, der vor seinem silbergrauen Volvo lag, war enthauptet worden, vermutlich mit einer kolumbianischen Machete. Das war dieselbe Tatwaffe, mit der vor ihm bereits sieben Menschen den Kopf verloren hatten. Die Morde waren innerhalb von fünf Wochen passiert, und allmählich wurde es Zeit für einen Verdächtigen. Kommissar Kardigglding hatte mehrere zur Auswahl, und einen von ihnen, da war er sich sicher, würde er zu einem Geständnis bringen.

Kardigglding war der Mann für die harten Fälle. Ausgebildet bei der Kripo in Nürnberg und Hof, war er als 26-jähriger Oberkommissar ins Münchner Morddezernat 4 gekommen, wo er nach einem Jahr zum Hauptkommissar befördert wurde. Jetzt, mit 51, hatte er den Ruf eines Superbullen, vom Innenministerium mehrfach belobigt und überhäuft mit Angeboten aus dem Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz. Doch Kardigglding war kein Bürohengst, er war ein Macher, ein Ermittler, ein Vernehmer. In seinen Verhören kapitulierten die abgezocktesten Verbrecher. Einen Fall mit wasserdichten Beweisen zur Anklage zu bringen bedeutete für ihn das höchste Glück.

Es war Kardigglding, der vor Jahren einen Junkie dazu brachte, den Mord an einer 84-jährigen Rentnerin zu gestehen. Die Frau war in einer Truderinger Seitengasse überfallen, beraubt und nach heftiger Gegenwehr mit einer 9 mm Sig Sauer erschossen worden. Zu dieser Zeit lag der Junkie auf der Toilette des Pasinger Bahnhofs, aber Kardigglding unterzog ihn einer derart unnachgiebigen Prozedur, dass er schließlich zusammenbrach und den Überfall in allen Einzelheiten schilderte. Der Mann wurde zu elf Jahren Gefängnis mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Der CSU-Politiker Beckstein, der damals Innenminister war, gratulierte Kardigglding persönlich zu dem Erfolg und würdigte einmal mehr die legendäre Schule der fränkischen Kriminalpolizei.

Unvergessen auch die Aufklärung des schrecklichen Verbrechens am Weltmeister im Gewichtheben, Sebastian Schädel. Der 110 Kilogramm schwere Sportler war mit brachialer Gewalt auf den noch offenen Balkon im achten Stock eines Hauses gezerrt worden, das gerade entkernt und saniert wurde. Der Täter stieß sein Opfer in die Tiefe, Schädel hatte offensichtlich nicht die geringste Chance sich zu wehren. Nach drei Wochen intensiver Ermittlungsarbeit gelang Hauptkommissar Kardigglding der Durchbruch. Ein elfjähriger, an den Rollstuhl gefesselter türkischer Junge aus Neuperlach verstrickte sich in den Vernehmungen immer mehr in Widersprüche, bis er am Ende zugab, den Gewichtheber an den Beinen gepackt und neben sich her die Treppen in den achten Stock hinaufgeschleift zu haben. Sein Motiv: Eifersucht auf Schädels sportliche Triumphe. Der Junge – er hieß Mustafa Börü – wurde zu fünf Jahren Gefängnis mit anschließender Unterbringung in der Psychiatrie verurteilt. Das Gericht würdigte das Geständnis und den seelischen Konflikt des Angeklagten.

In seinem zweistündigen Porträt über Neidhard Kardigglding bezeichnete der Bayerische Rundfunk den Kommissar als »Grundpfeiler der Gesellschaft und Garant für die Sicherheit in der Stadt München und im gesamten Freistaat«. Kardigglding mache das Leben in Bayern »jeden Tag ein Stück lebenswerter«. Der von der Tochter des Intendanten produzierte Film, den die Süddeutsche Zeitung ein »Musterbeispiel für investigativen Journalismus« nannte, erhielt sowohl den Bayerischen Fernsehpreis in der Kategorie Dokumentation als auch den Spezialpreis beim Filmfestival der Heimatvertriebenen in Wunsiedel.

Innerhalb der bayerischen Polizei galt Kardigglding als Bluthund und als jemand, den – so der Polizeijargon – »man holt, wenn die Scheiße am Kochen ist«. Dies war zum Beispiel der Fall, als in der Nähe von Passau ein Landwirt seine ganze Familie ausrottete und sich hinterher seelenruhig ins Gasthaus setzte, wo er bis vier Uhr morgens Weißbier trank. Nach Überzeugung von Kommissar Kardigglding hatte der Bauer Anselm Bledmannshofer zunächst seine Frau mit einem Hammer erschlagen, danach seine Schwester und zuletzt auch deren Mann. Alle arbeiteten auf dem Anwesen von Bledmannshofer. Nach Aussagen von Zeugen gab es zwischen den Familienmitgliedern seit Monaten heftigen Streit, bei dem es auch zu Gewaltausbrüchen gekommen sei. Wie Bledmannshofer dem Kommissar nach zwei Monaten gestand, habe er »die Bagasch« erst »ausradiert« und hinterher den Schweinen zum Fraß vorgeworfen, die die Leichen vollständig vertilgt hätten. Tatsächlich hatten die Spurensucher der Kripo keinerlei Überreste gefunden. Acht Wochen nach dem fürchterlichen Ereignis und der erfolglosen Tätersuche durch die niederbayerischen Kollegen hatte Kardigglding im Rahmen eines Amtshilfeantrags aus Landshut den Landwirt in sein Münchner Dezernat bestellt.

Dort fing der angetrunkene Mann wie so oft mit der Geschichte seines Bruders an, der sich in seiner Jugend nach Amerika abgesetzt und einen anderen Namen angenommen habe, weil er sich für den eigenen schämte. Wie Bledmannshofer nicht müde wurde zu erzählen, sei sein Bruder Hans inzwischen ein großer Star in Hollywood, was ihm persönlich aber scheißegal sei. Kardigglding ließ ihn reden, dann begann er mit seinem berüchtigten Verhör, mit dem auch das FBI die besten Erfolge erzielte. Nach kaum zwei Stunden wälzte der Landwirt sich auf dem Boden und schilderte in allen Einzelheiten sein Verbrechen. Er bat sogar seine Schweine um Verzeihung.

Noch am selben Abend ließ Kardigglding den geständigen Täter nach Niederbayern zurückbringen, wo er bald von einem Berliner Arzt psychiatrisch untersucht und für unbedingt zurechnungsfähig erklärt wurde. Die Darstellung seiner Tat entspreche »vollkommen einem tatsächlichen Erlebnishintergrund«. Aufgrund des Gutachtens des renommierten Psychiaters, der schon vorher durch seine präzisen Analysen vor allem bei der Verurteilung von Behinderten aufgefallen war und den die Süddeutsche Zeitung einmal »Deutschlands unbestechlichsten Gerichtsgutachter« nannte, wurde Anselm Bledmannshofer zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Wochen später erhängte er sich in seiner Zelle.

Als die Nachricht von seinem Tod durch die Presse ging, meldete sich eine Frau namens Elvira Bledmannshofer bei der Landshuter Zeitung. Sie erklärte, sie sei die Ehefrau des Landwirts und lebe mittlerweile gemeinsam mit ihrer Schwägerin und deren Mann in Songkhla an der thailändischen Küste und habe durch Zufall die Meldung vom Tod ihres Mannes in einer deutschen Zeitung gesehen. Sie seien damals zu dritt abgehauen, weil ihr »Volltrottel von Ehemann« unberechenbar geworden sei.

In der Nachrichtensendung »Rundschau« im Bayerischen Fernsehen meinte Hauptkommissar Kardigglding daraufhin, die Identität der Anruferin müsse erst hundertprozentig geklärt werden. Sollte sich jedoch herausstellen, dass es sich tatsächlich um die Witwe des Landwirts handele, könne man daran nichts ändern. »Der Fall ist spätestens seit dem Freitod des als Täter verurteilten Mannes abgeschlossen«, sagte Kardigglding.

Was die Sache mit den geköpften Männern betraf, so arbeitete Kardigglding ruhig und zügig die Liste seiner Hauptverdächtigen ab. Da die Toten ohne Ausnahme Angestellte beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen waren, fand der Kommissar rasch eine Spur zu mehreren Drehbuchautoren, die nachweislich von den Redakteuren geknechtet, missachtet, schlecht bezahlt oder übersehen worden waren. Die Vernehmungen gestalteten sich ungewöhnlich einfach. Die Schreiberlinge, wie Kardigglding die Verdächtigen nannte, steigerten sich in derart atemberaubende Widersprüche hinein, dass der Kommissar allein drei von ihnen locker für fünf noch unaufgeklärte Morde im österreichischen Waldviertel hätte verantwortlich machen können. Sie waren kurz davor, alles zu gestehen. Aber es ging um die kopflosen Redakteure, und nachdem sein letzter Hauptverdächtiger, ein Autor, der sich von seinen Honoraren für unzählige Folgen der Reihen »Soko 5113« und »Die Rosenheimcops« eine Finca auf Mallorca, ein Apartment in Berlin und eine Achtzimmerwohnung in Quedlinburg gekauft hatte, aus dem Fenster gesprungen war, musste Kardigglding handeln. Die Presse saß ihm im Nacken, der Innenminister, die Intendanten von ARD und ZDF. Und der Bayerische Rundfunk ließ durchblicken, dass der Sender sein Beraterhonorar für die Serie »Unter unserem Himmel« streichen würde, falls der Kommissar nicht bald einen Täter präsentiere.

Da der theatralische Drehbuchautor aus einem Fenster im ersten Stock gesprungen war und dabei lediglich seine Kontaktlinsen verloren hatte, brauchte sich Kardigglding nicht weiter um ihn zu kümmern. Stattdessen ließ er einen Zeugen in sein Büro bringen, den er schon länger im Visier hatte. Der Mann war immer wieder in einem Pulk von Schaulustigen aufgefallen, und als er jetzt vor ihm saß, wusste Kardigglding, dass er wieder einmal den richtigen Riecher gehabt hatte. Der Mann war ein verhinderter Schriftsteller, er hatte sich unzählige Male mit halbgaren Drehbüchern bei Produktionsfirmen und Redaktionen beworben, er schrieb Hassbriefe an sämtliche Sender, und er war schon einmal in Urlaub in Südamerika gewesen.

Am nächsten Morgen hatte Kardigglding sein Geständnis. Der Täter – er hieß Max Geier, war 56 Jahre alt und arbeitslos – hatte zugegeben, mit einer zwei Kilo schweren und einen Meter langen Machete die acht Männer aus Wut und Verzweiflung enthauptet zu haben. Jedem von ihnen habe er aufgelauert und die Tat minutiös vorbereitet. Er bereue nichts.

Ein Jahr später sprach das Landgericht München 1 das Urteil: lebenslänglich für Max Geier. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung widmete Hauptkommissar Neidhard Kardigglding ein ganzes Heft, und der Bayerische Rundfunk richtete dem verdienstvollen Staatsbeamten eine eigene Talkshow anstelle der »Münchner Runde« ein. Die Tatsache, dass es sich bei dem Verurteilten um einen blinden, contergangeschädigten, nur sechzig Kilogramm wiegenden Mann handelte, spielte sowohl bei der Urteilsfindung als auch im Verlauf der Berichterstattung eine eher untergeordnete Rolle.

TILO BALLIEN

Bei ihr ist noch Licht

Gerade ist sie wieder rein. Jetzt kann ich rauchen. Ich will noch etwas warten.

Ich habe viel Zeit. Meine Arbeitslosigkeit stört mich nicht, was diesen Aspekt betrifft. Ich habe gern viel Zeit. Zum Nachdenken. Ich denke viel nach, sehr viel. Ich kann stundenlang über irgendwas grübeln. Manchmal schreibe ich auf, was ich wichtig finde. Das vernichte ich meistens, wenn ich es später wieder lese. Aber ich vergesse nie, was ich einmal gedacht und aufgeschrieben habe. Deshalb kann ich es ruhig zerreißen, weil ich es im Kopf habe. Aber das muss niemand anders lesen. Erst recht das Tagebuch nicht.

Viel Zeit zu haben kann teuer sein. Ich komme hin mit meinem Geld. Ich gehe nicht in Cafés oder in Kneipen oder ins Kino. Bier zu Hause ist billiger. Und mehr Kino als die Glotze bieten die Filmpaläste auch nicht. Und die Videotheken sind doch echt billig. Ich weiß gar nicht, wie die überleben. Zu Hause habe ich jedenfalls keinen Popcorngestank in der Nase wie im Kino und muss nicht zusehen, wie Pärchen miteinander knutschen. Die kriegen vom Film oft gar nichts mit. Ich bin allein. Eigentlich immer. Beim Videogucken kann ich machen, was ich will. Ich ziehe die Vorhänge zu und bin ganz für mich.

Was ich sagen will: Ich hätte an diesem bestimmten Tag nie und nimmer überlegt, ob ich nicht trotz der damit verbundenen Kosten reingehen soll, wenn es plötzlich nicht wie verrückt angefangen hätte zu regnen. Der Himmel war aschgrau und die Atmosphäre schwer. Man fühlte sich wie unter einer umgedrehten alten Zinkbadewanne. Im Radio hatten sie zwar gesagt, die Sonne würde den ganzen Tag nicht scheinen, aber von Regen war keine Rede gewesen. Deshalb hatte ich den Schirm zu Hause gelassen. Pech. Oder auch nicht. Denn hätte ich einen Schirm gehabt, wäre ich ihr vermutlich nie begegnet. Das war also geradezu schicksalhaft. Irgendwie.

Natürlich hätte es auch jemand völlig anderes sein können als gerade sie. Daran habe ich schon manchmal gedacht. Sie verließ das Café, als ich mich unter dem Vordach unterstellen wollte, um mich vor dem Regen zu schützen oder, wie gesagt, vielleicht sogar reinzugehen. Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Ihre Augen waren groß und dunkel. Ich bin ihr nachgegangen, ganz spontan. Ich bin schon manchmal Leuten nachgegangen, einfach so. Mal gucken, was sie so machen. Aber die meisten machen nichts. Ich meine, nichts Besonderes oder Aufregendes. Die meisten gehen nach Hause oder verschwinden jedenfalls in irgendwelchen Häusern, und ab diesem Zeitpunkt sind sie einfach weg. Da kann man ewig warten. Sie bleiben, wo sie sind. Stinklangweilig. In die meisten Häuser kann man ja nicht reinsehen, wenigstens nicht in die oberen Stockwerke.

Sie rannte unter dem Regen hindurch in das Kaufhaus zwei Häuser weiter. Dort ist sie dann nur herumgeschlendert und hat sich Sachen angesehen. In der Abteilung für Damenwäsche ist sie lange geblieben. Da konnte ich sie nur aus sicherer Entfernung beobachten, damit keiner denkt: Was macht der Kerl da in der Dessous-Abteilung? Würde ja niemand glauben, wenn ich sagte: Ich guck mir was für meine Alte an. Ich fragte mich, ob sie solche Sachen trägt wie die, die sie sich anschaut, so ganz zarte Teile. Sie hat aber nichts gekauft. Ich dachte, wahrscheinlich hatte sie auch einfach keinen Schirm dabei und wollte nur den Regenguss abwarten.

Als der Regen vorüber war, ist sie vom Kaufhaus zur Bushaltestelle gegangen. Ich habe die Monatskarte vom Sozialamt, also bin ich mit in den Bus. Sie hat bezahlt, also fährt sie nicht regelmäßig, schloss ich daraus. Ich bin, glaube ich, ein ganz guter Beobachter. Ich habe mich ganz hinten in die letzte Bank gesetzt, damit ich sie immer im Blick hatte. Sie wirkte müde. Einmal hat ihr Handy geklingelt, nix Ausgefallenes wie melodisches Furzen oder irgendein Popsong, wie das jetzt viele lustig finden, einfach nur Klingeling. Sie hat nur ein wenig mürrisch aufs Display geschaut und ist nicht rangegangen. Das hat mich gefreut.

Ich schätze, dass sie so neunzehn, vielleicht zwanzig ist. Genau weiß ich das nicht, müsste aber hinkommen. Während der Fahrt hat sie aus dem Fenster oder vor sich hin geschaut und manchmal mit der Hand ihr Haar geprüft. Ob es schon trocken ist. Sie ist brünett. Brünett gefällt mir am besten. Vielleicht ist deshalb alles so gekommen, wie es jetzt ist. Ich dachte, ich setze mich direkt hinter sie. Bestimmt duftet ihr Haar gut, oder vielleicht berührt mich eine Strähne, wenn ich eine Hand wie zufällig und ein bisschen lässig auf die Vorderlehne lege. Aber das habe ich dann natürlich nicht gewagt. Ich bin nicht so einer.

Die Fahrt war lang. Sie stieg erst an der Endhaltestelle aus, draußen in der Waldheimsiedlung, wo die flachen Neubauten und viele Einfamilienhäuser stehen. Ich sah ihr unauffällig nach. Es war schon dämmerig. Der Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch ein kleines bisschen, unentschlossen und lustlos. Ich drehte mir eine Zigarette, während sich die Leute entfernten. Als sie so fünfzig Meter weit gegangen war, folgte ich ihr.

Sie ging gut zweihundert Meter in die Siedlung hinein, bis zu den Häusern, die ganz am Rand des Wäldchens stehen, hinter dem der See beginnt. Sie betrat das Haus Krähenwinkel 32, eines dieser flachen Mietshäuser für vier Parteien, die nach hinten raus unten große Terrassen und oben Balkons über die ganze Hausfront haben. Kurz danach ging ein Licht im ersten Stock an. Wahrscheinlich die Küche. Alles andere blieb dunkel.

Ich ging auf die andere Straßenseite und zündete mir die Zigarette an. Ich holte meinen Stadtplan hervor. Ich habe immer einen Stadtplan bei mir, man weiß ja nie, wohin einen der Tag führt. Ich tat, als suchte ich etwas auf dem Plan. Tat ich ja auch wirklich. Wann ist man schon mal hier draußen? Ich musste mich erst ein wenig orientieren. Dann ging ich zur nächsten Ecke, wo der Krähenwinkel schon fast an den See stößt und der Fischerweg links abbiegt.

Rechts beginnt der Wald. Da ist nur so eine Art Trampelpfad, den wahrscheinlich Kinder beim Spielen ausgetreten haben. Ich folgte ihm, schlug mich dann rechts in die Büsche, stieg den kleinen Abhang hoch und war bald auf der Rückseite vom Krähenwinkel 32. Ich hatte die Häuser genau abgezählt. Die Ecke ist die 38. Bei ihr war alles dunkel. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende, ohne den Blick von ihren Fenstern zu nehmen, ein normal großes, und zum Balkon hin ein breites mit der Balkontür daneben. Alles ohne Gardinen.

Ich wartete. Geduld ist eine meiner Stärken. Ich habe Zeit. Irgendwann ging das Licht an. Sie trug jetzt keinen Mantel mehr, nur Rock und Pullover. Ich sah, dass sie schlank war, nicht zu sehr, aber auch nicht pummelig. Viele Möbel konnte ich nicht erkennen, obwohl ich gute Sicht hatte. Das lag am Blickwinkel leicht von schräg unten. Der Balkon stört nicht groß, weil er nur ein dünnes Gitter hat. Trotzdem schade, dass der Hügel nicht höher ist, auf dem ich stehe. Wahrscheinlich hat man ihn nur als Lärmschutz angelegt wegen der Autobahn, die auf der anderen Seite nicht weit entfernt verläuft. Hier sind nur Büsche, nichts zum Raufklettern. Also kommt man nicht höher.

Ich erkannte ein Regal mit vielen Büchern und einem blauen Plüschtier, eines von diesen billigen Viechern, die man auf dem Rummel an der Losbude bekommt, wenn man Pech hat, oder wenn man mit drei Würfen alle Büchsen vom Brett schmeißt. Bestimmt hat sie das mal geschenkt bekommen und traut sich nicht, es wegzuschmeißen, falls der mal kommt, der ihr das geschenkt hat und fragt, wo sie es denn hat.

Sie legte ihre Handtasche ab, vermutlich auf einen Sessel oder so was. Sie stellte den CD-Player an, der im Regal zwischen den Büchern steht. Aber hören konnte ich natürlich nichts. Ich drehte mir eine neue Zigarette, aber ich wurde damit nicht fertig, weil etwas geschah, worauf man immer hofft, was aber ganz selten eintritt.

Sie zog ihren Pullover aus. Sie hatte sehr helle Haut. Ich wünschte, sie hätte länger so gestanden, den Pulli in der einen Hand und mit der anderen sich durch das Haar fahrend. Das Haar wurde dadurch nicht ordentlicher, eher wilder. Das sah gut aus. Ich dachte einen Moment lang, das macht sie für mich, aber das ist natürlich Quatsch. Sie wusste ja gar nichts von mir. Sie schien etwas zu überlegen und sich nicht schlüssig zu werden.

Dann legte sie den Pullover ab, wahrscheinlich auf dem Sessel, wo schon ihre Handtasche war, und zog ihren weißen BH aus. Ich musste ganz schön schlucken, dabei machte sie das ganz sachlich, hinten aufhaken, den einen Arm durch den Träger und, schwupps, den anderen. Fertig. Ihre Brüste sind klein. Sie würden leicht in meine hohle Hand passen. Das ist wie füreinander gemacht, so eine Frauenbrust und eine leicht gewölbte Männerhand. Das hat die Natur so eingerichtet, dass alles zusammenpasst. Und fest sind ihre Brüste bestimmt auch, jedenfalls bewegten sie sich kaum, als sie sich vorbeugte, um den BH wegzulegen. Ich kann das beurteilen, ich gehe im Sommer viel ins Freibad. Ich bin, kann man sagen, ein Kenner.

Sie nahm aus ihrer Tasche einen dunkelroten BH, an dem noch das Preisschild baumelte. Da war ich echt verblüfft. So eine! Ich bin wirklich ein guter Beobachter, aber ich hatte im Kaufhaus nichts bemerkt. Ob sie da Routine hat? Bestimmt, dachte ich. Eine, die nicht oft klaut, ist so nervös, dass sie gleich auffällt. Da muss man ganz cool bleiben, ganz gleichgültig wirken, so als habe man überhaupt kein Interesse an irgendwas. Ich meine, so mache ich das ja auch, wenn ich mal Leuten hinterhergehe. Das fällt keinem Schwein auf.

Sie zog den BH an, aber nicht wie in den Videos. Sie machte den Verschluss vorne vor dem Bauch zu, drehte das Teil nach hinten und schlüpfte mit den Armen durch die Träger. Dann erst zog sie ihn richtig hoch und verstaute ihre kleinen Brüste in den Körbchen. So machen das die Frauen nämlich in Wirklichkeit! Einfach so, ohne großes Brimborium. Da lügen die Filme. Dabei ist das so doch viel aufregender, eben weil sie es so selbstverständlich macht, als wäre nix dabei. Für sie ist ja auch nix dabei, und sie kann ja nicht ahnen, wie aufregend das für einen Mann ist, der zuguckt. Da ist sie ganz unschuldig, da kann sie nix für. Das kann ihr keiner vorwerfen.

Sie drehte sich um und guckte über die Schulter, wahrscheinlich zu einem Spiegel, den ich nicht sehen konnte. Richtige Tanzschritte machte sie, ganz kleine, zierliche, auf der Stelle, vielleicht zu der Musik aus dem Radio, die ich nicht hören konnte. Nach einer Weile hörte sie auf zu tanzen. Sie nahm von irgendwo eine kleine Schere und schnitt das Preisschild ab, ohne den BH dafür auszuziehen. Aber ich war nicht enttäuscht. Ich war so fasziniert, dass ich kaum bemerkte, dass mir Papier und Tabakkrümel einfach aus der Hand gefallen waren. Scheiß auf die Zigarette!

Sie zog ihren dunklen Rock aus. Der Reißverschluss war links an der Seite, nicht hinten. Sie ging in eine Ecke und kam mit einer hellen Hose wieder an dieselbe Stelle, wo sie vorher gestanden und getanzt hatte. Wahrscheinlich ist das der beste Fleck im Zimmer, wo sie sich gut im Spiegel sehen kann. Sie trug einen weißen Tanga, so eine Art Nichts mit Spitze, ein winziges Dreieck vorne, um die Taille und hinten nur ein Faden wie Zahnseide. Im Freibad sind diese Dinger in diesem Jahr aus der Mode. Da waren die letzten Jahre besser.

Ihr Po beim Bücken, als sie in die Hose stieg! O Mann! Ich meine, im Freibad, die Mädchen wissen ja, dass alle zugucken, wenn sie sich zum Handtuch bücken, wenn sie aus dem Wasser oder von der Dusche kommen. Die wissen ganz genau, wie sie sich bewegen. Die wollen die Kerle anwichsen, ist doch klar. Aber wehe, man kommt ihnen dann wirklich zu nahe! Als ob man ein Triebtäter wäre oder so was. Einen anmachen und dann Ohrfeige, das macht den Weibern Spaß. Aber sie? Sie hatte doch keine Ahnung, dass ihr jemand zuschaut. Und trotzdem bewegte sie sich genau wie die Mädchen im Freibad. Sie ist einfach sexy, von Natur.

Sie probierte noch eine dunkle Hose, zog sie aber ganz schnell wieder aus und stieg wieder in die helle. Alles so, dass ich es ganz genau sehen konnte, nur von ein bisschen weit weg eben. Klar, das sind immerhin gut zwölf, vielleicht fünfzehn Meter von hier bis ins Zimmer. Jedesmal, wenn sie den Reißverschluss hochzog, stieg sie auf die Zehen und zog den Bauch ein. Dabei ist sie doch schlank. Ob sie Sport treibt? Ich glaube, ihr Bauch muss ganz weich sein. Nachgiebig und doch auch fest und glatt wie Seide.

Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Sie streifte eine hellblaue Bluse über, knöpfte sie flink zu, zog dunkelgelbe Gardinen vor das breite Fenster und die Balkontür, und gleich darauf ging das Licht aus. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und der Regen setzte ganz leicht wieder ein. Alles blieb dunkel. Es war still im Wald. Das war schön, so allein im dunklen Wald. Der Niesel machte kaum Geräusch auf den Blättern. Ich war wie benommen, aber auch irgendwie glücklich. Ich nahm den letzten Bus in die Stadt.

Das war im vorigen Herbst, am 21. September, um genau zu sein. Das hätte ich mir nicht aufzuschreiben brauchen, das hätte ich mir auch so gemerkt. Aber ich habe alles aufgeschrieben. Ein Tagebuch, ihr Tagebuch könnte man sagen, auch wenn sie nichts davon weiß. Ich sag mal: unser Tagebuch. Aber davon wird sie nie erfahren. Ich meine, ich zerreiße alles, was ich da reinschreibe, nach ein paar Tagen, damit es niemand findet. Aber dann habe ich schon alles im Kopf und kann es von Anfang bis Ende abrufen. Das ist aufregend, jedesmal neu, obwohl ich alles in- und auswendig kenne. Das ist wie bei den Videos oder DVDs, die ich immer wieder gucken kann, obwohl ich genau weiß, was im nächsten Moment passiert. Da kann man sich dann schon vorher drauf freuen. Früher habe ich manchmal schnell vorgespult, um an die richtigen Stellen zu kommen, so wie man sich in Büchern die richtigen Stellen sucht. Aber dann kriegt man den Film oder die Geschichte gar nicht als Ganzes richtig mit, eben nur die Stellen. Vielleicht weil der Film oder das Buch als Ganzes uninteressant sind, nur eben die bestimmten Stellen nicht. Das Tagebuch wiederhole ich mir immer ganz genau, Wort für Wort, aber manchmal ändere ich auch etwas, das mir nicht mehr so gefällt. Dann wird es noch aufregender.

Ich habe mir nach dem nächsten Ersten ein Fernglas gekauft, so ein kleines, lichtstarkes für die Jackentasche. Das ist gut. Ich bin ihr dann einfach näher, fast als wäre ich im Zimmer, nur der Ton fehlt. Eine gute Videokamera müsste man sich leisten können, aber die ist nicht drin. Außerdem bin ich nicht sicher, ob das wirklich so toll wäre. Ich finde, so mit Aufschreiben und abends wieder lesen, auswendig lernen und dann davon träumen und alles noch ein bisschen ausschmücken, das ist besser.

Überhaupt bin ich richtig professionell geworden, um es mal so zu sagen. Ich habe mir dunkle Klamotten besorgt, die stehen mir sowieso gut. Ich gehe immer einen etwas anderen Weg zu meinem Posten am Hang, damit ich keinen Trampelpfad zwischen den Holunderbüschen austrete. Meistens sowieso von der Autobahnseite her, da sieht mich erst recht keiner. Ich verstecke die Glut meiner Zigarette in der hohlen Hand, selbst wenn ich irgendwo anders bin, so sehr ist mir das in Fleisch und Blut übergegangen. Ich weiß längst, wann die Kinder aus den Nachbarhäusern abends nach Hause müssen. Sie bekommen mich nicht zu sehen, aber ich weiß eine Menge über sie. Sie spielen gern in den Büschen, manchmal finde ich da Spielsachen von ihnen. Die lege ich dann auf meinem Heimweg unten an die Straße, damit sie sie finden und nicht in den Büschen danach suchen. Ich sammle meine Kippen immer sorgfältig ein, damit sie nichts spitzkriegen. Kinder sind schlauer, als man denkt. Außerdem würde das viele Nikotin den Büschen bestimmt schaden, wenn es durch den Regen ins Erdreich käme, könnte ich mir vorstellen.

So viel Glück wie am ersten Abend hatte ich bisher nicht wieder, aber irgendwas ist immer. Ich hab sie schon im Nachthemd gesehen oder wieder nur in Unterwäsche, alles so was, aber meistens sind das nur so Kleinigkeiten. Die würden niemand was bedeuten. Mir schon. Ich bin einfach froh, sie zu sehen, wie sie sich in ihrer kleinen Wohnung bewegt, sich ihr Abendbrot auf einem kleinen Tablett reinbringt, solche Sachen. Sie isst mit dem Tablett auf den Knien und sieht dabei die Tagesschau oder einen Vorabendkrimi. Wie Prinzessin Diana. Die hat auch mit dem Tablett auf den Knien ferngesehen, habe ich mal gelesen. Sie geht fast nie spät ins Bett, ich kriege immer noch den letzten Bus.

Sie heißt Kerstin Schmalstieg. Das steht am Klingelschild. Sie arbeitet in einer Rechtsanwalts- und Notariatskanzlei ganz in der Nähe vom Amtsgericht. Freitags geht sie manchmal mit ein, zwei Freundinnen oder Kolleginnen nach der Arbeit ins Café Döhring. Dann sind sie sehr albern und lachen fast die ganze Zeit. Ich sehe das von draußen, weil ich mich nicht an einen Nebentisch setzen will, um zu lauschen. Das macht man nicht. Außerdem will ich nicht, dass sie mich bemerkt. Ich meine, bis jetzt hat sie mich nicht bemerkt – aber wenn sie mich bemerkt, also wenn sie irgendwie Verdacht schöpft, dann ist doch alles aus, oder? Dann zieht sie die Vorhänge zu. Ist doch klar. Ich meine, ich will ihr nichts Böses, echt nicht, ich will sie doch nur sehen und von ihr träumen. Ihr einfach ein bisschen nah sein. Aber sie würde sicher die Vorhänge zuziehen, das ist klar.

Einen festen Freund hat sie nicht. Darüber bin ich einerseits froh, andererseits auch nicht. Mit ihren Freundinnen geht Kerstin samstags in Discos, meistens ins »Downstairs«. Da gehe ich nicht mit rein, weil die einen horrenden Eintritt verlangen. Ich würde sie gern tanzen sehen, so richtig wild und ausgelassen, dass die Haare fliegen und sie ihre Bluse durchschwitzt, nicht nur so ganz verhalten wie am 21. September vorm Spiegel, obwohl das auch ganz irre war, so anmutig, so in sich versunken. Also, sie mal richtig wild zu sehen, das wäre schon was, aber ich kann da nicht reingehen, nicht nur wegen dem Eintritt, sondern weil es mich verrückt machen würde, wenn sie da mit anderen Kerlen tanzt und die mit ihr flirten und so.

Weil manchmal bringt sie in ihrem grünen Fiesta einen Kerl aus dem »Downstairs« mit nach Hause. Ich habe dann längst Posten bezogen, obwohl man nie weiß, wie lange man warten muss. Meistens ist der letzte Bus dann schon weg, und ich muss mit dem ersten am Morgen fahren, aber ich warte trotzdem immer. Ich bin treu. Sie hat noch nie zweimal denselben mitgebracht. Sie ist keinem treu. Ich meine, das ist doch leichtsinnig. Sogar gefährlich. Aber für mich lässt das andererseits alles offen, oder? Denn wenn sie einen festen Freund hätte, so eine richtig gute Beziehung, das wäre auch schlecht. Ich meine, für mich. Dann könnte ich mir gar nichts mehr ausrechnen, oder?

Sie zieht die Vorhänge zu, wenn sie einen dabeihat. Das tut sie sonst nie. Ich bin dann sehr eifersüchtig. Richtig unglücklich. Und gleichzeitig macht mich der Gedanke ganz geil, dass die beiden da oben hinter den Vorhängen sind und was sie so machen miteinander. Das Licht macht sie in solchen Nächten sofort aus, so als wollte sie den Kerl gar nicht sehen, den sie dahat. Ich meine, klar, Kerstin ist von Natur aus sexy, sie braucht das ab und an, wer nicht? Und von mir weiß sie ja nichts. Da kann ich ihr echt keinen Vorwurf machen, aber verrückt macht es mich trotzdem, wo ich doch der Kerl sein könnte, wenn sie was von mir wüsste. Aber dann müsste das Licht an bleiben. Ich will sie immer sehen. Ich liebe sie. Das Gefühl verzehrt mich. Ich liebe sie sehr. Sie ist … entzückend. Sie ist … einfach Wahnsinn.

Das mit dem Klauen hat sich übrigens nicht wiederholt. Vielleicht war das im September Anfängerglück, jedenfalls keine Routine durch Gewohnheit. Kerstin sieht wenig fern. Sie liest viel, so richtig dicke Schinken wie Ken Follett und so oder Bücher über gesunde Ernährung und Fitness. Ihr Fiesta ist alt und oft zur Reparatur. Dann fahren wir zusammen im Bus. Einmal hätte ich sie beinahe angesprochen. Aber sie hat so an mir vorbeigeguckt. Als ob ich unsichtbar wäre. Es ging einfach nicht, selbst wenn sie geguckt hätte. Was hätte ich schon sagen sollen? Hallo, Kerstin, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich besser als deine Mutter, denn ich beobachte dich seit einem Dreivierteljahr? Aber selbst wenn mir was eingefallen wäre: Sie hat mich einfach nicht gesehen.

Manchmal denke ich wirklich, mich sieht sowieso keiner. Also mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Das ist schon seit meiner Kindheit so, im Kindergarten, in der Schule, auch zu Hause. Mutter vor allem, die konnte alles und jeden ignorieren, wenn sie wollte. Hat einfach auf stur geschaltet und Löcher in die Luft geguckt. Selbst wenn man ihr fast ins Gesicht gekrochen ist wegen einem Lutscher oder später, ob man abends noch länger weg darf. Und Vater hat sich ihr angepasst, der arme Kerl. Ihm war alles egal, was nicht mit Sport zu tun hatte. Später hat er sich totgesoffen. Schön ist das sicher nicht, wenn man immer übersehen wird, das muss ich schon sagen, aber man kann’s überleben, ohne Schaden zu nehmen. Das sieht man ja an mir. Andererseits kein schlechter Gedanke, unsichtbar sein zu können, wenn man’s braucht. Was man dann für Möglichkeiten hätte! Aber das ist natürlich nur so eine Fantasie.

Zum Rauchen geht Kerstin auf den Balkon. Sie raucht wenig. Zwei, vielleicht drei an einem Abend. Am Sonntagmorgen auch mal gleich nach dem Frühstück und noch vor dem Duschen. Das sind Glücksmomente für mich. Oft, so wie eben gerade, ist sie dann nur im Bademantel, so einem dünnen weißen aus Plüsch, der nur bis kurz übers Knie reicht. Ich denke immer, drunter hat sie nichts an. Das zu denken macht mich unheimlich an. Ich meine, vielleicht hat sie doch etwas an unterm Bademantel, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich denke, sie hat vielleicht nichts an. Das sind so meine Lieblingsstellen im Tagebuch.

Gerade ist sie wieder rein. Wie immer, wenn es einigermaßen warm ist, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Jetzt kann ich rauchen. Die Zigarette in der hohlen Hand, dass man die Glut nicht sieht in der Dämmerung. Einundzwanzig Uhr dreißig. Es wird bald ganz dunkel sein. Sie haut sich jetzt mit ihrem Schmöker in den Sessel, trinkt vielleicht einen Schluck Weißwein dazu. Ich sehe dann stundenlang nur ihren Haarschopf und manchmal eine wippende Fußspitze. Ich denke, dann ist sie in einer ganz anderen Welt, ganz weit weg. So wie ich in meiner ganz eigenen Welt bin, wenn ich in meinen Gedanken unser Tagebuch durchgehe und umschreibe.

Aber das ist etwas für meine einsamen Stunden, das will ich jetzt nicht tun. Unten machen sie spätestens um zehn das Licht aus, die alten Mertens gehen immer früh zu Bett. Vielleicht schaffe ich es heute, auf Kerstins Balkon zu klettern. Das hatte ich schon ein paarmal vor, habe mich aber nie wirklich getraut. Aber heute will ich. Dann werde ich ihr doch viel näher sein. Und ich denke, sie will das auch. Alle wollen jemanden, der ihnen nahe ist, nicht nur mal für eine Nacht, sondern für lange. Für immer. Aber wenigstens ab und an. Deswegen geht sie doch in die Disco, oder? Diese Scheißkerle! Wenn da auch nur ein Guter drunter gewesen wäre, wäre Kerstin schließlich auch nicht mehr allein. Ich bin ihr treu. Nur weiß sie nix davon.