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Wenn das Herz im Takt der Wellen schlägt, ist das Glück zum Greifen nah.
Olivia muss sich eingestehen, dass ihre Ehe mit Jan durch ihren unerfüllten Kinderwunsch nicht mehr dieselbe ist. Ihre Freundinnen raten ihr, sich wieder im Flirten zu versuchen. So beginnt sie online mit „Grisu“ zu schreiben – einem Fremden, der sie besser zu verstehen scheint als ihr eigener Mann.
Sie braucht Abstand, beschließt sie, und reist Hals über Kopf nach Norderney. Nur damit, dass sie schon bei ihrer Ankunft den überaus hilfsbereiten wie attraktiven Koch Malte kennenlernt, der ihre Gefühle noch mehr durcheinanderbringt, hat sie nicht gerechnet.
Als ihre Internetbekanntschaft sie dann auch noch treffen will und plötzlich Jan auf der Insel auftaucht, muss Liv sich zwischen salziger Meeresluft und alten Geheimnissen die Frage stellen, was sie wirklich im Leben will …
“Neujahrsträume auf Norderney” ist das dritte Buch der “Zeit für Meer”-Reihe von Bestseller-Autorin Birgit Gruber über ein Vierergespann von Freundinnen und die Insellieben, die sie finden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ZEIT FÜR MEER
BUCH 3
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Birgit Gruber
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Cover: MT-Design
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-479-6
»Hallo? Ha-llo!«, rief eine leicht schrille Frauenstimme durch den Raum.
Olivia ließ ihre Papiere auf den Schreibtisch fallen und eilte nach vorn zum Empfang.
»Ach, ist ja doch jemand da«, begrüßte sie die Dame von der anderen Seite des Tresens mit zerfurchter Stirn.
Sie war vielleicht Mitte sechzig und besaß eine durchaus imposante Erscheinung. Ihr braun meliertes Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Der beige Trenchcoat hing ihr locker von den Schultern und gab eine schwarz-rote Bluse preis. Sie war dezent geschminkt und sichtlich nicht gewillt zu warten.
»Ich habe einen Termin bei Frau Dr. Eichmüller. Jetzt«, forderte sie.
Olivia warf einen Blick auf den Kalender ihres Computers, dem zufolge die neue Mandantin Ingrid Zacherl hieß. Sie schaute auf.
»Frau Zacherl? Es geht um eine Rechtsberatung bezüglich …?«, ließ sie den Satz absichtlich offen, da hier nichts vermerkt war.
»Das erkläre ich Frau Dr. Eichmüller selbst. Es ist etwas kompliziert, wie ich bereits am Telefon gesagt habe. Nun? Wo muss ich hin?« Fragend sah sich die Dame um.
Olivia deutete auf die Tür links von ihr, die in das Büro ihrer Chefin führte. Sie war Partnerin der Rechtsanwaltskanzlei und momentan in einem Gespräch im Besprechungsraum, wie sie wusste.
»Da entlang, bitte schön«, sagte sie etwas steif und ging voran.
Erst, als sie das Zimmer betreten hatten, Liv einen flüchtigen Blick über den Schreibtisch ihrer Chefin hatte schweifen lassen, um zu prüfen, dass keine brisanten Dokumente herumlagen, die für fremde Augen nicht zugänglich sein sollten, und sich zu Frau Zacherl umdrehte, bemerkte sie deren Rucksack.
Seltsamerweise bewegte er sich. Oder hatte sie sich das nur eingebildet, da Frau Zacherl ihn neben dem Besucherstuhl am Boden abstellte, um sich ihres Mantels zu entledigen?
Bevor sie genauer hinsehen konnte, betrat ihre Chefin den Raum.
»Oh, hallo«, hauchte die Mittvierzigerin, verharrte eine Nanosekunde und schloss hinter sich die Tür. Ihr schulterlanges feines glattes Haar wirbelte bei der Drehbewegung kurz auf. Das dunkelblaue Kostüm saß wie angegossen, und ihr lippenstiftbehafteter Mund deutete ein Lächeln an, obwohl Olivia klar war, dass sie gerne zwei Minuten Verschnaufpause gehabt hätte, bevor sie zum nächsten Termin überging.
Ein seltsames Geräusch durchdrang den Raum. Sofort erhob sich Homer, Frau Dr. Eichmüllers Irischer Setter, und gab einen Laut von sich.
Das tat er sonst eigentlich nie. In aller Regel bemerkten ihn Anwesende kaum. Normalerweise lag er friedvoll den ganzen Tag in seinem großen Weidenkorb neben der Schrankwand, vom Schreibtisch ihrer Chefin verdeckt.
Die trat nun mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu, schenkte ihm einen strengen Blick, und schon war wieder Stille eingekehrt.
Dr. Eichmüller sank auf ihren Stuhl. »Nun, Frau …«
»Zacherl«, half Liv ihr weiter.
Sie nickte. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ja also, es ist so«, begann die Dame und griff nach ihrem Rucksack. »Leopold hat eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch oder so ähnlich bekommen. Dabei hat er gar nichts getan!«
Die Rechtsanwältin blinzelte. »Wer ist Leopold?«
»Na, er«, antwortete Frau Zacherl und zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf.
Liv wollte gerade das Zimmer verlassen, doch jetzt drehte sie sich neugierig noch einmal um. Dabei bemerkte sie, dass die Frau keineswegs einen gewöhnlichen Rucksack bei sich hatte. Die Frontseite bestand aus einem durchsichtigen Material und besaß drei große Löcher. Aber noch bevor sie sich fragen musste, weshalb das so war, entschlüpfte ihm etwas Weißes, Großes, Bewegliches.
»Endlich!«, tönte das Etwas und hüpfte elegant auf Frau Zacherls Schulter.
Sowohl Liv als auch ihrer Chefin klappte der Kiefer herab. Es handelte sich um einen Weißhaubenpapagei, der zweifelsohne in der Lage war zu sprechen.
»Viiiieel zu lang … gedauert!«, brüllte er krächzend.
Und damit war die Ruhe vorbei.
Homer sprang auf und bellte. Der Papagei – Leopold – plusterte sich auf.
Homers Nasenhaare vibrierten, er fixierte den Vogel und machte einen Satz nach vorn.
Leopold begann zu flattern.
»Spinnst du? Spinnst du?«, plärrte er. Er segelte über den Kopf seiner Besitzerin hinweg und rupfte ihr dabei mit den Krallen einige Strähnen aus der wohlgeordneten Frisur. Sie kreischte erschrocken auf. Der Papagei vollführte einen kleinen Sturzflug, um gleich darauf senkrecht nach oben durchzustarten. Offenbar peilte er die Gardinenstange an, die zwei Schiebevorhänge trug.
Homer aber sah nicht untätig zu. Er hüpfte hoch und schnappte nach dem Vogel, biss jedoch ins Leere.
Frau Dr. Eichmüller rief ihn zu sich, aber der Hund dachte nicht daran, zu gehorchen. Während Leopold auf der Stange über dem Fenster landete, hüpfte er wiederholt nach oben und zerrte mit seinen Pfoten an der Schiebegardine.
»Aufhören!«, schrie Frau Zacherl aufgebracht, und der Vogel plapperte es ihr nach.
»Aufhören! Aufhören!«
»Homer! Hierher!«, brüllte die Rechtsanwältin indes.
Es herrschte absolutes Chaos. Liv hatte keine Ahnung, wo sie zuerst hinschauen sollte, ganz abgesehen davon, was sie tun könnte.
Da passierte es auch schon. Die Eisenstange glitt wegen des ständigen Gezerres an der Gardine linkerseits über den Haken aus der Verankerung, schoss pfeilgerade nach unten und schwenkte nach rechts aus. Mit ihrem großen runden Knauf traf sie Frau Zacherl, die dort stand und zeterte, direkt an der Stirn. Sie fiel um wie eine gefällte Eiche.
»Knock-out! Knock-out!«, grölte Leopold entsetzt und flatterte aufgeregt durchs Zimmer.
Homer, sichtlich verwirrt angesichts der neuen Lage, hielt inne. Gerade als er Frau Zacherls Gesicht abschlecken wollte, öffnete sie die Augen und kreischte los. »Hilfe! Hilfe!«
Beherzt griff Dr. Eichmüller ihren Hund am Halsband und zog ihn von der Mandantin weg. Während der Vierbeiner endlich wieder in seinem Körbchen Platz nahm, setzte sich Frau Zacherl auf.
»Das wird ein Nachspiel haben!«, zeterte sie und rieb sich die Stirn, auf der ein kreisrunder roter Fleck sichtbar wurde. »Ich werde Sie verklagen!«
Liv warf sich lachend die Hand vor den Mund. Was für eine Szene! Was für eine kuriose Situation! Sollte ihre Chefin im Auftrag der Frau nun gegen sich selbst prozessieren?!
Olivia trat sich die Füße auf der Kokosmatte ab und schüttelte ihren Regenschirm aus. So ein grässliches Wetter. Der November eilte seinem Ruf bereits Ende Oktober voraus. Mit klammen Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Drinnen empfing sie angenehme Wärme, und die Deckenlampe aus dem Wohnzimmer warf einen Lichtkegel in den Flur. Jan war also schon zuhause.
»Ich bin da!«, rief sie, stellte ihre Tasche ab und schälte sich aus dem feuchten Wollmantel.
Sie erhielt keine Antwort. Es störte sie kaum. Sie schlüpfte in ihre kuschligen hellgrauen Plüschpantoffeln, strich ihr Kleid glatt und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ein paar Wassertropfen stoben in alle Richtungen davon.
Sie warf einen Blick in den Spiegel. Dank ihres Pixie-Schnitts saß die Frisur trotzdem. Plötzlich sah sie sich in die eigenen Augen. Ebenso wie ihr Haar waren sie braun, doch sie schimmerten nicht annähernd so intensiv. Früher einmal, aber heute wirkten sie müde und abgeschlagen. Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Es war schmal und eine Spur zu blass, selbst für diese Jahreszeit, passte aber zu ihren Körperproportionen. Sie musterte sich. In dem schwarz melierten Wollkleid wirkte sie schlank, der schlichte fingerbreite Gürtel lag locker auf ihren Hüften. Dabei würde sie viel lieber mit einem dicken Bauch herumlaufen. Einem Babybauch! Doch diese Hoffnung hatte sie vor Wochen begraben.
Nachdem sie und ihr Mann Jan es über zwei Jahre versucht und selbst ärztliche Hilfe in Anspruch genommen hatten, musste sie einsehen, dass ihr dieser Wunsch wohl niemals erfüllt werden würde.
Seufzend strich sie sich noch einmal über die Taille, in dem Bemühen, sich wenigstens über ihre tolle Figur zu freuen. Doch der Effekt blieb aus. Also straffte sie die Schultern und ging in die Küche.
Über dem Herd brannte Licht, ansonsten war der Raum in Grautöne gehüllt. Sie lugte durch die Verbindungstür ins Wohnzimmer.
Jans aschblonder Schopf ragte über der Couchlehne heraus. Er trug Kopfhörer und schien vertieft zu sein.
Für einen Moment hellte sich ihr Gesicht auf. Sie wollte zu ihm gehen und ihm von ihrem Tag erzählen.
Sie arbeitete als Rechtsanwaltsgehilfen in einer renommierten Kanzlei Bambergs. Ihre Chefin Frau Dr. Eichmüller war streng aber fair. Dafür, dass Olivia auf Grund ihrer In-vitro-Behandlungen über Wochen ausgefallen war, hatte sie Verständnis aufgebracht und sie ohne Groll vor einiger Zeit wieder ins Arbeitsleben einsteigen lassen. Der Job tat Liv gut. Er ließ ihr keinen Raum für die kreisenden Gedanken, die sie sonst plagten. Außerdem war er durchaus nicht staubtrocken, sondern hin und wieder sogar sehr amüsant. So wie heute.
Unwillkürlich musste sie grinsen, als sie an das Papageienspektakel dachte. Sie lief auf Jan zu. Über solche Anekdoten hatten sie sich früher gemeinsam schlappgelacht.
Doch in diesem Moment erhob er sich, streifte die Kopfhörer ab und entdeckte sie.
»Hey Liv!«, sagte er und lief geradewegs an ihr vorbei.
»Hey.« Sie drehte sich um und beobachtete ihn, wie er den Wasserkocher anwarf. Dann griff er nach einer Tasse und suchte in ihrem Teesortiment herum. Schließlich zog er einen Beutel heraus.
»Soll ich uns was kochen?«, fragte sie. Ihr Magen knurrte zustimmend.
»Ne, muss nicht sein.«
Mit gerunzelter Stirn lehnte sie im Türrahmen und starrte in seinen Rücken. Lag es an ihren unzulänglichen Kochkünsten? Sie wusste selbst, dass sie zwar eine recht passable Hausfrau war, doch was die Essenszubereitung betraf, fehlte ihr etwas … Vermutlich das Koch-Gen? Meistens schmeckte es so lala, und ehrlicherweise gab es tausend Dinge, die sie lieber machte. Aber sie bemühte sich stets.
Doch vielleicht tat sie Jan auch unrecht, weshalb sie ihre Gedanken in eine andere Richtung lenkte.
»Hast du schon gegessen?«, wollte sie wissen.
»Ja, ich war mit einem Kunden unterwegs.«
»Aha. Schön.« War es nicht. Früher hätte er ihr eine Nachricht geschickt und sie informiert, damit sie sich am Heimweg eine Kleinigkeit mitnehmen konnte.
Er goss seinen Tee auf. Auf die Idee, ihr ebenfalls einen anzubieten, kam er nicht.
In Liv zog sich etwas zusammen. Der Hunger war ihr vergangen, ebenso wie der Drang, ihm von den amüsanten Vorkommnissen in der Kanzlei zu berichten. Das ging ihr in letzter Zeit häufiger so. Leider.
Unwillkürlich fragte sie sich, wann sie beide sich zu dem entwickelt hatten, was sie heute waren. Ein ›altes‹ Ehepaar, das kaum mehr miteinander redete. Wenn sie es taten, ging es überwiegend um sachdienliche Informationen, und selbst da schwangen oft genug Untertöne mit.
Diese Babysache hatte sie scheinbar nicht nur viel Geld gekostet, sondern auch ein großes Stück ihrer gegenseitigen Zuneigung. Ja, wenn sie darüber nachdachte, hatten sie sich irgendwie entfremdet, während sie praktisch Tag und Nacht miteinander Sex gehabt hatten. Die Emotionen waren bereits nach kurzer Zeit abgeebbt. Es handelte sich bald lediglich um einen Akt der Babyproduktion, zwischen Temperatur messen und Hormonspritzen. Als auch das nichts gebracht hatte, waren sie übereingekommen, es mit der teuren In-vitro-Behandlung zu probieren. Ab da wurde es irgendwie steril zwischen ihnen … Ihr Alltag bestand irgendwann nur noch aus Hoffen und Bangen. Dass Liv dank der Hormonbehandlungen obendrein oft zickig wurde, hatte ihrer Beziehung zusätzlich geschadet.
Seit einigen Wochen war die Therapie nun vorbei. Sie hatte gedacht – gehofft –, dass sich damit zwischen ihnen wieder alles einrenken würde, doch bislang war davon nichts zu spüren. Sie lebten nebeneinanderher, so gut sie konnten. Immerhin. Doch war das genug?
Sie war gerade mal Mitte dreißig, Jan noch keine vierzig. Sie hatten das Leben noch vor sich! Sollten sie es in dieser Weise miteinander verbringen?
* * *
Jan rührte in seiner Tasse herum, obwohl das überhaupt nicht nötig war. Der Teebeutel kam auch ohne sein Zutun zurecht. Trotzdem hatte er damit wenigstens eine Beschäftigung. Er spürte Livs Blick im Rücken, ebenso wie die unausgesprochenen Worte, die in der Luft hingen. Welcher Art sie waren, konnte er nicht bestimmen, weshalb er sich auch scheute, etwas zu sagen. Aber er wusste, dass Liv in der Tür lehnte und ihn betrachtete. Ob sie noch den Mann da stehen sah, in den sie sich einst verliebt hatte?
Natürlich war er ein paar Jährchen älter geworden, doch im Grunde schaute er immer noch so aus wie damals, vor zehn Jahren. Dank seines regelmäßigen Lauftrainings war er schlank geblieben. In seinem aschblonden Schopf hatte er bislang noch kein graues Haar entdecken können, dafür war seine Iris hellgrau. Doch das war sie seit jeher. Früher hatte Liv oft gemeint, seine Augen besäßen dadurch etwas Tiefgründiges und Entspannendes zugleich. Empfand sie das heute auch noch so?
Er drehte sich zu ihr um. Sie war eine wirklich schöne Frau, und wenn sie lachte, ging für ihn die Sonne auf. Leider tat sie das nur noch selten. Schon komisch, dass gerade der Wunsch, gemeinsam eine Familie zu gründen, sie voneinander entfernt hatte.
Miteinander Gespräche zu führen war eine Fifty-fifty-Chance, um in einen Streit zu geraten. Warum das so war, wusste er nicht. Nur, dass die Erfahrung zeigte, dass sie sich mittlerweile selbst über die Wetterprognose in die Wolle bekommen konnten. Waren ihre Einstellungen so unterschiedlich geworden? Was war aus den alten Zeiten geworden, in denen sie nächtelang geredet hatten, gelacht und sich geliebt?
Er hatte sie schon ewig nicht mehr berührt.
Mit der In-vitro-Behandlung war er von ärztlicher Seite aufgefordert worden, seinen Teil in einem abgeschlossenen Zimmer in eines dieser Reagenzgläser beizutragen. Livs Höhepunkt erfolgte dann seitens des Gynäkologen, der das befruchtete Ei in ihre Gebärmutter einsetzte.
Unwillkürlich schüttelte es ihn. Mit einem ›Kind aus Liebe gezeugt‹ hatte das alles nicht mehr viel zu tun gehabt. Seufzend gestand er sich ein, dass er froh war, nichts von alledem mehr durchmachen zu müssen.
Trotzdem vergrub er sich seitdem in seine Arbeit. Er war IT-Berater und arbeitete im Home-Office oder bei den Kunden vor Ort. Zu tun hatte er mehr als genug. Dennoch hatte er bislang stets eine ausgewogene Balance zwischen Job und Privatleben gefunden, aber seit geraumer Zeit verschanzte er sich geradezu hinter seinem Beruf.
Neuerdings ging er auch deutlich öfters mit seinen Auftraggebern ins Restaurant. Das hatte allerdings weniger mit Livs schlechten Kochkünsten zu tun. Neben der Nahrungsaufnahme ging es ihm um die Unterhaltung am Tisch. Seltsamerweise fühlte er sich in Gesellschaft Fremder oftmals entspannter als mit Liv.
Aber das konnte er ihr kaum sagen, weshalb sie sicherlich dachte, es läge an ihrem Essen. Er wollte ihr erklären, dass es nicht so war. Doch wieder einmal fehlten ihm die richtigen Worte. Also ließ er es.
»Okay, ich muss noch ein bisschen was tun.« Er schnappte sich seine Tasse und fing ihren Blick auf. Ein Hauch von Traurigkeit lag darin. Oder dachte er sich das bloß? Ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie wirkte frischer als sonst.
»Ja, wenn das so ist …«, murmelte sie und schlug die Lider nieder. Als sie sie wieder öffnete, fielen ihm ihre langen schwarzgefärbten Wimpern auf. Sie standen im direkten Kontrast zu ihrem roten Mund. Ein Rest von Lippenstift hatte sich bis zum Abend gehalten. Plötzlich wollte er sie in den Arm nehmen und küssen. Und wenn er sie wieder losließ, wäre alles wie früher. Ein schöner Gedanke.
Unbeholfen trat er einen Schritt auf sie zu. Dann fiel ihm ein, dass er ja noch die Tasse mit dem brühwarmen Tee in der Hand hielt.
»Hattest du einen schönen Tag?«, fragte er also stattdessen.
»Ja«, lautete die einsilbige Antwort. Aber ihr Mund blieb einen Spalt offen, so als wollte sie etwas hinzufügen. Tat es jedoch nicht.
»Du, ich kann auch später noch mal an den Rechner«, bot er ihr an.
»Nein, nicht nötig. Mach dein Ding. Ich werde mein Buch zu Ende lesen.« Wie zum Beweis drehte sie sich um und zeigte auf den kleinen Beistelltisch neben dem Sofa, wo der Roman auf sie wartete.
Enttäuschung kroch durch seine Adern, als er sich abwandte und in sein Büro verschwand.
»Hey ihr Süßen! Wie geht´s euch denn?«, rief Izzy und umarmte nacheinander ihre Freundinnen.
Olivia, Scarlett und Tammy saßen bereits am reservierten Tisch beim Italiener. Wie immer war Izzy die Letzte, die kam.
Ein Hauch von Narzissen kroch Liv in die Nase, als sie sie an sich drückte.
»Hm. Du riechst nach Frühling«, meinte sie. Es tat so gut, alle drei Freundinnen mal wieder vereint um sich zu haben.
Seit Teenagertagen waren sie so was wie die vier Musketiere. Selbst ihre unterschiedlichen Lebenswege hatten sie nicht trennen können. Denn Tammy lebte inzwischen auf Usedom. Dort wo andere Urlaub machten, hatte sie ihr Glück gefunden. Izzy wohnte schon seit Jahren in Berlin, da in der Hauptstadt die meisten ihrer Auftraggeber ansässig waren. Sie verdiente ihr Geld als Unterwäschemodel und hatte sich damit ihren Traum erfüllt. Nur Scarlett war neben Liv in Bamberg geblieben.
Viermal im Jahr trafen sie sich in ihrer Heimatstadt, ansonsten gab es glücklicherweise das Smartphone, sodass sie gegenseitig immer halbwegs auf dem Laufenden waren. Doch einen Mädelsabend konnte es natürlich nicht ersetzen.
Sofort ging das Geplapper los. Eine jede von ihnen hatte einiges zu berichten. Das Geschnatter wurde nur unterbrochen, um eine Bestellung aufzugeben, und wenn man sich die Gabel in den Mund steckte. Zu Pizza und Spagetti gab es Rotwein, den Liv sich schmecken ließ.
Die samtig rote Flüssigkeit rann wohlig ihren Gaumen hinab, während sie den anderen zuhörte. Die hatten so viel zu erzählen, dass es kaum auffiel, wenn sie selbst sich zurückhielt.
Was hätte sie auch beitragen sollen? Der Kinderwunsch war passé, die quälende Zeit der Hormonspritzen vorbei, und ihre Ehe hatte Schiffbruch erlitten. Das war´s, mehr gab es nicht zu sagen. Kurz, knapp, ernüchternd. Da hörte sie lieber den anderen zu und lachte zusammen mit ihnen über deren Anekdoten, die sie zum Besten gaben.
Aber irgendwann fiel es doch auf, dass sie nicht viel zum Gespräch beitrug.
»Nun zu dir, Liv. Welche bahnbrechenden Neuigkeiten gibt’s bei dir zu verkünden?«, fragte Tammy gutgelaunt.
»Oh, mal überlegen.« Sie stellte ihr inzwischen leeres Glas langsam am Tisch ab. »Ich denke, meine neuste Erkenntnis ist, dass ich öfters Rotwein trinken sollte. Er schmeckt fantastisch! Ich habe viel zu lange darauf verzichtet, das wird sich jetzt ändern. Schließlich gibt es keinen Grund mehr, auf Alkohol verzichten zu müssen.« Sie grinste beseelt.
»Hört, hört!« Prompt schenkte Izzy nach.
»Und er macht die Zunge so schön schwer«, befand Scarlett.
»Was? Lalle ich etwa schon?« Liv schluckte und spürte auf einmal ihre hitzigen Wangen.
»Wie? Nein. Ich rede von mir«, erklärte Scarlett. »Ich bin Alkohol auch nicht mehr gewöhnt. Seitdem Noah auf der Welt ist, falle ich abends nur noch ins Bett.«
Liv nickte verständig. Ihr Patenkind war wirklich ein kleiner Racker durch und durch. Das Herz wurde ihr so weit, dass sie den Stich kaum merkte. Auch wenn ihr diese Erfahrung als Mutter wohl nie zuteilwerden würde, gönnte sie Scarlett ihr Glück zutiefst. Sie war kein neidischer Mensch, und positiv betrachtet konnte sie wenigstens in der Nacht durchschlafen.
Die Freundinnen stießen miteinander an.
»Oh Gott! Ich glaube, ich habe einen Tee«, gestand Scarlett.
Izzy kicherte. »Gut möglich. Du hast dein Glas fast in einem Zug geleert.«
»Wirklich?«, meinte sie überrascht und besah sich eingehend den Anstandsrest in ihrem Weinglas.
Liv gluckste. »Du schielst ja schon.«
Ganz so schlimm war ihr ›Zustand‹ erfreulicherweise doch noch nicht.
»Hm-hm-hm.« Scarlett gackerte.
»Ich glaube, ich bring dich besser heim«, überlegte Tammy.
»Schätze, das ist eine gute Idee«, stimmte sie zu, und ehe sich Liv versah, saß sie mit Izzy allein am Tisch.
»Also, jetzt erzählt mal. Wo drückt der Schuh?«, meinte die Freundin prompt, kaum dass die anderen gegangen waren, und bestellte für sie beide je einen Cappuccino als Absacker.
Erstaunt blickte Liv auf.
»Nun guck nicht so. Ich habe dich den Abend über beobachtet. Du warst relativ still. Hast du immer noch Probleme, diese Babygeschichte zu verarbeiten?«, fragte sie salopp weiter. Doch Liv war froh darüber, dass ihre Freundin eher locker damit umging. Das war besser, als es auch noch zu dramatisieren.
»Nein. Das ist es nicht«, antwortete sie und war positiv davon überrascht, weil es der Wahrheit entsprach.
»Was dann? Gibt es wieder mal Reibereien zwischen Tabea und deinen Eltern?«
»Wie? Nein. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß.« Ihre kleine Schwester war so was wie das schwarze Schaf in der Familie. Während Liv immer die Brave und Besonnene war, nahm es sich Tabea heraus, das Leben in alle Richtungen auszutesten. Sehr zum Leidwesen ihrer Eltern, die ein Problem damit hatten, dass ihre Jüngste ihre Jobs wechselte wie andere ihre Männer. Wobei das bestimmt ebenfalls kaum ihren Zuspruch gefunden hätte. Aber was Tabeas Liebesleben betraf, hielt sich die kleine Schwester sehr bedeckt. Es reichte auch schon, dass sie mittlerweile in München lebte und dort ständig auf Achse zu sein schien. Liv fungierte deshalb häufig als Puffer zwischen den Eltern und ihrer Schwester, was ihr jedoch oftmals zusetzte. Denn der Altersunterschied von acht Jahren in Kombination damit, dass ihre Eltern Liv gerne als Vorzeigekind präsentierten, erschwerte eine sonderlich innige Beziehung der Schwestern.
»Okay, woran liegt es dann? Ist es der Job? Hast du Schwierigkeiten, dich wieder in deinen Alltag einzufinden?«, wollte Izzy wissen.
»Überhaupt nicht. Das ist wie Fahrradfahren. Einmal gelernt, wie der Hase läuft … Na du weißt schon. Meine Chefin Dr. Eichmüller hat mir erst gestern gesagt, wie froh sie ist, dass ich den Laden wieder schmeiße.« Das war der Moment gewesen, nachdem Liv beherzt in die chaotische Situation von Hund und Papagei eingegriffen und sie entschärft hatte. Froh, die Geschichte endlich jemandem erzählen zu können, sprudelte sie geradezu aus ihr heraus. »Während meine Chefin auf Homer fixiert war, hab ich mir Leopold einfach geschnappt. Du hättest sein Geschrei mal hören sollen. ›Loslassen! Vergewaltigung!‹ hat er andauernd gekräht.«
»Was? Woher kennt er denn überhaupt solche Wörter?«, fragte Izzy aufgekratzt. Die Story amüsierte sie sichtlich, und Liv wuchs einen Zentimeter über sich hinaus.
»Na ja, Frau Zacherl hat eben einen Vogel«, erklärte sie kichernd, und die Freundinnen brachen in schallendes Gelächter aus.
»Jedenfalls hab ich ihn ohne Rücksicht in seinen Vogelrucksack gesteckt«, berichtete sie dann weiter.
»Lass mich raten. Er hat ›Nötigung‹ gerufen?«
»Das hätte noch gefehlt.« Liv gluckste. »Er hat sich mit ›Frechheit‹ begnügt. Ebenso wie sein Frauchen. Sie haben es zweistimmig gerufen. Woraufhin Homer angefangen hat zu jaulen. Ungelogen, im Irrenhaus kann es nicht schlimmer zugehen. Meine Chefin hat Migräne bekommen, und mir reichte es auch. Ich hab die beiden nach draußen bugsiert.«
»Was für ein Desaster.« Izzy schüttelte ungläubig den Kopf. »Da sag mal einer, mit Rechtsanwälten gäbe es nix zu lachen.«
Der Cappuccino wurde serviert, und die Freundinnen beruhigten sich.
»Hach, es ist schön, dich mal wieder so gelöst zu erleben.«
»Ja, es tut wirklich gut«, stimmte Liv zu. »Leider hab ich das Gefühl, selten die Gelegenheit dazu zu bekommen«, sprach sie ihre Gedanken laut aus.
»Wieso? Jan hat sich doch gewiss ebenso amüsiert über euer Bürofiasko wie wir gerade.«
»Nein, eigentlich nicht.« Angestrengt spielte Liv mit ihrer Kaffeetasse. Als sie den fragenden Blick ihrer Freundin auffing, fügte sie seufzend hinzu: »Konnte er auch schlecht. Ich hab ihm davon gar nichts erzählt.«
»Aber Livy, weshalb?«
»Keine Ahnung. Irgendwie ist bei uns der Wurm drin. Wir reden seit einiger Zeit kaum. Wenn wir es tun, kriegen wir uns – warum auch immer – schnell in die Haare. Ich weiß nicht, es liegt so eine gewisse Spannung in der Luft …« So, nun war es ausgesprochen.
»Hm«, machte Izzy nur. Dann rechnete sie mit den Fingern nach. »Na klar«, rief sie plötzlich, »ihr seid im verflixten siebten Jahr!«
»Was?«
»Ihr seid jetzt sechs Jahre verheiratet. Das siebte ist das verhexte, das weiß doch jeder«, erklärte sie weise.
»Aha und wie bringt mich das weiter?«
»Na …« Sie zuckte mit den Achseln. »Immerhin wissen wir jetzt schon mal, woran es liegt.«
»Du glaubst also nicht, dass das was mit der Kinderwunschgeschichte zu tun hat?« Sie war wenig von der Theorie ihrer Freundin überzeugt.
»Mag sein, dass das mit reingespielt hat. Aber nein, ich denke, es liegt einfach am Zeitpunkt. Da müssen alle Paare durch, wenn sie miteinander alt werden wollen.«
»O-kay. Hast du denn dann irgendwelche Tipps für mich? Ich meine, wenn du offenbar schon Profi in Beziehungsfragen bist?« Dass Izzy ein eingefleischter Single war und sich noch nie längerfristig gebunden hatte, wollte sie gar nicht anführen. Dank des Rotweins war sie ziemlich gutgelaunt und gespannt, was ihr die Freundin raten würde. Belustigt schaute sie sie an.
»Also mal überlegen.« Izzy spitzte die Lippen und hielt in Denkerpose die flachen Hände aneinandergelegt vor die Nase. »Du hast von Spannungen gesprochen. Richtig?«
Liv nickte.
»Knisternde Spannung?«
»Ha, schön wär´s«, japste sie.
Prompt schoss Izzys Zeigefinger nach vorn. »Da haben wir´s doch schon.«
»Echt?«
»Klar! Euch ist die Anziehungskraft abhandengekommen. Das passiert vielen, wenn sie länger zusammen sind.«
»Wirklich? Deshalb bindest du dich wohl so ungern?«, fragte Liv amüsiert. Den Kommentar konnte sie sich einfach nicht verkneifen.
»Schon möglich. Um mich geht´s hier allerdings nicht.«
»Eins zu null für dich. Und was schlagen Frau Naseweis dann vor?«
»Na, dass ihr wieder Feuer fangen müsst. Ein bisschen verliebt sein, meine ich. Verstehst du?«
Liv lachte laut auf. Das wäre wirklich schön. Wie das in der Praxis funktionieren sollte, wusste sie jedoch nicht.
»Was ist denn daran so witzig? Ich bemühe mich grad echt, dir zu helfen«, reagierte Izzy eingeschnappt.
»Stimmt. Verzeih mir bitte. Und du hast mit alledem vermutlich sogar recht. Nur ist es nicht so leicht umzusetzen, wie du es dahersagst. Weder ich noch Jan können auf den Knopf drücken, und ›bumm!‹ sind wir wieder verknallt wie am ersten Tag.«
»Dann müsst ihr eben daran arbeiten.«
»Du schlägst also vor, dass ich jetzt heimgehe und ihm genau das sage? Wie stellst du dir das vor?«
Izzy dachte einen Moment scharf nach. Wie immer sah sie selbst mit gerunzelter Stirn verdammt hübsch aus. »Pass auf. Aktion löst Reaktion aus.«
»Aha. Woher weißt du das denn nun wieder?«
»Och, ich hab da neulich mal ein Fotoshooting für eine Werbekampagne eines Therapiezentrums gemacht. Dabei hab ich ein bisschen was aufgeschnappt.«
»Du hast dich in Unterwäsche auf ein Sofa gesetzt, und mit den Bildern soll für eine Therapiepraxis geworben werden?« Liv machte große Augen. »Also, auf das Publikum, das darauf anspringt, wäre ich echt neugierig.«
»Quatsch.« Izzy kicherte. »Ich war ganz solide angezogen. Mit Rolli und Jeans. Ich mach doch nicht nur in Unterwäsche! Man muss flexibel sein bei den Jobangeboten.«
»Na, da bin ich ja beruhigt.«
»Gut, dann können wir also zurück zum Thema kommen? Also, es reicht im Grunde schon, wenn du etwas an deinem Verhalten gegenüber Jan änderst. Du wirst sehen, dass sich daraufhin auch sein Umgang mit dir wandeln wird.«
»Wow, Izzy! Du klingst richtig reif und erwachsen.«
Liv hatte so eine Aussage von der Freundin nicht erwartet. Sie war seit jeher das Küken in der Clique, ein Wirbelwind und immer auf der Suche nach etwas Neuem.
»Tja, auch an mir geht das Leben nicht einfach so vorbei. Wobei das Wort ›reif‹ in meiner Branche eher nicht gern gehört wird.« Unvermittelt guckte sie an sich herab und knirschte mit den Zähnen.
»Du schaust wie immer klasse aus«, beruhigte Liv sie sofort. Ihr Aussehen war Izzys Kapital, das wussten sie alle. Doch darüber brauchte sich die Freundin wirklich keine Sorgen zu machen. Sie besaß eine Grundschönheit, die sich nicht abstreiten ließ. Obendrein hatte sie einen Wahnsinnsstoffwechsel. Sie konnte so ziemlich alles essen, was sie wollte, ohne ein Gramm zuzunehmen. Beneidenswert.
»Ja, na ja. Wo waren wir?«
»Du sagtest, ich sollte mich Jan gegenüber anders verhalten.« Unwillkürlich runzelte sie dabei die Stirn.
»Richtig.« Izzy nickte kraftvoll.
»Also, ich verstehe, was du meinst. Aber mit dem Wie hab ich so meine Probleme«, gestand sie. »Soll ich mich ihm an den Hals werfen?« Das konnte sie sich in der aktuellen Lage überhaupt nicht vorstellen.
Izzy lachte. »Das wäre ein Anfang.«
»Ha, ha. Das geht nicht, so wie wir momentan zueinander stehen.«
Der Kellner kam an ihren Tisch und räumte das Geschirr ab. Die Freundinnen baten um die Rechnung.
»Du musst ja nicht gleich die Sirene spielen. Ein bisschen flirten würde vermutlich schon ausreichen.«
»Flirten?«
»Ja, um das Kribbeln wieder hervorzukitzeln.«
»Flirten – das ist schon ewig her.«
»Eben drum!«
»Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.«
»Ladys, ein Limoncello aufs Haus?«
Liv und Izzy schauten auf. Mit einem Tablett, auf dem vier Schnapsgläser standen, trat der Kellner an den Tisch. »Oh, die anderen sind ja bereits gegangen«, erinnerte er sich nun. »Möchten Sie beide dann zwei?«
Mit einem spitzbübischen Grinsen servierte er ihnen den jeweils doppelten Zitronenschnaps.
»Aber klar doch. Da sagen wir nicht Nein«, flötete Izzy sofort und zwinkerte ihm zu.
»Eben, auf einer süßen Zitrone kann man nicht stehen«, erwiderte er und konnte sichtlich den Blick nicht von ihr wenden.
Liv beobachtete die beiden. Graziös reichte ihre Freundin ihm ihre Kreditkarte. Mit geschmeidigem Griff nahm er sie. Selbst das Rattern des Lesegeräts schien nicht so monoton wie sonst zu sein, sondern viel eher beschwingt.
»Hier bitte.« Er gab ihr das Plastikteil zurück. »Ich bin übrigens Antonio. Und du?«
»Isabel.«
»Ah. Die schöne Isabella!« Seine Augen funkelten, und Izzy hob amüsiert die linke Braue. Einen Moment lang sahen sie sich nur an, dann deutete ihre Freundin auf sie.
»Und das ist Olivia«, stellte sie sie vor.
»Oh, hallo.« Es fiel ihm sichtlich schwer, seinen Blick von der schwarzhaarigen Schönheit zu lösen. Doch schließlich gelang es ihm. »Ähm, das wären dann achtundvierzig sechzig, bitte«, sagte er zu Liv.
Als sie ihm ihre Karte reichte, hatte er Mühe, sie zu greifen, und auch das Lesegerät knatterte wie üblich abgehackt vor sich hin. Dann stand er da, und ihm war anzusehen, dass er überlegte, was er noch zu Izzy sagen konnte. Garantiert war er auf ihre Nummer aus.
Diesen Gefallen tat sie ihm aber nicht.
»Danke, Antonio, das Essen war wirklich lecker. Wir kommen gerne wieder«, machte sie ihm deutlich, dass er nun nicht mehr erwünscht war, woraufhin er widerwillig verschwand.
»Siehst du. Das ist flirten«, ereiferte sich Izzy, kaum dass er außer Hörweite war.
»Hab ich bemerkt.«
»Das kannst du auch.« Die Freundin nahm eines der Gläser mit der gelben Flüssigkeit in die Hand und prostete ihr zu.
»Pha«, brummte sie nur und stürzte sich den Inhalt in den Rachen. Allein die Vorstellung, so mit Jan umzugehen, verursachte ihr Gänsehaut. Er würde doch meinen, sie hätte sie nicht mehr alle. Bestimmt würde er sie fragen, ob es ihr gutginge, wenn sie in einem so perligen Ton mit ihm redete. Prompt verschluckte sie sich und begann zu prusten.
»Weißt du was? Vielleicht solltest du ein bisschen üben«, überlegte Izzy laut, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
»Üben?«, krächzte sie. »Wie denn das? Soll ich jetzt jeden Tag zum Italiener gehen?« Nun ja, gegen das Essen hätte sie nichts einzuwenden, allerdings … »Bei mir legen die Pfunde deutlich schneller an, da seh ich innerhalb eines Monats ja aus wie eine Kugel.« Außerdem standen sie finanziell derzeit auch nicht ganz so gut da wie noch vor ein bis zwei Jahren. Die In-vitro-Behandlungen waren ziemlich teuer gewesen. Das war mit ein Grund, weshalb sie sich dagegen entschieden hatten, es noch weiter zu probieren …
Izzys Kichern brachte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.
»Eine lustige Idee, aber das meinte ich nicht. Ich dachte eher an so was wie …« Sie suchte nach den richtigen Worten der Erklärung. »Ach, ich zeig´s dir am besten einfach. Gib mir mal dein Handy.«
»Wozu?« Verblüfft schob sie ihr Smartphone über den Tisch zu ihrer Freundin.
Mit flinken Fingern tippte Izzy darauf herum, keine drei Minuten später hielt sie ihr das Display unter die Nase.
Liv starrte auf eine Facebook-Seite. Genau genommen handelte es sich um eine Gruppenseite. Etwas von ›neue Leute kennenlernen und Freunde finden‹ stand da.
Izzy beobachtete aufmerksam ihre Reaktion.
»Was soll ich da? Ich habe doch schon die besten Freundinnen, die man haben kann!«, fragte sie begriffsstutzig.
»Oh wie lieb!«, flötete Izzy und umarmte sie flüchtig. »Aber darum geht´s in deinem Fall doch gar nicht. Hier kannst du ein wenig das Flirten üben. Immer und überall. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. So wie es dir gerade passt.«
»Ich soll onlinedaten?!«, erkundigte sich Liv schrill und etwas zu laut.
Prompt fing sie Antonios interessierten Blick auf.
Sie schluckte und merkte, dass sie rot wurde.
»Ich bin verheiratet!«, zischte sie dann leise.
»Das weiß ich doch. Das ist ja auch kein Datingportal, sondern nur eine Gruppe, wo man neue Leute trifft. Ganz informell und anonym. Ich finde das ideal, um ein wenig in Übung zu kommen …«
Wofür, fragte Liv vorsichtshalber lieber nicht nach, entschied sich aber zumindest dafür, ihrer Freundin einen Vogel zu zeigen.
Die ignorierte es jedoch geflissentlich und plapperte weiter. »Liv, du sollst keine Affäre anfangen! Nur ein bisschen plaudern, ein wenig schäkern. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja. Nein. Ich bin mir nicht sicher …«
»Das tut dir und deinem Selbstbewusstsein gut. Und wenn du locker genug bist, klappt es dann auch mit deinem Ehemann. Du wirst schon sehen.«
Izzy gab ihr einen kameradschaftlichen Schulterstoß und schob ihr den zweiten Limoncello hin. Na denn prost.
Als Liv nach Hause kam, schlief Jan bereits. Vom Alkohol beseelt fiel auch sie in die Federn, doch knapp zwei Stunden später wachte sie wieder auf. Benebelt fragte sie sich, ob sie Izzys Idee mit der Datingapp nur geträumt hatte. Ach nein, es hatte sich um eine Facebook-Gruppe gehandelt, fiel es ihr ein. Hatte ihre Freundin sie demnach tatsächlich dort angemeldet? Es ließ ihr keine Ruhe, also tappte sie verschlafen in die Küche, wo ihr Handy über Nacht am Ladegerät angeschlossen war.
Blinzelnd öffnete sie die App und befand sich sofort in dem Forum. Schnaufend sank sie auf den Stuhl. Dann fiel ihr Blick auf ihr Profilbild. Frech schnitt sie darauf eine Grimasse in die Kamera. So konnte sie sich unmöglich fremden Leuten präsentieren! Also lud sie stattdessen ein Foto hoch, das sie erst vor Kurzem geknipst hatte. Es zeigte eine Parkbank im Regen, die mit roten Ahornblättern übersät war. Ja, das gefiel ihr. Es war unverfänglich und dennoch schön anzusehen. Ihr Blick traf auf ihren Namen, der eindeutig auf sie als reale Person hinwies.
Sie hatte ihr Nutzerkonto vor ein paar Jahren eingerichtet, weil sie auf der Suche nach ehemaligen Mitschülern gewesen war, um ein Klassentreffen zu organisieren. Einige wenige hatte sie über Facebook tatsächlich ausfindig machen können. Seitdem hatte der Account vor sich hingeschlummert. Bis jetzt!
Schnell öffnete sie die Bearbeitungszeilen ihrer Angaben und löschte den Namen. Doch was sollte sie stattdessen angeben?
Sie starrte durch das Fenster in die schwarze Nacht. Hexen, Geister und Batman fielen ihr ein, die um diese Zeit da draußen ihr Unwesen treiben könnten. Vielleicht sollte sie sich Catwoman nennen? Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Das passte nicht zu ihr. Sie schickte Izzy einen verfluchten Dankesgruß, und plötzlich wusste sie, wie sie sich nennen wollte. Morticia, so wie die schwarzhaarige Schönheit aus der Adams Family.
Als sie mit ihren Freundinnen zu ihrem Junggesellinnenabschied in Las Vegas gewesen war, hatte dort ein Junge Izzy gefragt, ob sie Morticia sei. Und tatsächlich hatte sie an jenem Tag, übermüdet und verkatert, wie sie gewesen war, eine verdammte Ähnlichkeit zu der Figur aufgewiesen, mit ihrer zerzausten schwarzen langen Mähne und dem enganliegenden schwarzen Kleid.
Nun, da ihre Freundin sie in diese Facebook-Gruppe gebracht hatte, fand Liv es nur fair, sich in gewisser Weise dafür zu revanchieren.
Also tippte sie den Usernamen Morticia25 ein und setzte ihren Status auf Single. Was die Freundin eindeutig war. Vielleicht würde sie ja in ihrem Namen endlich den Richtigen für sie finden, dachte Liv dabei und kicherte. Was Izzy wohl sagen würde, wenn sie den Spieß damit einfach umdrehte?
Zufrieden marschierte sie zurück ins Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
* * *
»Sag mal, was ist denn mit deiner Handtasche los? Die hüpft dauernd aufgeregt herum. Hast du dir einen Taschengeist eingefangen, der shoppen gehen möchte?«, witzelte Livs Kollegin Heike. Mit einer Kaffeetasse in der Hand lehnte sie sich auf ihrem Bürostuhl zurück und musterte Liv samt ihrer Tote-Bag, die über deren Lehne baumelte.
Liv schaute auf und griff unvermittelt danach. Dass sie heute ein gewisses Eigenleben entwickelt hatte, war ihr auch schon aufgefallen. Aber daran war kein moderner Dschinn schuld, der ihr drei Wünsche erfüllen wollte – schön wär´s! –, sondern ihr Handy, das in unregelmäßigen Abständen vibrierte.
Sie zog es heraus, als es schon wieder erzitterte. Zum Glück hatte sie es während der Arbeitszeit immer auf lautlos gestellt. War sie vielleicht gehackt worden und wurde nun mit Spam-Nachrichten bombardiert? Hoffentlich nicht!
Sie guckte auf ihr Display, um zu prüfen, wer sie da permanent erreichen wollte, und fiel fast vom Stuhl.
Die Nachrichten kamen allesamt aus der Facebook-Gruppe. In der ersten wurde sie herzlich von den Administratoren willkommen geheißen, darauf folgten zahlreiche Begrüßungen von Gruppenmitgliedern. Einige von ihnen wollten sofort mit ihr in Kontakt treten, auch per persönlicher Nachricht. Mit offenem Mund überflog sie die Meldungen.
»Ist was passiert?«, wollte Heike wissen und beugte sich neugierig zu ihr herüber.
Erst als das Parfüm der Kollegin Liv in die Nase kroch, wurde sie sich dessen bewusst.
»Was? Ähm … nein. Alles okay«, brabbelte sie und steckte ihr Smartphone schnell wieder weg. Die private Handynutzung während der Arbeitszeit war nicht gern gesehen, außerdem gingen Heike ihre Nachrichten auch wirklich nichts an.
Du meine Güte!, dachte sie. Mit einem derartigen Wirbel um ihren Gruppenbeitritt hatte sie nicht gerechnet.
»Aber es muss doch was Wichtiges sein, wenn jemand dermaßen penetrant versucht, dich zu erreichen«, hakte Heike nach.
Livs Gedanken überschlugen sich. Sie fühlte sich total überfordert mit der Situation.
»Ach, das ist nur meine Familie. Es geht um ein … ein Essen«, plapperte sie das Nächstbeste aus, was ihr in den Sinn kam.
»Ein Essen? Deshalb veranstaltet ihr so viel Aufhebens?«
»Na-jaa«, antwortete sie gedehnt und starrte auf die Unterlagen, die vor ihr am Tisch lagen. Es handelte sich um eine Erbschaftsangelegenheit. Und plötzlich wusste sie, was sie vorschieben konnte. »Meine Schwiegermutter ist leider kürzlich verstorben und –«
»Ach, es geht um eine Trauerfeier? Mensch, Olivia, das tut mir aber leid. Warum hast du denn nichts davon gesagt?«
Weil es schon Wochen, eigentlich Monate, her war. Es war zu der Zeit geschehen, als Liv wegen der Kinderwunschgeschichte im Krankenstand gewesen war. Doch nun war es die perfekte Ausrede auf Heikes wissbegierige Fragen. Wenigsten war das, was sie von sich gab, nicht gänzlich gelogen.
»Ich wollte kein großes Aufhebens darum machen. Schließlich bin ich erst seit Kurzem wieder voll zurück im Job und –«
»Was gibt´s? Etwas, wovon ich wissen sollte?«, mischte sich unvermittelt Dr. Bettina Eichmüller ins Gespräch. Trotz der Pumps, die sie täglich trug, besaß sie die Fähigkeit, sich derart leise zu bewegen, dass Liv nicht zum ersten Mal erschrak, als sie wie aus dem Nichts hinter ihr auftauchte.
»Olivias Schwiegermutter ist verstorben, und sie sagt kein Wort«, informierte Heike die Chefin.
»Oh! Mein herzlichstes Beileid«, bekundete die Rechtsanwältin und reichte ihr die Hand zur Kondolation.
Zögernd erhob sich Liv und ergriff sie. »Danke.«
»Ihr Mann hat kaum Familie, hatten Sie sowas nicht mal erwähnt? Dann müssen Sie alle Angelegenheiten regeln? Wohnte die alte Dame nicht irgendwo im Ruhrgebiet?«
Liv war verblüfft. Es war bestimmt Jahre her, dass sie einmal davon erzählt hatte. Dass ihre Chefin sich das gemerkt hatte! Andererseits war sie genau deshalb so eine gute Anwältin, weil sie ein phänomenales Gedächtnis besaß. Sie vergaß nicht mal die kleinste Kleinigkeit, weshalb sie unter ihresgleichen erfolgreich herausstach.
»Ach, ist das nicht die, die ein Haus auf Norderney besitzt?« Nun schien sich auch Heike zu erinnern.
Herrje! Träge nickte Liv, was die beiden Frauen als Zeichen von Trauer werteten. Dabei war ihr lediglich dieses Gespräch zuwider. Aber wie hieß es so schön? Kleine Sünden bestrafte der liebe Gott sofort. In Livs Fall war es ihre Notlüge, die sich innerhalb weniger Minuten zu einem riesigen Ballon aufzubauschen schien.
»Dann müssen Sie sich darum auch noch kümmern?« Mitfühlend schaute Dr. Eichmüller sie an und legte nun sogar noch die andere Hand auf ihre. »Olivia, nehmen Sie sich so viel Zeit dafür, wie Sie brauchen.«
»Was? Aber das ist doch nicht nötig.« Fast hätte sie ihren Arm zu abrupt weggezogen, doch sie beherrschte sich gerade noch.
»Olivia, Sie müssen sich keine Gedanken machen, weil Sie in diesem Jahr schon länger krankheitsbedingt ausgefallen sind. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich weiß, dass das Leben auch schwierige Phasen bereithält. Da muss man dann durch. Es kommen auch wieder andere Zeiten. Um Ihren Job brauchen Sie sich jedenfalls keine Sorgen zu machen. Der bleibt Ihnen sicher erhalten. Sagen Sie mir einfach, ab wann Sie weg sein werden. Babette, die Sie schon im Sommer vertreten hat, hatte neulich erst angefragt, ob sie über die Wintermonate ein weiteres Volontariat bei uns absolvieren könnte. Dann geb ich ihr gleich Bescheid. Was denken Sie, wie viel Zeit Sie benötigen werden? Zwei Monate? Drei?«
* * *
Völlig neben der Spur lief Liv nach Hause. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und es nieselte wieder einmal. Doch das bemerkte sie kaum. Noch immer war sie in Gedanken bei dem Gespräch von vor knapp zwei Stunden in der Kanzlei. Hatte es sich wirklich so zugetragen oder hatte sie vergangenen Abend doch nur zu tief in die Flasche geschaut? Heikes Anspielung auf den Flaschen- äh … Taschengeist fiel ihr wieder ein. Normalerweise besaß Liv durchaus einen gewissen Sinn für solcherlei Wortspiele, heute aber schüttelte sie darüber nur mit dem Kopf. Es war, als befände sie sich seit gestern in einer Art Paralleluniversum.
Sie zog ihr Handy hervor und warf einen prüfenden Blick darauf. Achtundzwanzig Nachrichten waren über die Freundschaftsgruppe eingegangen. So wie es aussah, war alles, was sie in den letzten Stunden erlebt hatte, Wirklichkeit. Schnaufend steckte sie das Gerät wieder ein und verfing sich gleichzeitig mit ihrem Absatz im Kopfsteinpflaster. Ihr Fuß knickte weg, und ein messerscharfer Schmerz schoss ihr ins Bein. In ihren Augenwinkeln bildeten sich Tränen. Verbissen schaute sie zu Boden. Jetzt nur nicht losheulen!, befahl sie sich. Sie musste ihren Stiefel aus der Spalte befreien.
Bis es ihr endlich gelungen war, pochte es in ihrem Knöchel rhythmisch. Schon beim ersten Schritt merkte sie, dass an normales Gehen nicht zu denken war. Und der Weg war noch weit!
Sie rief Jan an. Es dauerte, bis er ans Telefon ging.
»Ja?«, fragte er etwas abwesend.
»Jan, du musst mich abholen. Ich kann nicht laufen«, murmelte sie, bemüht, nicht zu jammern. Sie gab sich nicht gern weinerlich.
