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Wenn einen das Leben zu neuen Ufern trägt, wartet das Glück oft schon am Horizont.
Mit leeren Konten sitzengelassen, bleibt Tammy nichts anderes übrig, als zu ihrer Mutter nach Usedom zu ziehen. Doch um ihre innere Mitte wiederzuerlangen, findet sie in der kleinen Wohnung einfach keine Ruhe. Für ihre Yogastunden nutzt sie daher heimlich ein Musterhaus, zu dem ihr die befreundete Maklerin Mirjam den Schlüssel gibt.
Nick wurde von seiner Frau vor die Tür gesetzt, aber ein Hotel kommt für ihn nicht infrage. Stattdessen zieht er sich ins Musterhaus seiner Baufirma zurück. Nur wer ist die Frau mit den widerspenstigen Locken, die dort spätabends in zweideutiger Haltung posiert?
Als die Beiden aufeinandertreffen, sprühen sofort die Funken – und obwohl Tammy Nick für einen Obdachlosen hält, schmieden sie einen vorübergehenden Pakt. Denn während sie ihren jeweiligen Neuanfang planen, hat so eine geheime Affäre auch ihren Reiz. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Aber vielleicht ist jeder Abschied im Leben nur der Anfang von etwas ganz Neuem …
“Uferträume auf Usedom” ist das zweite Buch der “Zeit für Meer”-Reihe von Bestseller-Autorin Birgit Gruber über ein Vierergespann von Freundinnen und die Insellieben, die sie finden.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
ZEIT FÜR MEER
BUCH 2
Verlag:
Zeilenfluss Verlagsgesellschaft mbH
Werinherstr. 3
81541 München
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Texte: Birgit Gruber
Satz: Zeilenfluss
Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
Cover: MT-Design
Bildnachweise: ©pkazmierczak, ©flokugrafie, ©ba11istic, ©prapann, ©liudmilachernetska, www.123RF.com
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Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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ISBN: 978-3-96714-481-9
»Hast du überhaupt schon was gegessen?«
»Nein.« Tammy schielte aus der Haltung des ›herabschauenden Hundes‹ zur Tür, in deren Rahmen ihre Mutter Martha lehnte.
»Dann wärm ich dir eben den Rest Schweinebraten auf.«
»Brauchst du nicht«, erwiderte sie, vollführte einen Ausfahrschritt und hob den rechten Arm, um ihn in Richtung Zimmerdecke auszustrecken.
»Aber du musst was in den Magen bekommen.«
»Ich mach mir später einen Salat.« Tammy begab sich in die Position des ›Kriegers‹.
»Schön und gut, aber das allein reicht doch nicht«, fand Martha. »Wie ich dich kenne, hast du dir heute höchstens ein Matjesbrötchen geholt. Ich zauber dir schnell was.«
»Himmelherrgott, nein!«, zischte sie und kam dabei aus dem Takt. »Ich bin einunddreißig Jahre alt und kann mich selbst versorgen.« Das bisschen innerer Frieden, das Tammy dank der Yogaübungen in den letzten Minuten gefunden hatte, war dahin. Wie sollte sie so nur je ihr seelisches Gleichgewicht wiedergewinnen?
Ihr Leben war ein Scherbenhaufen. Dass sie neuerdings wieder bei ihrer Mutter wohnte, war der beste Beweis! Dabei war sie ihr natürlich dankbar, dass sie ihr Unterschlupf gewährt hatte. Aber nachdem sie jahrelang ihre eigene Herrin gewesen war, hatte sie schon ihre Schwierigkeiten damit, plötzlich wieder wie eine Zwölfjährige behandelt zu werden. Selbstredend meinte Martha es nur gut, das änderte aber nichts daran, dass Tammy sich eingeengt fühlte, und wenn man sich die kleine Wohnung besah, zu Recht.
Für einen Singlehaushalt war sie wunderbar. Fünfundsechzig Quadratmeter, Wohnküche, Schlafzimmer, Bad, dazu ein geräumiger Balkon mit Blick auf die Ostsee. Sie war hell und befand sich auf einer der schönsten Inseln Deutschlands. Der Sonneninsel Usedom. Ein Träumchen! Das hatte Martha auch gemeint, als sie sich vor einigen Jahren zu dessen Kauf entschloss. Ursprünglich war sie nach dem Tod von Tammys Vater zur Kur auf der Insel gewesen, um wieder auf die Beine zu kommen. Seelisch wie körperlich. Damals war sie nicht nur von dem Ohnmachtsgefühl der Trauer geplagt worden, sondern ebenfalls von einer heftigen Bronchitis. Usedom hatte ihr geholfen. Die Seeluft samt Tapetenwechsel hatte Martha neue Lebenskraft geschenkt, und da sie seit jeher ein Mensch war, der gerne plapperte, war sie nicht nur mit den anderen Kurgästen, sondern ebenso mit Einheimischen schnell ins Gespräch gekommen. Als ihre Rehazeit abgelaufen war, stand ihre Entscheidung fest. Sie wollte auf Usedom alt werden. Also hatte sie ihr Häuschen in Bamberg verkauft und ihren Traum wahr gemacht. Sie zog an die Ostsee. Bereut hatte sie es nie, nur von der fränkischen Küche konnte sie sich nicht trennen. Weshalb es in diesen Räumen eben öfter mal nach Schweinebraten roch.
Grundsätzlich aß Tammy ihn ja auch gern, nur in letzter Zeit hatte sie einfach keinen Hunger mehr, weshalb sie zur Nahrungsaufnahme – etwas anderes war Essen momentan nicht für sie – lieber auf leichte Kost zurückgriff, die ihr leerer Magen besser vertrug.
Der Appetit war ihr schon vor Wochen vergangen. An jenem Tag, als sie ihr Bistro in Erfurt betreten hatte, nur um festzustellen, dass Tobias sie tatsächlich hatte sitzenlassen. Mit Gastroräumen, deren Miete seit Monaten nicht bezahlt worden war, ebenso wenig wie die Lieferantenrechnungen. Der Schuldenberg war so immens, dass sie das Bistro hatte schließen müssen, obwohl sie durchaus gewillt gewesen war, es allein weiterzuführen. Denn eigentlich war es recht gut gelaufen. Wenn Tobias nicht Geld abgezweigt hätte … So aber saßen ihr die Gläubiger bereits im Nacken, und sie hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als alles zu verkaufen, um den Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Doch welcher Gastronom wollte schon gebrauchtes Inventar oder gar abgenutztes Geschirr? Niemand. Weshalb sie schließlich auch ihre kleine Eigentumswohnung hatte veräußern müssen. Alles, was sie sich aufgebaut hatte, war mit einem Schlag weg gewesen. Nur ihre Malutensilien waren ihr geblieben.
Tammy liebte das Malen seit jeher. Deshalb hatte sie auch Kunst studiert, die allerdings brotlos blieb. Das Klischee hatte sich erfüllt. Ihre Mutter hatte sie gewarnt, aber sie hatte davon nie etwas hören wollen. Wenn man für etwas brannte, musste das doch über kurz oder lang zu was führen, hatte sie immer gedacht. Bestätigt hatte sie darin ihr Professor, der ihr des Öfteren Talent attestierte. Leider nützte das nichts, wenn man keine Verbindungen besaß, um entdeckt zu werden, und die Jobs in der Branche waren zudem rar gesät. Das hatte Tammy schwerlich einsehen müssen. Dann war sie Tobias begegnet und hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt.
Er war als Touri nach Bamberg gekommen, um die berühmte Sandkerwa mitzuerleben, und hatte sie über das bekannte Rauchbier ausgefragt. Sie hatte während der Festtage dort gejobbt. Mit seiner aufgekratzten Stimmung und dem zugehörigen Interesse hatte er sie sofort in ein längeres Gespräch verwickelt. Dass er, ganz nebenbei bemerkt, ein attraktiver Kerl war, hatte natürlich ebenfalls nicht geschadet. So waren sie nach ihrem Schichtende bis in die Morgenstunden um die Häuser gezogen. Sie hatten gelacht, gefeiert, geredet und sich geküsst. Als er ihr dann von seinem Vorhaben erzählt hatte, er wolle ein Bistro eröffnen und sei deshalb so wissbegierig bezüglich der Bierspezialitäten, hatte er sie bereits am Haken gehabt. Er versprühte dieselbe Energie und Leidenschaft, wie sie sie ursprünglich für ihre Malerei empfunden hatte. Es war ihm gleich, wenn andere sagten, dass es doch schon genug Kneipen gebe. Also hatte sie ihm ihre Geschichte anvertraut, und Tobias hatte sofort eine zündende Idee gehabt. Sie könnten gemeinsam etwas aufziehen, hatte er euphorisch gemeint. Ein Bistro, an dessen Wänden ihre Bilder ausgestellt und zum Kauf angeboten wurden.
In jener Nacht waren es nur alkoholgeschwängerte Hirngespinste gewesen, doch einige Monate später hatten sie es in die Tat umgesetzt.
Anfangs waren sie auch ein tolles Team und hatten sich prächtig verstanden. Sie hatten zwischen Arbeit mit netter Kundschaft und Liebesgeflüster geschwelgt. Zudem hatte Tammy jede freie Minute genutzt, um an neuen Bildern zu malen. Leider war die Zeit dafür bald immer knapper geworden, weil sie sich keine Putzfrau hatten leisten können, und für die Küche war eine Kraft ebenfalls zu teuer gewesen.
›Das ist nur die Startphase und vorübergehend‹, hatte Tobias ihr versichert. Aber auch ein Jahr später hatte sich an Tammys Allrounder-Dasein nichts geändert. Irgendwann war ihr die Muse abhandengekommen, und sie hatte ihre Pinsel gänzlich beiseitegeschoben. Ihre Laune war nur noch mittelmäßig gewesen. Vielleicht war das der Punkt, an dem Tobi begonnen hatte, sich mehr mit anderen Frauen zu amüsieren als mit ihr. ›Das ist doch nur harmloses Geflirte, um die Gäste bei Laune zu halten‹, hatte er beteuert und sie ihm damals geglaubt. Bis er von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Durchgebrannt mit einer Studentin namens Hilary, wie sie später erfahren hatte. Mit all ihrem letzten Geld. Um ›weiß der Pfeffer wo‹ neu anzufangen.
Abgesehen von ihrem gebrochenen Herzen kam Tammy sich auch jetzt noch wahnsinnig dumm vor, weil sie nichts davon hatte kommen sehen. Wobei … Rückblickend betrachtet hatte sie vermutlich einfach nur gewollt, dass es funktionierte, und deswegen wahrscheinlich fest die Augen vor ihren Problemen verschlossen. So was würde ihr bestimmt nie mehr passieren!
Konnte es auch kaum, stand sie jetzt doch wieder unter der Aufsicht ihrer Mutter. Mit über dreißig! Zumindest fühlte es sich so an.
Aber nachdem sie ihre Wohnung hatte räumen müssen, war sie ehrlich froh gewesen, dass Martha sie zu sich nach Usedom eingeladen hatte.
Ihre Freundinnen hatten sie sogar ein wenig beneidet, weil sie auf der Insel leben würde. Aber Tammy fehlte für die Schönheit Usedoms derzeit der Blick. Ihr Kopf war entweder leer oder von Selbstvorwürfen geplagt. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Vorerst teilte sie sich mit ihrer Mutter das breite Bett und jobbte – wie früher zu Studienzeiten – in einem kleinen Café. Die Saison hatte gerade begonnen, da wurden glücklicherweise immer Aushilfen gesucht. So hatte sie zumindest etwas Taschengeld und musste Martha nicht auch noch darum bitten. Wobei sie kaum Geld brauchte. Denn die meiste Zeit vergrub sie sich vor der Außenwelt, was ihrer Mutter in den beengten Räumen nicht entging. ›Tamara, du musst nach vorne sehen. Du kannst dich nicht für den Rest deiner Tage verstecken‹, bekam sie neuerdings immer öfters von ihr zu hören.
Nach zwei Monaten hatte sie sich nun wenigstens so weit aufgerafft, aus dem dunklen Tal, das in ihr vorherrschte, ausbrechen zu wollen. Weshalb sie wieder mit Yoga begonnen hatte. Doch mit ihrer Mutter im Rücken, die ihr ständig gut zuredete, war das auch für die Katz.
»Du hast bestimmt schon fünf Kilo verloren, seit du hier eingezogen bist. Wenn du nicht aufpasst, brichst du noch völlig zusammen. Wie willst du da Energie für einen Neuanfang haben?«, dozierte Martha weiter und musterte sie mit Argusaugen, in ihren engsitzenden Leggins und dem schmalgeschnittenen Shirt.
Tammy gab auf und rollte grummelnd ihre Matte zusammen. »Du hast recht. Ich denke, eine Prise Meerluft wird mir guttun.«
»Du willst noch fort?« Marthas Gesicht erhellte sich. »Ein Spaziergang am Strand? Das ist eine klasse Idee. Der hilft nicht nur der Seele, er regt auch den Appetit an.«
Tammy nickte nur, schlüpfte in ihre Sneakers und griff nach ihrer Windjacke.
Eine Viertelstunde später traf sie am Strand von Trassenheide ein.
Der besonders weiße Sand auf dem breiten Uferabschnitt leuchtete selbst bei einer dichten Wolkendecke, und wenn die Sonne schien, tauchte er zusammen mit ihr alles in ein gleißendes Licht. Sie blieb am Strandzugang stehen und nahm das Bild, das sich ihr bot, in sich auf. Wie schön es hier doch war. Die grünen Gräser hier oben, auf dem hellen Untergrund, davor die Strandkörbe mit ihren rot- oder blau-weiß gestreiften Dächern und die Ostsee, die zur Vorabendzeit im Sonnenschein glitzerte.
Ein paar Spaziergänger schlenderten an der Wasserkante entlang, wenige Familien saßen verstreut und buddelten mit ihren Kids noch im Sand. Ein Hund jagte den Wellen nach.
Tammy schaute auf ihre Armbanduhr. In der Saison durften die Vierbeiner erst nach achtzehn Uhr hier entlangtoben, tagsüber nur in ausgewiesenen Strandbereichen. Aber es war bereits kurz vor sieben. Wieder einmal hatte sie einen Tag hinter sich gebracht, ohne Zukunftspläne geschmiedet zu haben.
Eine Möwe schrie und segelte an ihr vorbei. Tammy setzte sich in Bewegung und lief den Rest hinunter zum Wasser. Weil sie die Abendsonne schon seit jeher liebte, entschloss sie sich, in die Richtung zu gehen, von der aus ihr die letzten Strahlen ins Gesicht fallen konnten. Eine Sonnenbrille hatte sie allerdings nicht dabei. So ging sie mit gesenktem Blick und betrachtete die Gischt, als sie jemand ansprach.
»Hallo Tammy, hat dich die Muse geküsst, und die Schaumkronen inspirieren dich zu neuen Meisterwerken? Oder warum schaust du so versunken nach unten?« Mirjam blieb grinsend vor ihr stehen.
Schön wär´s, dachte Tammy. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt einen Pinsel in der Hand gehalten hatte. Aber sie lächelte dennoch.
»Ach, eigentlich suche ich gerade nur etwas Entspannung. Ich wollte es mit Yoga probieren, aber meine Mutter macht mich wahnsinnig. In der kleinen Wohnung treten wir uns quasi permanent auf die Füße. Deshalb bin ich zum Strand gelaufen.«
»Oh. Ja, nichts ist so regenerierend wie das Meer. Man, ich hör mich schon an wie die Werbebroschüre der Rehaklinik.« Mirjam lachte. Es war ein herzlicher und freundlicher Ton, und Tammy stimmte mit ein. Die junge Maklerin war wirklich nett und sie kennenzulernen ein echter Glücksfall gewesen. Dank ihr lagerten ihre Bilder sicher verwahrt in einem trockenen Raum, in dem während der Winterzeit Strandkörbe aufbewahrt wurden. Ohne sie hätte sie nicht gewusst, wohin damit, denn der Kellerraum ihrer Mutter war extrem klein und konnte höchstens ein paar Vorräte beherbergen, wenn sich das Fahrrad darin befand.
Sie hatten sich in dem Café, in dem Tammy jobbte, zum ersten Mal getroffen. Dort hatte Mirjam mit einem Kunden gesessen, und die Frauen waren anschließend ins Gespräch gekommen. Obwohl Tammy nicht der Typ war, der mit seiner Lebensgeschichte hausieren ging, hatte sie im Verlauf doch das eine oder andere Wort über ihre Situation fallen lassen und Mirjam sofort reagiert. Noch am selben Abend hatte sie ihr mitgeteilt, dass sie den perfekten Aufbewahrungsort für ihre Malutensilien und Leinwände gefunden hatte.
Nun schauten sie beide über die Weite des Wassers bis hin zum Horizont.
»Warum machst du deine Yogaübungen nicht am Strand?«, fragte Mirjam.
»Darüber hab ich auch nachgedacht.« Tammy ließ den Blick schweifen. »Aber ich glaube nicht, dass ich mich in Gegenwart des Getümmels wirklich gedanklich fallen lassen kann, und wenn kaum Leute da sind, ist es wahrscheinlich entweder dunkel oder zu kalt.« Unwillkürlich fuhr sie sich mit den Händen über die Arme. »Ich muss gestehen, so schön, wie es auf Usedom auch ist, an das windkühle Ostseewetter bin ich nicht gewöhnt.«
»Verstehe.« Mirjam nickte.
Wie zur Bekräftigung ihrer Worte streifte sie eine Bö, sodass die langen Haare der Frauen im Wind tanzten. Ein paar Wellen rauschten gewaltvoll heran.
Tammy sog tief Luft ein. »Trotzdem würde ich gerade nirgendwo lieber sein.«
Mirjam lächelte. »Da wohnen, wo andere Urlaub machen. Das ist schon was.«
Einträchtig schlenderten sie nebeneinanderher, bis Mirjam auf ihre Uhr schaute.
»Himmel, ich muss weiter. Ich hab noch einen Termin. Jemand will sich das Musterhaus anschauen.« Plötzlich blieb sie ruckartig stehen. »Da fällt mir was ein. Wenn du willst, kannst du deine Yogaübungen dort machen. Was hältst du davon?« Begeistert schaute sie Tammy an.
Die verstand nicht ganz. »Wo?«
Mirjam schob sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich rede von dem Musterhaus. Das wird doch höchstens tagsüber besichtigt. Abends ist dort nie jemand. Es steht leer. Ein Musterhaus eben, nur zur Ansicht gebaut, aber voll ausgestattet mit allem, was man braucht.«
»Und da soll ich …« Sie guckte verblüfft.
»Warum denn nicht? Wenn du es niemandem verrätst, ich schweige.« Die Maklerin zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Also abgemacht. Ich bring dir einen Zweitschlüssel im Café vorbei. Wann hast du wieder Dienst?«
* * *
»Dann geh doch!«
Die Worte hallten wie ein Ohrwurm in Nick nach. Dazu der garstige Klang in der Stimme seiner Frau. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie es ernst gemeint hatte. Nach sieben Jahren war seine Ehe gescheitert. Ob es an dieser verflixten Zahl lag? Nein, er glaubte nicht an Flüche. Beziehungsprobleme hatten sie schon länger. Jetzt war das Fass nur übergelaufen. Wahrscheinlich war es besser so. Wie hieß es doch weise: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Die Frage war nur, wohin er nun gehen sollte. Seit Stunden fuhr er durch die Gegend. Ohne Ziel. Er hatte sich zwar auf die Straße konzentriert, aber von der Umgebung überhaupt nichts mitbekommen. Er drosselte das Tempo, was auf der Bundesstraße, mit kaum Verkehr, kein Problem war, und schaute sich zum ersten Mal richtig um.
Wo war er? Aber abgesehen von Feldern linkerseits und rechterseits Wiesen mit Baum- und Buschwerk konnte er nichts entdecken. Er beschleunigte und passierte das Ortsschild Wolgast. Er musste mehr oder weniger im Kreis gefahren sein. Greifswald lag nur knapp eine halbe Stunde entfernt. Doch dort war sein Zuhause nicht mehr. Nicht mehr seit heute Abend. Das wurde ihm nochmal deutlich bewusst, als er in dieser Minute daran dachte. Erneut stellte er sich die Frage, wohin er sollte. Nick seufzte. Ein Hotel wäre natürlich die beste Lösung, doch etwas in ihm sträubte sich dagegen. Dabei ging es ihm nicht um´s Geld, davon besaß er reichlich. Er war erfolgreich mit dem, was er tat, nämlich Häuser bauen in Reihe. Die Leute mochten seinen Stil, und seine Preise waren immer noch erschwinglich. Nicht billig, aber human.
Er überquerte das ›Blaue Wunder‹, wie die Peenebrücke wegen ihres auffälligen Anstrichs auch genannt wurde, und befand sich plötzlich auf Usedom.
Wie oft er diese Strecke schon beruflich gefahren war, wusste er nicht. Denn auch auf der Insel gab es einige Häuser, die er mit seinem Team gebaut hatte. Wahrscheinlich hatte er deshalb unterbewusst diesen Weg eingeschlagen. Aber hier waren die Hotels natürlich teurer, wenn er eine Unterkunft suchte. Doch der Gedanke daran gefiel ihm immer noch nicht. Er wollte momentan keinen Smalltalk führen, wozu es zwangsläufig mit dem Hotelpersonal kommen würde, und so wie es stand, würde er überdies längerfristig ein Quartier brauchen. Allein die Vorstellung, jeden Abend in ein anonymes Zimmer zurückzukehren oder gar von dort aus Geschäftliches zu erledigen, bereitete ihm Unbehagen. Also fuhr er einfach weiter. Immer der Nase nach.
Vielleicht würde ihm ein Blick auf´s Meer die Erleuchtung bringen, nach der er suchte? Nick liebte die Ostsee schon seit Kindertagen. Er war in einem Haus mit seinen Eltern und Großeltern aufgewachsen, nahe der Ostseeküste. In einem kleinen verschlafenen Ort, in dem es nicht viel Aufregendes zu erleben gab, weshalb er die meiste freie Zeit am Strand verbracht hatte. An stürmischen Tagen, ebenso wie an sonnigen. Das galt sowohl für die Wetter- als auch für die Gemütslage. Wenn er auf die Weiten des Meeres geschaut hatte, war es ihm immer besser gegangen, und wenn er sowieso gutgelaunt gewesen war, hatte sie ihn geradezu in Euphorie versetzt. Womöglich konnte ihm die Ostsee also auch heute helfen, schaden würde es mit Sicherheit nicht.
Er hielt geradewegs auf Trassenheide zu, lenkte seinen Wagen auf einen Parkplatz und lief hinab zum Strand.
Die goldgelbe Abendsonne leuchtete den Sand aus schrägem Winkel an. Er entledigte sich seiner Schuhe und Socken und tauchte mit den Füßen darin ein. Als er die winzigen Körnchen spürte, die Unebenheiten des Bodens und die Kühle des Untergrunds, atmete er wie befreit auf. Allein das Gefühl, direkt mit der Natur verbunden zu sein, löste den harten Knoten in seiner Brust. Die frische Seeluft tat ihr Übriges. Plötzlich wurde ihm klar, dass er keineswegs verzweifelt wegen der Trennung war. Vielleicht war sie bereits überfällig gewesen, aber er war eben ein Kämpfer und keiner, der einfach aufgab. Doch das hatte sich jetzt erledigt. Sonja hatte ihm die Tür gewiesen, sie hatte für sie beide entschieden. Das dumpfe Gefühl, das ihn bedrückte, war weniger einem gebrochenen Herzen geschuldet, viel mehr der Neuorientierung. Dem Unbekannten, das nun auf ihn wartete.
Seine Füße traten in den wasserdurchtränkten festen Sand und wurden gleich darauf von der Gischt umspült. Sie war kalt und erfrischend zugleich. Wie so oft durchflutete ihn dabei eine Welle der Hoffnung und des Tatendrangs. So wie damals, als er auf die Idee gekommen war, Fertighäuser anzubieten. Das war ihm auch an einem Ostseestrand eingefallen, und der Erfolg hatte seiner Intuition recht gegeben. Er würde jetzt ebenso wieder einen neuen Weg finden und war gespannt, wohin er ihn führte.
Für´s Erste aber wusste er nun, wo er die Nacht verbringen konnte. Es mochte verrückt sein, aber that´s life!
Gerade als Tammy die Haustür aufsperren wollte, klingelte ihr Handy. Fahrig zog sie es aus der Tasche und guckte sich ängstlich um. Die Melodie war viel zu laut. Zumindest kam es ihr so vor. War jemand deshalb auf sie aufmerksam geworden?
Sie nahm das Gespräch an und ließ ihren Blick gleichzeitig wie ertappt in ihrem Radius herumschweifen.
Doch alles blieb ruhig. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Vielleicht stand jemand hinter der Hecke des Nachbarhauses oder einer schaute zum Fenster des Mehrparteienhauses schräg gegenüber auf sie herab. Falls ja, wollte sie es nicht wissen.
Eilig steckte sie den Schlüssel ins Schloss, während sie ihre Freundin Scarlett sprechen hörte.
»Tammy? Hey, das ist ein Videocall. Wäre schön, wenn wir dich wenigstens auf die Art mal wieder zu Gesicht bekommen. Wo bist du?«
Sie schloss die Tür und lockerte den festen Griff um ihre Sporttasche, sodass sie zu Boden fiel. Dann erst nahm sie ihr Smartphone vom Ohr und schaute auf das Display.
Scarlett und Liv guckten ihr je zur Hälfte entgegen.
»Hi«, würgte sie hervor.
»Aah, endlich!«, erwiderte Scarlett zufrieden.
»Müsst ihr mich so erschrecken?«, raunzte sie die Freundinnen an, kaum, dass sie sich wieder halbwegs gefangen hatte.
»Wieso? Wir haben dich doch nur angerufen«, entgegnete Liv verständnislos. Ihre Stirn legte sich sofort in Falten, und in ihrem Blick flackerte Skepsis auf. »Was ist los?«, fragte sie dann, und Tammy war bewusst, dass sie eine Erklärung abgeben musste. Am besten die Wahrheit, denn Liv hatte ein unschlagbares Gespür für Flunkereien. Sie war die Älteste in ihrem Freundinnenquartett seit Jugendzeiten und der mütterlichste Typ von ihnen allen. Aktuell versuchte sie, schwanger zu werden, und sowohl Scarlett, als auch Izzy und Tammy drückten ihr seit Monaten die Daumen. Denn Olivia wäre eine tolle Mom und hätte dann endlich die Gelegenheit, ihre Liebe und Güte, von der sie so viel besaß, auf ihren Nachwuchs zu übertragen. Aber bis es so weit war, bekamen ihre Freundinnen immer wieder reichlich davon ab.
»Du siehst blass aus. Bist du krank?«, fragte Liv jetzt auch noch.
»Quatsch. Das ist nur das Licht«, steuerte Scarlett dagegen.
»Mir geht´s gut«, beteuerte Tammy. »Ich dachte nur, ich wäre aufgeflogen.«
»Was hast du angestellt?«, wollte Liv wissen.
»Eigentlich nichts. Ich mach nur meine tägliche Stunde Yoga.«
»Oh, dann haben wir dich aus deiner Tiefenentspannung gerissen«, folgerte Scarlett. »Das tut uns leid.«
»Nein. Ich hab noch gar nicht angefangen.«
»Okay, was heißt ›eigentlich‹? Und warum versetzt dich ein Anruf in Panik?« Livs Gesicht wurde am Bildschirm immer größer, bis sie Scarlett ganz verdeckt hatte und ihre Nase fast gegen das Display stieß.
Tammy rollte mit den Augen. »Ihr wisst doch, dass ich in der kleinen Wohnung meiner Mutter keine Ruhe dafür habe.« Livs Kopf zog sich auf angemessene Entfernung zurück, und schließlich sah sie beide Freundinnen nicken. »Deshalb hat mir Mirjam, eine neue Bekannte, den Schlüssel für ein Musterhaus anvertraut. Weil es abends immer verwaist ist, kann ich mir hier eine Stunde Zeit für mich nehmen. Allerdings ist das unter der Hand gelaufen, weshalb ich nicht möchte, dass irgendjemand davon erfährt und sie deswegen Ärger bekommt.«
»Aha.«
»Ach so.«
»Ein Musterhaus? Echt? So richtig niegelnagelneu? Wie sieht es denn aus?«, fragte Scarlett interessiert.
Tammy schaute sich um.
Der Eingangsbereich ging praktisch direkt in die Wohnfläche über. Einen Flur gab es nicht. Nur einen kleinen, etwa fünf Meter langen Vorbau, in dem sich die Garderobe befand. Rechterseits lag die Küche, in schlichtem, aber dennoch schönem Design. Eine Kochinsel in deren Mitte, an der Wand ein hölzerner Esstisch mit vier Stühlen. Gegenüber befand sich das Wohnzimmer, das lediglich durch eine zweistufige Treppenerhöhung abgegrenzt wurde. Der Boden setzte sich durch braune Fliesen in Holzoptik von den weißen Wänden ab, die im ganzen Haus hell erstrahlten. Zwischen beiden Räumen führte eine Treppe empor. Wenn man hinaufschaute, konnte man nicht nur bis in den Giebel sehen, auch im oberen Stock hatte man zumindest rechterseits mit Wänden gespart, sodass nur ein massives Holzgeländer für eine sicherheitsgemäße Abtrennung sorgte.
»Relativ große Räume, die ineinander übergehen. Alles sehr offen, in Weiß und Teakholzfarben gehalten, was einem das Gefühl von Freiheit gibt.«
»Das klingt gut. Zeig doch mal«, bat Scarlett.
Sie drehte das Handy um und ging ein paar Schritte.
»Das Sofa ist aber schön!«, fand Liv. Der Bezug war meerblau, die Füße sowie der Tisch aus Holz.
»Weiter. Ich will mehr sehen«, forderte Scarlett.
»Ich mach doch jetzt keine Hausführung mit euch.«
»Warum denn nicht? Du weißt doch, dass mich das Thema gerade interessiert. Bauen die auch bei uns im Bamberger Raum?« Scarlett gab nicht auf.
»Keine Ahnung und ehrlich, ich bin gekommen, um Yoga zu machen …«
»Schon gut. Wir telefonieren ein andermal«, beschloss Liv.
* * *
Nick stand im Badezimmer des Obergeschosses, als er glaubte, Stimmen zu hören. Verdutzt starrte er in den leicht beschlagenen Spiegel, während er sich den Rücken abtrocknete. Er hielt in der Bewegung inne und lauschte.
Um diese Uhrzeit dürften doch keine Besichtigungen des Musterhauses mehr stattfinden?! Es war schon schlimm genug, dass er sich hier rein und raus schlich. Jedes Mal auf´s Neue fühlte er sich dabei wie ein Verbrecher. Obwohl er keiner war! Das Haus gehörte ihm! Weshalb ihm auch niemand etwas anhaben konnte, falls er entdeckt würde. Allerdings wäre es höchst peinlich, zu erklären, warum der oberste Chef heimlich hier nächtigte. Deswegen war er sehr darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, wenn er es verließ. Jeden Morgen war er peinlichst darum bemüht, dass alles wieder an Ort und Stelle war, so wie er es vorgefunden hatte. Es kostete ihn Zeit, trotzdem nahm er es seit nun knapp einer Woche auf sich. Überdies hatte er die letzten Tage länger im Büro verbracht und so kaum Unordnung fabrizieren können. Genaugenommen hätte er sich den Aufwand also sparen können, indem er sich einfach in Firmennähe ein Zimmer nahm. Doch seine Einstellung hatte sich diesbezüglich nicht geändert, und außerdem hatte er in der Freizeit momentan sonst eh nichts zu tun.
Fast musste er lachen. Wie oft hatte Sonja sich beschwert, dass er zu selten da war. Aber erst jetzt, seit der Trennung, dachte er tagsüber darüber nach, wie er den Abend verbringen wollte. Das war doch Sarkasmus pur!
Entspannende Klänge drangen leise an sein Ohr. Bildete er sich das nur ein? Zuerst hörte er Stimmen und nun das? Schnappte er allmählich über?
Er schlüpfte in seine Jeans und drückte behutsam die Klinke nach unten. Die Melodie wurde lauter, aber der Flur war leer. Er schlich nach vorne zur Brüstung, über die hinweg man ins Erdgeschoss blicken konnte.
Täuschte er sich, oder war da etwas schwarz Geschwungenes direkt neben dem Treppenabsatz im Wohnbereich? Er schob sich näher ans Geländer heran und lugte nach unten. Es bewegte sich und nahm Gestalt an. Es war kein Etwas, sondern eine Frau, die eine schwarze Leggins und ein schwarzes Shirt trug. Sie war weder dick noch dünn und besaß einen rotbraunen Wuschelkopf, den sie mit einem breiten schwarzen Zopfband unter Kontrolle zu bringen versuchte. Doch es war ihr nur bedingt gelungen. Einige der Löckchen hatten sich bereits verselbstständigt.
In langsamen gleichmäßigen Zügen drehte sie sich. Nick schnappte nach Luft und steckte den Kopf zwischen die Geländerstreben, um besser sehen zu können. Wer war sie? Und was tat sie da?
Letztere Frage konnte er sich beantworten, nachdem er ihr ein paar Minuten zugeschaut hatte. Es waren eindeutig Yogaübungen, die sie in einer strukturierten Abfolge ausführte. Doch das erklärte nicht, wie sie dazu kam, es hier zu tun. In einem Musterhaus. Seinem Musterhaus!
Wie gebannt starrte er sie an. Erst als ihm der Nacken zu schmerzen begann, bemerkte er, dass er schon viel zu lange in dieser seltsamen Haltung an der Brüstung verharrte. Wie ein Spanner!, waberte es durch sein Gehirn.
Unvermittelt zog er sich zurück. Seine Bewegungen waren fast ebenso leise und bedächtig wie die der Frau schräg unter ihm.
Nachdem er sich einige Schritte in den Flur zurückgezogen hatte, blieb er stehen, dehnte sich und kratzte sich schließlich am Hinterkopf. Was sollte er jetzt machen?
Sie zur Rede stellen? Sie einfach gewähren lassen und darauf warten, dass sie wieder verschwand? Er starrte aus dem Fenster, hinweg über das unbebaute Nachbargrundstück, Richtung Ostsee. Sie war durch Büsche und Sträucher verdeckt, aber er wusste genau, wo das Meer begann, und sah die Wellen vor seinem inneren Auge ans Ufer rauschen. Der Schrei einer Möwe drang durch das gekippte Fenster zu ihm herein. Ein Ruck durchfuhr ihn, und er hörte … nichts. Nur Stille.
Die Musik war verstummt. Nick blinzelte, wandte sich in Zeitlupe um und lief abermals zum Geländer. Ein dumpfes Geräusch ertönte kurz. Oder waren das seine Tritte auf dem Laminatboden?
Als er jetzt hinabblickte, war alles ruhig. Niemand war da. Er verharrte einen Moment, dann tappte er zögernd die Stufen hinab.
Er war allein.
Hatte er nur fantasiert? Er fuhr sich übers Kinn und spürte die sprießenden Bartstoppeln.
Dann spurtete er zum Küchenfenster und spähte hinaus. Wahrscheinlich war es das Zuziehen der Haustür gewesen, was er gehört hatte.
Doch auch draußen war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Er zog den Kühlschrank auf und holte die Flasche Bier heraus, die er vorhin darin verstaut hatte, bevor er verwirrt auf einen der Küchenstühle sank. Während der Kronkorken ploppte, überlegte er ernsthaft, ob es schon so weit mit ihm gekommen sein könnte, dass sein Gehirn diese attraktive Frau einfach erfunden hatte.
Er setzte den Flaschenhals an seine Lippen. Nun ja, der Stress in den letzten Tagen war nicht gering gewesen, beruflich gesehen und privat sowieso …
* * *
»Na? Klappt alles?«, fragte Mirjam. Sie saß in einem Korbstuhl auf der Caféterrasse und sah zu, wie Tammy ihr den Kaffee servierte.
»Oh ja, danke, die Idee mit dem Musterhaus war einfach genial«, antwortete sie überschwänglich, guckte sich aber um, kaum, dass sie es ausgesprochen hatte. Hoffentlich hatte sie niemand gehört.
Doch die anderen Gäste saßen in einiger Entfernung verteilt. Ihr Geheimnis war sicher.
Mirjam zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Manchmal muss man nur ein wenig erfinderisch sein.«
Inbrünstig nickte sie.
»Du siehst um einiges entspannter aus«, fand die Maklerin.
Tammy lächelte. Sie fühlte sich auch so. Die regelmäßige Yogazeit tat ihr unheimlich gut. Wie sehr, wusste sie erst, seitdem sie es wieder täglich praktizierte.
»Ja, die Umstände haben sich bislang zwar nicht verändert, aber ich spüre, dass ich allmählich wieder Boden unter den Füßen bekomme.«
»Das freut mich ehrlich.« Mirjam griff nach ihrer Tasse. »Dann schmiedest du bald neue Pläne? Willst du langfristig auf Usedom bleiben?«
»Oh, ich weiß nicht.« Tammy sah sich um und strich sich dabei einige Strähnen aus dem Gesicht, mit denen der Seewind mal wieder spielte.
Die Sonne schien. Urlauber bevölkerten den Strandabschnitt, doch es war noch nicht so voll wie in der Hauptsaison. Das hatte ihr zumindest ihre Chefin vorhin mitgeteilt. Das Meer glänzte silbrig und ließ sanfte Wellen ans Ufer rollen. Es war ein schöner Tag. Hier konnte man es aushalten.
Allerdings dauerhaft als Servicekraft zu arbeiten, war keine Option. Davon könnte sie ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Sie wollte schließlich nicht ewig bei ihrer Mutter wohnen. Das war lediglich eine Übergangslösung.
Dass sie überhaupt kellnerte, war schon ein Wunder. Nachdem sie das Bistro in Erfurt geschlossen hatte, war sie überzeugt gewesen, nie wieder in dieser Branche tätig zu werden. Sie hatte sich in den letzten Jahren daran aufgerieben. Und wofür? Rückenschmerzen und Plattfüße? Es war Tobias’ Traum gewesen, nicht ihrer! Und zum Dank für ihre Aufopferung hatte er sie wegen einer dahergelaufenen Tussi sitzengelassen. Superspitzenklasse!
Vor ihrem verschwommenen Blick wedelte ein Gast mit der Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Tja, nun war sie doch wieder in dem Gewerbe tätig.
Sie rang sich ein Lächeln ab und nickte ihm zu. Na ja, so schlimm war der Job auch nicht. Die Urlauber waren in der Regel alle nett, und so konnte sie zumindest ein bisschen was verdienen, bis sie wusste, wie es weitergehen sollte.
Darüber musste sie sich nun endlich mal Gedanken machen. Da hatte Mirjam schon recht. Nur herrschte in ihrem Kopf diesbezüglich gähnende Leere. Denn etwas anderes als Kunst und Kellnern konnte sie nicht, und beides waren keine einträglichen Tätigkeiten, wie sie die Erfahrung gelehrt hatte. Immerhin war sie seit ihren Yogastunden wieder so weit gefestigt, um überhaupt mal diese Richtung gedanklich anzukratzen. Das war ja auch schon was, sagte sie sich, seufzte leise und zuckte unwillkürlich zusammen, als ein Mann sich plötzlich neben Mirjam niederließ. Sie hatte ihn gar nicht kommen sehen.
»Hallo, für mich bitte ebenfalls einen Kaffee. Der ist doch aus der Ersten Usedomer Kaffeerösterei, oder?«, fragte er und rutschte seinen Stuhl zurecht.
»Wie? Oh ja. Hier bei uns gibt´s nur den. Wir Insulaner müssen ja zusammenhalten«, flötete Tammy, als wäre sie ein alteingesessenes Mitglied der Inselgemeinschaft und keine Aushilfe, gebürtig in Franken.
»Sehr schön«, meinte der Mann und lächelte. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende vierzig. Er besaß eine drahtige Figur und einen braungebrannten Teint. Sein Haar war blond-braun meliert und seine Augen freundlich. Er trug Hemd und Stoffhose und wirkte wie ein Geschäftsmann im Pausenlook.
»Kommt sofort.« Tammy machte auf dem Absatz kehrt und lief zu den Gästen, die bereits per Handzeichen gerufen hatten, bevor sie im Gebäude verschwand.
Kurz darauf kam sie mit einem vollbeladenen Tablett zurück auf die Terrasse und verteilte Kuchen- wie Tortenstücke sowie Getränke.
Da Mirjam und ihr neuer Begleiter fast direkt neben dem Dünengras saßen, kam sie bei ihnen als Letztes an.
Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, und Mirjam gestikulierte ausschweifend, sodass Tammy aufpassen musste, den bestellten Kaffee nicht als ›Dusche‹ abzuliefern. In einem weitläufigen Bogen umkreiste sie die zwei und schob schließlich die Tasse vor dem Mann auf den Tisch.
»Danke.«
Die Maklerin stutzte kurz, dann deutete sie auf Tammy. »Das ist es«, rief sie aus. »Du malst doch!«
»Jaaa«, gab sie gedehnt zu und schaute die neue Freundin verwirrt an.
»Das ist es, Steffen! Tammy könnte das alles für dich auf die Wände bringen. Sie malt wirklich großartig. Mit ihren Bildern werden dir die Leute geradezu die Bude einrennen.«
Steffen schaute zu Tammy auf. »Machen Sie denn solche Auftragsarbeiten?«
Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er ebenso unsicher war wie sie. Höchstwahrscheinlich jedoch aus einem anderen Grund. Denn eine Malerin, die kellnerte, war sicherlich nicht als erfolgreich einzustufen, schoss es Tammy durch den Kopf. Sie selbst hingegen wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah.
Weshalb sie nur entgeistert dreinschaute, anstatt zu antworten.
So ergriff Mirjam erneut das Wort. »Warum denn nicht? Das wäre eine Win-win-Situation für uns alle.«
Sie klang absolut überzeugt.
»Worum geht´s denn überhaupt?«, wollte Tammy wissen.
»Ach so. Klar. Das ist Steffen Wardrup. Er möchte demnächst auf Usedom so was wie ein Urban-Art-Hotel aufmachen, allerdings nicht gänzlich diese Richtung, aber so ähnlich. Wir brainstormen gerade.« Sie grinste ihren Gesprächspartner breit an.
»Urban Art? Das ist doch Streetart, Graffitis und so weiter«, meinte sie verblüfft. Von solchen Hotelstyles hatte sie schon gehört, selbst jedoch noch keines gesehen. Obwohl es sie durchaus interessierte. Aber das war nicht der Grund für ihre Überraschung. Sie fragte sich, wie Mirjam darauf kam, dass sie so was erschaffen könnte. Ganze Wände bemalen. Sie hatte zwar in diese Stilrichtungen mal während ihres Studiums reingeschnuppert, aber das war´s auch schon. Ihr Ding waren Leinwände – schon immer gewesen.
»Können Sie sich das vorstellten?«, fragte Steffen jetzt und betrachtete sie.
»Ähm …« Keine Ahnung. Doch das verkniff sie sich im letzten Moment.
»Gibt´s denn von Ihnen irgendwas zu sehen? Damit ich mir mal einen Eindruck verschaffen kann?«
»Nur ein paar Bilder.« Die in einem Strandkorblager ihr Dasein fristeten. Sie dachte an ihre eingehüllten Werke, und ein bisschen Wehmut erfasste sie.
»Von wegen ›nur‹. Die sind erstklassig. Du kannst sie dir gern ansehen«, mischte sich Mirjam erneut ein und sah Steffen auffordernd an, während Tammy Mirjam anstarrte. Wann war die Maklerin zu ihrer Agentin mutiert? Aber vermutlich war die Stellenbeschreibung beider Jobs gar nicht so unterschiedlich.
»Also gut«, stimmte Steffen zu und lächelte Tammy an. Mirjam schien ihn überzeugt zu haben, dass ihre Gemälde einen Blick wert waren. Sie selbst hatte da so ihre Zweifel. Bevor sie allerdings Einwände erheben konnte, riefen Gäste am Nachbartisch nach ihr, und Mirjam setzte flugs einen Besichtigungstermin fest.
* * *
Nachdenklich schloss Tammy die Tür zum Musterhaus auf. Sie war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie heute nicht mal über die Schulter schaute, um sich zu vergewissern, dass sie niemand beobachtete.
Morgen Nachmittag um vier wollte sich Herr Wardrup ihre Gemälde ansehen. War sie darüber erfreut? Sie wusste es nicht. Doch der Termin stand, und ihr Ehrgefühl sagte ihr, dass sie die Bilder vorher zumindest abstauben und präsentabel anordnen musste.
Und dann? Wenn sie ihm gefielen? Ihre Werke waren gut, aber darum ging es bei der Besichtigung ja gar nicht. Wardrup, Steffen, wollte keine kaufen. Er suchte einen Künstler, der die Wände in seinem neuen Hotel in Szene setzte. Eventuell sie?! Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und rollte ihre Matte aus. Seit dem Zusammentreffen liefen ihre Gefühle Amok. Abschalten war dringend nötig.
Sie sank zu Boden und versuchte zur Ruhe zu kommen. Es fiel ihr schwer. Ihr Atem ging zu schnell, und ihre Lider flatterten. Immer wieder riss sie kurz die Augen auf. Sie fühlte sich wie bei einer Karussellfahrt.
Om, dachte sie krampfhaft, und die Nägel ihrer Zeigefinger bohrten sich leicht in ihr Daumenfleisch. Das war definitiv keine entspannte Haltung.
Blinzelnd schüttelte sie die Hände aus, um es erneut zu versuchen, dabei fiel ihr im Augenwinkel etwas auf. Täuschte sie sich, oder bewegte sich da was?
Instinktiv hielt Tammy den Atem an und ließ den Kopf auf ihre rechte Schulter sinken. Als das nicht ausreichte, ging sie mit dem Oberkörper mit, bis sie wie der ›Schiefe Turm von Pisa‹ dasaß und die Augen verdrehte.
Dort oben! Da war jemand!
Sie konnte nackte Füße erkennen und Hosenbeine einer Jeans. Sie beugte sich noch weiter zur Seite und verlor das Gleichgewicht. Mit den Händen fing sie sich kurz vor dem Aufprall am Boden auf.
Jetzt konnte sie ihn ganz sehen. Flüchtig zumindest.
Es war ein Mann. Ein Kerl, der in Dreckklamotten steckte.
Ruckartig richtete sie ihren Oberkörper wieder auf und starrte geradeaus.
Was sollte sie jetzt tun?
Es war mucksmäuschenstill. Da der Typ barfuß war, verursachten seine Schritte kaum Geräusche.
Und wenn er nach unten kam? Sie entdeckte? Würden sie dann beide erschrocken aufschreien wie gestört? Für den Bruchteil einer Sekunde musste sie bei dem Gedanken daran kichern. Doch sie riss sich sofort wieder zusammen. Noch wusste er nicht, dass er nicht allein im Haus war. Dessen war sie sich sicher, denn er bewegte sich nicht wie jemand, der sich ertappt fühlte.
Sie hörte, wie er oben eine Tür öffnete. Oder schloss? Nur, was machte er hier? Das war ein Musterhaus. Wie war er eigentlich hereingekommen? Sie lugte über die Schulter hinweg zum Eingang. Einbruchspuren gab es keine, die hätte sie doch sofort bemerkt.
Vielleicht war er über den Keller eingestiegen. Aber gab es überhaupt einen? Womöglich war ein Fenster offen gestanden? Sie fuhr mit den Augen die Wände um sich herum ab. Nirgends entdeckte sie Auffälligkeiten.
Der Kerl hätte es nach seinem Eindringen bestimmt geschlossen, überlegte sie.
Noch immer saß Tammy wie versteinert da. Woher kam nur diese plötzliche innere Ruhe? Seit Stunden war sie bemüht, ein bisschen gleichmütiger zu werden, und nun war sie es auf einmal. In einer Situation, in der andere die Beine in die Hand nahmen. Sich fürchteten, flüchteten und die Polizei verständigten.
Das sollte sie auch machen. Bei dem Gedanken nickte sie kaum merklich.
Komischerweise setzte sie sich nur langsam in Bewegung.
Sie fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Befand sie sich womöglich in einem Überlebensmodus? Ja, so musste es sein. Ihr Körper reagierte intuitiv. Ohne Hast, um nicht aufzufallen und sich in Gefahr zu bringen.
Doch als sie in sich hineinhörte, war es keine Angst, die sie spürte, sondern vielmehr Neugier.
* * *
Sie war wieder da!
Nick kniff die Augen fest zusammen und riss sie wieder auf. Die attraktive Braunhaarige saß immer noch im Schneidersitz im Wohnbereich. Er hatte sich ihre Anwesenheit demnach gestern nicht eingebildet. Sicherheitshalber zwickte er sich nochmal leicht in den Arm. Dreckstaub rieselte zu Boden. Nick biss die Zähne aufeinander. Was für eine Sauerei der ›Stift‹ auf der Baustelle doch verursacht hatte! Der Jungspund mochte zwar voller Tatendrang stecken, doch das konnte auch zu viel des Guten sein. Wie er heute einwandfrei bewiesen hatte.