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Wenn eine antiroyale Bloggerin in den Palast einzieht ...
Tessa Sharpe verdient ihr Geld mit einem Blog - mit einem antiroyalen Blog. Auf "The Royal Watchdog" hält sie mit ihrer - nicht so positiven - Einstellung zum Königshaus und ganz besonders zum Kronprinzen von Avonia, Prinz Arthur, den sie für einen faulen Sack hält, nicht hinterm Berg. Soll er sich doch einen Job suchen wie der Rest der Bevölkerung. Doch dann geschieht das Unglaubliche: Tessa erhält eine Einladung in den Palast. Prinz Arthur fordert sie öffentlich heraus, ihn zwei Monate zu begleiten, um sich selbst einen Eindruck von seinem Alltag und den royalen Pflichten zu machen. Tessa kann schlecht Nein sagen, wartet doch das ganze Königreich gespannt auf ihre Antwort. Also zieht sie in den Palast ein und verbringt die Tage mit dem attraktiven Royal. Und mit jedem Blick und jedem Wortgefecht merkt sie, dass ihr Herz ein bisschen schneller schlägt und ihre Meinung über Arthur sich ein klein wenig ändert ...
"Humorvoll und prickelnd. Never Your Royal ist perfekt!" Bare Naked Words
Auftakt der unterhaltsamen und romantischen ROYAL-Reihe von Bestseller-Autorin Melanie Summers
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2023
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Bonusstory: Royal Proposal
Die Autorin
Die Romane von Melanie Summers bei LYX
Impressum
MELANIE SUMMERS
Never Your Royal
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz
Tessa Sharpe verdient ihr Geld mit einem Blog – mit einem antiroyalen Blog. Als Royal Watchdog hält sie mit ihrer – nicht so positiven – Einstellung zum Königshaus und ganz besonders zum Kronprinzen von Avonia, Prinz Arthur, den sie für einen faulen Sack hält, nicht hinterm Berg. Soll er sich doch einen Job suchen wie der Rest der Bevölkerung. Doch dann geschieht das Unglaubliche: Tessa erhält eine Einladung in den Palast. Prinz Arthur fordert sie öffentlich heraus, ihn zwei Monate zu begleiten, um sich selbst einen Eindruck von seinem Alltag und den royalen Pflichten zu machen. Tessa kann schlecht Nein sagen, wartet doch das ganze Königreich gespannt auf ihre Antwort. Also zieht sie in den Palast ein und verbringt die Tage mit dem attraktiven Royal. Und mit jedem Blick und jedem Wortgefecht merkt sie, dass ihr Herz ein bisschen schneller schlägt und ihre Meinung über Arthur sich ein klein wenig ändert …
Allen Frauen, die dieses Buch lesen,
und dem kleinen Mädchen in ihnen, das an einem regnerischen Tag Verkleiden spielte und auf den Füßen ihres Vaters tanzte.
Ich hoffe, ihr lacht.
Ich hoffe, ihr liebt.
Ich hoffe, ihr glaubt an euch selbst, denn ihr seid genau richtig.
ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich lachen wollte. Weil ich der Realität entfliehen musste. Und glücklich seufzen wollte.
Das Telefon klingelte am Morgen von Halloween (einer meiner liebsten Tage im Jahr), und nachdem ich das Gespräch beendet hatte, war nichts mehr wie vorher. Plötzlich kämpfte mein knallharter Vater gegen Krebs im dritten Stadium, der seine Lunge und die Lymphknoten befallen hatte. Solch eine Neuigkeit will niemand hören. Solch eine Neuigkeit wirft einen glatt um.
Plötzlich stand ich vor der sehr realen Möglichkeit, meinen geliebten Vater zu verlieren – den Mann, der mich (gemeinsam mit meiner Mutter) großgezogen hat und der die Weisheit besaß, sich zurückzunehmen und mich in meinen Enttäuschungen (manchmal spektakulär) abstürzen zu lassen, nur um mir anschließend wieder aufzuhelfen, meine Krone zu richten und mit mir zur nächsten Runde anzutreten. Er ist die Sorte Vater, zu dem ich immer kommen kann, wenn das Leben mich runterzieht, oder wenn es etwas Großes oder Kleines zu feiern gibt. Was sollte ich tun, wenn er nicht mehr da wäre, um stundenlang über nichts Wichtiges mit ihm zu reden? Mit wem sollte ich dann über die Absurdität des Lebens lachen?
Schon komisch, wie unser Verstand arbeitet. Nur Minuten, und ich war nicht länger fähig, den überaus ernsten Frauenroman zu schreiben, an dem ich gerade saß. Trotzdem, der Verstand einer Autorin muss immer schöpferisch bleiben. Er kann niemals stillstehen. Also taten sich die Schleusentore des Humors vor mir auf, und die Geschichte von Tessa und Arthur stürzte mir entgegen.
Ich schrieb und schrieb, und manchmal lachte ich so sehr, dass mir die Gesichtsmuskeln wehtaten. Währenddessen kämpfte mein Vater mit seiner ganzen Kraft. Dann rief er mich am Ostermontag wieder an, und die Krise endete so abrupt, wie sie über uns gekommen war. Der Krebs ging zurück, wir haben das unglaubliche Geschenk erhalten, mehr Zeit füreinander zu haben, häufiger telefonieren und miteinander feiern zu können.
Manche von euch durchleben vielleicht selbst gerade eine Krise, wenn ihr dieses Buch in die Hand nehmt. Hoffentlich geht eure Geschichte so gut aus wie meine.
Mein größter Wunsch als Autorin ist es, euch zum Lachen zu bringen, euch einen Fluchtweg zu eröffnen und euch Gründe zu geben, glücklich zu seufzen.
Voller Liebe und Dankbarkeit
Melanie
Ich sage es nur ungern, Ladys, aber wenn Sie schon einmal einen Hollywood-Film oder, noch schlimmer, einen Fernsehfilm über eine Königsfamilie gesehen haben, hat man Ihnen einen Teller dampfende Pferdeäpfel vorgesetzt. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin der Kronprinz von Avonien, aber ich spreche nicht nur für mich. Einige meiner besten Freunde sind ebenfalls Prinzen oder Herzöge aus verschiedenen Teilen der Welt. Wir haben darüber gesprochen und sind uns alle einig – die Film- und Liebesromanbranche hat uns mit den Erwartungen, die sie an eine Beziehung oder Heirat mit einem Mitglied der Königsfamilie geweckt hat, einen Bärendienst erwiesen.
Wenn wir uns zum Beispiel auf einer Party begegnen und Sie verlieren Ihren Schuh, kann ich Ihnen mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich anschließend nicht von Tür zu Tür laufen werde, um ihn Ihnen zurückzugeben, da können Sie so schön sein, wie Sie wollen.
Erstens ist es nur ein Schuh; Sie können in einen Laden gehen und sich ein neues Paar kaufen, und wenn Sie, zweitens, zu dumm sind zu merken, dass Sie nur noch einen Schuh anhaben, werden Sie und ich sowieso nicht lange zusammen sein. Vielleicht gehe ich mit Ihnen ins Bett, wenn es sich ergibt, aber davon abgesehen, wären wir miteinander fertig.
Wenn Sie bisher angenommen haben, ich würde mit Ihrem verschwitzten High Heel auf einem Samtkissen hinter Ihnen herlaufen, dann sind Sie vielleicht auch von anderen falschen Voraussetzungen ausgegangen. Zum Beispiel, dass ich morgens zu Vogelgezwitscher vor meinem Fenster erwache; dass mir ein Dienstmädchen mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf (wozu sind diese Häubchen eigentlich gut?) das Frühstück ans Bett bringt; dass ich anschließend den lieben langen Vormittag lesend im Salon herumliege, während meine Schwester Arabella dazu die Harfe zupft; dass ich am Nachmittag mit einer Schar Herzöge auf die Jagd gehe, danach ein achtgängiges Dinner in Gesellschaft von Damen in Glitzerkleidern und Handschuhen bis zum Ellenbogen zu mir nehme, um mich schließlich in die Bibliothek zurückzuziehen und mit anderen Blaublütigen Zigarren zu rauchen und Scotch zu schlürfen.
Aber abgesehen von in der Schatzkammer weggeschlossenen Kronen, Dienstboten, die den ganzen Tag um mich herumschleichen (und mich, nebenbei bemerkt, so häufig zu Tode erschrecken, dass mein Leben einer Neuauflage von Stephen Kings ES gleicht), und den Stretchlimousinen liegen die Filme komplett daneben.
Mein typischer Tag sieht eher so aus: Der Wecker geht jeden Morgen um punkt sechs, außer sonntags, da kann ich lange schlafen, nämlich bis halb acht (ich Glückspilz). Dann ziehe ich mir Sportsachen an und absolviere mit meinem Sicherheitschef Ollie ein einstündiges Mixed-Martial-Arts-Trainingsprogramm, damit mein Körper in bester prinzlicher Form bleibt. Anschließend duschen, dann Frühstück am Küchentresen, während ich von meinem Chefberater Vincent Hendriks, der aus Gründen, die ich lieber nicht aufdecken will, die meiste Zeit nach Blauschimmelkäse riecht, über mein Tagespensum informiert werde. Den Rest des Tages verbringe ich entweder mit unglaublich langweiligen Meetings oder dem Besuch grässlich deprimierender Orte, zum Beispiel Kinderkrankenhäuser. Wenn ich Glück habe, esse ich dann allein, trinke ein paar Biere, um die bleichen Gesichter der tapferen kranken Kinder zu vergessen. Wenn ich jedoch nicht das Glück habe, den Abend allein verbringen zu können, muss ich mein bestes Traumprinzlächeln aufsetzen und unermüdlich weitermachen, während ich mit Würdenträgern und ihren errötenden Gattinnen zu Abend esse.
Mit den Gattinnen kann ich übrigens recht gut. Mit den Ehemännern allerdings nicht so.
Wenn auf der Welt die Frauen das Sagen hätten (was vermutlich besser wäre, ich meine, sehen Sie sich doch nur mal an, wie schnell die Ladys, die Island regieren, ihr Land vor ein paar Jahren vor dem Bankrott bewahrt haben. Nicht lange gefackelt, ihre Banker ins Gefängnis geworfen, die Wirtschaft am eigenen Schopf aus der Patsche gezogen, und – BUMM! – schon lief alles wieder wie am Schnürchen) … aber egal, wenn auf der Welt also die Frauen das Sagen hätten – insbesondere die Gattinnen, mit denen ich speise –, hätte unser kleines Königreich wirtschaftlich die Nase international ganz weit vorne. Und ich würde nicht mitten in dem Shitstorm stecken, der heute auf mich niedergeprasselt ist …
»Oh, verdammt!« Das Auto rast davon, aus den offenen Fenstern dringt Gelächter.
»Ihr kleinen … Herumtreiber!«, schreie ich, worüber sie umso lauter lachen. Ich bin erst achtundzwanzig, aber für die bin ich nur eine tropfnasse Hexe mittleren Alters, was ihnen der Gebrauch des Ausdrucks »Herumtreiber« meinerseits bestätigt. Aber ich will nicht fluchen. Es sind Kinder in der Nähe, aber, oh, ich habe »verdammt« gerufen, oder? Shit!
Meine brandneue weiße Jeans und meine Lieblingswildlederstiefel sind jetzt pitschnass und mit Matsch bespritzt. Das ist buchstäblich das dritte Mal in zwei Jahren, dass ich dem »Bowling-for-Losers«-Spiel zum Opfer falle, das seit, keine Ahnung, einer Ewigkeit an dieser Stelle veranstaltet wird. Auf der ganzen Länge der Bushaltestelle senkt sich der Asphalt, und da hinter der Haltestelle eine zwei Meter fünfzig hohe Backsteinmauer aufragt, kann man auch nirgendwo Schutz suchen. Also tauchen nach jedem kräftigen Regenguss aus dem Nichts Teenager auf und spielen ihr Spiel.
Um ehrlich zu sein, wenn man einer der im Auto mit seinen Kumpels zusammengequetschten Teenager ist, macht es sogar Spaß. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich es selbst mal gemacht habe, und es war schon irgendwie spannend, auf eine Angst einflößende, aufregende Weise, als wollte man etwas wirklich Ungezogenes anstellen, das einen auf ewig zusammenschweißt. Oh mein Gott! Und was, wenn wir erwischt werden?
Aber sobald es vorbei war, sah ich mich nach unserem Opfer um. Die Frau war für eine Party angezogen, sogar das Geschenkpapier der schicken silbrigen Schachtel unter ihrem Arm triefte vor Nässe. Wir hatten ihr für ein paar Sekunden Unterhaltung den ganzen Tag verdorben. Ich flehte meine Freunde an umzudrehen, um sie mitzunehmen, aber wie sich zeigte, stehen Teenager nicht darauf, dass man ihnen den Spaß verdirbt, sodass ich danach ein paar Freunde weniger hatte. Was mir aber nicht viel ausmachte. Ich war bereits lange vor der Pubertät daran gewöhnt, eine Außenseiterin zu sein.
Gerade bin ich zu einem weiteren gefürchteten Abendessen im Kreise der Familie auf dem Weg zu meinem Elternhaus. Als das einzige Mädchen von fünf Kindern hatte ich seither ausreichend Anlass, mich nicht zugehörig zu fühlen – kein Penis, keine Hoden, kein Interesse an Fußball. Mit den Jahren wurde es immer schlechter statt besser, weil meine brillanten Brüder in der großen weiten Welt aufstiegen, während ich unlängst noch ein paar Sprossen der Karriereleiter abgestürzt bin. In letzter Zeit ziehen meine Brüder mich unermüdlich als »das trübste Licht im Hause Sharpe« auf.
Als der Bus sich Abbot Lane nähert, schrumpfe ich von einer relativ selbstsicheren, einigermaßen intelligenten Frau wieder zu einer linkischen, unsicheren Vierzehnjährigen zusammen. Die nächsten dreiundzwanzig Minuten verbringe ich mit der Hoffnung, der Bus könnte liegen bleiben oder von Terroristen entführt werden (aber nur, wenn vorher Keanu Reeves zusteigt), und die Stunden danach mit der Wunschvorstellung, mir wäre die perfekte Ausrede eingefallen, um dieses Abendessen abzusagen.
Ich habe in den beiden zurückliegenden Jahren bereits schreckliche Bauchkrämpfe (ein altbewährtes Mittel, vor allem, wenn mein Vater ans Telefon geht), schlimmes Fieber, schlimmen Durchfall – alles Schlimme ist tatsächlich ziemlich wirkungsvoll –, kurz bevorstehende Abgabetermine (was mir eh keiner abkauft), liegen gebliebene Busse und Bronchitis (was man viel schwerer vorspielen kann, als man glauben möchte, wenn man in Wahrheit kerngesund ist) vorgeschoben. Aber heute bringe ich es nicht über mich zu lügen. Denn heute wäre der fünfundachtzigste Geburtstag meines Großvaters gewesen, und da er der Einzige in der Familie war, der daran glaubte, dass irgendein verborgenes Talent in mir schlummern könnte, schulde ich es ihm, an dieser Feier teilzunehmen.
Ich stehe auf dem nassen Gehweg und blicke auf mein Elternhaus, mit seinem Mischmasch aus dunkelgrün verkleideten Aufbauten über dem einstmals einstöckigen Ziegelbau. Obwohl ich mit meinen nassen Beinen friere, lasse ich mir einen Moment Zeit, um die Stille auf mich wirken zu lassen, ehe ich vom Chaos und den Küchengerüchen bombardiert werde, die mich hier erwarten. Dann beginnt leichter Regen und zwingt mich hineinzugehen und es hinter mich zu bringen. Schließlich gibt es schlimmere Schicksale als ein Abendessen mit der Familie. Mir fällt zwar im Moment keines ein, aber ich weiß, dass solche Schicksale existieren.
In der Hoffnung, nicht aufzufallen, als ich zur Tür hereinkomme, senke ich die Stimme zu einem Flüstern. »Hallo allerseits.«
Sofort reckt meine Mutter den Kopf aus der Küchentür am Ende des schmalen Flurs. Meine Mum hat ein äußerst scharfes Gehör. Sie kann gleichzeitig an zwei Unterhaltungen teilnehmen, während sie auf ein schlafendes Baby lauscht und darauf achtet, dass die Kartoffeln nicht überkochen.
»Tessa! Da bist du ja! Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr.« Sie weicht meinen Nichten aus, die viel zu beschäftigt sind, mit einer Tiara hinter dem Kater herzujagen, um mich zu bemerken.
»Armer Mr Whiskers. Mum, du solltest nicht zulassen, dass sie ihn wieder anziehen.« Damit gebe ich ihr den Wein, den ich »für alle« mitgebracht habe (womit ich ausschließlich mich meine) und drücke ihr einen Kuss auf die Wange.
»Er wird es ihnen schon zeigen, wenn er keine Lust hat, ›Anziehen‹ zu spielen.« Als sie mich in eine Umarmung zieht, steigt mir der vertraute Duft von Chanel No5 in die Nase.
Ein Zischen und Jaulen sagt mir, dass Mum, was Mr Whiskers angeht, recht hatte. Dann kommen die drei Mädchen schreiend den Flur zurückgerannt, biegen nach rechts ab und poltern die Treppe hinauf.
Mum mustert mich von oben bis unten. »Wieder mal an der Haltestelle nass gespritzt worden?«
»Ja.«
»Du solltest wirklich mal daran denken, dir ein Auto zuzulegen. Es gibt mittlerweile elektrische, dann würdest du nicht die Erde zerstören, wie der Rest von uns.«
»Ja, das sagtest du schon.«
So gerne ich auch mit meinem eigenen Auto herumgondeln würde, kann ich mir leider keines leisten. Das ist etwas, das mir ein wenig Bauchschmerzen bereitet und ich deshalb lieber für mich behalte. Stattdessen benutze ich unter dem Vorwand, mich in eine veritable Umweltschützerin verwandelt zu haben, öffentliche Verkehrsmittel. Aber obwohl ich mich ganz entschieden um die Erde sorge, träume ich davon, eines schönen Tages in einem glänzenden kleinen Sportwagen vorzufahren, mit dem ich einfach wieder davonbrausen kann, wenn ich genug »Zeit mit der Familie« verbracht habe.
Was ich mir wirklich wünsche, ist ein netter, ausgeglichener, umweltbewusster Mann, der mich in einem Hybriden mit beheizten Ledersitzen zu meinen Eltern kutschiert. Ich bin überzeugt, meine »Respektabilität« würde sich verdreifachen, wenn ich einen solchen Mann fände. Aber da man einen alleinstehenden, verlässlichen, anständigen Mann heutzutage ebenso leicht findet wie ein Münztelefon, werde ich wohl auf ewig eine alleinstehende Unternehmerin bleiben, die sich teure Schuhe (im Ausverkauf) kauft, ohne sich Beschwerden von jemandem anhören zu müssen, der später den Toilettensitz hochklappen wird.
Oh, das war jetzt furchtbar negativ. Ich weiß, dass es da draußen auch gute Männer gibt. Allerdings für andere Frauen. Nicht für mich. Wenn irgendwo in einem Umkreis von zehn Meilen ein verlogener, betrügerischer Mistkerl lauert, werde ich ihn garantiert aufstöbern und mich in ihn verlieben.
Meine Nichte Poppy ist das erste der Kinder, das mich bemerkt. Ihre Augen strahlen, dann schreit sie: »Tante Tessa ist da!«
Danach beginnt der Ansturm der Kinder, die sich auf die Gummibärchen-Tüten stürzen, die sie zu Recht bei mir vermuten. Poppy stürmt die Treppe herunter und springt mir in die ausgebreiteten Arme. Ich drücke sie fest und gebe ihr einen feuchten Wangenkuss, um zu sehen, wie sie sich die Wange abputzt. Darüber kann ich mich jedes Mal ausschütten vor Lachen. Ich bin die alte Jungfer, bloß dass mir keine Haare aus einer Warze am Kinn wachsen – jedenfalls noch nicht. »Oh, wie habe ich meine Kleine vermisst!«
Ich gehe in die Hocke und wühle in meiner Manteltasche. »Mal sehen, ob ich was für dich habe.«
Sie grinst erwartungsvoll.
»Na, da haben wir sie. Eine Tüte Gummibärchen. Die beste Süßigkeit der Welt.« Ich gebe ihr die Tüte.
»Danke, Tante!« Sie umarmt mich noch einmal, während sich hinter ihr, nicht ganz ordentlich, die übrigen Kinder aufreihen.
»Sehr gerne, Peanut«, flüstere ich ihr ins Ohr. »Nicht vergessen, du bist mir die liebste Mohnblume auf der ganzen Welt.«
Poppy strahlt, als sich ihr kleiner Bruder Clark vordrängelt.
Ich absolviere das Prozedere noch sechsmal, schließlich sage ich dem Nachwuchs, was ich immer sage: »Aber wartet damit bis nach dem Essen, sonst sind eure Mütter stinksauer auf mich.«
Doch ich habe die Worte kaum ausgesprochen, da sind sie schon alle verschwunden, vermutlich verstecken sie sich irgendwo und verdrücken die Gummibärchen. Ich werfe meinen Wollmantel auf den schwankenden Jackenstapel auf der alten Holzbank, dann gehe ich ins Fernsehzimmer, um meinen Vater und meine Brüder zu begrüßen.
Als ich den Kopf ins Zimmer stecke, fällt mir sofort das pink blinkende »Sheepshagger-Beer«-Schild ins Auge, das sich entsetzlich mit dem rot-grün karierten Sofa und dem dazugehörenden Zweisitzer beißt. Mein Dad steht hinter der Hausbar, bei der es sich in Wahrheit nur um einen Fernsehtisch mit einem Zwölferpack Bier handelt. Sein Blick klebt an dem riesigen Fernsehschirm.
»Hi, allerseits« Meine Stimme geht in dem allgemeinen Geschrei unter.
Fußball ist so ziemlich ihre einzige gemeinsame Leidenschaft. Also, mal abgesehen von Bier. Oh, und davon, mich zu veralbern. Wenn ich es mir recht überlege, haben sie eigentlich einiges gemeinsam.
Als Dad mich aus dem Augenwinkel bemerkt, winkt er mir kurz zu und grinst schief. »Hey Tess … JAAAA!«
Sein Kopf fährt wieder zum Fernseher herum, und er sieht aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen, weil irgendwer fast einen Treffer erzielt hätte. Eigentlich ist das Fußball-Spiel so was wie ein Gottesgeschenk. Denn es bedeutet einen Aufschub der nächsten Runde, Tessa zu schikanieren, weil sie »keinen Mann und keinen ordentlichen Job oder keinen Mann mit einem ordentlichen Job« hat. Aber wohin ist meine Mum eigentlich mit dem Wein verschwunden?
Ich finde sie in der Küche mit meinen Schwägerinnen Isa und Nina. Alle drei sind zu sehr von einem Streit über die neuen Schuluniformen in Anspruch genommen, um mich zu bemerken.
»Ich weiß.« Nina, die ihr drittes Trimester vor sich hat, steckt sich eine Olive in den Mund und fährt dann fort: »Mir wurde gesagt, es solle dieses Jahr nicht so weitergehen, aber man weiß ja, dass man keinem da trauen kann. Es geht nur ums Geld.«
»Nur.« Isa nickt so heftig mit dem Kopf, dass ich fürchte, er könnte abfallen. Aber das wäre kein allzu großer Verlust für sie. Sie benutzt ihren Kopf sowieso hauptsächlich dazu, um ihre Begabung für Frisuren und Make-up zur Schau zu stellen. Ups, das war jetzt ziemlich zickig, oder? Ich frage mich, ob ich meine Tage bekomme.
Mum bezieht Stellung vor dem Herd, ihre Hände verschwimmen in einem Wirbel aus Aktivitäten, als sie rührend, würzend und sautierend das Abendessen für sechszehn hungrige Mäuler zubereitet. »Und, Tessa, wie läuft das Bloggen?« Wie um zu demonstrieren, dass sie sich endlich auf den Namen meiner gegenwärtigen Beschäftigung besonnen hat, betont sie das Wort »Bloggen«.
»Wirklich gut, danke. Ständig kommen neue Abonnenten dazu, was natürlich immer gut ist.«
Als ihr Gesicht sich verwirrt verzieht, weiß ich, was als Nächstes kommt. »Ich verstehe bloß immer noch nicht, wie du dein Geld verdienst.«
»Vor allem, ähm, durch Werbung. Aber einige der Firmen, die ich bespreche, bezahlen mir ein Honorar, weil ich ihre Produkte teste.« Ich wasche mir die Hände und mache mich daran, Gürkchen zu schneiden, die zum Eintopf gereicht werden sollen.
Mum nickt. »Stimmt, die Firmen bezahlen dich dafür, dass du auf deiner Website für sie wirbst.«
Wir kauen das jedes Mal durch, aber es ist mir egal. Immerhin zeigt es mir, dass sie sich Gedanken macht. »Ja, so ähnlich. Für die Werbung werde ich indirekt bezahlt. Die Firmen geben das Geld Google, und Google gibt es mir.«
»Und du kriegst wirklich genug Leute dazu, deinen Blog zu lesen, um deine Rechnungen bezahlen zu können?«
Vermutlich weiß sie, dass ich, was mein Auskommen angeht, ein wenig übertreibe, aber, zu meiner Verteidigung, das mache ich nur, weil ich nicht will, dass sie sich meinetwegen Sorgen machen. Ja, okay, auch deshalb, weil ich sterben würde, wenn meine Brüder Bescheid wüssten.
»Wirklich.« In Wahrheit komme ich gerade so über die Runden. Und ich verdiene echtes Geld. Keine Bitcoins. Was der Gegenstand ihrer nächsten Frage sein wird.
»Echtes Geld oder diese Bitcoins, von denen ich dauernd höre?«
»Echtes Geld, Mum, das auf meinem Konto landet und alles.«
»Fein, weil, Grace von nebenan hat mir erzählt, dass diese Bitcoin-Leute bankrottgehen.«
»Oh, ehrlich? Da bin ich aber froh, dass ich mich für echtes Geld entschieden habe.«
Es klingelt an der Tür zum Zeichen, dass Bram da ist. Im Unterschied zu mir ist es Bram absolut wichtig, ständig im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. Hat vermutlich etwas damit zu tun, dass er in eine Meute Jungs hineingeboren wurde, was ihn anscheinend nachhaltig beeinflusst.
»Hallo! Wo steckt ihr denn alle?«, brüllt er. »Ich will euch meine neue Freundin vorstellen!«
»Schon wieder eine neue?« Nina schaut Isa an und schürzt die Lippen, womit sie eine Kaskade aus Kopfschütteln und Augenverdrehen lostritt, ehe sie sich auf die Suche nach Brams neustem Fang begeben.
Meine Mutter wischt sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und tummelt sich in Richtung Haustür. Ich nutze die Gelegenheit, den letzten Schluck Wein hinunterzustürzen und mein Glas aufzufüllen, bevor ich Brams jüngste Eroberung begrüße.
Punkt sechs Uhr setzen wir uns zum Essen. Die Erwachsenen quetschen sich an den Esszimmertisch, während die Kinder sich um den kippeligen Kartentisch im Durchgang zwischen Fernsehzimmer und Esszimmer versammeln. Damit meinem Vater kein entscheidendes Tor entgeht, plärrt im Hintergrund die Flimmerkiste. Und weil es hier drinnen in ein paar Minuten drückend heiß sein wird, kippt meine Mutter das Fenster. Dann drängt sie sich an dem Büfett mit ihren stolz ausgestellten Sammeltellern und -tassen zum Angedenken der königlichen Familie vorbei und will sich gerade am Kopfende des Tisches niederlassen, als sie schon wieder aufspringt. »Jetzt hätte ich fast die schicken Servietten vergessen.«
»Nun mach nicht so einen Wirbel, Mum. Es ist ja nicht so, als würden wir den König bewirten.« Das sagt mein Vater jedes Mal, der das Abendessen am liebsten beinah ebenso schnell hinter sich bringt wie ich.
Mum winkt ab und eilt wieder in die Küche, um eine Sekunde später mit einem Packen dicker Papierservietten mit Frühlingsblumen darauf zurückzukommen. Sie ist eine große Freundin von bedruckten Servietten.
Alle bewundern nun, wie es meine Mutter wieder einmal hinbekommen hat, ein solches Festessen auf die Beine zu stellen. Sie tut so, als hätte sie kein Lob nötig, und dann nimmt das Chaos des Auftischens seinen Lauf. Noah, Isa und Nina heben Schüsseln um den Esstisch und tun ihren Sprösslingen auf. Mein Bruder Lars hockt auf seinem mageren Hintern und häuft Speisen auf seinen Teller, bevor seine schwangere Frau ihn anschnauzt, dass er ihr gefälligst helfen solle. Er fährt auf, als begreife er plötzlich, dass vier der Kinder am Katzentisch seine eigenen sind.
Ich sitze der neuen Freundin gegenüber, Irene, die genauso aussieht, wie ich es erwartet habe. Jung, hübsch, üppige Frisur und noch üppigerer Busen. Finn, der sich beeilt hat, den Platz neben der neuen Freundin unseres Bruders zu ergattern, schielt jedes Mal, wenn er ihr eine Schüssel reicht, in ihren tiefen Ausschnitt, während Bram, der ihre andere Seite besetzt hält, es ihm gleichtut, wenn sie die Schüsseln an ihn weiterreicht.
Da steht mein Dad auf, räuspert sich und hebt sein Bierglas. »Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um das Leben eines ganz besonderen Mannes zu feiern, der heute fünfundachtzig Jahre alt geworden wäre. Er war ein Teufelskerl von einem Gärtner, eine gute Seele und der beste Schwiegervater, den ein Mann sich wünschen konnte. Auf Grandpa Seth!«
Wir heben alle unser Glas und prosten uns zu. Tränen treten mir in die Augen. Auch nach fünfzehn Jahren vermisse ich Grandpa Seth so sehr, dass es manchmal wehtut. Ich war sechs, als er nach dem Tod unserer Großmutter zu uns zog. Er und ich schlichen uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Garten und unterhielten uns miteinander, während er gärtnerte. Na ja, eigentlich war ich allein für die Unterhaltung zuständig, während er mir zuhörte. Er war der Einzige in meiner Familie, der mich wie eine Erwachsene behandelte, sogar schon damals, als ich noch ein kleines Mädchen war. Er verstand mich wie seither niemand mehr, und seitdem er nicht mehr bei uns ist, ist in meiner Seele eine tiefe Leere.
Meine Brüder, die fanden, Grandpa Seth hätte mich immer bevorzugt – was er auch absolut tat –, konnten nie viel mit ihm anfangen. Alle greifen zu, während ich noch mit meiner tulpenbedruckten Serviette herumfummele und darauf warte, dass sich der Kloß in meinem Hals auflöst.
»Und, Tess, was macht das Bloggen?«, fragt Noah, nachdem er endlich sitzt und Essen auf seinen eigenen Teller häuft. Mögen die Spiele beginnen.
»Tessa ist nämlich Bloggerin«, teilt Bram Irene mit. »Früher war sie eine richtige Reporterin, bis sie gefeuert wurde, weil sie ihren Chef gebumst hatte.«
»Bram Devon Sharpe!«, speit meine Mutter aus. »Wir hatten uns geeinigt, nicht mehr davon anzufangen.«
Mein Gesicht wird flammend rot vor Scham. »Wir haben nicht bloß gebumst. Wir waren fast ein Jahr zusammen.«
»Was heißt ›gebumst‹, Mummy?«, meldet sich Poppy vom Kartentisch zu Wort. »Und wieso hat Tante Tessa das mit ihrem Chef gemacht?«
Isa lässt die Schultern hängen und funkelt Noah finster an, um ihm zu bedeuten, dass er das nun wieder geradebiegen soll, falls er jemals wieder auf »Du-weißt-schon-was« aus ist. (Ich muss nicht lange überlegen, schließlich hat sie mir mal erzählt, dass sie ihn beherrscht, indem sie Sex nach einem System von Belohnen und Strafen zuteilt. Was er natürlich nicht kapiert, und ich wünschte, verdammt noch mal, ich hätte auch keine Ahnung.) Noah reagiert sofort.
»Herzlichen Dank, Bram«, brummt er. »Nichts, Liebes, das ist bloß etwas, das Onkel Bram in einem Film aufgeschnappt hat.«
Irene lächelt mich an. »Du bloggst also?«
Meine Mutter antwortet an meiner Stelle. »Tessa ist eine richtige Unternehmerin. Sie bekommt monatlich neue Abonnenten dazu.« Doch ihr Gesichtsausdruck sagt: »Ist das nicht erstaunlich für unsere kleine Tessa, von der wir so wenig erwartet haben?« Na ja, um ehrlich zu sein, ich bin tatsächlich das am wenigsten eindrucksvolle Familienmitglied. Noah ist Baustatiker. Lars hat eine Professur in Astrophysik, weshalb es bei uns statt »Der ist nicht gerade Raketenwissenschaftler« immer nur »Der ist nicht gerade Lars« heißt, Finn macht bald seinen Abschluss in Architektur, und Bram ist Zahnarzt. Und ich blogge.
»Und was für einen Blog schreibst du?«, fragt Irene weiter.
»Ich unterhalte unterschiedliche Seiten. Fotografie, Laufen, eine Website über die Royals …«
Bei der Erwähnung meines Blogs über die Royals versteift sich meine Mum. Als Riesenfan der Königsfamilie war sie bitter enttäuscht, als ihre Tochter sich offen gegen die Royals stellte. Sie ist eine solch glühende Verehrerin, dass ich wahrhaftig glaube, es wäre ihr lieber gewesen, ich hätte mich offen für Polygamie ausgesprochen.
Irenes Augen leuchten. »Ich liebe die königliche Familie! Vor allem Prinz Arthur! Mjam!« Sie kichert, dann blickt sie mich an, offenbar erwartet sie, dass ich ihr hinsichtlich der Köstlichkeit unseres Thronfolgers beipflichte.
»Ja, er ist sehr beliebt.« Ich lächle höflich.
Sie schnappt nach Luft. »Ich frage mich, ob ich deinem Blog folgen soll.«
»Nicht, wenn du auf die königliche Familie abfährst«, stichelt Lars.
Irenes Gesichtszüge entgleisen. Während ich rot anlaufe. »Es ist weniger eine Fanseite als ein kritischer Blick auf die Frage, ob eine Monarchie heutzutage überhaupt noch erforderlich ist.«
»Tessa würde die ganze Bande am liebsten zum Teufel jagen«, wendet sich Finn an Irenes Brüste.
»Schlagt ihnen den Kopf ab!«, lässt sich die Stimme meines Neffen Josh vernehmen. Oder ist das Geoffrey? Ich kann die beiden nicht auseinanderhalten, was aber wirklich nicht mein Fehler ist. Sie sind Zwillinge und halten niemals lange genug still, um sie sich einmal genau anzuschauen.
»Ich will überhaupt niemanden köpfen lassen –«
Irene starrt mich inzwischen an, als hätte ich gerade gesagt, sie habe ein potthässliches Baby. Da fällt mir Bram ins Wort und erklärt Irenes Busen, dass die königliche Familie meiner Meinung nach alles dem Volk übergeben und sich endlich einmal ehrliche Arbeit suchen sollte, statt weiter die Bürger von Aviona auszuplündern, wie sie es jahrhundertelang getan habe.
Während Irenes Brüste zu dem Thema keine Meinung zu haben scheinen, bezieht ihre Besitzerin – ich sage »Besitzerin«, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass sie einen Haufen Geld dafür hingelegt hat – eindeutig Stellung. Aber das war nicht anders zu erwarten – ihr Zorn, meine ich, nicht, dass sie sich die Brüste hat machen lassen. Dieses Thema polarisiert nun mal, und wenn ich mit den ablehnenden Reaktionen nicht klarkommen würde, hätte ich kein Recht, darüber zu bloggen. Wenn ich eines gelernt habe, nachdem ich mit vier Brüdern aufwuchs, dann, wie man streitet und wie ich Kritik von mir abprallen lasse. Oh, ich schätze, das war jetzt zweierlei. Gut, dass ich keine Mathe-Website habe.
Ich greife nach der Weinflasche, doch als ich sie hochhebe, stelle ich frustriert fest, dass sie bereits leer ist. »Persönlich habe ich nichts gegen die Königsfamilie. Das ist eher ein politisches und philosophisches Problem.«
»Wenn es nicht persönlich ist, warum hast du sie letzte Woche eine ›Bande unehrlicher, durch Inzucht entstandener Blutsauger‹ genannt?« Nina schürzt die Lippen und verschränkt die Arme vor ihrem Bauch.
»Oh, dann hast du also meine Arbeit gelesen.« Ich kann nicht anders, ich fühle mich geschmeichelt, auch wenn ich weiß, dass sie anschließend wahrscheinlich Lars auf der Arbeit angerufen und ihm zehn Minuten damit zugesetzt hat, was für ein schrecklicher Mensch seine Schwester ist.
»Die ja auch kaum zu übersehen war«, sagt Finn, den Mund voller Karotten. »Die Zeile wurde über fünfzigtausendmal retweetet.«
Noah verschluckt sich fast an seinem Bier. »Fünfzigtausend Retweets? Gar nicht schlecht, Tess!«
»Was zum Henker ist ein Retweet?«, fragt mein Vater.
»Glaubst du das ganze furchtbare Zeug über unsere königliche Familie wirklich? Oder sagst du so etwas nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen?«, will Isa wissen.
»Was –«
»Nicht Aufmerksamkeit, Isa. Abonnenten«, sagt Noah. Sein schuldbewusster Gesichtsausdruck verrät mir, dass die Familie eindeutig hinter meinem Rücken darüber getratscht hat, vermutlich bei vielen Gelegenheiten.
»Tante Tessa …« Meine Nichte Tabitha steht hinter mir, ihr heißer Atem bläst mir ins Ohr. »… meine Mum und mein Dad haben gesagt, es ist nicht nett, gemein über andere Leute zu sprechen, warum ist es dann okay, wenn du so was machst?«
»Äh, na ja, das ist so, weil die Leute, über die ich schreibe, es gar nicht lesen, weshalb es eigentlich nicht das Gleiche ist …« Mein Kopf glüht vor Scham. Ich werfe Isa einen Blick zu, die nur selbstgefällig eine Braue hebt.
»Dann ist es okay, schlecht über Leute zu reden, wenn sie nicht dahinterkommen?«, fragt Tabitha.
»Nein, eigentlich nicht …« Oh, verflixt, so wie sie mich jetzt anschaut, möchte ich am liebsten von meinem Stuhl rutschen und mich unter dem Tisch verstecken, denke aber irgendwie, dass mein schlechtes Gewissen mich dort finden würde. »Das ist sehr kompliziert, Tabby. Die Leute, über die ich schreibe, treffen Entscheidungen, die unser ganzes Land betreffen, und ich bin fest davon überzeugt, dass sie nicht das Richtige tun. Und wenn ihnen keiner die Meinung sagt, ändert sich nie etwas daran.«
Wie ein verwirrter Hund legt sie den Kopf schief. Gott, ist sie süß! »Aber wie sollen sie denn wissen, dass sie sich ändern müssen, wenn sie doch gar nicht lesen, was du über sie schreibst?«
Und klug. Sie ist wirklich verflucht klug. Ich wurde gerade von einem kleinen Mädchen in einem Hello-Kitty-Jumper übertrumpft. »Es ist so … nun, manchmal, in der Politik … manchmal braucht man sehr viele Menschen, um Druck auf unsere Gesetzgeber auszuüben, damit … damit …«
»Ha, ha, jetzt hat sie dich, Tess«, lacht Bram.
Damit was? Plötzlich fällt mir auf, dass es, abgesehen von dem lärmenden Fernseher, im Zimmer totenstill geworden ist und alle offenbar auf eine Erklärung meinerseits warten, auf die ich nicht vorbereitet bin. »Du bist eine sehr kluge junge Dame. Ich muss erst mal lange und intensiv über deine Frage nachdenken. Lass mich dir fürs Erste nur sagen, dass deine Eltern recht haben. Man sollte niemals schlecht über andere sprechen.«
»Mum, Josh hat seine Milch über den ganzen Teppich verschüttet!« Oh, Gott sei Dank!
»Scheiße!« Der Kommentar meines Dad, dem der Teppich kaum gleichgültiger sein könnte, bezieht sich auf die gegnerische Mannschaft, die gerade ein Tor geschossen hat.
»Achte vor den Kindern auf deine Ausdrucksweise.« Meine Mutter eilt in die Küche, um alles Nötige zu besorgen.
»Grandpa hat ›Scheiße‹ gesagt!«
»Geoffrey, es reicht!«
»Alles im Griff, Mum, lass mich das wegmachen!«
»Schon gut, Liebes, iss du, solange es heiß ist.«
»Mummmmmm! Poppy grinst schon wieder so!«
»Poppy, wir hatten abgemacht, dass du Knox nicht angrinsen sollst.«
»Er sagt, mein Po riecht nach Pupsen!«
»Nein, das tut er nicht.«
»Musst du Kacka machen, Süße?«
»Nein.«
»Am Tisch wird nicht über Pupsen und Kacka gesprochen.«
»Warte mal, was war noch mal ein Retweet, Finn?« Dad deutet mit einer Gabel voll Rindfleisch auf mich. »Und, was noch wichtiger ist, verdient sie damit überhaupt Geld?«
»Nein, das nicht, aber …«, setze ich an, aber mein Vater unterbricht mich.
»Aber du lässt dich nicht in Bitcoins bezahlen, oder?«
Mein Vater, seine durchlauchtigste Hoheit, der König von Avonien, oder Winston, wie meine Großmutter ihn nennt, befindet sich gegenwärtig auf einer zwei Monate dauernden diplomatischen Rundreise durch Südostasien. Natürlich während alles krachend zusammenstürzt. Nicht nur, dass der regierende Monarch nicht hier ist, heute wäre auch der einzige Abend im Monat gewesen, den ich ganz für mich allein hätte haben sollen. Allerdings hatte ich vorgehabt, ihn nicht gar so allein, sondern in Gesellschaft der Herzogin von Funville zu verbringen, die mich immer zum Golfen mitnimmt, wenn sie in der Stadt ist, was jedoch nicht allzu häufig vorkommt.
Sie kommt aus Schottland, und ihr Vater besitzt die Hälfte aller Golfplätze in Europa. Sie selbst gehört zu den wenigen Frauen, die sich ausschließlich für ungezogenen Zeitvertreib interessieren, statt darauf zu hoffen, die Königshäuser zu verbinden und glücklich bis ans Ende ihrer Tage zu leben. Denn da sie längst ein eigenes Schloss besitzt, ist sie an meinem nicht interessiert (ihres ist ein wenig größer, und dass es für mich kein Problem ist, das zuzugeben, sollte eigentlich dafürsprechen, dass ich es nicht nötig habe, irgendetwas zu kompensieren. Zwinker, zwinker).
Aber statt vor ihrem Hotel vorzufahren, was ich in diesem Moment eigentlich hätte tun sollen, muss ich mich mit einer Krise herumschlagen, die das endgültige Aus für die beinahe achthundert Jahre währende Herrschaft unserer Familie bedeuten könnte. Allem Anschein nach schmiedet unser neuer Premierminister insgeheim ein Komplott gegen uns. Obwohl mein Vater ihm die Wahl im vergangenen Herbst praktisch geschenkt hat, will er uns aufs Kreuz legen und das gute alte »Referendum zur Absetzung der königlichen Familie« bescheren. Nun, vielen Dank, Jack Janssen. Wichser.
Sehnsüchtig seufzend blicke ich die Ritterrüstung neben der Tür zu meinem Arbeitszimmer an. Wo sind die Tage hin, als ein Prinz noch befehlen konnte »Schlagt ihnen den Kopf ab!« und alles prompt erledigt wurde?
Seit über einer Stunde stecke ich in einer Besprechung mit Damien Peters, dem hochrangigsten Berater meines Vaters und Verbindungsmann zur Regierung, und Mr Schimmelkäse. Ich habe hinter meinem antiken Eichentisch Platz genommen, damit der Geruch nur Damien erstickt, der neben Vincent sitzt (aber nur kein Mitleid mit Damien, er ist ein Volltrottel). Ich schaue aus dem Fenster auf die Stadt am anderen Flussufer, wo meine ungezogene Herzogin auf mich wartet, und plötzlich sitzt mir die Hose stramm. Höchste Zeit, die Kontrolle über die Besprechung an mich zu reißen.
Ich hebe die Hand, um Vincent zu unterbrechen, der wiederholt beteuert, wie schockiert er ist. »Also schön, die Tatsache einmal außer Acht gelassen, dass der PM ein verdammter Lügner ist, was können wir unternehmen? Wir können ihn nicht einfach aufhalten, wenn er tatsächlich ein Referendum verlangt. Das ist nicht die erste Abstimmung, und noch haben die Menschen uns nicht abgesetzt.«
»Unglücklicherweise, angesichts der schlechten Wirtschaftslage und der hohen Arbeitslosigkeit und der jüngsten … Einlassung Ihres Vaters … hinsichtlich der Steuern …« – Vincent hält inne und räuspert sich zweimal, was er immer tut, bevor er eine verdammte Atombombe über mir abwirft –, »… zeigen die Umfragen, dass gegenwärtig zweiundsiebzig Prozent der Bevölkerung für die Absetzung der Monarchie stimmen würden.«
Na, wenn das kein Tritt in die Juwelen ist?
Nun räuspert sich Damien. »In letzter Zeit gab es keine schlechte Presse beziehungsweise überhaupt keine Presse, Eure Hoheit. Die Menschen fühlen sich ein wenig ausgeschlossen. Ich fürchte, die Zurückgezogenheit der Familie hat sich nicht ausgezahlt. Insbesondere, seit die Angehörigen der Königsfamilie jenseits des Großen Teichs nicht mit Interviews und Fototerminen geizen –«
»Sie führen ein äußerst öffentliches Leben. Will, Kate, Harry, eigentlich sämtliche jungen Royals.« Vincent sieht mich mit einem irgendwie zugleich um Verzeihung bittenden und vorwurfsvollen Blick an.
Oh Gott, wenn ich noch ein einziges Mal von Mr und Mrs Perfect und ihren bewunderungswürdigen Babys hören muss, werde ich mich auf der Stelle übergeben. »Ich bezweifle sehr, dass es irgendetwas ändern würde, wenn ich Fotos von meinem morgendlichen Obstsalat ins Internet setze. Wir wissen doch alle, dass es mit derlei Dingen ständig auf und ab geht. Die Beliebtheit nimmt alle paar Jahre zu oder ab. Daran lässt sich nichts ändern.« Ich spüre meine Worte wie Sand im Mund. Ich habe jedenfalls nicht die geringste verdammte Ahnung, wie sich daran etwas ändern ließe. Was ich jedoch weiß, ist, dass ich diese beiden nie wieder aus meinem Arbeitszimmer hinauskriege, wenn mir nicht auf der Stelle die richtige Kombination hoffnungsvoller Phrasen in den Sinn kommt. Und heute Abend noch an meinem Follow Through zu arbeiten, kann ich dann auch so ziemlich vergessen.
Damien rutscht auf seinem Stuhl von Vincent weg. »Wir müssen die Menschen zurückgewinnen, und zwar in kürzester Zeit. Wenn Janssen ein Referendum verlangt, bleiben uns nur Wochen, um eine zunehmend wütende, finanziell belastete Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Sie noch irgendwie von Nutzen sind.«
Na, vielen Dank dafür, Mr Offensichtlich. Als wüsste ich das nicht längst selbst. Denk nach, Arthur, denk nach! Ich erhebe mich und trete vor die große Fensterfront. Ich betrachte die Lichter der Stadt, die vor dem dunkler werdenden Himmel funkeln. Eine Stadt voller Kritiker, die nur darauf warten, mich zu entthronen, noch bevor ich mich mit meinem Hintern auf dem Thron niederlasse.
»Kritiker.« Ich schnippe mit den Fingern und wende mich wieder den beiden Männern zu. »Wer ist mein schärfster Kritiker?«
»Was hat das damit zu –«
Ich hebe eine Hand. »Der Schlimmste der Schlimmen. Wer da draußen hasst uns mehr als alle anderen?«
Vincent und Damien werfen einander Blicke zu und antworten wie aus einem Mund: »Tessa Sharpe.«
»Wirklich? Nie von ihr gehört. Und welcher Furz sitzt ihr quer?«
»Sie ist Bloggerin und kann die Monarchie einfach nicht ausstehen.«
»Aus den üblichen Gründen? Steuern, patriarchalische Strukturen etc., etc.?«
Vincent greift nach seinem Handy. Einen Augenblick später sagt er: »Hier haben wir es. In der vergangenen Woche hat sie die königliche Familie eine ›Bande unehrlicher, durch Inzucht entstandener Blutsauger‹ genannt.« Ah, da haben wir es wohl mit einer verbitterten alten Hexe zu tun.
»Autsch, das ist aber etwas dick aufgetragen. Und wie sieht es mit Followern aus?«
»Ihre antiroyalistische Website hat momentan von allen die größte Reichweite«, sagt Vincent.
»Bei Weitem.« Damien muss immer das letzte Wort haben, und wenn es noch so nichtssagend ist. Wie gesagt, er ist ein Trottel.
»Anscheinend knöpft sie sich am liebsten Sie vor, Eure Hoheit.« Vincent hält wieder sein iPad hoch. »›Prinz Arthur ist der Übelste der Bande. Ein lächerlicher Kindskopf, der seine Tage verbummelt und am Abend das Geld des Volkes versäuft. Ich kann ihn mir gut in ein paar Jahren vorstellen, die Krone schief auf dem Kopf, die Beine lässig über die Armlehne des Throns gehängt, wie ein launischer Teenager, der keine verflixte Ahnung davon hat, wie man ein Land regiert.‹«
»Verbummeln? Also, wenn ich etwas im Leben niemals getan habe, dann ist es, meine Tage zu verbummeln.« Bei dieser Unterstellung sträuben sich mir die Haare. Ich gehe zu Vincent, lege die Finger quer unter meine Nasenlöcher und spähe vorsichtig atmend über seine Schulter auf den Bildschirm. Das Bild einer hübschen kleinen Blondine lächelt mich an. Die langen Locken, die ihre Schultern umspielen, passen nicht zu einer »verbitterten Hexe«. Die rosig glänzenden Lippen sagen »Los geht’s!«, sie entspricht, ehrlich gesagt, ganz meinem Beuteschema. »Die wäre perfekt.«
Die beiden Männer wenden mir irritiert die Gesichter zu. »Sir?«
Ich trete wieder ans Fenster und sauge Luft in mich ein, die nicht nach Käsefüßen riecht. »Wir müssen gar nicht das ganze Land überzeugen. Das wäre eine unlösbare Aufgabe, vor allem, wenn uns ein Referendum ins Haus steht. Eigentlich müssen wir nur eine einzige Kritikerin überzeugen. Unsere schärfste Kritikerin.« In der Hoffnung, der Besprechung so ein Ende zu bereiten, lächle ich zuversichtlich. »Ich führe sie in den Schoß der Familie ein, zeige mich von meiner besten Seite und bringe sie dazu, die Publicity für uns zu übernehmen.«
»Ich verstehe nicht.«
Nun, ich denke auch nur ins Blaue hinein. Herzogin, ich komme! »Ich werde diese Miss Harpyie …«
»Sharpe.«
»Meinetwegen. Ich werde sie für … sagen wir zwei Monate in den Palast einladen; währenddessen werde ich sie von der Notwendigkeit der Königsfamilie für diese große Nation überzeugen.«
»Aber Sie können doch nicht zulassen, dass eine nichtakkreditierte Presseangehörige im Palast wohnt.«
»Und ob ich das kann. Es ist mir gestattet, Hausgäste einzuladen.«
»Aber doch keine Klatschreporterin.«
»Sie ist keine Reporterin. Wie Sie mir selbst gesagt haben, ist sie eine Bloggerin.«
»Viel zu riskant, Eure Hoheit. Es tut mir leid, aber das geht nicht. Wir können diese Einladung unmöglich gestatten.« Damien schüttelt den Kopf, als wäre die Angelegenheit damit entschieden.
»Sie scheinen zu vergessen, in wessen Haus Sie sich gerade befinden. Nämlich in Haus Langdon. Ich bin der Herzog von Wellingbourne, und eines Tages werde ich über Avonien herrschen. Die Entscheidung liegt ganz allein bei mir.«
»Ihr Vater wird darüber erzürnt sein.« Vincents Stimme klingt streng.
»Wann wäre er das nicht?« Ich zucke die Achseln.
»Sie könnten damit kläglich scheitern«, mischt sich Damien wieder ein.
»Oder einen spektakulären Erfolg erzielen.« Und einen spektakulären Orgasmus, denn die beiden packen jetzt ihr Zeug ein.
Doch Vincent lässt es auf einen allerletzten Versuch ankommen. »Sir, wenn ich einen Vorschlag machen darf, lassen Sie uns nichts unternehmen, bevor wir nicht mit Ihrem Vater gesprochen haben.«
»Ich werde Ihnen was sagen. Lassen Sie mich eine Nacht darüber schlafen. Dann sehe ich, ob ich ihn erreiche.« Ich werde den Teufel tun, aber das ist schon okay, ehrlich.
Wie sagt man so schön? Es ist besser, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten!
Es ist neun Uhr am Montagmorgen. Ich stehe in meiner Küche neben meiner besten Freundin, Nikki, die gleichzeitig meine Kamerafrau ist und meine sämtlichen Videos dreht. Nicht, weil sie über eine besondere technische Begabung verfügt, sondern weil sie als Friseurin montags frei hat und sozusagen für Süßigkeiten arbeitet. Wir betrachten stumm den letzten Schrei, den ich für meine Website für begeisterte Läufer zu testen gedenke. Das Dings heißt »Shock Jogger« und ist ein schmales, mit Bluetooth ausgestattetes Band, das um den Brustkorb gebunden wird.
»Sieht doch hinreichend harmlos aus, oder?« Nikki trinkt einen Schluck Tee.
Ich nehme das Ding vom Küchentresen. »Du hast gut reden. Du bedienst bloß die Kamera. Ich bin diejenige, die einen elektrischen Schlag abbekommt, wenn ich nicht schnell genug laufe.«
Sie neigt ihren Kopf, den in dieser Woche grell lila Strähnen zieren. »Aber das tut doch bestimmt nicht weh.«
»Ich bezweifle, dass es sich wie Streicheleinheiten anfühlt.« Ich greife nach der Broschüre und blättere aufs Neue darin. »Es verpasst deiner Bauchgegend zwanzig Volt, um dich daran zu erinnern, während des Laufens dein Tempo zu halten. Damit werden Ruhepausen unterbunden, die einen kontinuierlichen Fortschritt verhindern.«
»Zwanzig Volt? Und wie viel ist das so?«
»Keine Ahnung«, sage ich.
»Hm.«
»Hm.« Keine von uns lässt das Ding aus den Augen.
»Ich habe irgendwo gelesen, dass eine Frau einen solch heftigen Schlag bekommen hat, dass ihr sämtliche Haare ausgefallen sind.«
»Das kann nicht stimmen.« Ich schüttle den Kopf. »Oder doch?«
»Glaub ich nicht. Das war auf dem Cover von Weekly World News.«
»Dann stimmt es ganz sicher nicht.«
»Wobei das mit dem Mann, der ein Kind gekriegt hat, gestimmt hat.« Nikki beißt von ihrer Käsestange ab. »Wie viel bekommst du für die Vorstellung von dem Ding?«
»Dreihundert.«
»Und was kosten noch mal die Bench-Boots?«
»Hundertfünfundneunzig. Solange sie zum halben Preis angeboten werden.«
»Dann hättest du ja noch etwas übrig.«
»Vielleicht für einen Schal.« Ich hole tief Luft und greife nach dem Ding. »Okay, wir machen es.«
Nikki richtet die Kamera auf mich. Ich schaue lächelnd in die Linse.
»Hallo allerseits, heute teste ich auf Smart Runner den Shock Jogger von Wellbits.« Ich halte das Ding in die Kamera. »Dieser kleine Freund hier verspricht, eure Ausdauer und euer Tempo innerhalb von zwölf Sessions um fast zwanzig Prozent zu optimieren. Und das nur mittels einer sanften Erinnerung daran, nicht langsamer zu werden.«
Nachdem wir das Einführungsvideo gefilmt haben, gehen Nikki und ich raus, um das Ding auszuprobieren. Ich laufe, und sie fährt in ihrem kleinen Citroen neben mir her. Die Kamera ist an der Fahrertür befestigt, das Seitenfenster unten, damit sie die Straße im Auge behalten kann.
»Die Sonne scheint, die Vögel singen, es ist ein wundervoller Vorfrühlingstag, zum Laufen bestens geeignet! Schauen wir mal, ob der Shock Jogger hält, was er verspricht.« Ich grinse in die Kamera, um mir nicht anmerken zu lassen, dass ich in Wahrheit ein Nervenbündel bin. Ich beschließe, mit meinem Atem hauszuhalten, blicke nach vorne und konzentriere mich auf meine Technik.
»Also, das waren jetzt fünfzehn Minuten«, japse ich in die Kamera, »und bisher habe ich noch keinen einzigen Schlag erhalten. Ich laufe definitiv viel schneller als normal, weil …« – japs, japs – »… ich, um ehrlich zu sein, echt Schiss …« – japs – »… vor dem Schlag habe, den dieses Ding mir verpassen könnte.«
Als wir zu meiner Wohnung umkehren, wird mir klar, dass ich mich furchtbar verrechnet habe. Ich habe jetzt schon weiche Knie, nun aber noch den kompletten Anstieg nach Hause vor mir. Als ich das Nikki auseinandersetze, fängt sie zu lachen an. Worauf mich selbst ein nervöser Lachanfall überkommt, der mich umso schneller erschöpft.
»Hör auf!«, rufe ich Nikki wie mir selbst zu, aber es nutzt nichts. Wir erleiden beide eine ernste Kicherattacke. Und ich bekomme bestimmt gleich einen elektrischen Schlag. Das weiß ich einfach. Kicher. »Ich schaffe es im Leben nicht den Hügel rauf!« Japs, japs. Kicher. »Hör auf zu lachen!«
Wir haben den Hügel halb geschafft, als mich die erste »sanfte Erinnerung« ereilt. Ein heftiger Schlag in die Rippen lässt mich die Knie an die Brust reißen und gequält aufschreien. »Heilige Scheiße!«
Als meine Füße wieder den Boden berühren, ziehen sie das Tempo an wie noch niemals zuvor. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern sieht mich an und macht »Ts, ts«.
»Sorry!« Ich winke ihr zu. »Ich bin eigentlich gar kein so schlechter Mensch!« Japs, japs.
»Sie testet nur den Shock Jogger!«, ruft Nikki Mutter und Kindern zu, als würde ihre Erläuterung irgendeinen Sinn ergeben.
Sanfte Erinnerung? Ich hätte mir fast in die Hose gemacht. Jetzt rase ich den Hügel hinauf, dass mir die Lunge brennt. Jedes Mal, wenn ich einatme, fleht sie mich an, langsamer zu werden, aber ich kann nicht. Dann gelange ich an eine Straßenecke, an der ich eigentlich anhalten müsste, weil die Ampel rot ist, doch ich kann mich nicht überwinden, mir den nächsten Schlag einzufangen.
»Oh mein Gott! Ein Auto! Tess, bleib stehen! Tess!«
»Ich kann nicht!« Ich stürme weiter, das Auto hupt und weicht mir aus. Ich schaue hoch und bekomme gerade noch mit, dass der Mann hinter dem Lenkrad die Faust schüttelt und »Blöde Kuh!!!« aus dem offenen Seitenfenster brüllt.
Nikki schließt zu mir auf, als ihre Ampel grün zeigt. Jetzt lacht sie nicht mehr. »Du wärst um ein Haar angefahren worden!«
»Ich weiß.«
»Das schneiden wir lieber raus.« Aus Nikki spricht stets die Stimme der Vernunft.
»Ich …« – japs – »… bin so …« – japs – »… müde.«
»Nimm es ab!«
»Was?«
»Das Ding! Den Shock Jogger! Der kann dir nichts tun, wenn du ihn nicht anhast!«
»Stimmt!« Ich zieh das T-Shirt über den Kopf. Pfeife auf Anstand. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal spüren. Ich schleudere das T-Shirt durchs Seitenfenster, und es landet auf Nikkis Kopf.«
»He!«
»Sorry!« Jetzt fummele ich beim Laufen an der verfluchten Schnalle herum, und werde, weil ich mich darauf konzentriere, prompt langsamer. ZACK! »Mist!!!«
»Hast du wieder einen Schlag bekommen?«
»Dieses Mal habe ich mich wirklich ein bisschen nass gemacht.« Mein ganzer Körper kribbelt noch unter Nachbeben (und das nicht auf schöne Weise).
»Ich krieg es nicht ab!« In meiner Panik wissen meine Finger nicht mehr, wie man Gürtelschnallen öffnet.
»Oh-oh«, höre ich Nikkis Stimme und vermute, dass es um den Shock Jogger geht, erfahre aber erst zwei Minuten später, was genau sie gemeint hat.
ZACK! »Mist! Das tut weh!« Meine Knie schießen hoch, mein Oberkörper krümmt sich, sodass ich für einen Augenblick einem in der Luft verharrenden menschlichen Medizinball gleiche. »Hilf mir! Ich bekomme es nicht ab!«
ZACK! ZACK! »Heilige Scheiße!«
Es ist ein Gefühl, als würden mir bei jedem Stromschlag die Haare zu Berge stehen. Oh mein Gott! Was, wenn Weekly World News recht hat und mir jetzt die Haare ausfallen? Nein! Wenn ich Geld für eine Perücke ausgeben muss, kann ich mir die Stiefel nicht leisten.
»Nicht meine Haare!!!«, kreische ich und zerre mit beiden Händen an dem Band. Es reißt und verpasst meinen Händen, um das Maß voll zu machen, noch einen letzten Stromschlag, bevor ich es endlich von mir schleudern kann.
Leider trifft es Nikki im Gesicht. »Autsch! Das tut wirklich verdammt weh!«, schreit sie, während sie mit dem Wagen ausschert. Das Auto springt über den Bordstein und kommt in dem Gebüsch vor meinem Wohnhaus zum Stehen. Mit einem lauten Schlag entfaltet sich der Airbag, und Nikki ist auf dem Fahrersitz gefangen.
»Oh mein Gott, Nikki!«, schreie ich, als ich mit letzter Kraft zu ihr eile. »Geht es dir gut?«
»Ja, alles in Ordnung. Aber kann sein, dass ich Nasenbluten habe.« Ihre Stimme klingt halb erstickt.
Und da bemerke ich sie.
Die Transporter, die Kameraleute, die adrett gekleideten Reporterinnen mit ihren Mikrofonen. Ich bleibe stehen und glotze. Alle sind stumm. Alle starren sie mich an und halten ihre Kameras in meine Richtung.
Mein Mund steht sperrangelweit offen, was großartig zu dem insgesamt würdevollen Moment passt – wie ich knallrot, in Schweiß gebadet, nur mit Sport-BH und Laufhose bekleidet, zuckend und ruckend und fluchend wie ein Seeräuber den Hügel zu meinem Heim hinaufgerannt bin. Und, ach ja, dabei auch noch einen Unfall verursacht habe.
»Oh-oh.«
»Hast du sie endlich bemerkt?«
»Oh-ja.«
So, lasst mich euch jetzt, da sich die Lage ein wenig beruhigt hat, auf den neuesten Stand bringen. Nikkis Nase hat die volle Wucht des Airbags abbekommen. Sie ist gebrochen, muss aber nicht operiert werden, weil der sehr süße Arzt in der Notaufnahme sie lange genug ablenken konnte, um sie wieder einzurenken. (Um sich was dazuzuverdienen, hilft er samstagsabends immer am Boxring aus, deshalb kennt er sich bestens mit so etwas aus.) Und er hat ihre Nummer – weil sie ihm unter dem Vorwand, ihm zu zeigen, wie er ihre Nase richten solle, ihr umwerfendes Facebook-Profilfoto gezeigt hat. Dass Dr. Perfect sie nach ihrer Telefonnummer gefragt hat, hat definitiv dazu beigetragen, ihren Zorn auf mich ein wenig zu mildern. Außerdem hat er ihr ein ziemlich starkes Schmerzmittel verabreicht, das sich als ungemein hilfreich erwiesen hat.
Da ich selbst nichts von den Schmerzmitteln abbekommen habe, musste ich mir, um meine vollständige Demütigung zu betäuben, schnell hintereinander drei Gläser weißen Zinfandel einflößen. Vor meinem Haus parken noch immer mehrere Kamerateams. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und aus dem Küchenfenster spähe, kann ich sie fünf Stockwerke unter mir auf der Straße sehen.
Nikkis Auto wurde in die Werkstatt abgeschleppt, die mir, um den Schaden zu beheben und den Airbag zu richten, etwas über dreitausend Dollar in Rechnung stellen wird. Und die Hausverwaltung wird mir die Rechnung für die Ersetzung der hundert Jahre alten Sträucher vor dem Haus präsentieren, womit dann wohl meine gesamten Ersparnisse Geschichte sein werden. Und um die Liste der Neuigkeiten abzuschließen: Die Bench-Boots kann ich jetzt vergessen.
Oh, und wie sich herausstellt, ist Prinz Arthur, Riesenlandplage der Extraklasse, früh am Morgen mit einer Bekanntmachung an die Öffentlichkeit gegangen, die die Aufmerksamkeit sämtlicher Medienanstalten des Landes erregt und auf meinen Kopf gerichtet hat. Daher der Auftrieb der Reporter, denen es gelungen war, die letzten drei Minuten meines Shock-Jogger-Tests auf Film zu bannen. Also tritt der würdeloseste Moment meines gesamten Lebens nun via YouTube seine Rundreise um die Welt an. Besonderer Dank gilt Al Gore für die Erfindung des Internets.
Aber zurück zum Wesentlichen. Offenbar hat der Kronprinz höchstpersönlich angeboten, mir »die Schlüssel zum Schloss auszuhändigen«. Er will, dass ich – seine schärfste Kritikerin – für die nächsten zwei Monate dort einziehe, um mit der königlichen Familie zusammenzuleben und den guten Menschen von Avonien auf diese Weise zu zeigen, dass er und seine Familie nichts zu verbergen haben. Darüber hinaus hofft er, dass »wenn es ihm gelingt, seine schärfste Kritikerin davon zu überzeugen, dass seine Familie mehr gibt als nimmt, dann auch andere schon bald zustimmen und seine Familie ihre rechtmäßige Funktion als Beschützerin und Führerin dieser großen Nation weiterhin ausüben kann«.
Mein Handy habe ich auf lautlos gestellt, sehe aber, dass es alle zwanzig Sekunden blinkend Anrufe anzeigt. Nikki und ich sitzen auf meiner Couch und schauen ABNC, den Avonien Broadcast News Channel, wo in einer Dauerschleife zuerst die Ansprache des Prinzen und dann das Shock-Jogger-Video gezeigt werden. Ein Reporter hat das Video meinen »Schockierenden Morgen« genannt. Wie originell! Und dieser Typ arbeitet bei ABNC, und ich nicht? Etwas in dieser Welt läuft gründlich schief. Ich kann nur sagen, ich danke Gott für den Erfinder des Weins. Im Unterschied zu Al Gore ist er schwer in Ordnung.
Ich werfe Nikki einen Blick zu und zucke neuerlich zusammen. »Frisches Eis für deine Nase?« Sie hat zwei blaue Augen, und ihre Nase … nun ja, ich hatte ehrlich keine Ahnung, dass eine Nase dermaßen anschwellen kann. »Es tut mir so leid.«
»Vergiss es.« Wegen der Schwellung kann sie das »R« nicht richtig aussprechen, wodurch sie sich ein bisschen wie ein Gangster aus New Jersey anhört. Vagisses.
Ich werde nicht lachen. Ich werde nicht lachen.
»Lach ruhig. Ich hö’s ja selbst.«
Wir brechen beide eine Sekunde lang in Gelächter aus, dann stöhnt sie gequält auf.
»Oh, Mist, tut mir leid. Ich hole dir noch ein Glas Wein. Ich meine Eis.« Ich stehe auf und gehe in die Küche. Mir werde ich allerdings noch Wein holen …
Nikki schaltet den Fernseher aus und kommt mir nach.
»Und, was zur Hölle hast du jetzt vor?«
»Ich habe keine verdammte Ahnung.« Ich reiche ihr ein frisches Handtuch mit Eiswürfeln und gieße mir noch ein Glas Wein ein. »Ich meine, ich kann doch nicht einfach zwei Monate bei der königlichen Familie wohnen. Das wäre doch irre.«