Nevermoor 1. Fluch und Wunder - Jessica Townsend - E-Book
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Nevermoor 1. Fluch und Wunder E-Book

Jessica Townsend

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Beschreibung

Willkommen in der Welt grenzenloser Magie! Morrigan Crow ist verflucht, an ihrem 11. Geburtstag zu sterben. Doch als die Zeiger auf Mitternacht zulaufen, wird sie vom wunderbar seltsamen Jupiter North gerettet und in sein Hotel in der geheimen Stadt Nevermoor gebracht. Dort gibt es riesenhafte, sprechende Katzen, Zwergvampire und echte Freunde für Morrigan. Doch sie muss schwierige Prüfungen bestehen, um in ihrem neuen Zuhause bleiben zu dürfen, und außer ihr scheint hier jeder ein besonderes Talent zu haben. Oder kann Morrigan vielleicht mehr, als sie ahnt? Bildgewaltig und fantasievoll: Band 1 der international gefeierten Kinderbuch-Saga entführt die Leser in ein einzigartiges Wunderland voller Magie und Abenteuer.

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Über dieses Buch

»Halte Dich bereit!«

Jupiter North

 

Wenn Morrigan Crow eines sicher weiß, dann, dass ein Fluch auf ihr lastet und sie an ihrem elften Geburtstag sterben muss. Allerdings ahnt sie da noch nicht, dass sie in allerletzter Sekunde von dem wundersamen Jupiter North gerettet und nach Nevermoor gebracht wird. Und nie hätte Morrigan sich vorstellen können, dort die Bekanntschaft von sprechenden Riesenkatzen und exzentrischen Vampirzwerge zu machen. Doch es warten auch eine ganze Reihe schwieriger Prüfungen auf sie und außer ihr scheint jeder ein besonderes Talent zu haben.

Oder steckt in Morrigan vielleicht mehr, als sie selbst glaubt?

 

Absolut WUNDERSAM!

Der New-York-Times-Bestseller und erste Band der Trilogie um Morrigan Crow und ihre Abenteuer in Nevermoor:

Willkommen in der Welt grenzenloser Magie!

 

 

 

Für Sally,

den ersten Gast im Hotel Deucalion.

 

Und für Teena,

die mich davon überzeugt hat,

dass ich alles schaffen kann – sogar das hier.

Prolog

Frühling des Jahres Eins

Die Journalisten trafen noch vor dem Sarg ein. Sie versammelten sich über Nacht am Tor; im Morgengrauen bildeten sie bereits eine Menschenmenge und um neun Uhr einen regelrechten Massenandrang.

Dennoch dauerte es bis fast zur Mittagszeit, bevor Corvus Crow den langen Weg von der Haustür zum hohen Eisentor antrat, das die Reporter auf Abstand hielt.

»Kanzler Crow, wird das Ihre Pläne für eine mögliche Wiederwahl beeinflussen?«

»Kanzler, wie schnell wird das Begräbnis stattfinden?«

»Hat der Präsident sein Beileid ausgesprochen?«

»Wie erleichtert sind Sie am heutigen Morgen, Kanzler?«

»Bitte«, unterbrach Corvus die Journalisten und hielt eine lederbehandschuhte Hand hoch, um sie zum Schweigen zu bringen. »Bitte, lassen Sie mich eine Erklärung im Namen meiner Familie abgeben.«

Er zog einen Zettel aus der Tasche seines eleganten schwarzen Anzugs.

»Wir möchten Ihnen, den Bürgern unserer großartigen Republik, unseren Dank aussprechen für die Unterstützung während der letzten elf Jahre«, las er mit klarer, gebieterischer Stimme vor, die durch die lange Zeit im Amt an das Erteilen von Befehlen gewöhnt war. »Die vergangenen Monate waren für unsere Familie sehr schwer, und unser Kummer wird sicherlich noch eine ganze Weile andauern.«

Er verstummte, um sich zu räuspern, und warf einen kurzen Blick auf sein schweigendes Publikum. Ein Meer aus Kamera-Objektiven und neugierigen Augenpaaren funkelte ihm entgegen. Ein nicht enden wollendes Gewitter aus Blitzlichtern und Geklicke.

»Der Verlust eines Kindes ist eine schwere Bürde«, fuhr er fort und schaute wieder auf seinen Zettel. »Nicht nur für unsere Familie, sondern auch für die Bürger von Jackalfax, die unseren Kummer gewiss teilen.« Mindestens fünfzig Paar Augenbrauen schossen in die Höhe, und mehrere verlegene Hüstler durchbrachen die eingetretene Stille. »Doch Sie sollten wissen, dass am heutigen Morgen, an dem wir die Neunte Ära der Republik Wintersea willkommen heißen, das Schlimmste hinter uns liegt.«

Plötzlich ertönte ein lautes Krächzen über den Köpfen. Zahlreiche Schultern zuckten zusammen, und über das eine oder andere Gesicht huschte ein Schatten, aber niemand sah in die Höhe. Die Vögel kreisten bereits den ganzen Vormittag am Himmel.

»Die Achte Ära hat mir meine geliebte erste Frau genommen und nun auch noch meine einzige Tochter.«

Ein weiteres schrilles Krächzen. Einem der Reporter fiel das Mikro aus der Hand, das er dem Kanzler unter die Nase gehalten hatte, und er kroch geräuschvoll auf dem Boden herum, um es aufzuheben. Mit roten Wangen murmelte er eine Entschuldigung, die Corvus allerdings ignorierte.

»Aber diese Ära hat auch die Gefahren, die Sorgen und die Verzweiflung, die ihr kurzes Leben gegeißelt haben, mit sich genommen«, fuhr er fort. »Meine … liebe Morrigan«, er schwieg einen Moment und verzog das Gesicht, »hat endlich Frieden gefunden. Und das gilt auch für uns hier. Die Stadt Jackalfax, ja der gesamte Staat Great Wolfacre, ist wieder sicher. Es gibt nichts mehr zu befürchten.«

Ein unsicheres Raunen ging durch die Menge, und die Flut der Blitzlichter schien abzuebben. Blinzelnd schaute der Kanzler in die Kameras. Sein Zettel raschelte im leichten Wind, aber vielleicht zitterte auch nur seine Hand.

»Vielen Dank. Ich werde keine Fragen entgegennehmen.«

Kapitel EinsDas verfluchte Mädchen

Winter des Jahres Elf

(Drei Tage zuvor)

Der Küchenkater war tot, und Morrigan traf die Schuld daran.

Allerdings wusste sie nicht, wie oder wann es passiert war. Sie vermutete, dass er in der Nacht vielleicht etwas Giftiges gefressen hatte.

Jedenfalls hatte er keinerlei Verletzungen, die auf eine Fuchs- oder Hundeattacke hindeuteten. Abgesehen von ein wenig getrocknetem Blut an seinem Maul sah er aus, als würde er schlafen. Aber sein Körper war kalt und steif.

Als Morrigan den Kater im fahlen Licht der Morgensonne auf dem eisigen Hinterhof entdeckte, hockte sie sich neben ihn und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Dann strich sie ihm über das schwarze Fell, vom Kopf bis zur Spitze seines buschigen Schwanzes.

»Tut mir leid, Küchenkater«, murmelte sie.

Morrigan überlegte, wo sie ihn am besten begraben konnte und ob sie ihre Großmutter um ein Leinentuch bitten sollte, in das sie ihn wickeln konnte. Doch wahrscheinlich war es besser, darauf zu verzichten. Sie würde einfach eines ihrer Nachthemden dafür verwenden.

Da öffnete die Köchin die Hoftür, um die Essensreste vom Vortag an die Hunde zu verfüttern, und erschrak dermaßen über Morrigans Anwesenheit, dass sie fast den Eimer fallen ließ. Die alte Frau warf einen Blick auf den toten Kater und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

»Besser sein als mein Schaden, gelobt sei Gottes Gnaden«, brummte sie, klopfte auf den hölzernen Türrahmen und küsste das Amulett, das sie um den Hals trug. Anschließend musterte sie Morrigan mit einem schrägen Blick. »Ich habe diesen Kater gemocht.«

»Ich auch«, sagte Morrigan.

»Ja, das sieht man!« Ein bitterer Ton schwang in ihrer Stimme mit, und Morrigan bemerkte, dass die Köchin misstrauisch von ihr abrückte, Zentimeter für Zentimeter. »Nun geh schon rein. Sie warten bereits in seinem Büro auf dich.«

Morrigan lief ins Haus, blieb aber an der Tür zwischen Küche und Flur noch einen Moment stehen und beobachtete, wie die Köchin ein Kreidestück nahm und KÜCHENKAHTER TOT auf eine Tafel schrieb – ans Ende einer langen Liste, deren letzte Einträge VÄRDORBENER FISCH, HERTZINFARKT VOM ALTEN TOM, ÜBERSCHWÄMMUNGEN IN NORTH PROSPER und SOSSENFLÄCKEN AUF BESTER TISCHDÄCKE lauteten.

 

»Ich kann Ihnen mehrere hervorragende Kinderpsychologen im Großraum Jackalfax empfehlen.«

Die neue Sozialarbeiterin hatte weder ihren Tee noch die Kekse angerührt. Sie war am Morgen aus der Hauptstadt angereist, zweieinhalb Stunden mit dem Zug, und dann vom Bahnhof durch den kalten Nieselregen zu Crow Manor gelaufen. Die Haare klebten ihr feucht am Kopf, und ihr Mantel war völlig durchnässt. Morrigan fand kein besseres Heilmittel gegen solch ein Elend als heißen Tee und leckere Kekse. Aber die Frau schien sich nicht dafür zu interessieren.

»Ich hab den Tee nicht zubereitet«, versicherte Morrigan ihr. »Falls Sie sich deswegen Sorgen machen.«

Die Frau ignorierte sie. »Dr. Fielding ist berühmt für seine Behandlung verfluchter Kinder. Sie haben bestimmt schon von ihm gehört. Und Dr. Llewellyn genießt ebenfalls einen ausgezeichneten Ruf – falls Sie eine sanftere, eher mütterliche Herangehensweise bevorzugen.«

Morrigans Vater räusperte sich unbehaglich. »Das wird nicht nötig sein.«

Corvus hatte während dieser monatlichen Pflichttreffen einen Tick entwickelt, ein leichtes Zucken am linken Auge, das Morrigan verriet, dass er diese Sitzungen genauso sehr hasste wie sie. Von den rabenschwarzen Haaren und der Hakennase abgesehen, war es die einzige Gemeinsamkeit, die Vater und Tochter verband.

»Morrigan braucht keine Therapie«, fuhr er fort. »Sie ist ein vernünftiges Mädchen und mit ihrer Situation durchaus vertraut.«

Die Sozialarbeiterin warf einen flüchtigen Blick auf Morrigan, die neben ihr auf dem Sofa saß und versuchte, nicht herumzuzappeln. Diese Besuche zogen sich jedes Mal ewig in die Länge. »Kanzler Crow, ich will ja nicht taktlos sein … Aber die Zeit drängt. Sämtliche Experten sind sich einig, dass wir das letzte Jahr dieser Ära erreicht haben. Das letzte Jahr vor der Abendzeit.« Morrigan drehte den Kopf und schaute aus dem Fenster, auf der Suche nach einer Ablenkung – wie jedes Mal, wenn jemand das A-Wort erwähnte. »Ihnen muss doch bewusst sein, dass dies eine wichtige Übergangsphase für …«

»Haben Sie die Liste?«, unterbrach Corvus die Frau mit einem ungeduldigen Unterton in der Stimme. Er blickte demonstrativ auf die Uhr an seiner Bürowand.

»Selbst… selbstverständlich.« Die Frau holte einen Papierbogen aus ihrer Mappe, wobei ihre Hand nur leicht zitterte. Sie hielt sich ganz tapfer, fand Morrigan, wenn man bedachte, dass das hier gerade mal ihr zweiter Besuch war. Die letzte Sozialarbeiterin hatte kaum einen Ton herausgebracht und hätte es als eine regelrechte Herausforderung des Schicksals betrachtet, auf demselben Möbelstück zu sitzen wie Morrigan. »Soll ich die Liste vorlesen? Diesen Monat ist sie relativ kurz – gut gemacht, Miss Crow«, sagte sie steif.

Morrigan wusste nicht, was sie sagen sollte. Schließlich konnte sie sich schlecht etwas als Verdienst anrechnen, über das sie keinerlei Kontrolle hatte.

»Fangen wir mit den Vorfällen an, die eine Entschädigungszahlung erfordern. Der Stadtrat von Jackalfax verlangt siebenhundert Kred für die Beschädigung eines Aussichtspavillons während eines Hagelsturms.«

»Ich dachte, wir hätten uns darauf verständigt, dass extreme Wetterereignisse nicht länger auf meine Tochter zurückgeführt werden können«, wandte Corvus ein. »Nachdem sich dieser Waldbrand in Ulf als das Ergebnis einer Brandstiftung herausgestellt hatte. Haben Sie das schon vergessen?«

»Keineswegs, Kanzler. Allerdings gibt es einen Zeugen, der darauf hingewiesen hat, dass Morrigan in diesem Fall durchaus die Schuld trägt.«

»Wer?«, fragte Corvus.

»Ein Beamter im hiesigen Postamt hat gehört, wie Miss Crow sich gegenüber ihrer Großmutter über das schöne Wetter ausließ, an dem sich ganz Jackalfax gerade erfreute.« Die Sozialarbeiterin schaute auf ihre Notizen. »Etwa vier Stunden später setzte der Hagelsturm ein.«

Corvus seufzte schwer, ließ sich gegen die Sessellehne sinken und warf Morrigan einen gereizten Blick zu. »Also schön. Fahren Sie fort.«

Morrigan runzelte die Stirn. Nie im Leben hatte sie so was gesagt wie »das schöne Wetter, an dem sich ganz Jackalfax gerade erfreut«. Sie erinnerte sich zwar daran, sich im Postamt an ihre Großmutter gewandt und »Heiß hier, oder?« gestöhnt zu haben, aber das war ja wohl etwas völlig anderes.

»Ein Bewohner der Stadt, Thomas Bratchett, ist vor Kurzem an einem Herzinfarkt gestorben. Er war …«

»Unser Gärtner. Ich weiß«, unterbrach Corvus sie erneut. »Schreckliche Geschichte. Die Hortensien haben furchtbar gelitten. Morrigan, was hast du dem alten Mann angetan?«

»Nichts.«

Corvus zog eine skeptische Miene. »Nichts? Rein gar nichts?«

Morrigan dachte einen Moment nach. »Ich habe ihm gesagt, dass die Blumenbeete sehr hübsch aussehen.«

»Wann?«

»Vor etwa einem Jahr.«

Corvus und die Sozialarbeiterin tauschten einen Blick. Die Frau seufzte leise. »Seine Familie ist extrem entgegenkommend. Man bittet Sie lediglich, die Kosten für die Beerdigung zu erstatten, die Studiengebühren für seine Enkel zu übernehmen und eine Spende an seinen bevorzugten Wohltätigkeitsverein zu leisten.«

»Wie viele Enkel?«

»Fünf.«

»Sagen Sie der Familie, ich zahle für zwei. Fahren Sie fort.«

»Der Direktor der Privatschule Jackal… Ah!« Die Frau fuhr hoch, als Morrigan sich vorbeugte, um einen Keks zu nehmen. Doch als ihr klar wurde, dass Morrigan nicht vorgehabt hatte, sie zu berühren, schien sie sich wieder etwas zu beruhigen. »Äh … ja … Der Direktor der Privatschule Jackalfax hat eine Rechnung zur Begleichung des Brandschadens geschickt. Zweitausend Kred müssten genügen, um alles zu reparieren.«

»In der Zeitung stand, dass die Küchenhilfe den Herd über Nacht angelassen hat«, sagte Morrigan.

»Das ist richtig«, sagte die Sozialarbeiterin, die Augen fest auf den Zettel vor ihr geheftet. »Dort stand allerdings auch, dass sie am Tag zuvor an Crow Manor vorbeigegangen war und dich im Garten gesehen hatte.«

»Und?«

»Sie hat gesagt, du hättest Blickkontakt zu ihr aufgenommen.«

»Das hab ich nicht!« Morrigan spürte, wie die Wut in ihr hochkochte. Dieser Brand war nicht ihre Schuld. Sie hatte keinen Blickkontakt aufgenommen, mit niemandem. Schließlich kannte sie die Vorschriften. Die Küchenhilfe hatte geschwindelt, um sich Ärger zu ersparen.

»Das steht alles so im Polizeibericht.«

»Sie hat gelogen.« Morrigan wandte sich an ihren Vater, aber er weigerte sich, sie anzusehen. Glaubte er wirklich, dass der Brand ihre Schuld war? Die Küchenhilfe hatte doch zugegeben, dass sie den Herd angelassen hatte! Bei der Ungerechtigkeit dieser ganzen Geschichte drehte sich Morrigan der Magen um. »Sie hat gelogen! Ich habe überhaupt nicht …«

»Das reicht jetzt«, fauchte Corvus. Morrigan sank wieder aufs Sofa zurück und verschränkte wütend die Arme vor der Brust. Ihr Vater räusperte sich erneut und nickte der Frau zu. »Sie können mir die Rechnung schicken. Und dann kommen Sie mit der Liste bitte zum Ende. Ich habe einen ganzen Tag voller Sitzungen vor mir.«

»D-das wäre alles, was die finanziellen Wiedergutmachungen betrifft«, sagte die Sozialarbeiterin und fuhr mit zitterndem Finger über die Liste. »Damit blieben nur noch drei Entschuldigungsbriefe, die Miss Crow diesen Monat schreiben müsste. Einen an eine Bewohnerin der Stadt, Mrs Calpurnia Malouf, wegen einer gebrochenen Hüfte …«

»Die viel zu alt ist, um noch Schlittschuh zu laufen«, murmelte Morrigan.

»… einen weiteren Brief an den Jackalfaxer Konfitüre-Klub, wegen einer misslungenen Palette Marmelade. Und einen Brief an einen Jungen namens Pip Gilchrest, der letzte Woche den regionalen Rechtschreibwettbewerb verloren hat.«

Morrigans Augen wurden groß. »Aber ich habe ihm doch nur ›Viel Glück‹ gewünscht!«

»Ganz genau, Miss Crow«, sagte die Sozialarbeiterin und reichte Corvus die Liste. »Sie hätten es besser wissen müssen. Kanzler, habe ich das richtig verstanden, dass Sie auf der Suche nach einem neuen Tutor sind?«

Corvus seufzte. »Meine Assistenten haben mit jeder Agentur in Jackalfax gesprochen und sogar mit einigen in der Hauptstadt. Es hat den Anschein, als stecke unser großartiger Staat in einer schweren Tutoren-Krise.« Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch.

»Was ist denn mit Miss …« Die Sozialarbeiterin warf einen Blick in ihre Unterlagen. »… Miss Linford passiert? Bei unserem letzten Gespräch sagten Sie doch, sie würde gute Arbeit leisten.«

»Die Frau war ein Waschlappen«, erwiderte Corvus verächtlich. »Sie hat kaum eine Woche durchgehalten. Ist eines Nachmittags einfach gegangen und nicht wiederaufgetaucht. Kein Mensch weiß, warum.«

Das stimmte nicht ganz. Morrigan wusste genau, warum.

Miss Linfords Angst vor dem Fluch hatte sie daran gehindert, sich im selben Raum mit ihrer Schülerin aufzuhalten, und Morrigan fand es nicht nur überaus seltsam, sondern auch entwürdigend, dass ihre Lehrerin ihr rhabarberische Verbkonjugationen durch die geschlossene Tür zurief. Das Ganze hatte sie immer wütender gemacht, bis sie schließlich einen zerbrochenen Kugelschreiber durch das Schlüsselloch geschoben und Miss Linford damit schwarze Tinte ins Gesicht gepustet hatte. Morrigan war bereit, zuzugeben, dass das nicht eine ihrer nettesten Gesten gewesen war.

»Wir führen in unserer Meldebehörde eine kurze Liste mit Lehrern, die sich vorstellen könnten, verfluchte Kinder zu unterrichten. Eine sehr kurze Liste«, sagte die Sozialarbeiterin achselzuckend. »Aber vielleicht findet sich ja jemand, der …«

Corvus hielt eine Hand hoch, um sie zu unterbrechen. »Dafür besteht keine Notwendigkeit.«

»Wie bitte?«

»Sie haben es selbst gesagt: Es ist nicht mehr lange bis zur Abendzeit.«

»Ja, aber … es vergeht immerhin noch ein ganzes Jahr bis dahin …«

»Nichtsdestotrotz. Eine Verschwendung von Zeit und Geld in dieser Endphase, finden Sie nicht?«

Morrigan hob den Kopf. Die Worte ihres Vaters versetzten ihr einen Schock. Selbst die Sozialarbeiterin wirkte überrascht. »Bei allem Respekt, Kanzler – die Meldebehörde für verfluchte Kinder hält das keineswegs für eine Verschwendung. Wir sind der Ansicht, dass Bildung in jeder Kindheit eine wichtige Rolle spielen sollte.«

Corvus kniff die Augen zu Schlitzen. »Aber für solch eine Bildung zu zahlen, scheint ziemlich sinnlos, wenn die Kindheit in diesem speziellen Fall schon bald abrupt enden wird. Ich persönlich bin ja der Meinung, dass wir erst gar nicht damit hätten anfangen sollen. Und ich wäre jetzt entschieden besser dran, wenn ich meine Jagdhunde zur Schule geschickt hätte: Sie haben eine höhere Lebenserwartung und sind um einiges nützlicher.«

Morrigan brachte ein kurzes, dumpfes »Uff« hervor, als hätte ihr Vater ihr einen großen Ziegelstein in den Bauch geschleudert.

Da war sie wieder – die Wahrheit, die Morrigan ständig verdrängte, ein Wissen, das sie ignorieren, aber nie vergessen konnte. Die Tatsache, die sie und alle anderen verfluchten Kinder bis in jede Faser ihres Körpers kannten und die auf ihre Herzen tätowiert war: Ich werde in der Abendzeitnacht sterben.

»Ich bin sicher, dass meine Freunde in der Wintersea-Partei mir beipflichten würden«, fuhr Corvus fort und funkelte die Sozialarbeiterin an, wobei er Morrigans Unbehagen einfach überging. »Vor allem diejenigen, die den Etat für Ihre kleine Abteilung verwalten.«

Daraufhin herrschte erst mal Stille. Die Sozialarbeiterin warf Morrigan einen Seitenblick zu und packte dann ihre Sachen zusammen. Morrigan kannte den Ausdruck von Mitleid auf dem Gesicht der Frau nur zu gut und hasste sie dafür.

»Also gut. Ich werde der MfvK Ihre Entscheidung mitteilen. Auf Wiedersehen, Kanzler. Miss Crow.« Die Sozialarbeiterin hastete aus dem Büro, ohne sich noch einmal umzudrehen. Corvus drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch und rief nach seinen Assistenten.

Morrigan erhob sich vom Sofa. Am liebsten hätte sie ihren Vater angeschrien, doch stattdessen klang ihre Stimme zitternd und zaghaft.

»Soll ich dann …?«

»Mach, was du willst«, fauchte Corvus und wühlte in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch. »Aber geh mir nicht auf die Nerven.«

Liebe Mrs Malouf,

es tut mir leid, dass Sie nicht wissen, wie man richtig Schlittschuh läuft.

Es tut mir leid, dass Sie es für eine gute Idee gehalten haben, sich aufs Eis zu wagen, obwohl Sie eine Million Jahre alt sind und so morsche Knochen haben, dass sie beim kleinsten Windstoß brechen.

Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Hüfte gebrochen habe. Das war nicht meine Absicht. Ich hoffe, dass Sie sich bald erholen. Ich bitte um Verzeihung und wünsche gute Besserung.

Hochachtungsvoll

Miss Morrigan Crow

Morrigan lag auf dem Boden des zweiten Wohnzimmers und schrieb die letzten Zeilen auf einen neuen Briefbogen. Dann schob sie das Papier in einen Umschlag, dessen Kleberand sie aber nicht mit der Zunge anfeuchtete. Einerseits, weil Corvus jeden Brief vor dem Abschicken sehen wollte, und andererseits, um das Risiko zu vermeiden, dass ihre Spucke möglicherweise die Macht besaß, dem Empfänger einen plötzlichen Tod oder einen überraschenden Bankrott zu bescheren.

Das Klack-klack eiliger Schritte im Flur ließ Morrigan erstarren. Sie schaute zur Uhr an der Wand. Zwölf Uhr mittags. Entweder war das ihre Großmutter, die von ihrem vormittäglichen Teekränzchen mit ihren Freundinnen zurückkehrte. Oder aber ihre Stiefmutter Ivy, auf der Suche nach einem Sündenbock für einen Kratzer auf dem Tafelsilber oder einen Riss im Vorhang. Das zweite Wohnzimmer war normalerweise ein guter Platz zum Verstecken. Es handelte sich um den düstersten Raum im ganzen Haus, in den kaum Licht fiel. Niemand mochte dieses Zimmer, bis auf Morrigan.

Die Schritte verhallten. Langsam ließ Morrigan den angehaltenen Atem aus ihren Lungen entweichen. Dann reckte sie sich zum Radio hoch und drehte einen kleinen Messingknopf, bis sie nach quietschenden, atmosphärischen Störungen schließlich einen Sender mit Nachrichten fand.

»Das alljährliche Drachenschlachten im Nordwesten von Great Wolfacre wird diese Woche fortgesetzt. Der ›Einsatztrupp zur Ausrottung gefährlicher Wildtiere‹ hat über vierzig aus der Art geschlagene Reptilien auf seine Abschussliste gesetzt. Denn in den letzten Wochen wurden dem EzAgW zahlreiche Begegnungen mit Drachen in der Nähe des Deepdown Falls Resort and Spa gemeldet, eines beliebten Urlaubsziels für …« Morrigan ließ die hochtrabende, näselnde Stimme des Nachrichtensprechers im Hintergrund weiterdröhnen, während sie ihren nächsten Brief verfasste.

Lieber Pip,

es tut mir leid, dass du gedacht hast, SIRUP würde man mit IE schreiben.

Es tut mir leid, dass du so blöd bist.

Es tut mir leid, dass du den regionalen Rechtschreibwettbewerb verloren hast, weil du so blöd bist. Ich bitte aufrichtig um Verzeihung für alle Unannehmlichkeiten, die ich dir dadurch vielleicht bereitet habe. Ich verspreche, dass ich dir nie wieder ›Viel Glück‹ wünschen werde, du undankbarer kleiner

Mit freundlichen Grüßen

Morrigan Crow

Im Radio redeten jetzt Leute über ihre Häuser, die sie während der Überschwemmungen in Prosper verloren hatten. Sie weinten um ihre Haustiere und ihre Liebsten, die in den überfluteten Straßen von den Wassermassen mit sich gerissen worden waren. Morrigan spürte einen Hauch von Bedauern und hoffte, dass Corvus recht hatte und dass das schlechte Wetter nicht ihre Schuld war.

Liebe Mitglieder des Jackalfaxer Konfitüre-Klubs,

Entschuldigung, aber meint ihr nicht, dass es im Leben schlimmere Dinge gibt als misslungene Marmelade?

»Unser nächstes Thema: Könnte die Abendzeit bereits näher sein, als wir ahnen?«, verkündete da der Nachrichtensprecher. Morrigan erstarrte. Schon wieder das A-Wort. »Während die meisten Experten sich einig sind, dass bis zum Ende der derzeitigen Ära noch ein ganzes Jahr vergehen wird, vertritt eine kleine Gruppe von Chronologen die Ansicht, dass wir die Abendzeitnacht schon sehr viel früher feiern könnten. Haben diese Wissenschaftler die Nuss geknackt oder sind sie selbst nur hohle Nüsse?« Ein winziger eisiger Schauer kroch über Morrigans Rücken, aber sie ignorierte ihn. Hohle Nüsse, dachte sie trotzig.

»Doch zuerst: In der Hauptstadt fanden heute erneut Unruhen statt, ausgelöst durch Gerüchte einer drohenden Wunder-Knappheit«, fuhr der näselnde Nachrichtensprecher fort. »Ein Sprecher von Squall Industries reagierte heute Morgen während einer Pressekonferenz auf die Befürchtungen.«

Es wurde eine Männerstimme zugeschaltet, die leise über das Hintergrundgeräusch der murmelnden Journalisten hinweg sprach. »Bei Squall Industries gibt es keine Krise. Die Gerüchte über eine Energieverknappung in der Republik sind schlichtweg falsch – das kann ich gar nicht oft genug betonen.«

»Lauter!«, rief jemand aus dem Hintergrund.

Der Mann erhob seine Stimme ein klein wenig. »Die Republik ist wie eh und je bestens mit Wunder versorgt, und wir sind auch weiterhin in der Lage, die Früchte dieser reichlich vorhandenen natürlichen Ressource zu ernten.«

»Mr Jones«, rief ein Reporter. »Können Sie uns etwas zu den Berichten über die massiven Netzausfälle und die nicht funktionstüchtige Wundersam-Technologie in den Bundesstaaten Southlight und Far East Sang sagen? Weiß Ezra Squall von diesen Problemen? Wird er aus seinem Einsiedlerdasein zurückkehren und sich öffentlich dazu äußern?«

Mr Jones räusperte sich. »Ich kann mich nur wiederholen: Es handelt sich hier bloß um lächerliche Gerüchte und unnötige Panikmacherei. Unser hochmodernes Überwachungsnetz zeigt weder einen Mangel an Wunder noch eine Fehlfunktion von Wundersam-Geräten an. Das nationale Eisenbahnnetz läuft reibungslos, genau wie die Stromversorgung und der Wundersam-Gesundheitsdienst. Und was Mr Squall betrifft: Er ist sich der Tatsache durchaus bewusst, dass Squall Industries als einziger Anbieter von Wunder und dessen Nebenprodukten eine große Verantwortung trägt. Selbstverständlich bleiben wir in gewohnt engagierter Weise …«

»Mr Jones, es hat Spekulationen gegeben, dass die Wunder-Knappheit mit verfluchten Kindern zusammenhängen könnte. Mögen Sie uns dazu etwas sagen?«

Morrigan fiel der Stift aus der Hand.

»Ich … ich bin mir nicht sicher … was Sie damit meinen«, stammelte Mr Jones überrascht.

Der Reporter fuhr fort: »Nun ja, in Southlight und Far East Sang sind insgesamt drei verfluchte Kinder im behördlichen Melderegister verzeichnet – im Gegensatz zum Bundesstaat Prosper, wo es derzeit keine verfluchten Kinder gibt und auch keine Wunder-Knappheit. Great Wolfacre hat ebenfalls ein verfluchtes Kind in seinem Melderegister: die Tochter des bekannten Politikers Corvus Crow. Wird dieser Bundesstaat als nächster von der Krise getroffen werden?«

»Noch einmal: Es gibt keine Krise …«

Morrigan stöhnte und schaltete das Radio aus. Jetzt gab man ihr schon die Schuld an Dingen, die noch gar nicht passiert waren. Wie viele Entschuldigungsbriefe würde sie wohl nächsten Monat schreiben müssen? Beim Gedanken daran bekam sie einen Krampf in der Hand.

Sie seufzte und nahm ihren Stift wieder auf.

Liebe Mitglieder des Jackalfaxer Konfitüre-Klubs,

Entschuldigung wegen der misslungenen Marmelade.

Viele Grüße

M. Crow

Morrigans Vater war der Kanzler von Great Wolfacre, dem größten von vier Bundesstaaten, die gemeinsam die Republik Wintersea bildeten. Er war sehr beschäftigt und wichtig und arbeitete oft selbst dann noch, wenn er zum Abendessen zu Hause war, was selten genug vorkam. Links und rechts von ihm saßen dabei immer seine beiden allgegenwärtigen Assistenten. Da Corvus seine Mitarbeiter ständig feuerte und neue einstellte, hatte er es aufgegeben, ihre richtigen Namen zu lernen.

»Schicken Sie General Wilson eine Mitteilung, Rechts«, sagte er gerade, als Morrigan sich an diesem Abend an den Tisch setzte. Ihr gegenüber hatte ihre Stiefmutter Ivy Platz genommen, und am Ende des langen Tisches hockte Großmutter. Niemand beachtete Morrigan. »Er soll mir bis spätestens Anfang nächsten Jahres ein Budget für das neue Feldlazarett zukommen lassen.«

»Ja, Kanzler«, sagte Rechts und hielt verschiedene Stoffmuster hoch. »Und welche Farbe möchten Sie für die neuen Bezüge in Ihrem Büro?«

»Himmelblau, denke ich mal. Reden Sie da mit meiner Frau. Sie ist die Expertin in diesen Dingen, habe ich recht, Liebling?«

Ivy lächelte strahlend. »Nimm besser Lavendelblau, Liebster«, sagte sie mit einem glockenhellen Lachen. »Passend zu deiner Augenfarbe.«

Morrigans Stiefmutter machte nicht den Eindruck, als würde sie hierhergehören. Ihre blassblonden Haare und die sonnengebräunte Haut – ein Souvenir des letzten Sommers, den sie zum »Entspannen« an den fantastischen Stränden im Südosten von Prosper verbracht hatte – wirkten inmitten der mitternachtsschwarzen Haare und des blassen, kränklichen Teints der Crow-Familie irgendwie deplatziert. Die Haut der Crows bekam einfach nie Farbe.

Morrigan vermutete, dass das vielleicht der Grund war, warum ihr Vater Ivy so sehr mochte. Sie war ganz anders als die restlichen Familienmitglieder. Im tristen Esszimmer erinnerte Ivy an ein exotisches Kunstwerk, das Corvus aus dem Urlaub mitgebracht hatte.

»Links, gibt es irgendwelche Nachrichten aus Lager 16 zur jüngsten Masern-Epidemie?«

»Wurde eingedämmt, Sir. Aber dort hat man noch immer mit Netzausfällen zu kämpfen.«

»Wie oft?«

»Ein- bis zweimal die Woche. In den Grenzstädten macht sich Unzufriedenheit breit.«

»In Great Wolfacre? Sind Sie sicher?«

»Kein Vergleich zu den Aufständen in den Slums von Southlight, Sir. Eher leichte Panik.«

»Und die Menschen glauben, das würde mit einem Mangel an Wunder zusammenhängen? Unsinn. Wir haben hier nicht die geringsten Probleme. Crow Manor hat nie reibungsloser funktioniert. Sehen Sie sich doch nur mal die ganzen Lichter an – taghell. Unsere Generatoren müssen bis zum Rand gefüllt sein.«

»Ja, Sir«, sagte Links und zog eine unbehagliche Miene. »Das … das ist der Öffentlichkeit nicht entgangen.«

»Nichts als meckern, meckern, meckern«, krächzte eine Stimme am anderen Ende des Tischs. Großmutter hatte sich für das Abendessen wie immer formell gekleidet: ein langes, schwarzes Kleid und schwere Edelsteine am Hals und an den Fingern. Ihr krauses, stahlgraues Haar thronte in einem beeindruckenden Knoten auf ihrem Kopf. »Ich glaube nicht an diesen vermeintlichen Mangel von Wunder. Das sind bestimmt nur irgendwelche Schmarotzer, die ihre Rechnungen nicht bezahlt haben. Ich würde es diesem Ezra Squall nicht verübeln, wenn er ihnen den Saft abgedreht hat«, sagte sie und schnitt ihr Steak in kleine blutige Stücke.

»Streichen Sie alle morgigen Termine«, forderte Corvus seine Assistenten auf. »Ich werde den Grenzstädten einen Besuch abstatten und ein paar Hände schütteln. Das dürfte sie zum Schweigen bringen.«

Großmutter stieß ein kurzes gehässiges Lachen hervor. »Man müsste sie allesamt mal richtig durchschütteln, nicht nur ihre Hände. Du hast doch ein Rückgrat, Corvus – warum benutzt du es nicht endlich?«

Corvus zog eine verärgerte Miene. Morrigan verkniff sich ein Lächeln. Sie hatte mal gehört, wie eines der Dienstmädchen ihre Großmutter als einen »bösartigen alten Raubvogel im Gewand einer Lady« beschrieben hatte. Eine Meinung, die Morrigan insgeheim teilte – aber manchmal genoss sie die Bösartigkeiten ihrer Großmutter, sofern diese nicht gegen sie gerichtet waren.

»Aber … morgen ist doch Gebotstag«, wandte Links ein. »Man erwartet von Ihnen eine Rede vor den Schülern, die sich qualifiziert haben.«

»Gütiger Gott, Sie haben recht, Rechts.« (Nein, dachte Morrigan, während sie sich ein paar Möhren auf den Teller schaufelte. Das ist Links.) »Wie lästig. Vermutlich kann ich das dieses Jahr nicht wieder absagen. Also wann und wo?«

»Im Rathaus, um zwölf Uhr mittags«, mischte Rechts sich ein. »Schüler der St. Christopher’s School, der Mary Henwright Academy und der Privatschule Jackalfax werden dort versammelt sein.«

»Na schön.« Corvus seufzte unglücklich. »Aber rufen Sie beim Chronicle an. Die sollen einen Reporter schicken, damit er etwas dazu schreibt.«

Morrigan schluckte ein Brotstückchen hinunter. »Was ist denn der Gebotstag?«

Wie so häufig, wenn Morrigan etwas sagte, wandten sich ihr alle Gesichter mit einem leicht erstaunten Ausdruck zu – so als wäre sie eine Stehlampe, die plötzlich Beine bekommen hatte und jetzt durch den Raum steppte.

Einen Moment lang herrschte Stille, und dann …

»Vermutlich sollten wir auch die Armenschulen ins Rathaus einladen«, fuhr ihr Vater fort, als hätte sie überhaupt nichts gesagt. »Es ist immer sehr öffentlichkeitswirksam, wenn man etwas für die Unterschicht tut.«

Großmutter stöhnte. »Um Himmels willen, Corvus, du brauchst doch nur ein einziges strohdummes Kind, das mit dir auf einem Foto posiert. Und dir stehen Hunderte zur Auswahl. Nimm einfach das fotogenste, schüttle ihm die Hand und verschwinde wieder. Es besteht kein Grund, die Angelegenheit komplizierter zu machen als nötig.«

»Hm«, sagte Corvus und nickte. »Du hast recht, Mutter. Reichen Sie mir mal das Salz, Links.«

Rechts räusperte sich zaghaft. »Ehrlich gesagt, Sir … vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, die weniger privilegierten Schulen einzubeziehen. Das könnte uns einen Bericht auf der Titelseite bringen.«

»Ihre Umfragewerte in der Provinz könnten einen kleinen Schub vertragen«, fügte Links hinzu, während er zur Tischmitte hastete, um den Salzstreuer zu holen.

»Es besteht kein Grund für vornehme Zurückhaltung, Links.« Corvus zog eine Augenbraue hoch und warf seiner Tochter einen Seitenblick zu. »Meine Umfragewerte könnten im ganzen Land einen Schub gebrauchen.«

Morrigan spürte einen winzigen Anflug von schlechtem Gewissen. Sie wusste, dass die größte Herausforderung im Leben ihres Vaters darin bestand, sich die Sympathien der Wählerschaft von Great Wolfacre zu sichern, während sein einziges Kind ihnen gleichzeitig ein Unglück nach dem anderen bescherte. Die Tatsache, dass er trotz dieses Handicaps bereits seit fünf Jahren Staatskanzler war, erschien Corvus Crow Tag für Tag wie ein Wunder – und die Frage, ob er dieses unwahrscheinliche Glück noch ein weiteres Jahr lang haben würde, bereitete ihm Tag für Tag neue Sorgen.

»Aber Mutter hat recht: Wir sollten die Veranstaltung nicht mit noch mehr Schülern überfüllen«, erklärte er. »Suchen Sie nach einer anderen Möglichkeit für einen Bericht auf der Titelseite.«

»Ist das eine Auktion?«, fragte Morrigan.

»Auktion?«, fauchte Corvus. »Wovon, zum Teufel, redest du?«

»Dem Gebotstag.«

»Ach, Herrgott noch mal.« Er schnaubte ungeduldig und widmete sich wieder seinen Unterlagen. »Ivy. Erklär’s ihr.«

»Der Gebotstag …«, hob Ivy an und setzte sich wichtigtuerisch auf, »ist der Tag, an dem die Kinder, die ihre Grundschulzeit abgeschlossen haben, ein Bildungsangebot erhalten, wenn sie Glück haben.«

»Oder reich genug sind«, fügte Großmutter hinzu.

»Ja«, fuhr Ivy fort, leicht verstimmt wegen der Unterbrechung. »Wenn sie intelligent oder hinreichend begabt sind oder wenn ihre Eltern reich genug sind, um jemanden zu bestechen, dann wird eine Respektsperson einer angesehenen wissenschaftlichen Einrichtung ein Angebot auf sie abgeben.«

»Bekommt jeder so ein Angebot?«, fragte Morrigan.

»Gütiger Himmel, nein!« Ivy lachte, warf einen kurzen Blick auf das Dienstmädchen, das hereingekommen war, um eine Soßenschüssel auf den Tisch zu stellen, und sagte dann in übertriebenem Flüsterton: »Wenn jeder gebildet wäre, woher sollten wir dann die Dienstboten nehmen?«

»Aber das ist nicht fair«, protestierte Morrigan mit gerunzelter Stirn, während sie dem Dienstmädchen nachsah, das mit rotem Gesicht aus dem Raum huschte. »Und ich versteh es auch nicht: Worauf geben sie denn ein Angebot ab?«

»Auf das Privileg, die Bildung des betreffenden Kindes zu beaufsichtigen«, unterbrach Corvus ungeduldig und wedelte mit der Hand herum, als versuche er, das Thema damit vom Tisch zu wischen. »Auf den Ruhm, die brillante Generation von morgen zu formen, und so weiter. Hör auf, all diese Fragen zu stellen! Schließlich hat das nichts mit dir zu tun. Links, um wie viel Uhr ist mein Meeting mit dem Vorsitzenden der Agrarkommission nächsten Dienstag?«

»Um fünfzehn Uhr, Sir.«

»Kann ich mitkommen?«

Corvus blinzelte Morrigan ein paarmal missbilligend an, wodurch sich die Falten auf seiner Stirn vertieften.

»Warum willst du zu meinem Meeting mit dem Vorsitzenden der Agrarkommission mitkommen?«

»Ich meine, zum Gebotstag. Morgen. Zu der Zeremonie im Rathaus.«

»Du?«, fragte ihre Stiefmutter. »Du willst zur Gebotstagszeremonie? Wozu um alles in der Welt?«

»Ich dachte nur …« Morrigan hielt inne, plötzlich sehr verunsichert. »Na ja, diese Woche ist doch mein Geburtstag. Und das könnte mein Geburtstagsgeschenk sein.« Ihre Familie starrte sie noch immer verständnislos an – was Morrigans Verdacht bestätigte: Es hatten alle vergessen, dass sie übermorgen ihren elften Geburtstag feierte. »Ich dachte, das könnte vielleicht lustig werden …« Sie verstummte, blickte auf ihren Teller und wünschte sich inständig, sie hätte erst gar nicht den Mund aufgemacht.

»Das ist kein Vergnügungsausflug«, schnaubte Corvus, »sondern eine politische Veranstaltung. Und die Antwort auf deine Frage lautet: Nein, du darfst nicht mitkommen. Auf gar keinen Fall. Was für eine lachhafte Idee!«

Morrigan ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Sie fühlte sich klein und kam sich dumm vor. Was hatte sie denn auch erwartet? Ihr Vater hatte recht: Es war eine lachhafte Idee.

Ein paar Minuten lang aßen die Crows in angespannter Stille ihr Abendessen, bis …

»Ehrlich gesagt, Sir«, setzte Rechts mit zaghafter Stimme an. Klirrend ließ Corvus das Besteck auf seinen Teller fallen und fixierte seinen Assistenten mit wütender Miene.

»Was?«

»N-nun ja … Falls Sie Ihre Tochter mitnehmen würden – wobei ich keineswegs sagen will, dass Sie das tun sollten –, aber wenn Sie sie mitnähmen, würde das möglicherweise dazu beitragen, Ihr Image etwas aufzu… nun ja …polieren. In gewissem Rahmen.«

Links rang die Hände. »Sir, ich denke, dass Rechts … äh … recht hat.« Corvus musterte ihn mit finsterem Blick, woraufhin Links nervös erklärte: »I-ich meine damit: Laut den jüngsten Umfragen finden die Bürger von Great Wolfacre Sie etwas … äh … distanziert.«

»Unnahbar«, warf Rechts ein.

»Es könnte Ihren Umfragewerten nicht schaden, wenn Sie die Menschen daran erinnern, dass Sie bald ein … ein t-trauernder Vater sein werden. Aus journalistischer Sicht würde Ihnen das ein einzigartiges … äh … Alleinstellungsmerkmal verleihen.«

»Wie einzigartig?«

»Titelseiteneinzigartig.«

Corvus schwieg. Und Morrigan glaubte, sein linkes Auge zucken zu sehen.

Kapitel ZweiGebotstag

»Sprich mit niemandem, Morrigan«, mahnte ihr Vater bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Vormittag, während er mit großen Schritten die Steinstufen zum Rathaus hinaufhastete und Morrigan Mühe hatte, ihm zu folgen. »Du wirst die ganze Zeit mit mir auf dem Podium sitzen, wo jeder dich sehen kann. Verstanden? Wage es ja nicht, irgendetwas … passieren zu lassen. Keine gebrochenen Hüften oder … oder Wespenschwärme oder umstürzende Leitern oder …«

»Hai-Attacken?«, schlug Morrigan vor.

Corvus fuhr zu ihr herum. Sein ganzes Gesicht war von roten Flecken überzogen. »Denkst du, das hier ist lustig? Jeder einzelne Besucher des Rathauses wird dich genau beobachten und verfolgen, was du machst und welches Licht das auf mich wirft. Versuchst du etwa bewusst, meine Karriere zu ruinieren?«

»Nein«, sagte Morrigan und wischte sich etwas von seiner wütenden Spucke aus dem Gesicht. »Nicht bewusst.«

Morrigan war schon bei verschiedenen Gelegenheiten im Rathaus gewesen – meistens, wenn die Umfragewerte ihres Vaters einen Tiefpunkt erreicht hatten und er öffentliche Unterstützung von seiner Familie brauchte.

Das von Steinsäulen flankierte und von einem hohen eisernen Uhrturm überschattete Rathaus war Jackalfax’ wichtigstes Bauwerk. Dabei war der Uhrturm viel interessanter, auch wenn Morrigan normalerweise jeden Blick hinauf zum Zifferblatt vermied.

Denn die Himmelsuhr war keine gewöhnliche Uhr. Sie besaß weder Zeiger noch Stundeneinteilungen, sondern nur ein rundes Zifferblatt mit einem weiten Himmel darin, der sich mit dem Voranschreiten der Ära veränderte – angefangen vom blassrosa Frühlicht der Morgenröte über das goldene Strahlen der Mittagssonne und den sonnenuntergangsfarbenen Schein der Schwindestunde bis hin zum graublau schimmernden Zwielicht.

Heute – wie an jedem Tag dieses Jahres – zeigte die Uhr an, dass sie sich im Zwielicht befanden.

Morrigan wusste, was das bedeutete: Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Himmelsuhr die fünfte und letzte Farbe ihres Zyklus erreichen würde – die tintenschwarze, sternenübersäte Finsternis der Abendzeit. Der letzte Tag dieser Ära.

Aber bis dahin würde noch ein ganzes Jahr vergehen. Morrigan schüttelte den Gedanken ab und folgte ihrem Vater die Stufen hinauf.

In dem sonst düsteren, hallenden Saal herrschte heute eine aufgeregte Stimmung. Mehrere Hundert Kinder aus ganz Jackalfax waren in ihrer besten Sonntagskleidung angereist: Die Jungen hatten sorgfältig gekämmte Haare und die Mädchen trugen Pferdeschwänze, bunte Bänder und Hüte. Sie saßen aufrecht, ordentlich Reihe für Reihe, unter dem vertrauten strengen Blick von Präsident Wintersea, dessen riesiges Porträt mit der stets wachsamen Miene in jedem Haus, Geschäft und Regierungsgebäude der Republik hing.

Das laute Plappern verwandelte sich in ein verhaltenes Raunen, als Morrigan und Corvus ihre Plätze auf dem Podest am hinteren Rand des Podiums einnahmen. Wohin Morrigan auch sah, überall begegneten ihr misstrauische zusammengekniffene Blicke.

Corvus legte ihr eine Hand auf die Schulter – eine unbeholfene, unnatürliche Geste väterlicher Zuneigung, die einige der Lokalreporter sofort eifrig knipsten. Definitiv Titelseitenmaterial, dachte Morrigan. Die dem Untergang geweihte Tochter und ihr schon einmal im Vorfelde trauernder Vater – ein fantastisch tragisches Paar. Morrigan bemühte sich, besonders niedergeschlagen zu wirken, was aber gar nicht so einfach war, da die vielen Kamerablitze sie ständig blendeten.

Nach einer triumphalen Darbietung der Nationalhymne der Republik Wintersea (Voran! Aufwärts! Vorwärts! Hurra!) eröffnete Corvus die Zeremonie mit einer sehr langweiligen Rede. Danach folgten Ansprachen von diversen Direktoren und örtlichen Geschäftsleuten, die alle ihren Senf dazugeben mussten. Und dann schob der Oberbürgermeister von Jackalfax endlich eine glänzende Holzkiste nach vorn und machte sich daran, die Angebote für die Schüler vorzulesen. Morrigan setzte sich kerzengerade hin und spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, das sie sich gar nicht erklären konnte.

»›Madam Honora Salvi von der Silklands Ballet Company‹«, las der Oberbürgermeister die Aufschrift auf dem ersten herausgezogenen Umschlag vor, »›möchte ein Angebot für Molly Jenkins unterbreiten.‹«

In der dritten Reihe ertönte ein Freudenschrei, und dann sprang Molly Jenkins von ihrem Sitz auf, lief zum Podium, knickste und nahm den Umschlug mit ihrem Angebotsbrief entgegen.

»Gut gemacht, Miss Jenkins. Gehen Sie nach der Zeremonie zu einem der Helfer hinter der Bühne. Man wird Ihnen dann den Weg zu Ihrem Bewerbungsraum zeigen.«

Der Oberbürgermeister zog den nächsten Umschlag aus der Kiste. »›Major Jacob Jackerley von der Poisonwood School of Warfare möchte ein Angebot für Michael Salisbury unterbreiten.‹«

Michaels Freunde und Familie jubelten, während er den Umschlag abholte.

»›Mr Henry Sniggle, alleiniger Eigentümer und Inhaber des Sniggle’s Snake Emporium, möchte ein Angebot für Alice Carter unterbreiten, für eine Ausbildung zur Reptilienkundlerin‹ … du meine Güte, wie faszinierend!«

Das Verlesen der Angebote nahm fast eine ganze Stunde in Anspruch. Sämtliche Schüler im Saal verfolgten nervös jeden neuen Umschlag, den der Oberbürgermeister aus der Kiste zog. Und jedes Angebot wurde mit Jubelrufen des Empfängers und seiner Eltern begrüßt und von enttäuschten Seufzern aller anderen begleitet.

Morrigan wurde unruhig. Der Reiz des Gebotstags war inzwischen etwas verflogen. Sie hatte gedacht, das Ganze würde spaßig werden. Aber sie hatte nicht mit der dumpfen, nagenden Eifersucht gerechnet, die sich in ihrem Bauch breitmachte, während sie zusah, wie ein Schüler nach dem anderen seinen Umschlag abholte – mit dem Versprechen auf eine glänzende Zukunft, die Morrigan verwehrt war. Ivys Worte hallten ihr durch den Kopf: Du erwartest doch wohl kein Angebot, oder? Oje.

Morrigan spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als sie sich an Ivys Gelächter erinnerte. Sie versuchte, den plötzlichen fieberhaften Impuls zu unterdrücken, der sie zur Flucht aus der stickigen Wärme des Saals drängte.

In der ersten Reihe ertönte ein Jubelruf, als Cory Jameson ein Angebot von Mrs Ginnifer O’Reilly erhielt, Leiterin der renommierten Wintersea Academy, einer von der Regierung geförderten Schule in der Hauptstadt. Das war bereits Corys zweites Gebot an diesem Tag – sein erstes Angebot stammte von einem Geologie-Institut in Prosper, dem reichsten Bundesstaat der Republik, in dessen Bergwerken nach Rubinen und Saphiren gegraben wurde.

»Du meine Güte«, sagte der Oberbürgermeister und tätschelte sich den fetten Bauch, als Cory den zweiten Umschlag abholte und ihn über dem Kopf schwenkte, begleitet von noch lauterem Jubel seiner Familie im Publikum. »Zwei Angebote! Das ist ja eine echte Überraschung. Das erste Doppelgebot, das Jackalfax seit Jahren erlebt hat. Gut gemacht, Jameson, sehr gut gemacht. Ihnen steht eine wichtige Entscheidung bevor. Und nun … ah, haben wir hier ein anonymes Angebot für … für …«

Der Oberbürgermeister schwieg einen Moment, schaute zum VIP-Bereich auf dem Podest und dann wieder auf den Brief in seiner Hand. Schließlich räusperte er sich. »Für Miss Morrigan Crow.«

Stille senkte sich über den Saal. Morrigan blinzelte.

Hatte sie sich das gerade nur eingebildet? Nein – Corvus erhob sich leicht von seinem Sitz und funkelte den Oberbürgermeister an, der hilflos die Achseln zuckte.

»Miss Crow?«, rief er und winkte sie zu sich.

Ein Raunen ging durch die Menge, wie eine Schar aufflatternder Vögel.

Das muss ein Irrtum sein, dachte Morrigan. Das Angebot ist für jemand anders bestimmt.

Sie blickte über die Reihen der Schüler: nur finstere Mienen und Finger, die auf sie zeigten. War der Saal mit einem Mal doppelt so groß geworden? Und doppelt so hell? Sie hatte das Gefühl, als würde sie mitten im Scheinwerferlicht stehen.

Erneut winkte ihr der Oberbürgermeister zu, diesmal ärgerlich und ungeduldig. Morrigan holte tief Luft, zwang ihre Beine zum Aufstehen und ging zu ihm hin. Jeder Schritt hallte entsetzlich laut von der Balkendecke wider. Dann nahm sie den Umschlag mit zitternder Hand entgegen und schaute zum Oberbürgermeister hoch, in der Erwartung, dass er sie auslachen und ihr den Brief aus der Hand reißen würde. Der ist doch nicht für dich! Aber er starrte sie nur schweigend an, eine tiefe Sorgenfalte auf der Stirn.

Morrigan drehte den Umschlag um. Ihr Herz schlug wie wild. Doch da stand in einer eleganten Handschrift … ihr Name. Miss Morrigan Crow. Das Angebot war tatsächlich für sie bestimmt. Trotz der zunehmenden Spannung im Saal fühlte Morrigan sich tief in ihrem Inneren ganz leicht und froh. Sie kämpfte gegen den Drang an, laut aufzulachen.

»Gut gemacht, Miss Crow«, sagte der Oberbürgermeister mit einem wenig überzeugenden Lächeln. »Jetzt nehmen Sie wieder Platz und wenden Sie sich nach der Zeremonie an einen der Helfer hinter der Bühne.«

»Gregory …«, setzte Corvus in warnendem Tonfall an. Doch der Oberbürgermeister zuckte nur erneut die Achseln.

»Das entspricht der Tradition, Corvus«, flüsterte er. »Nicht nur das: So verlangt es das Gesetz.«

Die Zeremonie wurde fortgesetzt, und Morrigan nahm benommen und schweigend wieder auf ihrem Stuhl Platz. Sie wagte es nicht, ihr Angebot zu öffnen. Ihr Vater saß reglos da und starrte alle paar Sekunden auf den elfenbeinfarbenen Umschlag, als wollte er ihn Morrigan aus der Hand reißen und anzünden. Schnell schob Morrigan den Umschlag in ihre Rocktasche, nur für alle Fälle, und hielt ihn fest in der Hand, während acht weitere Schüler ihre Gebote abholten. Sie hoffte, dass die Zeremonie nicht mehr lange dauern würde. Trotz der tapferen Bemühungen des Oberbürgermeisters, einfach weiterzumachen, als wäre nichts geschehen, konnte sie spüren, wie Hunderte Augenpaare sie noch immer anstarrten.

»›Mrs Ardith Asher vom Devereaux Ladies’ College‹ – noch nie davon gehört! – ›möchte ein Angebot unterbreiten für … für …‹« Der Oberbürgermeister verstummte. Er holte ein Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »›Für Miss Morrigan Crow.‹«

Dieses Mal keuchte das Publikum laut auf. Wie in Trance ging Morrigan zu ihm, um ihr zweites Angebot an diesem Tag abzuholen. Ohne zu überprüfen, ob auch wirklich ihr Name daraufstand, steckte sie den rosafarbenen und süß duftenden Umschlag in ihre Tasche, wo er sich zu ihrem ersten Angebot gesellte.

Nur wenige Minuten später wurde Morrigans Name ein drittes Mal aufgerufen. Sie hastete wieder nach vorn, um das Angebot von Colonel Van Leeuwenhoek von der Harmon Military Academy entgegenzunehmen, huschte dann so schnell wie möglich zu ihrem Platz zurück und starrte beharrlich auf ihre Füße. Schweigend versuchte sie, den Schwarm Schmetterlinge zu ignorieren, der in ihrem Bauch vor Freude flatterte. Es fiel ihr schwer, nicht zu grinsen.

Plötzlich stand ein Mann in der dritten Reihe auf und rief: »Aber sie ist doch verflucht! Das ist nicht in Ordnung.« Seine Frau zog ihn am Arm und wollte ihn zum Schweigen bringen, aber der Mann weigerte sich. »Drei Angebote? So was hat man ja noch nie gehört!« Zustimmendes Gemurmel ging durch die Menge.

Morrigan spürte, wie ihre Freude einer erlöschenden Gasflamme gleich zu flackern begann. Der Mann hatte recht. Sie war verflucht. Was sollte ein verfluchtes Kind mit drei Angeboten anfangen? Man würde ihr niemals erlauben, eines davon anzunehmen.

Der Oberbürgermeister war bemüht, für Ruhe zu sorgen. »Sir, wir müssen jetzt fortfahren, sonst sitzen wir noch den ganzen Tag hier. Wenn daher bitte alle wieder ruhig sein könnten? Ich werde nach der Zeremonie dem äußerst ungewöhnlichen Verlauf dieser Veranstaltung auf den Grund gehen.«

Doch falls der Oberbürgermeister gehofft hatte, dass nun wieder Ruhe einkehren würde, hatte er sich gewaltig getäuscht, denn als er den nächsten Umschlag hervorholte, stand darauf: »›Jupiter North von der Wundersamen Gesellschaft möchte ein Angebot unterbreiten für …‹ Ach, das glaub ich jetzt nicht! ›Für Miss Morrigan Crow.‹«

Der Saal explodierte, als Kinder und Eltern von ihren Sitzen sprangen, vor Zorn rot bis violett anliefen, sich gegenseitig überbrüllten und nach einer Erklärung für diesen Irrsinn verlangten. Vier Gebote! Zwei waren ungewöhnlich, und drei waren äußerst selten, aber vier? Noch nie da gewesen!

Zwölf weitere Angebote warteten darauf, verlesen zu werden. Der Oberbürgermeister rasselte die Namen im Eilverfahren herunter, wobei sich auf seinem Gesicht vor Erleichterung jedes Mal Schweißperlen bildeten, wenn er einen Namen aufrief, bei dem es sich nicht um Morrigan Crow handelte. Endlich tastete seine Hand auf dem Boden der Kiste herum und kam ohne Umschlag wieder zum Vorschein.

»Das war das letzte Angebot«, sagte der Oberbürgermeister und schloss dankbar die Augen. Seine Stimme zitterte, als er fortfuhr: »W-würden alle Schüler, die ein Angebot erhalten haben, jetzt bitte hinter die Bühne gehen? Unsere, äh, Helfer werden Ihnen den Weg zu den Bewerbungsräumen zeigen, wo Sie, äh, dann Ihre potenziellen Förderer treffen. Alle anderen … Ich bin mir sicher, dass Sie alle … Sie wissen schon. Das bedeutet nicht, dass Sie nicht alle sehr begabt wären und … äh … nun ja.« Er wedelte vage ins Publikum, das seine Geste als Aufforderung zum Verlassen des Saals verstand.

 

Corvus schwor, dass er Maßnahmen ergreifen, die Stadt verklagen und den Oberbürgermeister seines Amtes entheben würde. Aber dieser bestand darauf, sich an die Vorschriften zu halten. Es musste Morrigan gestattet werden, sich mit ihren Bietern zu treffen, falls sie das wollte.

Und ob sie das wollte.

Natürlich wusste Morrigan, dass sie gar keines der Angebote annehmen konnte. Ihr war klar: Sobald diese mysteriösen Fremden herausfanden, dass sie ein Angebot für ein verfluchtes Kind abgegeben hatten, würden sie ihr Gebot sofort zurückziehen und sich schnellstmöglich aus dem Staub machen. Aber es wäre unhöflich, überlegte Morrigan, sich nicht wenigstens mit ihnen zu treffen. Schließlich waren sie alle extra deswegen hierhergekommen.

Es tut mir leid, übte sie innerlich, aber ich bin im Melderegister für verfluchte Kinder eingetragen. Ich werde zur Abendzeit sterben. Danke für Ihre Zeit und Ihr Interesse.

Ja, genau so: höflich und auf den Punkt gebracht.

Ein Helfer führte sie in einen Raum mit kahlen Wänden, einem Tisch und zwei Stühlen auf beiden Seiten. Das Ganze wirkte wie ein Vernehmungsraum … Und in gewisser Hinsicht war er das ja auch, vermutete Morrigan. Der Grundgedanke bei dem Treffen zwischen Förderern und Schülern bestand darin, dass die Schüler so viele Fragen stellen konnten, wie sie wollten, die die Förderer ehrlich beantworten mussten. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die Morrigan von der langweiligen Gebotstagsrede ihres Vaters behalten hatte.

Aber natürlich würde sie keine Fragen stellen, ermahnte Morrigan sich. Danke für Ihre Zeit und Ihr Interesse, wiederholte sie fest entschlossen in ihrem Kopf.

Ein Mann mit schütteren braunen Haaren saß auf einem der Stühle und summte leise vor sich hin. Er trug einen grauen Anzug und eine Drahtgestellbrille, die er sich mit einem blassen, schlanken Finger hochschob. Er lächelte ruhig und wartete, bis Morrigan sich gesetzt hatte.

»Miss Crow. Mein Name ist Mr Jones. Vielen Dank für dieses Treffen.« Der Mann sprach leise, und seine Sätze waren knapp und präzise. Seine Stimme kam Morrigan bekannt vor. »Ich bin im Auftrag meines Arbeitgebers hier. Er möchte Ihnen eine Lehrstelle anbieten.«

Morrigans einstudierte Rede purzelte ihr aus dem Gedächtnis. Dafür kehrte ein leichtes Flattern in ihren Bauch zurück. Ein winziger optimistischer Schmetterling war gerade aus seinem Kokon geschlüpft. »Was … denn für eine Lehrstelle?«

Mr Jones lächelte. Kleine Fältchen bildeten sich in den Winkeln seiner dunklen, ausdrucksstarken Augen. »Eine Lehrstelle in seinem Unternehmen, Squall Industries.«

»Squall Industries?«, wiederholte Morrigan stirnrunzelnd. »Das bedeutet, dass Sie für …«

»Dass ich für Ezra Squall arbeite. Genau. Für den mächtigsten Mann dieser Republik.« Er senkte den Blick. »Den zweitmächtigsten, sollte ich vielleicht sagen. Nach unserem großartigen Präsidenten.«

Plötzlich fiel Morrigan ein, wo sie seine Stimme schon mal gehört hatte: Mr Jones war der Mann, der im Radio über die Wunder-Knappheit gesprochen hatte.

Er sah exakt so aus, wie er aussehen sollte, dachte sie – ernsthaft und ordentlich. Passend. Seine weißen, spinnenartigen Hände lagen fest verschränkt vor ihm auf dem Tisch. Die Haut war so bleich, dass sie fast durchscheinend wirkte. Er war weder besonders jung noch sehr alt. Und er hatte nichts an sich, was aus dem Rahmen fiel; nichts, was sein makelloses Erscheinungsbild auch nur im Geringsten gestört hätte – bis auf eine dünne weiße Narbe, die seine linke Augenbraue in der Mitte halbierte, und zwei silbrige Haarsträhnen an den Schläfen. Sogar seine Bewegungen waren präzise und beherrscht – als könnte er es sich nicht erlauben, Energie für unnötige Bewegungen zu verschwenden. Ein durch und durch beherrschter Mann.

Morrigan kniff die Augen zusammen. »Was will denn der zweitmächtigste Mann der Republik ausgerechnet mit mir anfangen?«

»Es steht mir nicht zu, zu erklären, warum Mr Squall etwas möchte«, antwortete Mr Jones und nahm kurz die Hände auseinander, um sich seine Brille erneut hochzuschieben. »Ich bin nur sein Assistent. Ich führe lediglich seine Wünsche aus. Und im Moment wünscht er, dass Sie, Miss Crow, sein Lehrling werden … und seine Erbin.«

»Seine Erbin? Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass er möchte, dass Sie eines Tages Squall Industries an seiner Stelle führen werden. Dass Sie reicher und mächtiger sein werden, als Sie es sich je zu erträumen wagen. Und dass Sie das größte, einflussreichste und gewinnbringendste Unternehmen leiten werden, das jemals existiert hat.«

Morrigan blinzelte. »Bei uns zu Hause darf ich nicht mal den Kleberand eines Briefumschlags mit der Zunge anfeuchten.«

Mr Jones wirkte belustigt. »Ich glaube nicht, dass Sie bei Squall Industries Kleberänder anfeuchten werden.«

»Was werde ich denn dann dort machen?« Morrigan hatte keine Ahnung, warum sie diese Frage stellte. Sie versuchte, sich an das zu erinnern, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Irgendetwas mit verfluchten Kindern … Danke für Ihre Zeit …

»Sie werden dort lernen, wie man ein Imperium führt. Und zwar von dem Besten. Mr Squall ist ein brillanter und sehr begabter Mann. Er wird Ihnen alles beibringen, was er weiß … Dinge, die er noch keiner Menschenseele beigebracht hat.«

»Nicht einmal Ihnen?«

Mr Jones lachte leise. »Mir ganz sicher nicht. Am Ende Ihrer Lehrzeit werden Sie die Verantwortung für alle Bereiche von Squall Industries tragen: Bergbau, Maschinenbau, Herstellung und Technologie. Die Verantwortung für über einhunderttausend Angestellte in der gesamten Republik, die alle Ihnen unterstellt sind.«

Morrigan sah ihn mit großen Augen an.

»Jeder Bürger, jeder Haushalt dieses Landes wird Ihnen zu Dank verpflichtet sein. Sie werden ihre Lebensader sein – die Quelle ihrer Heizungswärme, ihres Stroms, ihrer Nahrung, ihrer Unterhaltung. Die Quelle all ihrer Bedürfnisse und Wünsche … all dessen, was auf der Verwendung von Wunder basiert und von den Mitarbeitern von Squall Industries produziert wird. Von Ihnen produziert wird.«

Seine Stimme war so leise geworden, dass er fast schon flüsterte. Morrigan beugte sich vor.

»Ezra Squall ist der größte Held dieser Nation«, fuhr er fort. »Nicht nur das: Er ist ihr gütiger Gott, der Ursprung all ihres Komforts, ihres Glücks. Der einzige lebende Mensch mit der Fähigkeit, Wunder zu ernten, zu verteilen und zu beherrschen. Unsere Republik ist zu einhundert Prozent von ihm abhängig.«

Seine Augen hatten den beunruhigenden Glanz eines Fanatikers angenommen. Ein seltsames kleines Lächeln umspielte einen seiner Mundwinkel. Morrigan wich zurück. Sie fragte sich, ob Mr Jones Ezra Squall liebte oder ihn fürchtete oder ob er Ezra Squall sein wollte. Vielleicht sogar alles drei zugleich.

»Stellen Sie sich nur einmal vor, Miss Crow«, flüsterte er. »Stellen Sie sich nur einmal vor, wie es sich anfühlen muss, so geliebt zu werden. So respektiert und gebraucht. Eines Tages, wenn Sie hart arbeiten und alles tun, was Mr Squall Ihnen beibringt … wird das auch auf Sie zutreffen.«

Morrigan konnte sich das vorstellen. Sie hatte es sich bereits vorgestellt, bestimmt Hunderte Male, wie es sich anfühlen würde, geliebt statt gefürchtet zu werden. Menschen lächeln anstatt erschrocken zurückzucken zu sehen, sobald sie einen Raum betrat. Dieser Gedanke war einer ihrer liebsten Tagträume.

Aber mehr war er auch nicht, ermahnte Morrigan sich und versuchte, die Hirngespinste aus ihrem Kopf zu vertreiben. Ein Tagtraum. Sie setzte sich auf und holte tief Luft, damit ihre Stimme nicht zitterte.

»Ich kann das Angebot nicht annehmen, Mr Jones. Ich stehe im Melderegister für verfluchte Kinder. Ich werde … ich werde zur Abendzeit … na ja, Sie wissen schon. D-danke für Ihre Zeit und …«

»Öffnen Sie ihn«, sagte Mr Jones und deutete auf den Umschlag in ihrer Hand.

»Was ist darin?«

»Ihr Vertrag.«

Verwirrt schüttelte Morrigan den Kopf. »M-mein was?«

»Das ist so üblich.« Er zuckte leicht die Achseln. »Jedes Kind, das eine geförderte Ausbildung beginnt, hat einen Vertrag zu unterzeichnen, der zusätzlich von einem Elternteil oder Vormund unterschrieben werden muss.«

Na, das war’s dann wohl, dachte Morrigan. »Mein Vater wird das hier niemals unterschreiben.«

»Lassen Sie das ruhig unsere Sorge sein.« Er holte einen silbernen Stift aus seiner Jackentasche und legte ihn auf den Tisch. »Sie brauchen nichts weiter zu tun, als den Vertrag zu unterzeichnen. Mr Squall wird sich um alles Weitere kümmern.«

»Aber Sie verstehen das nicht richtig. Ich kann nicht …«

»Ich verstehe das absolut richtig, Miss Crow.« Mr Jones musterte sie eindringlich und seine dunklen Augen bohrten sich in ihre. »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen wegen irgendwelcher Flüche oder Melderegister oder wegen der Abendzeit zu machen. Sie brauchen sich nie wieder wegen irgendetwas Sorgen zu machen. Nicht, wenn Sie sich für Ezra Squall entscheiden.«

»Aber …«

»Unterschreiben Sie.« Er deutete auf den Stift. »Unterschreiben Sie, und ich verspreche Ihnen: Eines Tages werden Sie in der Lage sein, jeden, der Sie jemals unglücklich gemacht hat, zu kaufen und wieder zu verkaufen.«

Seine glänzenden Augen und sein ruhiges, geheimnisvolles Lächeln ließen Morrigan glauben – wenn auch nur eine Sekunde lang –, dass er und Ezra Squall auf irgendeine Weise eine Zukunft für sie sahen, die Morrigan niemals für möglich gehalten hätte.

Sie streckte die Hand nach dem Stift aus, zögerte dann jedoch. Da war noch eine letzte, brennende Frage, die wichtigste Frage überhaupt. Morrigan schaute zu Mr Jones hoch.

»Warum ausgerechnet ich?«

Im selben Moment ertönte ein lautes Klopfen. Dann schwang die Tür auf und der Oberbürgermeister stolperte mit gequälter Miene in den Raum.

»Es tut mir furchtbar leid, Miss Crow«, sagte er und drückte sich ein Taschentuch gegen die Stirn. Sein Anzug hatte Schweißflecken bekommen, und seine Haare standen wirr vom Kopf ab. »Anscheinend hat sich jemand einen schrecklichen Scherz mit Ihnen erlaubt. Mit uns allen.«

»Sch-Scherz?«

Corvus marschierte hinter dem Oberbürgermeister herein, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. »Da bist du ja endlich. Wir brechen auf.« Er packte Morrigan am Arm und zog sie mit sich aus dem Raum. Ihr Stuhl kippte um und fiel dröhnend auf den Boden.

»Keiner Ihrer sogenannten Bieter ist erschienen«, sagte der Oberbürgermeister schnaufend, während er ihnen in den Flur folgte. »Ich gebe mir selbst die Schuld. Ich hätte es gleich durchschauen müssen. Harmon Military Dingsbums, Devereaux Ladies’ Dingsda … die kennt kein Mensch. Alles nur erfunden.« Er schaute von Morrigan zu ihrem Vater und wieder zurück. »Tut mir schrecklich leid, dass du das alles miterleben musstest, Corvus, alter Freund. Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel?«

Corvus warf dem Oberbürgermeister einen finsteren Blick zu.

»Aber Moment mal …«, rief Morrigan.

»Verstehst du denn nicht?«, knurrte ihr Vater mit eisiger, zorniger Stimme und riss ihr die Umschläge aus der Hand. »Man hat mich zum Narren gehalten. Das Ganze sollte ein Scherz sein. Ich wurde gedemütigt! Von meiner eigenen Wählerschaft!«

Morrigan runzelte die Stirn und schaute zum Oberbürgermeister. »Sie wollen damit sagen, dass meine Bieter …«

Der Oberbürgermeister rang die Hände. »Nie existiert haben. Deshalb ist auch keiner von ihnen aufgetaucht. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«

»Aber ich … Einer der Bieter ist doch aufgetaucht! Mr Jones ist im Auftrag von …« Morrigan verstummte und rannte in das Bewerbungszimmer zurück.

Der Stuhl war leer. Kein Stift, kein Vertrag. Er war verschwunden. Morrigan starrte mit offenem Mund in den leeren Raum. War Mr Jones hinausgeschlüpft, während sie zu dritt auf dem Flur gestritten hatten? Hatte er seine Meinung geändert? Oder hatte er sich auch nur einen Scherz mit ihr erlaubt?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in den Magen.

Natürlich war das Ganze nur ein schlechter Scherz. Warum sollte der mächtigste und bedeutendste Geschäftsmann der Republik ausgerechnet sie als seinen Lehrling wollen? Seine Erbin? Der Gedanke war definitiv lachhaft. Morrigans Wangen wurden feuerrot, so peinlich war ihr das Ganze nachträglich. Wie hatte sie nur so leichtgläubig sein können?

»Ich habe genug von diesem Unsinn«, sagte Corvus. Er riss die Umschläge in winzige Fetzen, und Morrigan sah traurig zu, wie sie Schneeflocken gleich zu Boden rieselten.