Nevermoor 3. Leere Schatten - Jessica Townsend - E-Book
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Nevermoor 3. Leere Schatten E-Book

Jessica Townsend

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Beschreibung

Die Macht der Wunderschmied-Kräfte. Das erste Schuljahr ist vorbei, aber feiern kann Morrigan Crow trotzdem nicht. Denn eine seltsame und hochgefährliche Epidemie bricht über Nevermoor herein. Niemand ist vor ihr sicher. Jetzt liegt es allein an Morrigan, ein Heilmittel zu finden. Doch dafür muss sie lernen, ihre Wunderschmied-Kräfte unter Kontrolle zu halten. Gelingt ihr das nicht, könnte sie ganz Nevermoor ins Verderben stürzen. Jessica Townsends magische Fantasy-Reihe"Nevermoor" für Mädchen und Jungen ab 10 wird oft, vor allem von begeisterten Lesern, mit J. K. Rowlings Harry Potter verglichen.

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Über dieses Buch

»Alles wird gut. Das verspreche ich.«

Jupiter North

 

Das Geheimnis ist gelüftet! Jeder in der Wundersamen Gesellschaft weiß nun, dass Morrigan Crow eine Wunderschmiedin ist. Und sofort wird ihre Fertigkeit aufs Höchste getestet. Denn in Nevermoor herrscht Alarmstufe Rot: Wundertiere werden plötzlich zu Bestien und greifen die Menschen an. Morrigan will unbedingt helfen, aber niemand hört ihr zu. Also nimmt sie die Sache selbst in die Hand. Doch diese Entscheidung könnte ganz Nevermoor und alles, was sie liebt, für immer ins Verderben stürzen.

 

Der Weltbestseller geht weiter!

Kehre zurück in die verrückteste und wundersamste Stadt der Welt: Nevermoor.

 

 

 

Dieses Buch ist Jo Laurance und ihrer Freundin Mrs Miller gewidmet, der ursprünglichen Kabarett-Entenwun.

Kapitel EinsGruppe 919

Winter des Jahres Zwei

Auf einer glänzenden schwarzen Tür in einer gut beleuchteten Garderobe pulsierte ein kleiner, goldener Kreis. Und in der Mitte des Kreises schimmerte ein winziges W.

Komm herein, schien es bei jedem sanften Pulsieren zu sagen. Beeil dich!

Morrigan Crow knöpfte die Ärmel ihres gestärkten weißen Hemds zu, streifte einen schwarzen Mantel über und steckte ihr goldenes W vorsichtig an den Kragenaufschlag. Dann drückte sie die Fingerspitze auf den schimmernden Kreis – und als hätte sie einen Schlüssel im Schloss umgedreht, öffnete sich die Tür zu einem menschenleeren Bahngleis.

Diese ruhigen, friedlichen Minuten gehörten zu den schönsten Momenten ihres Tages. Meistens war sie die Erste, die morgens auf Bahnstation 919 eintraf. Oft schloss sie dann für ein paar Sekunden die Augen und lauschte auf das ferne Rumpeln der Züge in den Wundergrundtunneln. Wie mechanische Drachen, die aus dem Schlaf erwachten. Bereit, Millionen von Menschen über ein dicht verzweigtes Schienennetz an alle Orte der Stadt Nevermoor zu befördern.

Morrigan lächelte und atmete tief durch.

Der letzte Tag des Herbstsemesters.

Sie hatte es geschafft.

Nach und nach trafen jetzt auch die anderen aus ihrer Gruppe ein. Mit der Ruhe und dem Frieden war es schnell vorbei, als die übrigen acht Türen entlang des Bahnsteigs aufflogen – von Mahir Ibrahims verzierter, roter an einem Ende bis zu Anah Kahlos kleiner, unlackierter, hölzerner Rundbogentür am anderen Ende. Lautes Geplapper erfüllte die kleine Station.

Hawthorne Swift, Morrigans bester Freund, erschien in seinem üblichen morgendlichen Zustand: schwer beladen mit Drachenreiter-Ausrüstung, das graue Hemd nicht richtig zugeknöpft, die braunen Locken zerzaust und in den blauen Augen ein übermütiges Funkeln, als hätte er wieder irgendeinen Unfug ausgeheckt oder angestellt (Morrigan wollte lieber gar nicht wissen, was von beidem). Archan Tate, der stets tadellose Manieren an den Tag legte und vorbildlich gekleidet war, nahm Hawthorne ohne ein Wort die Hälfte der schwankenden Ladung ab und deutete mit einem diskreten Nicken auf das schief geknöpfte Hemd.

Cadence Blackburn war an diesem Morgen die Letzte. Ihre dicken, schwarzen Zöpfe wippten bei jedem ausholenden Schritt ihrer langen, braunen Beine, als sie auf die letzte Sekunde angerannt kam. Sie erreichte den Bahnsteig genau in dem Moment, als ein einzelner, leicht ramponierter Eisenbahnwagen einfuhr, aus dessen Schornstein weißer Dampf quoll. Auf der Seite waren das vertraute W und die Nummer 919 zu lesen, und aus der Tür lehnte ihre Zugbegleiterin Miss Cheery.

Die Heimatbahn war das Transportmittel und zweite Zuhause exklusiv für Gruppe 919 der Wundersamen Gesellschaft. Im Inneren des Wagens warteten Sitzsäcke, ein durchgesessenes, altes Sofa, Berge von Kissen, ein Holzofen, der im Winter im Dauerbetrieb war, und eine fast immer gefüllte Keramik-Keksdose in Form eines Eisbären. Dieser Wagen zählte zu Morrigans liebsten und gemütlichsten Plätzen der Welt.

»Guten Mooorgen!«, rief die Zugbegleiterin. Sie strahlte über beide Ohren und wedelte mit einem Stapel Papier. »Der letzte Tag des Semesters, liebe Schüler!«

Miss Cheerys Rolle als offizielle »Zugbegleiterin« von Gruppe 919 war nicht leicht zu definieren. Teils Lokführerin, teils Vertrauenslehrerin. Sie hatte die Aufgabe, ihnen in den ersten fünf Jahren als Mitglieder von Nevermoors elitärster und anspruchsvollster Organisation mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die Wundersame Gesellschaft bestand aus außergewöhnlichen Menschen mit außergewöhnlichen Talenten – aber die meisten von ihnen waren zu sehr mit ihren eigenen außergewöhnlichen Unternehmungen beschäftigt, um den Neuzugängen der Gesellschaft größere Beachtung zu schenken. Ohne ihre Zugführerin wäre Gruppe 919 völlig aufgeschmissen gewesen.

Morrigan kannte niemand, der seinem Namen so sehr gerecht wurde wie Miss Cheery: Sie war wie purer Sonnenschein, frische Bettwäsche, Vogelgezwitscher am Morgen und perfekt gerösteter Toast. Sie trug Kleidung in Regenbogenfarben, hatte eine vorbildliche Körperhaltung, dunkelbraune Haut und ein strahlendes Lächeln. Und wenn das Licht durch die heiligenscheinartige Wolke ihrer schwarzen Locken schien, erinnerte sie Morrigan an einen Engel … obwohl sie so etwas Kitschiges natürlich niemals laut ausgesprochen hätte.

Als ihre zuständige Erwachsene fehlte Miss Cheery vermutlich nur ein wenig mehr Ernsthaftigkeit. Aber Gruppe 919 mochte sie genau so, wie sie war.

»Der letzte Tag! Der letzte Tag!«, sang sie und schwang ausgelassen tanzend die Beine in der offenen Tür, noch bevor der Zug zum Stehen gekommen war.

»Miss Cheery, das ist gefährlich!«, rief Anah besorgt.

Miss Cheery reagierte, indem sie das Gesicht zu einer übertrieben erschreckten Miene verzog und mit den Armen ruderte, als würde sie gleich herausfallen – was dann auch passierte, als der Zug abrupt auf dem Gleis anhielt.

»Alles in Ordnung!«, verkündete sie, sprang vom Boden auf und verbeugte sich.

Die anderen lachten und applaudierten, doch Anah musterte einen nach dem anderen mit zornrotem Gesicht, wobei ihre blonden Locken dramatisch hin und her schaukelten. »Oh ja, sehr witzig. Aber wer muss die Blutung stoppen, wenn sie auf die Gleise fällt und sich das Schienbein bricht? Ich wette, keiner von euch hat auch nur die geringste Ahnung, wie man ein Bein schient.«

»Dafür haben wir ja dich, Anah.« Archan schenkte ihr ein Lächeln, worauf sich in seinen blassen Wangen Grübchen bildeten. Er bückte sich und half Miss Cheery mit seiner freien Hand, die auf dem Boden verstreuten Papiere aufzuheben.

»Genau, Dr. Kahlo«, bestätigte die muskulöse Thaddea Macleod und knuffte Anah so heftig in die Seite, dass diese fast umgefallen wäre. (Für Thaddeas Verhältnisse war es ein sanftes Knuffen, manchmal vergaß sie einfach, wie stark sie war.)

Anah verzog das Gesicht, während sie sich aufrichtete, schien aber etwas besänftigt, weil Thaddea sie »Doktor« genannt hatte.

»Miss, was …« Archan starrte verwirrt auf eines der Blätter. »Sind das die neuen Stundenpläne?«

»Danke, Arch. Hilfst du mir bitte, sie zu verteilen?«, antwortete die Zugbegleiterin und winkte die Mitglieder von Gruppe 919 in den Waggon. »Na los, alle einsteigen, sonst kommen wir zu spät. Francis, bitte setz schon mal Wasser auf. Lam, lass die Keksdose herumgehen.«

Hawthorne schaute Miss Cheery verblüfft an, als sie ihm seinen Stundenplan übergab. Schließlich war es der letzte Tag des Semesters, und normalerweise bekamen sie nur einmal in der Woche neue Stundenpläne. »Die haben Sie uns doch schon am Montag gegeben, Miss. Erinnern Sie sich?«

Er ließ sich auf einen der Sitzsäcke fallen, während Morrigan zwischen Cadence und Lambeth auf dem Sofa Platz nahm und ihren eigenen Stundenplan überflog. Soweit sie es beurteilen konnte, unterschied er sich nicht von dem, den sie Anfang der Woche bekommen hatte: Dienstags ein Workshop zum Thema Untote Dialekte und mittwochs eine Meisterklasse in Beobachtung von Planetenbewegungen, gefolgt von einem Kurs im Spionage-Flügel in Untergeschoss Fünf, der sich Ausbildung und Behandlung von Informanten nannte (bis jetzt Morrigans Lieblingskurs der Woche. Wie sich herausgestellt hatte, war sie ziemlich gut im Spionieren).

»Ja, ich erinnere mich, Hawthorne«, sagte Miss Cheery. »Trotz meines fortgeschrittenen Alters von einundzwanzig Jahren erlaubt mir mein hinfälliges Hirn noch immer den Zugriff auf seinen großen Gedächtnisspeicher und damit auf die ferne Vergangenheit von sage und schreibe vier Tagen.« Sie lächelte und zog eine Augenbraue hoch. »Das hier sind neue Stundenpläne. Bitte beachtet die Änderungen für heute.«

Morrigans Blick wanderte zur Spalte für Freitag, und als sie den Unterschied erkannte, fragte sie: »Was ist B&A?«

»Das habe ich auch«, sagte Hawthorne. »B&A, Untergeschoss Zwei. Letzter Kurs des Tages.«

Mahir hob die Hand. »Ich auch!«

Alle Jugendlichen murmelten vor sich hin und verglichen ihre Stundenpläne, bis sie feststellten, dass heute alle denselben Kurs hatten. Meistens stimmte Miss Cheery die Stundenpläne auf die einzelnen Schüler ab, damit sie ihre besonderen Talente entwickeln und an ihren Schwachpunkten arbeiten konnten, und es war schon ein paar Monate her, dass Gruppe 919 gemeinsam Unterricht gehabt hatte.

»Miss, was bedeutet B&A?«, fragte Francis Fitzwilliam mit leicht besorgtem Ausdruck in seinen großen braunen Augen. »Weiß Tante Hester davon? Sie meinte, dass sie allen Änderungen meines Stundenplans erst zustimmen müsse.«

Morrigan zog eine Augenbraue hoch und schaute zu Hawthorne, der vielsagend zurückschaute. Francis’ Familie reichte mehrere Generationen zurück in der Wundersamen Gesellschaft, auf beiden Seiten: die berühmten Fitzwilliams und die bewunderten Akinfenwas. Seine Förderin – das Gesellschaftsmitglied, das ihn für die Zulassung nominiert und damit Einfluss auf seine Ausbildung hatte – war seine Tante väterlicherseits, Hester Fitzwilliam. Sie war sehr streng und nach Morrigans Meinung ein bisschen zickig.

»Und sie sagt, dass ich nichts tun darf, was mein Riechorgan gefährden könnte«, fuhr Francis fort.

»Was für ein Riechergan?«, fragte Thaddea.

»Meine Nase«, erklärte er. »Was ist? Lach nicht – der Geruchssinn eines Kochs ist sein größtes Kapital.« Nervös drückte er auf die Spitze seines hellbraunen, mit Sommersprossen bedeckten Riechorgans.

»Du brauchst dir um deinen Rüssel keine Sorgen zu machen, Francis«, beruhigte Miss Cheery ihn mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Aber mehr kann ich euch leider nicht verraten.«

Daraufhin wandten sich ihr sofort neun neugierige Gesichter zu.

Hawthorne setzte sich auf. »Ist es … Ballern und … Abknallen?«

»Nein. Aber ziemlich dicht dran.«

»Belauern und Anschleichen!«, rief Thaddea. Sie drehte ihr langes rotes Haar zu einem Knoten und rollte die grauen Hemdsärmel auf, als wollte sie gleich damit loslegen. »Wir lernen Angriffs- und Kampftechniken, richtig? Endlich.«

»Beweise und Alibis?«, schlug Mahir vor.

»Ooh! Bären und Affen!« Anah klatschte begeistert in die Hände und hüpfte auf ihrem Kissen auf und ab. »Spielen wir mit Tieren?«

Miss Cheery musste lachen. »Eine reizende Idee, Anah, aber das ist es auch nicht.« Sie hob die Hände und bedeutete ihnen, still zu sein. »Und jetzt hört bitte auf zu raten. Meine Lippen sind versiegelt. Ich schweige wie ein Grab.«

Anah ließ enttäuscht die Schultern hängen und reichte Mahir die Keksdose.

»Lef’selah«, sagte er, was Danke auf Jahalan bedeutete – eine von 38 Sprachen, die er fließend sprach. Vor Kurzem hatte er der Gruppe beigebracht, was er für »die wichtigsten Floskeln« in seinen Lieblingssprachen hielt: hauptsächlich, nach dem Weg zu fragen, bitte und danke sowie Beleidigungen und Schimpfwörter. (Überwiegend Schimpfwörter, wie Morrigan bemerkt hatte. Was aber vielleicht daran lag, dass Hawthorne ständig danach gefragt hatte.)

»Hish fa rahlim«, lautete Anahs mürrische Antwort, als sie in ihren Keks biss.

Mahir warf ihr einen halb schockierten, halb amüsierten Blick zu, während Morrigan sie mit offenem Mund anstarrte.

»Was ist denn?«, fragte Anah mit vollem Mund.

»Das bedeutet nicht ›gern geschehen‹, falls du das sagen wolltest«, klärte Mahir sie auf. Er versuchte zwar, nicht zu lachen, allerdings ohne Erfolg.

»Ach, du weißt doch, dass ich in Fremdsprachen nicht gut bin.« Anah schnaubte gereizt. »Was habe ich denn gesagt?«

Schadenfroh schrien Mahir, Hawthorne und Thaddea ihr einstimmig die unanständige Übersetzung entgegen. Daraufhin lief Anah puterrot an, Miss Cheery schaute entsetzt, und der Rest der Gruppe hörte bis zur Ankunft in der Wundersamen Gesellschaft nicht mehr auf zu kichern.

 

Als sie an der Proudfoot-Station ankamen, verließen sie nur widerwillig die gemütliche Wärme der Heimatbahn. Wegen des Winds dicht aneinandergedrängt, winkte Gruppe 919 Miss Cheery zum Abschied und rannte in den fragwürdigen Schutz des Wimmerwalds.

In Wungesell – dem einhundert Morgen großen Campus der Wundersamen Gesellschaft im Herzen von Nevermoor – hatte der Winter früher eingesetzt als in der Stadt jenseits seiner Mauern. Schon seit einigen Wochen herrschte eine Kältewelle, die einem den Schnodder in der Nase gefrieren ließ. Das mysteriöse Phänomen des »Wungesell-Wetters« bedeutete, dass Nevermoors Nieselregentage auf dem Campus eher als Tage mit Starkregen und Graupelschauern verliefen.

Wie auch immer das Wetter außerhalb von Wungesell sein mochte, im Inneren war es immer ein bisschen mehr. Zog in Nevermoor ein leichtes Gewitter auf, war der Himmel über Wungesell schwarz und elektrisch aufgeladen; es blitzte wie in einer Disco, und wenn man über den Campus lief, riskierte man, zum Blitzableiter zu werden.

Heute spürten sie die Kälte bis in die Knochen. Doch sie ließ sich einigermaßen ertragen, weil die schwachen Strahlen der Wintersonne die Wolken durchbrachen und weil sie wussten, dass sie nach der letzten Stunde heute zwei Wochen Weihnachtsferien genießen würden. Morrigan konnte es gar nicht erwarten. An Weihnachten gab es keinen schöneren Ort als ihr Zuhause, das Hotel Deucalion. Sie träumte schon den ganzen Winter von Eierpunsch, Gänsebraten und Rumkugeln mit Schokoladenüberzug.

Um sich von der Kälte abzulenken, verbrachte Gruppe 919 den langen Weg hinauf zu Proudfoot House damit, immer seltsamere Vermutungen darüber anzustellen, was wohl B&A bedeuten konnte.

»Ooh – wie wäre es mit ›Bündnisse und Allianzen‹?« Bei dieser Vorstellung bekam Hawthorne leuchtende Augen. »Vielleicht machen sie uns zu mächtigen DIPLOMATEN.«

»Oder Bücher und Atlanten«, sagte Lam.

»Oder Blaubeer- und Apfelkuchen?«, überlegte Francis laut.

Bei diesem letzten hoffnungsvollen Vorschlag konnte keiner von ihnen mehr ernst bleiben. Aber trotz des schallenden Gelächters entging es Morrigan nicht, dass jemand »Wunderschmiedin« zischte, als eine Gruppe älterer Schüler sie auf dem Pfad durch das Waldstück überholte.

Inzwischen war sie zwar daran gewöhnt, zuckte aber noch immer zusammen, wenn sie es hörte. Fast zwei Monate waren vergangen, seit ihr Geheimnis vor der gesamten Wundersamen Gesellschaft offenbart worden war. Wenn Morrigan sich gelegentlich selbst Mut zusprechen musste, dachte sie an die Worte der Ältesten Quinn: Sie mag vielleicht eine Wunderschmiedin sein, aber von heute an ist sie unsere Wunderschmiedin.

Die meisten Mitglieder der Wungesell waren so freundlich und vernünftig, dem Beispiel des Ältestenrats zu folgen und Morrigan als eine der ihren zu akzeptieren, auch wenn sie nicht gerade begeistert waren, solch ein »gefährliches Wesen« in ihren Reihen zu haben. Allerdings gab es auch einige, die keine Gelegenheit ausließen, ihr zu zeigen, dass sie alles andere als willkommen war. Doch das machte ihr nicht mehr viel aus. Morrigan verstand sich immer besser darauf, das Flüstern und die Blicke zu ignorieren. Und das Wissen, dass ihre Gruppe hinter ihr stand, war dabei eine große Hilfe. Im vergangenen Jahr war die Loyalität von Gruppe 919 bis zum Äußersten auf die Probe gestellt worden. Es hatte eine Zeit gegeben, als Morrigan überzeugt gewesen war, immer eine Außenseiterin zu bleiben, aber jetzt wusste sie, dass sie dazugehörte.

Cadence hatte das Flüstern ebenfalls gehört. Ohne zu zögern, rief sie: »Beiß dir auf die Zunge!« Und eine Sekunde später ertönte ein Schmerzenslaut und ein gedämpftes »Au!«, als der Übeltäter gehorchte. Cadence schenkte Morrigan ein schiefes Grinsen, die dankbar zurücklächelte. Insgeheim war sie ein kleines bisschen erfreut. Es hatte durchaus Vorteile, mit einer Hypnotiseurin befreundet zu sein.

»Das habe ich gesehen, Cadence«, sagte Anah leise, als sie zu den beiden aufschloss. »Du weißt, dass wir unsere Fertigkeiten nicht bei anderen Schülern anwenden sollen.«

Cadence stöhnte und verdrehte die Augen. »Und du solltest keine langweilige Heulsuse sein, die ständig allen sagt, was sie zu tun haben. Aber du kannst es nicht lassen.«

Anah musterte sie finster. »Wenn du das noch einmal machst, sage ich es der Direktorin.«

Während sie vor Morrigan und Cadence den Pfad hinaufstapfte, flüsterte Cadence Morrigan ins Ohr: »Ich mochte sie lieber, als sie sich nicht an mich erinnern konnte.«

 

Falls Anah wirklich vorhatte, Cadence bei der furchterregenden Schuldirektorin des Fachbereichs für Arcanum-Künste zu verpetzen, wünschte Morrigan ihr viel Glück bei dem Versuch. Sie selbst bemühte sich schon seit Wochen, mit Mrs Murgatroyd zu reden, aber es erwies sich als unmöglich. Jedes Mal, wenn sie die Direktorin in den Gängen von Proudfoot House sah, schien sie von der Menge verschluckt zu werden oder sich plötzlich in ihr Gegenstück, die schreckliche Ms Dearborn, Direktorin der Mundanum-Künste, zu verwandeln. Das war in letzter Zeit so oft vorgekommen, dass Morrigan sich allmählich fragte, ob Murgatroyd ihr vielleicht absichtlich aus dem Weg ging … oder ob Dearborn versuchte, sich einzumischen.

Bis vor ungefähr sechs Wochen war Morrigan noch ein Grauhemd gewesen – eine Schülerin der Mundanum-Künste, genau wie Hawthorne, Anah, Mahir, Arch, Francis und Thaddea. Der von Direktorin Dulcinea Dearborn geleitete Fachbereich für Mundanum-Künste war der größere der beiden Ausbildungszweige in der Wundersamen Gesellschaft. Er umfasste drei Abteilungen: die Praktischen Wissenschaften in Untergeschoss Drei, die Geisteswissenschaften in Untergeschoss Vier und die Extremen Wissenschaften in Untergeschoss Fünf.

Der Fachbereich für Arcanum-Künste war wesentlich schwächer besetzt, nahm aber trotzdem drei eigene Untergeschosse tief unter dem fünfstöckigen Proudfoot House aus rotem Ziegelstein ein und war nur für Arcanum-Schüler zugänglich.

Hier fand man sich sehr viel schwerer zurecht als in den übersichtlichen Etagen der Mundanum-Künste. Der Arcanum-Fachbereich war nicht in drei Abteilungen unterteilt, sondern in zahllose Hexenzirkel, Seminare, Klubs, Labore, streng geheime Mini-Gesellschaften und strengst geheime Gilden, die verschiedenen Geheimwissenschaften gewidmet waren. Dabei schien keine von ihnen die eigene noch die Existenz der anderen Gilden anzuerkennen. Hier unten gab es irrsinnig viele abgeschlossene Türen und unbeantwortete Fragen. Aber in den letzten sechs Wochen hatte Morrigan gelernt, einfach dorthin zu gehen, wo ihr Stundenplan sie hinschickte, und sonst nirgendwohin – ganz bestimmt nicht durch einen mysteriösen, nebelverhangenen Gang, der am Vortag noch nicht dagewesen war. Umwege wie dieser sorgten immer dafür, dass man zu spät zum Unterricht kam.

Dearborn war fuchsteufelswild geworden, als sie erfahren hatte, dass Murgatroyd Morrigan von den Mundanum- zu den Arcanum-Künsten versetzt hatte. Selbstverständlich nicht, weil sie besonders freundliche Gefühle für Morrigan hegte – ganz im Gegenteil. Dearborn war der Ansicht, Morrigan sollte überhaupt nicht in der Wundersamen Gesellschaft sein. Die Direktorin war strikt dagegen, dass Morrigan mehr lernte als das absolute Minimum. Es würde der eiskalten, silberhaarigen Schuldirektorin ähnlich sehen, ihre Ausbildung aus der Ferne zu sabotieren, dachte Morrigan.

»Du bist paranoid«, meinte Cadence, als ihr Morrigan am Nachmittag davon erzählte. Sie standen auf einem Gang in Untergeschoss Sieben herum und warteten auf Lam, damit sie alle zusammen zur letzten Stunde des Semesters gehen konnten. »Warum willst du überhaupt mit Murgatroyd reden? Ich persönlich würde ihr möglichst aus dem Weg gehen.«

Morrigan wusste, dass die meisten versuchten, die verstörende Mrs Murgatroyd zu meiden, und das aus gutem Grund … aber trotzdem war sie ihr lieber als Ms Dearborn.

»Sieh dir das an.« Sie seufzte, hielt ihren Stundenplan hoch und zeigte auf die Kurse, die sie an diesem Morgen gehabt hatte. »In die Zukunft schauen. Deinen Familiar-Geist finden. Gestern war es Wie man sich mit den Toten unterhält.«

»Du hast gesagt, du liebst diesen Kurs! Du liebst doch all dieses unheimliche Zeug.«

»Das stimmt«, räumte Morrigan ein. »Ich weiß bloß nicht, warum Murgatroyd mir all diese schrägen Kurse zuteilt, wo sie doch diejenige gewesen ist, die meinte, ich solle …« Sie hielt kurz inne und sah sich um, ob auch niemand zuhören konnte. Dann senkte sie die Stimme. »… die Schrecklichen Künste lernen.«

Ein unbehaglicher Ausdruck huschte über Cadences Gesicht. Sie wusste genauso viel über die Schrecklichen Künste wie Morrigan – nämlich so gut wie gar nichts.

Morrigan wusste nur, dass diese Künste das Werkzeug des sogenannten »versierten Wunderschmieds« waren. Und dass sie lernen musste, sie anzuwenden, wenn sie jemals begreifen wollte, was es wirklich bedeutete, eine Wunderschmiedin zu sein. Sie hatte ein paar Kleinigkeiten aufgeschnappt und im Stillen geübt. Aber es gab nur eine weitere Person im gesamten Reich, welche die Schrecklichen Künste wirklich beherrschte … und es war in der Tat ein sehr beunruhigendes Gefühl, etwas so Wichtiges mit ihm gemein zu haben.

»Ich meine ja nur … ich bin keine Hellseherin!«, fuhr Morrigan fort. »Oder ein Orakel oder eine Zauberin oder eine Hexe oder …«

»Ja, ich weiß, du bist eine mächtige Wunderschmiedin. Jetzt hör auf rumzujaulen«, entgegnete Cadence leise. Sie entdeckte Lambeth, die von ihrem Kurs in transzendentaler Meditation kam und wie üblich verwirrt war, und winkte ihr zu.

An dieser Schule gab es nicht annähernd so viele Arcanum- wie Mundanum-Schüler, aber mit dem Lehrpersonal, den Graduierten, Akademikern und Forschern sowie den Gästen vom Königlichen Hexenrat, der Paranormalen Liga und der Allianz der Hexenzirkel von Nevermoor herrschte auf den Gängen des Arcanum-Fachbereichs meist reges Treiben. Heute drängten sich hier Unter- und Oberstufenschüler, die das Ende des Semesters auf eine Art und Weise feierten, die den meisten außerhalb der Etagen der Arcanum-Künste streng untersagt war. Nur Illusions-Schüler durften ihre Fertigkeit überall in der Wungesell praktizieren, denn Illusion war laut Murgatroyd »nichts weiter als schrecklich langweilige Trickserei«. (Morrigan hielt diese Erlaubnis bei den Illusions-Schülern für verschwendet, denn sie missbrauchten sie für eklige Scherze und um Trugbilder von Hundehaufen oder Ratten in den Gängen zu erzeugen. Selbst Hawthorne, der andere liebend gern schockierte, war von ihren Bemühungen wenig beeindruckt und erklärte sie für »total fantasielos«.)

Aber wenn Unterstufenschüler dabei erwischt wurden, wie sie irgendwo außerhalb dieser Flure Zauberei oder Hexerei praktizierten, bereuten sie es fast immer. Zu Murgatroyds bevorzugten Strafmaßnahmen gehörte es, die Ärmel von Wintermänteln abzuschneiden, Missetätern die Augenbrauen zu rasieren oder sie an den Fußgelenken über die Fußgängerbrücke zu halten, die über die Proudfoot-Station führte.

In den Gängen des Arcanum-Fachbereichs galten diese Verbote jedoch nicht.

An diesem Nachmittag hatte eine Gruppe von Zauberschülern für eine bizarre Feier zum Semesterende eine Kiste mit nicht etikettierten Flaschen aus dem Hexerei-Flügel gestohlen. Jetzt schüttelten sie die Elixiere, forderten sich gegenseitig heraus, sie zu trinken, und heulten anschließend – entweder vor Lachen oder vor Schmerz. Eine der Schülerinnen atmete eine ganze Minute lang kochend heißen Dampf aus und verbrannte sich dabei die Kehle; einem anderen platzten sämtliche Blutkapillare in den Augäpfeln, und ein weiterer Schüler verliebte sich unsterblich und in aller Öffentlichkeit in das erste Objekt, das er erblickte: einen Feuerlöscher.

»Lam, beeil dich, bitte«, stöhnte Cadence, als sie sah, dass ihre Freundin einige Meter hinter ihnen her trottete.

»Stopp«, sagte Lam und hob die Hand. Morrigan und Cadence blieben sofort stehen, kurz bevor sie die Kreuzung zweier langer Gänge erreichten.

Lam war ein begabtes Kurzzeit-Orakel … was bedeutete, dass sie Zukunftsvisionen hatte, allerdings nur, was die unmittelbare Zukunft betraf – wenige Augenblicke im Voraus. Gruppe 919 hatte inzwischen begriffen, dass es sie vor kleineren Katastrophen wie einem verstauchten Zeh oder verschüttetem Tee bewahren konnte, wenn sie Lams Warnungen ernst nahmen. Manchmal wurden dadurch sogar Leben gerettet, wie Morrigan letztes Jahr an Hallowmas gelernt hatte, als sie Lams kryptische Vorhersagen entziffert und den illegalen Grausigen Markt beendet hatte. Gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass Cadence und Lam an den Meistbietenden versteigert wurden.

Hätte Morrigan es nicht herausgefunden, dann hätte bestimmt jemand eine Menge Geld dafür bezahlt, Cadences Fertigkeit zu stehlen … aber Lams Schicksal hätte viel, viel schlimmer ausfallen können. Denn ihre Freundin Lambeth Amara hieß eigentlich Prinzessin Lamya Bethari Amati Ra aus dem Königshaus Ra von Silklands im Staat Far East Sang. Sie war für die Zulassungsprüfung von der Republik Wintersea aus in den Freistaat geschmuggelt worden, genau wie Morrigan. Aber im Gegensatz zu Morrigans hatte Lams Familie über diesen Plan Bescheid gewusst – und sollte ihr Verrat an der herrschenden Wintersea-Partei jemals aufgedeckt werden, drohte ihnen die Hinrichtung. Niemand in der Republik durfte wissen, dass der Freistaat existierte.

Gruppe 919 hatte geschworen, Lams Geheimnis zu bewahren. Es gab da draußen sicherlich noch andere, die davon wussten – Lams Förderer natürlich, Miss Cheery und die Ältesten. Dazu ein paar abscheuliche Leute, die der Vernichtung auf dem Grausigen Markt entkommen und in die Nacht geflüchtet waren. Aber in Gruppe 919 glaubten alle, wenn sie das Geheimnis untereinander bewahrten und es niemals laut aussprachen, dann könnten sie Lam vor allen beschützen, die ihr etwas antun wollten.

Cadence seufzte ungeduldig und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Lam, wir müssen wirklich …«

»Wartet.«

PLATSCH! Bzzzzzzzzz …

Morrigan und Cadence verfolgten entsetzt, wie ein paar Meter weiter einer der Jungs vom Hexerei-Fachbereich den Inhalt einer geschüttelten Elixierflasche auf eine vorbeikommende Oberstufenschülerin spritzte. Das ältere Mädchen wurde in eine schwarze, teerartige Flüssigkeit gehüllt, die sich bei Kontakt mit der Haut in … Bienen verwandelte. Wütende, surrende Bienen schwärmten auf sie zu, als wäre sie mit Pollen bedeckt. Kreischend rannte das Mädchen durch den Gang und versuchte, die Bienen wegzuschlagen, während die Hexerei-Jungs ihr, halb lachend, halb erschreckt, hinterherliefen und zu helfen versuchten.

Schließlich senkte Lam die Hand.

»Gehen wir«, sagte sie, schlenderte an Morrigan und Cadence vorbei und gab ihnen mit einem Blick zu verstehen: Ich hab’s euch ja gesagt.

 

Morrigan hatte noch nie einen Kurs in Untergeschoss Zwei gehabt, obwohl sie sich fast jeden Tag dort aufhielt, weil auf dieser Etage Speisesäle, Küchen und Verwaltung untergebracht waren. Der Rest von Gruppe 919 wartete bereits vor dem angegebenen Klassenraum, als Morrigan, Cadence und Lam eintrafen.

»Betrug und Aktien«, sagte Hawthorne, während er sich zu den anderen umdrehte, einen Arm ausstreckte und so den Eingang versperrte. »Das ist mein letzter Tipp. Sonst noch jemand? Letzte Chance.«

»Ach, mach einfach die Tür auf«, stöhnte Thaddea und drängte sich an ihm vorbei.

Der Raum war klein – vielleicht ein Viertel der Größe eines normalen Klassenzimmers – und leer. Außerdem war er dunkel. Morrigan tastete sich an der Wand entlang, als die Gruppe hineindrängte.

»Wo ist der Lichtschalter?«, fragte sie.

»Au! Das war mein Fuß, Francis, du Tollpatsch.«

»’tschuldigung, hab ich nicht gesehen …«

PENG. Mit einem Knall fiel die Tür hinter ihnen zu. Die Gruppe verstummte.

»Wo ist unser Lehrer?«, flüsterte Anah mit leicht zittriger Stimme.

»Psst«, wisperte Lam. »Schaut auf die Wand. Es geht gleich los.«

Kapitel ZweiEine sorgfältig manövrierte Abfolge von Ereignissen

Ein paar Sekunden vergingen in völliger Stille und Dunkelheit, dann erschienen bewegte Bilder an der Wand. Morrigan musste wegen der plötzlichen Helligkeit blinzeln.

Sie sahen einen Film aus einer Nacht, an die sie sich sehr gut erinnern konnte.

Neun Kinder standen in einer Reihe vor dem Campus der Wundersamen Gesellschaft. Ein riesiger, kunstvoller Teppich aus echten Blumen bedeckte die Tore, und grüne Ranken formten die Worte:

Tritt ein und schließ dich uns an.

Die Mitglieder von Gruppe 919 schauten verblüfft auf die Leinwand, wo sie sich selbst vor einem Jahr sahen, und fragten sich, was das jetzt wieder sollte. Jedenfalls die meisten von ihnen.

»Sehen meine Haare wirklich so flauschig aus?«, flüsterte Hawthorne Morrigan ins Ohr.

»Ja.«

Er nickte. »Cool.«

»Was sollen wir denn tun?«, fragte die Thaddea im Film. Film-Morrigan warf ihr einen Seitenblick zu und wirkte viel kleiner und eingeschüchterter, als Morrigan sich erinnern konnte.

Und dann sah sie etwas auf der Leinwand, das ihr sofort eine Gänsehaut bereitete. Etwas, an das sie sich ebenfalls nicht erinnerte.

Sie spürte, wie jemand sie am Handgelenk packte. Cadence. Sie kam näher und fragte: »Was … ist das?«

Selbst wenn Morrigan die Antwort gekannt hätte, in diesem Moment hätte sie kein Wort herausbekommen.

Die neun ahnungslosen Film-Kinder von Gruppe 919 standen um Mitternacht des Abends vor Frühlingsbeginn vor dem Campus der Wundersamen Gesellschaft und warteten aufgeregt und atemlos darauf, ihr neues Leben als Mitglieder von Nevermoors elitärster Institution zu beginnen.

Und währenddessen krochen hinter ihnen aus der Dunkelheit Dutzende von … Morrigan wusste nicht, was sie waren. Monster, nahm sie an.

Die Kreaturen hatten dunkle Schuppen und viele Gliedmaßen. Es waren keine wirklichen Undertiere, aber sie waren auch nicht menschlich. Sie krochen über den Boden, zogen sich mit kräftigen Unterarmen vorwärts und schleppten lange, muskulöse Schwänze hinter sich her. In ihren merkwürdig menschenähnlichen, markanten Gesichtern glitzerten die Augen so schwarz wie ihre Schuppen, schillernd wie Käfer.

Nie zuvor hatte Morrigan etwas Derartiges gesehen. Diese Wesen wirkten wie das Ergebnis eines misslungenen Experiments, wie Schlangen, die fast menschlich geworden waren … oder umgekehrt. Selbst ihr Anblick auf der Leinwand weckte in ihr das instinktive, primitive Bedürfnis, wegzulaufen. Aber sie stand wie versteinert da.

»Ist das ein Witz?«, fragte Anah mit hoher, zittriger Stimme. »Irgendein schrecklicher Scherz? Er ist überhaupt nicht lustig.«

Sie drehte sich um und rannte zur Tür, musste jedoch feststellen, dass sie verriegelt war.

»Das ist nicht LUSTIG!«, rief sie erneut.

Der Rest von Gruppe 919 rückte näher zusammen und verfolgte mit blankem Entsetzen, wie die schlangenartigen Kreaturen hinter ihren Filmversionen her krochen. Wenn Morrigan diese Nacht nicht selbst erlebt hätte, wenn sie nicht gewusst hätte, wie sie endete, wäre sie davon überzeugt gewesen, gleich mitansehen zu müssen, wie sie und ihre Freunde von Monstern angegriffen und verschlungen wurden.

Das passierte natürlich nicht. Wenige Sekunden, bevor die lauernden Ungeheuer sie erreichten, kamen noch mehr Gestalten aus der Dunkelheit – Zauberer in schwarzen Wungesell-Mänteln – und trieben die Ungeheuer mit brennenden Ästen und seltsamen qualmenden Talismanen schweigend in die Schatten zurück.

Seltsamerweise – unfassbarerweise – hatte die Gruppe 919 der Vergangenheit von all dem nichts bemerkt. Ihre Augen waren erwartungsvoll auf die Tore gerichtet, die sich knarrend öffneten und sie in eine geheime Welt voller Möglichkeiten und Abenteuer einluden.

Alle, bis auf Lambeth, wie Morrigan feststellte. Eingehend beobachtete sie deren Filmversion. Lam stand am Ende der Reihe und starrte mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter ihnen.

»Du hast das nie erwähnt«, sagte Morrigan leise und sah Lam an. Das Licht von der Projektion erleuchtete ihr Gesicht. »Warum hast du uns nichts davon erzählt?«

Lams Kinn zitterte ein wenig. »Ich … es … schien einfach netter, es zu verschweigen.«

Die neun Film-Kinder marschierten freudig auf den Campus der Wungesell. Bis auf Lam bemerkte keines von ihnen etwas von der Gefahr, die hinter ihnen lauerte.

Erleichtert atmete Morrigan auf und schaute im schummrigen Klassenraum zu Hawthorne und Cadence, die stumm vor Verwirrung zurückstarrten. Als sich die Tore hinter den Kindern auf der Leinwand schlossen und die Monster nicht mehr zu sehen waren, hatte Morrigan das Gefühl, als wäre etwas Luft in den Raum zurückgekehrt. Dann ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher, und alle Schüler zuckten vor Schreck zusammen.

»Ich vermute, Sie wundern sich, warum Sie hier sind.«

Morrigan kannte diese brüchige Stimme: Älteste Quinn.

Gregoria Quinn gehörte dem Ältestenrat an, der aus den drei angesehensten Personen der Wundersamen Gesellschaft bestand. Er wurde zu Beginn einer jeden Ära von allen Mitgliedern der Wundersamen Gesellschaft gewählt, um sie bis zur nächsten Ära anzuführen und zu regieren. Morrigan konnte verstehen, warum man Älteste Quinn in dieses ehrenvolle Amt gewählt hatte: Sie mochte zwar klein und gebrechlich wirken, aber sie war eine beeindruckende Frau. Die anderen beiden Ältesten – Helix Wong und Alioth Saga – waren fast genauso eindrucksvoll. (Aber eben nur fast.)

»Seit vielen Jahren«, hallte Älteste Quinns Stimme durch den Raum, »hat die Wundersame Gesellschaft eine Mission. Sie verfolgt einen geheimen Zweck, der sich aus zwei separaten, aber gleichermaßen wichtigen Aufgaben zusammensetzt. Mangels einer imposanteren Bezeichnung nennen wir diesen Zweck Begrenzen und ablenken.«

»Also … nicht Blaubeer- und Apfelkuchen«, flüsterte Hawthorne, und absurderweise musste Morrigan sich eine Hand vor den Mund schlagen, um einen Kicheranfall zu unterdrücken.

»Psst«, machte Cadence und knuffte sie mit dem Ellbogen in die Rippen. »Schau hin.«

Älteste Quinn sprach weiter, während der Film die Einführungszeremonie zeigte, die so ganz anders war als die, die sie erlebt hatten. Und dennoch handelte es sich um dieselbe Nacht.

Morrigan erinnerte sich, wie sie die Auffahrt zu Proudfoot House hinaufgegangen und ein wenig nervös, aber nicht ängstlich gewesen war. Sie erinnerte sich an die verhüllten Mitglieder der Wundersamen Gesellschaft, die mit Kerzen in der Hand hoch oben in den abgestorbenen Feuerblütenbäumen entlang der Auffahrt gesessen hatten. Sie hatte sich durch ihre Gegenwart seltsam ermutigt gefühlt. Das Schwerste lag hinter ihr, hatte sie damals gedacht. Schließlich hatte sie die Aufnahmeprüfung bestanden und war in die Gesellschaft aufgenommen worden, und ab jetzt würde alles leichter werden.

Natürlich hatte sie sich geirrt. Aber erst jetzt wusste sie, wie sehr sie sich geirrt hatte.

Die Gestalten, die hinter den neun neuen Schülern von den Bäumen heruntersprangen, waren keine Mitglieder der Wundersamen Gesellschaft. Sie waren nicht einmal menschlich … lediglich eine gute Imitation.

»Was, bei den Sieben Gebieten, ist das?«, keuchte Arch.

Jetzt schienen die Wesen sich von ihrer menschenähnlichen Hülle zu lösen und in etwas zu verwandeln, bei dem es sich um ihre wahre Gestalt handeln musste: gewaltige, geierartige, gebeugte und gespenstisch aussehende Kreaturen mit gelben Augen und großen, hakenartigen Krallen.

Morrigan konnte kaum glauben, dass sie und der Rest der Gruppe davon überhaupt nichts mitbekommen hatten.

»Lauft weg, um Himmels willen«, flüsterte Arch der an die Wand projizierten Gruppe 919 zu. Es war natürlich vollkommen nutzlos, aber Morrigan verstand den Impuls. Am liebsten hätte sie ihr damaliges Ich geschüttelt und diese andere Morrigan dazu gebracht, sich umzudrehen und die Gefahr wahrzunehmen.

Denn es waren nicht nur diese unheimlichen Kreaturen, die sich aus den Schatten schlängelten und in den Bäumen hockten. Da waren noch mehr, viel mehr.

Sie hatte geglaubt – alle hatten geglaubt –, das prachtvolle Spektakel ihrer Aufnahmezeremonie habe dazu gedient, ihren Erfolg zu feiern.

Aber es war keine Feier, wie sie jetzt begriff. Sondern eine Ablenkung. Eine Abfolge präzise choreografierter Ablenkungen, um ihre Blickrichtung sekundengenau in die richtige Richtung zu lenken, damit sie alles andere um sich herum nicht bemerkten.

Die marschierenden Musiker, die sie den Pfad hinauf zu Proudfoot House begleiteten, hatten sie von den menschengroßen Geierwesen abgelenkt, die sich hinter ihnen versammelten.

Das funkelnde, schillernde Regenbogentor hatte sie über die Tatsache hinweggetäuscht, dass jedes Fenster in Proudfoot House zu bluten begonnen hatte – eine dicke, rote Flüssigkeit rann wie in einer Gruselgeschichte an den Ziegelsteinwänden herab.

Der trompetende Elefant am Fuß der Marmortreppe erregte ihre Aufmerksamkeit genau in dem Augenblick, als ein Team von Wungesell-Mitgliedern eine tausendköpfige Armee aus Spinnen über die Schuhe von Gruppe 919 dirigierte.

Keiner von ihnen hatte etwas bemerkt.

Und als sie ehrfürchtig aufschauten, um ihre neun Namen zu sehen, die mit Drachenfeuer an den Himmel geschrieben waren, entging ihnen der wahrscheinlich außergewöhnlichste Anblick von allen: ein Trupp von Bäumen am Rand des Wimmerwalds hatte seine Wurzeln aus dem Boden gezogen und marschierte sehr, sehr langsam auf Proudfoot House zu, wie eine uralte hölzerne Armee der Verdammten.

Das Ganze war schrecklich, aber eben auch … außergewöhnlich. Trotz ihres Entsetzens musste Morrigan unwillkürlich darüber staunen, dass sie und die anderen genau das getan hatten, was sie tun sollten – ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, dass es geplant war. Sie schauten genau dorthin, wohin ihre Blicke gelenkt wurden, drehten sich genau im geplanten Moment um, für den exakt geplanten Zeitraum. Morrigan hatte den Eindruck, als würde sie sich selbst dabei zusehen, wie sie fehlerlos ein Ballett aufführte, für das sie nie geprobt hatte.

»Wer auch immer das getan hat, ist total irre«, meinte Mahir.

»Nein.« Morrigan schüttelte den Kopf. »Er ist ein Genie.«

»Ihr habt eure fünfte und letzte Prüfung bestanden – die wichtigste von allen, die Loyalitätsprüfung – und werdet bald euer zweites Jahr als Mitglieder der Wundersamen Gesellschaft beginnen«, fuhr Älteste Quinn fort, während auf der Leinwand die Schüler ihren Förderern die Marmortreppe hinauf folgten. »Indem ihr bewiesen habt, dass ihr unser Vertrauen verdient, habt ihr die Tür zu umfassenderem Wissen und größerer Verantwortung in unseren Reihen geöffnet.«

Morrigan verzog das Gesicht. Sie hatten ihre fünfte Prüfung erst vor sechs Wochen absolviert, und die Erinnerung daran war nicht gerade angenehm. Wie loyal die Schüler von Gruppe 919 untereinander waren, hatten sie bei einem Erpressungsversuch beweisen müssen. Jeder von ihnen musste eine ungeheuerliche Forderung erfüllen, sonst hätte ihr anonymer Erpresser dem Rest der Gesellschaft verraten, dass Morrigan eine Wunderschmiedin war – ein Geheimnis, das Gruppe 919 auf Befehl der Ältesten bewahren musste, wollte sie nicht auf Lebenszeit von der Wungesell ausgeschlossen werden. Dies hatte Morrigan das ganze Jahr hindurch viel Kummer bereitet, und wie sich herausgestellt hatte, war es nicht nur ein Test gewesen … sondern eine von den Ältesten persönlich erdachte Prüfung.

Das Teuflischste daran – sie musste bei der Erinnerung noch immer mit den Zähnen knirschen – war die Tatsache, dass sie sich selbst als Wunderschmiedin zu erkennen geben musste, um ihre Prüfung zu bestehen. Also kannte jetzt sowieso jeder in der Wundersamen Gesellschaft die Wahrheit.

Tja, dachte sie verbittert, wenigstens haben wir bestanden.

Im Film schlossen sich jetzt die Tore hinter Gruppe 919 und ihren Förderern, und die Leinwand wurde schwarz. Sie waren wieder von Dunkelheit umgeben.

Die gebieterische Stimme von Ältester Quinn erfüllte erneut den Raum.

»Die erste und wichtigste dieser neuen Aufgaben und Verpflichtungen besteht darin, dass ihr die Wahrheit über unsere geliebte Stadt erfahrt und euren rechtmäßigen Platz darin erkennt.«

Morrigan spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Am liebsten hätte sie gerufen: Nein, danke. Ich möchte lieber nicht die Wahrheit über Nevermoor erfahren. Nicht heute.

»Um eure Zukunft in der Wundersamen Gesellschaft zu verstehen, müsst ihr unsere Vergangenheit kennen«, fuhr Älteste Quinn fort. »Die Gesellschaft wurde zu einem ganz bestimmten Zweck gegründet. Bis vor etwa einhundert Jahren bestand unsere gesamte Mission darin, die Arbeit von neun Personen zu unterstützen. Diese neun – erhaben über alle anderen – hatten die Pflicht, das Leben der Bürger unseres Reichs zu schützen und zu verbessern. Sie waren Wunderschmiede. Neun Menschen, begabter als alle anderen. Allgemeiner Ansicht nach waren sie von den Wundersamen Gottheiten auserwählt worden – jenen alten Göttern, von denen es heißt, sie hätten einst über unser Reich gewacht. Im Tausch für ihre heiligen Kräfte sollten die Wunderschmiede ihr gesamtes Leben der Beherrschung ihrer Fertigkeit widmen und ihre Macht ganz und gar in den Dienst anderer stellen. Und am Ende ihres Lebens würde jede dieser ursprünglichen neun Wunder-Seelen – so die Legende – in einer anderen wiedergeboren, die an ihre Stelle treten und dem Reich mit Vorbild und Unterstützung der Wundersamen Gesellschaft dienen sollte. So wiederholte sich der Zyklus wieder und wieder, und eine Generation folgte auf die nächste, ohne je zu vergessen, wer sie waren: menschliche Vertreter der neun Gottheiten, auserwählt, deren Arbeit fortzusetzen.«

Stimmte das?, fragte sich Morrigan. War sie lediglich die letzte Version eines dieser ursprünglichen neun Wunderschmiede, wiedergeboren im Körper von Morrigan Crow? Die Kopie einer Kopie einer Kopie? Das Ganze klang erfunden – ähnlich wie all die fantastischen Details, die man aus Sagen kannte.

»Aber schließlich«, fuhr Älteste Quinn fort, »scheiterte die Gesellschaft bei ihrer Mission.«

Morrigan fühlte sich leicht unbehaglich. Trotz der Dunkelheit spürte sie, wie acht Augenpaare sich auf sie richteten.

»Die neun Wunderschmiede wurden zum Gegenstand von Anbetung und Hingabe, ja sogar von Fanatismus. Wir ließen es zu, dass sie sich selbst für göttlich hielten und sich über die normalen Menschen stellten. Das machte einige von ihnen korrupt und leichtsinnig. Gefährlich. Machthungrig. Bösartig, wie viele sagen würden. Dann beschloss einer von ihnen, dass seine Zeit gekommen war. Er arbeitete im Geheimen daran, eine Armee von Monstern aufzubauen, Legionen seiner eigenen niederträchtigen Schöpfungen, und versuchte, die anderen Wunderschmiede in einen Kreuzzug gegen die Krone zu führen. Natürlich scheiterte er damit. Er wurde für seine Verbrechen aus dem Reich verbannt und entwickelte sich zu dem Mann, den wir als den letzten Wunderschmied kennen. Ezra Squall versuchte, unsere Stadt zu erobern und zu versklaven. Das haben wir nicht vergessen, und wir werden es auch niemals vergessen.«

Morrigan war schlecht. Sie wollte sich die Ohren zuhalten oder fortlaufen – aber gleichzeitig verspürte sie den unwiderstehlichen Drang, mehr zu erfahren.

»Der Zweck der Wundersamen Gesellschaft besteht inzwischen darin, Nevermoor und den Freistaat vor den korrupten und gefährlichen Schöpfungen der Wunderschmiede der Vergangenheit zu beschützen. Vor dem Chaos, das hier noch immer gedeiht und das wir selbst in diese Stadt gelassen haben, durch unsere Schwäche und unser Versäumnis, rechtzeitig zu handeln. Wir müssen unsere Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen«, dröhnte die geisterhafte Stimme von Ältester Quinn durch den Raum. »Wir müssen alte Wunden schließen, auch wenn Narben zurückbleiben.«

»Haltet euch an irgendwas fest«, sagte Lam.

»Was hast du gesagt?«, fragte Anah mit Panik in der Stimme. »Was hat sie gesagt?«

Aber Morrigan und Cadence hatten sich bereits gegen die Wand des winzigen Raums gedrückt, da es hier nichts gab, woran sie sich festhalten konnten. Hawthorne folgte ihrem Beispiel, genau wie Mahir, Arch und Thaddea.

Ein Geräusch wie ein Luftstrom ertönte, dann ein mechanisches Schleifen und ein dumpfer Aufprall. Morrigan hatte das Gefühl, als wäre der Boden unter ihnen plötzlich weggesackt. Anah und Francis, die Lams Rat nicht rechtzeitig befolgt hatten, stürzten zu Boden und krochen dann auf allen vieren zum Rand des Klassenraums.

Der dunkle Raum bewegte sich. Er fiel mit erschreckender Geschwindigkeit in die Tiefe.

»Was passiert hier?«, schrie Anah.

»Sei still«, befahl Morrigan, denn Älteste Quinn sprach noch immer ruhig über den Lärm hinweg, und Morrigan wollte kein Wort verpassen.

Der Absturz endete abrupt, und der Raum bewegte sich jetzt ruckartig vorwärts, wie ein Zug in einem Tunnel, sodass sie gegen die hintere Wand geschleudert wurden.

»Über viele Jahrhunderte und durch unermüdliche, sorgfältige Arbeit ist es uns gelungen, einige der monströsen Bewohner von Nevermoor unter unsere Kontrolle zu bringen«, fuhr die Älteste fort, während der Raum weiter vorwärts preschte. »Dabei haben wir uns einer Kombination aus Hexerei, Zauberei, roher Gewalt und, in manchen Fällen, guter alter Diplomatie und Verhandlungskunst bedient. All das geschieht im Geheimen, um unsere Stadt vor den tödlichen und chaotischen Mächten zu schützen, die ihre Bewohner bedrohen.«

Erneut erfolgte ein abrupter Halt, und sie wurden gegen die rechte Seitenwand geworfen, als der Raum die Richtung änderte.

»Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben«, stöhnte Hawthorne.

»Wag es ja nicht!«, schrie Cadence ihn an.

Ohne etwas von dem Drama mitzubekommen, das sich im Klassenraum abspielte, fuhr Ältere Quinn fort: »Einige der Bedrohungen, die ihr gerade eben gesehen habt, unterliegen der strengen Regulierung durch die Wundersame Gesellschaft. Beispielsweise die Vool – diese gestaltwandlerischen, vogelartigen Kreaturen, die im Film in den Bäumen hockten. Die bösartige und weitverbreitete Spezies der Vool bedrohte einst das Leben der Bewohner Nevermoors. Es hat über fünfzig Jahre gedauert, aber jetzt haben wir ihre Population – und ihr Verhalten – im Griff. Die Vool sind wahrscheinlich unser größter Erfolg. Von einigen anderen Monstrositäten, die ihr gesehen habt, kann man das leider nicht behaupten. Aber nach Jahrhunderten umsichtiger Diplomatie haben sie sich unserer Sache angeschlossen und werden von der Gesellschaft als eine Kraft des Guten zum Schutz von Nevermoor und dem Freistaat akzeptiert. Die Bäume des Wimmerwalds beispielsweise waren geladene Gäste bei eurer Einführungszeremonie, bereit und begierig, an dem teilzunehmen, was wir als wichtiges Ausbildungsinstrument für unsere neuesten Mitglieder erachten. Und schließlich konnten wir bei einigen der Monster in dieser Demonstration die Vorhersehbarkeit ihres Verhaltens ausnutzen. Die Kreaturen, die ihr vor den Toren der Wungesell gesehen habt, sind Schlinghule. Wir verhandeln nicht mit Schlinghulen, denn Diplomatie hilft bei ihnen nicht. Glücklicherweise sind sie berechenbar und können sowohl gesteuert als auch vermieden werden. Wir tun unser Bestes … Eure Einführungsfeier war eine sorgfältig manövrierte Abfolge von Ereignissen, um aufzuklären und zu informieren, und wir hoffen, dass ihr nun versteht, was wir als Organisation zu erreichen versuchen.«

Während dieser langen Rede änderte der Raum noch mehrere Male die Richtung – scharf links, nach oben, wieder links, rechts und erneut nach unten. Es fühlte sich an, als wären sie meilenweit mit immer größerer Geschwindigkeit gereist, doch schließlich kam der Raum zum Stehen, und das Licht ging wieder an.

Morrigan öffnete die Augen. Gruppe 919 saß auf dem Boden, den Rücken an die Wand gepresst, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Keiner sagte etwas.

Dann schwang die Tür auf und Älteste Quinn betrat den Klassenraum. Sie stutzte ein wenig, als sie die Schüler auf dem Boden sitzen sah.

»Meine Güte«, sagte sie und zeigte nach oben zu den Sicherheitsbügeln an der Decke, die keinem von ihnen aufgefallen waren. Mit dem Zeigefinger deutete sie einen Haken an. »Hat denn keiner von euch einen Schirm mitgebracht?«

Morrigan schloss die Augen wieder und hoffte inständig, ihr Mittagessen würde da bleiben, wo es war.

 

Leicht angeschlagen und völlig perplex, folgte Gruppe 919 der Ältesten Quinn aus dem winzigen Raum und durch einen langen, hell erleuchteten Gang. Er war breit und ziemlich prächtig, gesäumt von Porträts ehemaliger Ältester und Gasleuchtern, und erinnerte Morrigan an das Hotel Deucalion.

»Begrenzen und ablenken ist wie der Versuch, tausend Löcher mit nur zehn Fingern abzudichten«, erklärte Älteste Quinn und schlurfte schneller durch den Gang, als Morrigan ihr zugetraut hätte. »Es ist ein endloser, undankbarer, schmutziger, gefährlicher und eintöniger Job, aber einer, den nur wir verrichten können. Und jetzt habt auch ihr dieses Privileg.«

Sie drehte sich um und schaute zu den Schülern, die hinter ihr her eilten.

»Ich weiß, was ihr euch jetzt fragt. Das Gleiche, was sich jede neue Gruppe fragt. ›Was bedeutet das für uns?‹ Seid ihr unwissentlich in eine Armee eingezogen worden, um den Rest eures Lebens damit zu verbringen, gegen die Mächte der Dunkelheit, gegen die Kreaturen der Nacht zu kämpfen?«

Eigentlich hatte Morrigan sich diese Frage gar nicht gestellt, aber jetzt schon.

»Nun, vielleicht ist es so. Falls ihr das wollt. Falls dies das ist, was ihr gut könnt. Genauso gut wäre es aber auch möglich, dass ihr keines dieser schrecklichen Wesen jemals wiedersehen werdet. Vielleicht ist es euer Schicksal, eure lebenslange Aufgabe in der Wundersamen Gesellschaft, die Dunkelheit auszugleichen und der Welt Licht zu bringen, in welcher Form auch immer – Musik, Kunst, Politik oder durch die Zubereitung einer hervorragenden Lauch-Kartoffel-Suppe. Um die Menschen von der Dunkelheit abzulenken und zu verhindern, dass Nevermoor von ihr verschlungen wird.«

Am Ende des Gangs, kurz vor zwei Türen, blieb Älteste Quinn stehen und wandte sich zu Gruppe 919 um. Sie war einige Zentimeter kleiner als die meisten von ihnen, aber Morrigan hatte das Gefühl, dass eine Riesin auf sie hinabsah.

»Ich weiß nicht, welche Rolle jeder Einzelne von euch Schülern bei der lebenswichtigen Arbeit der Wundersamen Gesellschaft spielen wird«, sagte sie mit leiser Stimme. »Das liegt bei euch.«

Dann schwangen die Türen hinter ihr auf.

»Willkommen im Versammlungssaal.«

Kapitel DreiDer Versammlungssaal

Morrigan hatte den Eindruck, als würde sie das Trollosseum betreten. Nur mit dem Unterschied, dass sich dieser arenaähnliche Ort im Inneren eines Gebäudes befand und dunkler und kleiner war. Außerdem saßen auf den Rängen ziemlich wohlerzogene Wungesell-Mitglieder statt wilder Rüpel, die lauthals Trolle dazu anfeuerten, noch mehr Blut zu vergießen und sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen.

»Die wöchentliche Versammlung hat schon angefangen«, murmelte Älteste Quinn und führte sie zu einer Gruppe freier Plätze im hinteren Teil des Amphitheaters. »Gewöhnlich sitzen die Unterstufen-Gruppen mehr in der Mitte, wie ihr seht. Aber da ihr zum ersten Mal teilnehmt, könnt ihr von hier hinten alles aufmerksam verfolgen.«

Sie wartete, bis alle saßen, und ging dann eine Treppe hinunter in die Mitte des runden Saals, wo Ältester Saga ihr einen Platz freigehalten hatte. Ältester Wong stand auf dem Podium und hielt Hof.

Ein paar der älteren Gesellschaftsmitglieder drehten sich neugierig zu Gruppe 919 um, und vielleicht bildete Morrigan es sich ja nur ein, aber sie hatte das Gefühl, als würden ihre Blicke länger auf ihr ruhen als auf den anderen.

Sie spürte eine Last auf ihren Schultern. Die Rede von Ältester Quinn hallte noch in ihrem Kopf nach, und plötzlich wurde ihr bewusst, welchen Platz sie in der Wundersamen Gesellschaft einnahm.

Jetzt erkannte sie, warum sie so viel stumme Feindseligkeit von den älteren Schülern spürte, seit diese erfahren hatten, dass sie eine Wunderschmiedin war. Natürlich wussten alle in Nevermoor, dass Wunderschmiede gefährlich waren – aber nur die Wundersame Gesellschaft wusste, wie gefährlich, chaotisch und undurchschaubar. Auch wenn die Taten der Wunderschmiede viele Jahre zurücklagen, hatten sie Narben und unverheilte Wunden in der Stadt hinterlassen. Diese waren zwar für die meisten Bewohner nicht zu sehen, doch die Mitglieder der Wungesell wussten alles darüber – schließlich waren sie noch immer damit beschäftigt, das Chaos zu beseitigen.

Trotzdem, dachte Morrigan und setzte sich ein wenig aufrechter, um ihre gedrückte Stimmung zu vertreiben. Ich war das nicht. Ich habe diese Schlangendinger und Geierleute nicht erschaffen!

Es gefiel ihr nicht, mit Ezra Squall und allen anderen Wunderschmieden, die je gelebt hatten, in einen Topf geworfen zu werden. Sie war nicht länger das verfluchte Kind, das sich im zweiten Wohnzimmer von Crow Manor versteckte und Entschuldigungsbriefe für verdorbene Marmelade und gebrochene Hüften schrieb. Sie hatte das gleiche Recht, hier zu sein, wie alle anderen.

Morrigan hob das Kinn, richtete den Blick auf Ältesten Wong und ignorierte alle verstohlenen Seitenblicke.

»… und die Einsatzstaffel für Geografische Merkwürdigkeiten wird wieder einmal vertreten von Adriana Salter, Gruppe 871«, verkündete Ältester Wong. »Mrs Salter, sind Sie die Einzige aus der Staffel, die immer einspringt? Warum sehe ich die anderen nie bei dieser Versammlung? Sagen Sie Miles, dass wir ihn beim nächsten Mal erwarten. Vom Institut für Undertierkunde und Naturalismus, Dr. Valerie Bramble …«

Die Vorstellungen gingen noch eine Weile weiter, und Morrigan hatte Mühe, sich all die verschiedenen Einrichtungen zu merken. Als Ältester Wong ihre Namen aufrief, standen die Vertreter des Beirats für Außergewöhnliche Technologie und Infrastruktur, des Verbandes für Architektonische Anomalien und der Gobleian-Bibliothek von ihren Plätzen auf und winkten, um sich für den kurzen Applaus zu bedanken.

»… vom Bund der Forschungsreisenden«, fuhr Ältester Wong fort, und Morrigan spitzte die Ohren, »Kapitän Jupiter North, Gruppe 895 …«

Jupiter war hier! Sie hatte noch nie erlebt, dass ihr Förderer in die Wungesell kam, sofern es nicht um sie ging. Morrigan setzte sich noch aufrechter und schaute über die Reihen von Köpfen hinab, die viel höher aufragten als ihrer, und entdeckte eine dramatische Mähne aus leuchtend rotem Haar über einem strahlenden, halb von einem Bart verdeckten Gesicht. Jupiter hatte sich mit dem üblichen Sinn für Theatralik gekleidet, wie Morrigan bemerkte: schicke Weste und Hosen in schrillem Kaugummi-Pink, himmelblaues Hemd mit bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln und funkelnde, neonblaue Budapester.

Er weiß, was er tun muss, damit man ihn auch auf den billigen Sitzen sieht, dachte sie und lächelte zum ersten Mal an diesem Nachmittag.

Als Jupiter aufstand und in die Runde schaute, um sich für den Applaus (und sogar ein paar anerkennende Pfiffe) zu bedanken, der wesentlich begeisterter ausfiel als bei seinen Vorgängern, sondierte sein Blick den Saal. Morrigan wusste, dass er nach ihr Ausschau hielt. Es war ihr zu peinlich, vor all den Leuten die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber Hawthorne hatte da keine Skrupel.

»Jupiter! Wir sind hier oben!«, rief er und winkte ihm mit beiden Armen zu.

Morrigan rutschte auf ihrem Sitz ein paar Zentimeter tiefer und zog die Schultern so hoch, dass sie ihre Achselhöhlen als Ohrringe hätte tragen können. Zum Glück verhinderte der lärmende Applaus, dass jemand Hawthorne hörte, und sie riss ihn rasch an seinem Hemd zurück auf seinen Sitz.

»… und schließlich der Vertreter des Referats für Bestialische Kreaturen, Gavin Squires von Gruppe 899. Nun, Mr Squires, ich nehme an, Sie möchten beginnen?«

»Danke, Ältester Wong«, rief Gavin Squires, als er die Mitte des Saals betrat und einen kleinen Rollwagen mit seiner Ausrüstung vor sich herschob. Er war ein drahtiger, dynamischer Mann, dessen Körper mit wulstigen Narben bedeckt war. Da er an einem so kalten Tag eine Weste und Shorts trug, musste er wohl ziemlich stolz darauf sein, vermutete Morrigan. »Tag zusammen! Ich denke, ihr alle wisst, dass bald eine ganz besondere Zeit des Jahres anbricht …«

Ein paar im Publikum stöhnten und jemand rief sogar: »OHNEIN!«

Gavin grinste mit einem amüsierten kleinen Funkeln in den Augen. »Oh doch. OHDOCH, meine Freunde, die wunderbarste Zeit des Jahres steht uns bevor, dieser besondere Tag, auf den wir uns alle freuen, Ladys und Gentlemen. Ein Tag, den ihr alle kennt und liebt …«

Er schwieg einen Moment und hantierte mit seiner Ausrüstung herum. Eine Sekunde später wurde über den Sitzreihen das dreidimensionale Bild der hässlichsten Kreatur in den riesigen Raum projiziert, die Morrigan je gesehen hatte. Sie spürte, wie ihr Körper instinktiv zurückwich, und stellte fest, dass es nicht nur ihr so erging.

»… richtig, es ist die kurze, aber magische Brutzeit der nevermoorischen KANAL-SCHUPPENBESTIE!«

Morrigan hatte von der Schuppenbestie gehört, aber noch nie eine gesehen. Ehrlich gesagt, war sie sich auch nicht sicher gewesen, dass diese Kreatur wirklich existierte. Jetzt sah sie jedoch ein seltsames, gelblich weißes, schlangenartiges Wesen mit durchsichtigen Lidern über trüb-roten Augen. Sein dicker Bauch hing bis auf den Boden herab, und es besaß sechs echsenartige Beine, die in langen, scharfen Krallen endeten. Seine Schuppen waren rau und ungleichmäßig. An manchen Stellen fehlten sie sogar ganz, sodass die nackte, rosa Haut darunter zum Vorschein kam. Der lange, kräftig wirkende Schwanz peitschte bedrohlich hin und her. Und in dem weit aufgerissenen Maul blitzten unfassbar viele, scharfe Zähne und eine blauschwarze, gespaltene Zunge hervor.

»Schon gut, schon gut«, fuhr Gavin fort und hob beschwichtigend die Hände. »Ihr wisst, wie es läuft, Leute. Die Brutzeit der Kanal-Schuppenbestie bringt Hunderte hässliche, kleine Baby-Bestien mit ihren hässlichen, kleinen Giftzähnen in unser Abwassersystem, und wenn wir das Wachstum der Population nicht eindämmen, wird Nevermoor in ein paar Monaten von diesen riesigen Mama- und Papa-Versionen überrannt.« Er zeigte auf das dreidimensionale Bild. »Denn sie wachsen schnell, die miesen, kleinen Mistviecher … Ich weiß: Keiner von uns macht den Job gern – viele von uns wurden schon beim jährlichen Kanalfest verletzt, und der Gestank hängt einem noch tagelang in der Nase. Aber ein paar müssen sich melden und uns dabei helfen, diese kleinen Biester einzufangen, zu markieren und an einen Ort außerhalb der Stadt umzusiedeln. Wir sind sechzehn im Referat für Bestialische Kreaturen, und ich schätze, dass wir noch etwa ein Dutzend Helfer brauchen. Wenn sich nicht genügend Freiwillige melden, bestimme ich die Freiwilligen höchstpersönlich. Also, wer Lust hat, die Kanäle Nevermoors von ihrer schuppigsten Plage zu befreien, hebt bitte die Hand.«

Ein paar der Oberstufenschüler und eine Handvoll älterer Mitglieder hoben zögernd den Arm. Thaddeas Hand dagegen schoss so schnell in die Höhe, als würde sie von einem Motor angetrieben. Der Rest von Gruppe 919 starrte sie entsetzt an.

»Thaddea, du willst doch nicht ernsthaft da unten in den Abwasserkanälen rumkriechen, um diese … Kreaturen zusammenzutreiben?«, flüsterte Anah ungläubig.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich würde mir die Gelegenheit entgehen lassen, die Kanal-Schuppenbestie zu bekämpfen?«, flüsterte Thaddea zurück, wobei sie praktisch auf ihrem Platz auf und ab hüpfte, damit Gavin sie sah.

»Gut, das sind acht tapfere Freiwillige, vielen Dank«, sagte Gavin. »Und dazu nehme ich noch Mitty Hayward, Susie-Lee Walters, Phyllis Lightyear … ja, ich weiß, dass du letztes Jahr schon mitgemacht hast, deshalb will ich dich ja wieder dabeihaben. Hättest deine Sache beim ersten Mal eben nicht so gut machen sollen.«

Lautes Gelächter ertönte, als Phyllis eine unanständige Handbewegung in Gavins Richtung machte, die er jedoch ignorierte. »Ah! Dort oben haben wir ja noch eine Freiwillige … Wie heißt du, meine Liebe?«

Thaddea sprang von ihrem Sitz auf. »Thaddea die Unbeugsame vom Clan Macleod.«

Morrigan schaute von Hawthorne zu Cadence und wieder zurück und versuchte dabei, nicht zu kichern. Thaddea die was vom Clan Macleod?

»Geboren und aufgewachsen in den Highlands, im Dritten Gebiet des Freistaats«, fuhr Thaddea mit schallender Stimme fort. »Tochter von Mary der Herzfresserin und Malcolm dem Sanften, Enkelin von Deirdre der Todbringerin, Urenkelin von Eileen Unerbittlich, Ur-Urenkelin von Ailsa der Reizbaren, Ur-Ur-Urenkelin von Betty der Knochenbrecherin, Ur-Ur-Ur-Urenkelin von …«

»Also, Thaddea die Unbeugsame vom Clan Macleod«, unterbrach Gavin sie, hob die Hand und lächelte breit, »wenn du so versessen darauf bist, deine Gliedmaßen zu riskieren und tagelang nach Exkrementen zu riechen, bin ich der Letzte, der dich aufhält. Willkommen an Bord.«

Es folgten ein leicht entsetzter Applaus für Thaddea und allgemeine Erleichterung darüber, dass die Mission komplett war und keiner sich mehr freiwillig melden musste.

»Was für eine Spinnerin«, murmelte Cadence und klatschte ihr halbherzig Beifall.

»Eine Spinnerin, die nachts in die Kanalisation hinabsteigt und Monster jagt«, betonte Thaddea triumphierend, als hätte sie gerade den besten Job der Welt bekommen. Cadence warf Morrigan einen Blick zu, und beide schüttelten verständnislos den Kopf.

Gavin erteilte dem Team Kanal-Schuppenbestie Anweisungen für das Treffen am nächsten Tag, wo sie ihre Strategie besprechen würden. Dann überließ er Holliday Wu von der Abteilung für Öffentliche Ablenkung die Bühne.

Morrigan war sich nicht sicher, ob sie bislang schon einmal Grund gehabt hatte, das Wort »fabelhaft« zu verwenden, aber für Holliday Wu gab es keine andere Beschreibung. Sie trug die höchsten und glänzendsten Schuhe, die Morrigan je gesehen hatte, feuerroten Lippenstift und ein maßgeschneidertes, auberginefarbenes dreiteiliges Kostüm. Unter ihrem hohen, glatten schwarzen Pferdeschwanz war ihr Kopf rasiert, und der äußere Rand ihres linken Ohrs war mit dicken Diamantsteckern verziert. Sie war noch besser gekleidet als Jupiter. Holliday Wu war einfach fabelhaft.

»Das Team der Außergewöhnlichen Technologie wird das gesamte Abwassersystem von Nevermoor und das Wundergrundnetz stilllegen, während das Referat für Bestialische Kreaturen Jagd auf diese widerlichen Dinger macht«, verkündete sie ohne große Vorrede. »Gavin hat mir versichert, dass er den Job in zwei bis drei Stunden erledigt haben wird. Die Aktion beginnt in der Abenddämmerung, weil die hässlichen Kanaldingsda dann am aktivsten und am einfachsten zu finden sind. Deshalb brauchen wir eine massive Ablenkung über alle Stadtbezirke hinweg, die eine Stadt voller Menschen drei Stunden zur wochenabendlichen Stoßzeit beschäftigt, während der sie keine Züge benutzen oder die Klospülung betätigen können. Keine leichte Aufgabe, und eine Massenpanik ist das Letzte, was wir gebrauchen können.« Holliday projizierte einen Stadtplan von Nevermoor in den Raum, der an verschiedenen Stellen mit einem großen, roten X markiert war. »Außerdem müssen wir sicherstellen, dass die Bevölkerung von diesen dreizehn Orten ferngehalten wird, die vom Referat für Bestialische Kreaturen als Risikobereiche ausgewiesen wurden – Brut-Hotspots des nevermoorischen gruseligen Kotzdings. Wir müssen so viele Leute wie möglich von diesen Orten fortbringen, einschließlich derer, die dort wohnen. Und wie üblich …«

»Warum?«, rief Morrigan, noch bevor sie überhaupt bemerkte, dass sie den Mund aufgemacht hatte. Es wurde still im großen Saal, und alle drehten sich zu ihr um.

»Warum was?«, fragte Holliday und runzelte genervt die Stirn.

Morrigans Wangen glühten. Die Frage hatte schon eine Weile in ihrem Hinterkopf rumort, seit der Ansprache von Ältester Quinn an Gruppe 919. Aber sie hatte natürlich nicht vorgehabt, sie laut auszusprechen. Ihr Blick huschte zu Jupiter, der sie anlächelte und kurz ermutigend nickte. Sie räusperte sich und setzte sich kerzengerade.

»Warum … müssen wir die Leute ablenken?«

In den vorderen Reihen kicherten einige, aber die meisten wirkten nur verblüfft. Holliday kniff jedoch argwöhnisch die Augen zusammen.

»Soll das ein Scherz sein?«

»Nein!«, versicherte Morrigan rasch. »Ich meine nur … Warum können die Leute nicht die Wahrheit über Nevermoor erfahren? Sie leben hier. Wäre es nicht irgendwie … einfacher? Und vielleicht auch sicherer? Wenn alle es wüssten, könnten sie Ruhe bewahren und … na ja … fernbleiben.«

Sie verstummte, als ihre Frage lautes Gelächter auslöste. Viele der älteren Gesellschaftsmitglieder schüttelten den Kopf.

Aber gerade, als sie wünschte, ein großer Greifvogel möge herbeifliegen, sie von ihrem Sitz reißen und ganz weit wegbringen, erhob sich Ältester Saga, der Bullwun, und brachte alle mit einem Blick zum Schweigen. Ein gebieterischer Blick, den die enormen Hörner des Ältesten, seine breite, zottlige Brust und die einschüchternde Art, wie er mit den Hufen stampfte, noch beeindruckender machten.

»Das ist keine so abwegige Frage«, sagte er mit seiner tiefen, grollenden Stimme. »Es gibt Anlässe, bei denen wir die Einwohner der Stadt informieren – zumindest einige. Denjenigen, die es wissen müssen. Unsere internen Ordnungskräfte beispielsweise arbeiten regelmäßig mit der Stadtpolizei von Nevermoor und den Behörden aller Sieben Gebiete des Freistaats zusammen. Manchmal übermitteln wir sogar Informationen an das Büro des Premierministers, das sie an die Öffentlichkeit weitergibt, wenn man es für erforderlich hält. Aber das ist sozusagen der letzte Ausweg.«

Morrigan schluckte, konnte aber nicht anders, als erneut zu fragen: »Warum?«

»Weil dadurch, Miss Crow, dass man den Leuten sagt, sie seien in Gefahr, manchmal eine noch größere Gefahr entsteht. Die Menschen sind gefährlich, wenn sie Angst haben. Vergessen Sie das nicht.«

Ältester Saga richtete die letzten Worte an alle und fixierte sie mit seinem typischen, unerschütterlichen Blick, bevor er das Wort wieder Holliday Wu überließ, die weitersprach, als habe es keine Unterbrechung gegeben.

»Wie üblich erwarten wir Gegenreaktionen. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber wir können zumindest dafür sorgen, dass die Leute uns nicht im Weg stehen, verletzt werden und uns alles vermasseln.« Holliday verschränkte die Arme und schwang ihren Pferdeschwanz über die Schulter. »Irgendwelche Vorschläge?«

»Wie wäre es mit dem, was wir in der letzten Brutzeit gemacht haben?«, rief einer der älteren Schüler. »Ein Feuerwerk? Dadurch haben alle nach oben gesehen statt nach unten.«

Holliday schüttelte kurz, aber energisch den Kopf. »Das hat die Kanal-Biester so sehr erschreckt, dass sie sich noch tiefer in ihr Versteck zurückgezogen haben. Die dümmste Idee, die wir je hatten, um ehrlich zu sein – zu laut und zu teuer.« Ihre Miene wirkte kühl, aber ein Muskel zuckte an ihrem Kiefer. Morrigan sah, dass die Erinnerung an diesen Misserfolg sie noch immer wurmte. »Sonst noch jemand?«

Mehrere Vorschläge wurden von der Galerie nach unten gerufen – eine Parade, ein Stromausfall in der ganzen Stadt, ein gezielter Tornado –, doch Holliday schmetterte sie alle sofort ab.

»Kommt schon, Leute, ihr habt nur die Aktionen genannt, die wir in den letzten vier Jahren durchgeführt haben. Wir brauchen etwas Neues.«

»Wir könnten dem Zweiten Gebiet den Krieg erklären!«

Holliday warf der Person, von der dieser Vorschlag kam, einen vernichtenden Blick zu. Es überraschte Morrigan nicht im Geringsten, dass er von dem abscheulichen Baz Charlton stammte, Cadences Förderer.

»Idiot«, flüsterte Cadence neben ihr.