New Dragon City – Ein Junge. Ein Drache. Eine verbotene Freundschaft - Mari Mancusi - E-Book

New Dragon City – Ein Junge. Ein Drache. Eine verbotene Freundschaft E-Book

Mari Mancusi

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Beschreibung

Tauche ein in ein Abenteuer, so spannend, wild und wunderschön wie der Ritt auf dem Rücken eines Drachen. Seit vor fünf Jahren plötzlich Drachen die Menschen attackiert haben, hat sich Noahs Welt komplett verändert. Nun lebt der 12-Jährige im völlig zerstören New York City mit einer Gruppe Überlebender auf engem Raum zusammen, Lebensmittel sind knapp. Jederzeit lauert die Gefahr eines Drachenangriffs, sodass die Menschen sich nur ans Tageslicht wagen, während die Drachen Winterschlaf halten. Für Noah ist völlig klar, wer die Schuld daran trägt, dass sein Leben diese schreckliche Wendung genommen hat: die Drachen. Niemand ist vor ihnen sicher und niemals wird Noah sich wieder unbeschwert durch die Stadt bewegen können, niemals wieder einen Sommer im Freien verbringen dürfen. Doch dann trifft Noah auf einen jungen Drachen - und zwischen den beiden entsteht eine verbotene Freundschaft. Noah beginnt alles in Frage zu stellen, was er zu wissen glaubte. Müssen Menschen und Drachen überhaupt verfeindet sein? Und vor allem: Wie kann er den zerstörerischen Hass beenden?  Erfolgsautorin Mari Mancusi erzählt mit "New Dragon City" eine fesselnde Drachen-Fantasy für Leser*innen ab 10 Jahren und alle Fans von "Drachenzähmen leicht gemacht", "Eragon" und "Drachenreiter".

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Seitenzahl: 378

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Mari Mancusi

wollte immer einen Drachen als Haustier haben. Leider waren die Kosten für die Feuerversicherung ein bisschen zu hoch und ihr Haus ein bisschen zu klein, deshalb hat sie stattdessen lieber ein Buch über Drachen geschrieben. Wenn sie nicht schreibt, ist sie gerne auf Reisen, macht Cosplay, spielt Videospiele und schaut kitschige (und schaurige) Horrorfilme. Sie lebt mit Mann, Tochter und zwei Hunden in Austin, Texas.

Für Diana. Drachenmutter und beste aller Freundinnen.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »New Dragon City«beiLittle, Brown and Company, ein Imprint vonHachette Book Group Inc, New York.

1. Auflage 2024

© für die deutschsprachige Ausgabe: 2024 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by Marianne Mancusi Beach

Cover art © 2022 by Vivienne To. Cover design by Jenny Kimura.

Cover copyright © 2022 by Hachette Book Group, Inc.

This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, a division of Hachette Book Group Inc.,

New York, New York, USA. All rights reserved.

Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Köbele

Text: Mari Mancusi

Innenvignetten: Vivienne To

Umschlagtypografie: Juliane Lindemann

Lektorat: Johanna Prediger

Layout und Satz: Malte Ritter

E-Book ISBN 978-3-401-81073-7

Besuche uns auf:

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Kapitel1

»Die Bibliothek? Schon wieder? Echt jetzt?« Maya sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wir aus dem alten Hotel auf den Gehsteig hinaustraten.

Vor uns erstreckten sich die Überreste dessen, was früher mal weltweit als Times Square bekannt war. Die Sonne stand hoch am Himmel und in der warmen Luft hing ein lieblicher Duft mit nur einem Hauch von Asche, was wir einer leichten Brise zu verdanken hatten. Ein perfekter Apriltag in New YorkCity. Ich hängte mir den leeren Rucksack über die Schulter, sprang auf eine von Rissen durchzogene Betonabsperrung und hüpfte auf der anderen Seite wieder hinunter.

»Was soll ich sagen?« Ich schenkte ihr ein teuflisches Grinsen. »Mir ist der Lesestoff ausgegangen.«

»War ja klar«, stöhnte sie und wich einem geparkten Auto mit eingeschlagener Windschutzscheibe aus, während wir den Gehsteig verließen und die 42ndStreet entlangliefen. Maya spottete immer gern über meine angebliche Bücherbesessenheit und meine Superkraft, jedes Buch in Lichtgeschwindigkeit zu verschlingen. Aber ich wusste, tief in ihrem Inneren machten ihr unsere häufigen Ausflüge zur New YorkPublic Library nichts aus. Schon allein, weil es ein supercooles Gebäude war: Draußen standen riesige Marmorlöwen Wache und drinnen warteten endlose Bücherstapel nur darauf, ausgeliehen zu werden.

Maya mochte Bücher auch, allerdings blieb ihr neben der Arbeit im Laden ihrer Familie nicht viel Zeit dafür. Ihre Mutter hatte eine goldene Regel: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen – und das galt auch fürs Lesen.

Meine Mutter hingegen war in unserem früheren Leben Lehrerin gewesen und hatte dementsprechend viel Wert aufs Lesen gelegt. Sie hatte sogar eine kleine Bibliothek mit unseren Lieblingsbüchern im Familienbunker eingerichtet, als wir vor fünf Jahren in den Untergrund gegangen waren. Als wir drei Jahre später wieder rauskamen, gab es darin immer noch Bücher, die ich nicht gelesen hatte. Mom hatte einige von ihnen mitnehmen wollen, doch Dad hatte darauf bestanden, stattdessen mehr lebensnotwendige Dinge wie Wasser und Nahrung einzupacken. Womit er natürlich recht hatte. Mein Dad war schon immer eher praktisch veranlagt. Aber ich wusste, wie traurig es Mom gemacht hatte, ihre kostbare Sammlung zurücklassen zu müssen. Zu wissen, dass sie für alle Zeit ungelesen bleiben würden, während sie langsam Staub ansetzten.

»Na schön. Wir machen einen Abstecher in die Bibliothek«, willigte Maya ein. Dann hob sie mahnend den Zeigefinger. »Aber im Ernst, Noah: nicht mehr als drei Bücher. Letztes Mal hast du so viele mitgenommen, dass du keinen Platz mehr für richtige Vorräte hattest.«

»Als hättest du dir nicht den halben Rucksack mit Schokolade vollgepackt!«, erwiderte ich grinsend.

Sie verdrehte die Augen. »Es war Valentinstag! Wir brauchten sie für den Laden!«

»Für den Laden! Na klar.« Ich warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Und dir würde natürlich niemals in den Sinn kommen, selbst etwas davon zu essen, oder?«

Sie versetzte mir einen spielerischen Schubs. Ich wich tänzelnd aus und hopste die leere 42nd Street entlang, wobei ich leichtfüßig über die herumliegenden Müll- und Schutthaufen hüpfte. Es war wirklich ein wunderschöner Tag. Perfektes Wetter für einen Beutezug.

Maya und ich waren Sammler, genau wie einige andere Kinder und Jugendliche in unserer Gruppe. Wir durchstreiften die Stadt auf der Suche nach Essenskonserven, Batterien, Medikamenten und anderen haltbaren Produkten, die wir zurück in die Basis brachten, um sie dort gegen andere Dinge einzutauschen. Es war ein bisschen wie eine Schatzsuche. Man wusste nie, welche zurückgelassenen Überreste man aus der früheren Welt finden würde. In einem alten Comicbuchladen stieß ich mal auf eine supertolle, limitierte Zelda-Figur. Auf der Schachtel stand, dass nur hundert Stück davon hergestellt worden waren, was bedeutete, dass sie früher vermutlich richtig viel wert gewesen war. Jetzt konnte ich sie einfach mitnehmen.

Mom hatte es nie gemocht, dass ich auf Beutejagd ging. Sie hatte Angst gehabt, es sei zu gefährlich. Man konnte nie wissen, ob die Bodendielen vor einem noch stabil oder über die Jahre hinweg brüchig und morsch geworden waren. Du könntest dir ein Bein brechen, mahnte sie, und wer soll das dann richten? Es gab zwar noch Krankenhäuser, aber keine Ärztinnen oder Ärzte mehr, die darin hätten arbeiten können. Und auch die Medikamente, die wir hatten, waren meist seit Jahren abgelaufen. So konnte schon ein simpler Kratzer von einem rostigen Stück Metall zum Tod führen. Woran mich Mom immer wieder gern erinnert hatte.

Doch Mom war nicht mehr da. Und Dad sorgte sich nicht um alberne Dinge wie …

Kriaaaa!

Plötzlich durchbrach ein gellendes Kreischen die Stille. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Verstohlen blickte ich zu Maya hinüber, um mich zu vergewissern, dass sie es auch gehört hatte. Sie stand so still wie eine Bronzestatue, das Gesicht aufwärtsgerichtet, und suchte mit weit aufgerissenen Augen den Himmel ab. Mein Herz raste.

War das …?

Konnte es sein, dass …?

Ich schluckte und versuchte, meine zitternden Hände ruhig zu halten. Schlagartig waren sämtliche Gedanken an Bücher und sonnige Frühlingstage aus meinem Kopf verschwunden. Zurück blieben Furcht und Panik.

Das konnte nicht sein, oder? Unmöglich. Es war noch zu früh. Viel zu früh für …

Kriiiiaaaaa!

Maya fiel die Kinnlade herunter. Wenige Millimeter nur, doch das genügte, um meine größte Angst zu bestätigen. Im nächsten Moment schob sich ein dunkler Schatten zwischen uns und die Mittagssonne. Gleich darauf drang das dumpfe Schlagen ledriger Flügel an meine Ohren. Es klang wie der unheilvolle Rhythmus einer todbringenden Trommel.

Frump.

Frump.

Frump.

Jepp. Eindeutig ein Drache. Ich brauchte nicht mal hinzusehen.

Es kostete mich alle Kraft, mich nicht zu bewegen, ja, kaum mit den Wimpern zu zucken, während die Angst sich wie ein Lauffeuer in meinem Körper ausbreitete. Wenn es uns gelang, vollkommen reglos dazustehen, würde der Drache uns vielleicht nicht bemerken. Die Biester sahen schlecht und wir trugen Schwarz, was in den Trümmern der verkohlten Stadt die perfekte apokalyptische Tarnung bot.

Doch wenn wir uns rührten – nur einen winzigen Muskel –, würde er uns entdecken. Er würde sich auf uns stürzen.

Wir würden sterben.

Was machte er hier? Meine Gedanken rasten. Es war erst April. Uns hätte noch ein ganzer Monat bleiben sollen, bis sie aus dem Winterschlaf zurückkehrten. Genügend Zeit, um unsere Sachen zu packen und uns in die U-Bahn-Schächte zu begeben, wie wir es die letzten zwei Jahre gemacht hatten. Aber wenn sie jetzt schon wieder da waren …

Wir mussten die anderen warnen!

Schweiß rann mir über das Gesicht und brannte mir in den Augen, doch ich wagte es nicht, die Hand zu heben und ihn wegzuwischen. Stattdessen riskierte ich einen schnellen Blick nach oben, wobei ich hoffte, dass das Zucken meiner Pupillen nicht als Bewegung wahrgenommen würde. Der Drache zog hoch über uns anmutig seine Runden, als würde er durch den Himmel schwimmen. Es war ein großes Exemplar, wie ich mit Entsetzen erkannte. Möglicherweise sogar vollständig ausgewachsen. Die silbernen Schuppen blitzten und funkelten im Sonnenlicht gleißend hell. Selbst auf diese Entfernung konnte ich die Rauchkringel ausmachen, die aus seiner hässlichen Schnauze aufstiegen. Und ich wusste, wenn ich ihm irgendwie nah genug kommen würde, um seinen Bauch zu berühren, würde ich mir die Finger an dem schwelenden Feuer darin verbrennen.

Ich hatte schon fast vergessen, wie furchterregend sie waren. Ich hatte seit Jahren keinen Drachen mehr gesehen. Nicht seit dem einen Mal, kurz nachdem wir aus dem Familienbunker gekommen und zu einer Gruppe Überlebender gestoßen waren, die den Überwinterungszyklus der Drachen penibel dokumentiert hatten. Sie hatten uns beigebracht, wann es sicher war, nach draußen zu gehen, und wann wir lieber in Deckung bleiben sollten.

Heute hätten wir eigentlich sicher sein sollen.

Abwarten, einfach nur abwarten, rief ich mir ins Gedächtnis, um meinen Herzschlag wieder halbwegs unter Kontrolle zu bringen. Uns war unzählige Male eingeschärft worden, wie wir uns zu verhalten hatten, sollten wir einem Drachen begegnen. Doch nun schien alles, was ich je gelernt hatte, meinen Kopf fluchtartig zu verlassen, während das flaue Gefühl in meinem Magen stärker und stärker wurde. Er fliegt bald weiter und dann können wir zum Hotel zurückrennen. Dort packen wir schnell zusammen und verkrümeln uns unter die Erde, bevor der Rest von ihnen hier auftaucht.

Er hatte uns nicht gesehen.

Er würde jeden Moment abziehen.

Kurz schien es, als sollte ich recht behalten. Der Drache schnaubte laut und stieß eine schwarze Wolke aus. Rauch stieg mir in die Nase. Mit angehaltenem Atem sah ich zu, wie er den Kopf senkte und seine Flugroute änderte. Er hörte auf zu kreisen und machte sich bereit weiterzufliegen.

Und dann nieste Maya.

Abrupt riss der Drache den Kopf herum und richtete seine großen, wachsamen Augen auf uns. Ein gieriges Zittern ging durch seine Schnauze, wohl weil er uns gewittert hatte. Mir drehte sich der Magen um. Ein entsetztes Keuchen drang aus meiner Kehle.

Er hatte uns entdeckt.

Wir waren so gut wie tot.

»Lauf, Maya!«, schrie ich und stürzte Hals über Kopf in die nächstbeste Seitengasse. Meine Füße trommelten laut, viel zu laut, auf den Asphalt, während ich versuchte, den Haufen aus Müll und verkohltem Schutt auszuweichen. Mein Atem ging stoßweise, während ich angestrengt lauschte und betete, dass Maya hinter mir war. Zurückzublicken traute ich mich nicht. Ich konnte fühlen, dass der Drache immer noch über uns schwebte und versuchte, uns aufzuspüren. Die hohen Gebäude gaben uns ein wenig Deckung, doch bei Weitem nicht genug. Früher oder später würde er uns finden. Und dann waren wir Toast. Buchstäblich.

Plötzlich tat sich vor mir ein Hindernis auf. Ein hoher Maschendrahtzaun schnitt uns den Weg ab. Mit pochendem Herzen wirbelte ich herum und ließ den Blick über die umstehenden Gebäude huschen, in der Hoffnung auf eine offene Tür. Eine eingestürzte Wand.

Irgendwas.

Egal was.

Maya holte mich ein und rannte, ohne anzuhalten, an mir vorbei.

»Komm schon!«, schrie sie und nahm den Zaun in Angriff. Sie war klein, aber kräftig und kletterte so geschickt wie eine Straßenkatze daran hinauf. Ich versuchte, ihr zu folgen, war jedoch so außer Atem, dass mir selbst das Luftholen Mühe bereitete. Vor meinem inneren Auge zogen all die Male vorbei, die mein Vater mit mir geschimpft hatte, weil ich sein tägliches Work-out ausgelassen und lieber in meinem Zimmer gelesen hatte. Damals war es mir vorgekommen, als regte er sich nur unnötig auf …

Jetzt könnte es mich das Leben kosten.

Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren. Auf meine Finger, die sich um das Metall krallten. Auf meine Zehen, die sich, so gut es ging, in die einzelnen Maschen bohrten, während ich mich hochzog.

Hoch.

Hoch.

Schließlich erreichte ich die obere Kante und warf mich hinüber. Ich schlug mit so viel Schwung auf dem Boden auf, dass ich fast mit dem Gesicht gebremst hätte, als meine Füße auf den Asphalt prallten. Maya fing mich in letzter Sekunde auf und sah mich besorgt an. Ich konnte die Frage in ihren Augen lesen.

Was sollen wir tun?

Mit ohrenbetäubendem Rauschen schob sich der Drache in unser Blickfeld. Er flog jetzt tiefer, wodurch ich seine rasiermesserscharfen Zähne und die geschwärzte Zunge ausmachen konnte, als er das Maul zu einem weiteren Schrei öffnete. Der Drache musste sich nicht um Zäune oder herumliegende Trümmer scheren. Er musste uns bloß ins Visier nehmen und seinen tödlichen Zorn entfesseln.

Ich kniff die Augen zu. Das konnte ich nicht mit ansehen.

»Es ist offen! Noah! Es ist offen!«

Ich riss die Augen wieder auf. Maya stand vor einer Tür, hielt sie auf und winkte mir mit der anderen Hand hektisch zu. Ohne zu zögern, stürmte ich hindurch und in den dunklen Raum, der dahinterlag. Ich betrat nicht gern verlassene Wohnungen – wo der Geruch von Rauch und Tod noch immer in der Luft hing, auch nach so vielen Jahren. Doch nun, in diesem Moment? War das unsere einzige Hoffnung.

Maya knallte die Tür hinter sich zu und wirbelte zu mir herum. »Ins Bad! Schnell!«, befahl sie.

Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Wir rannten durch die Wohnung, wobei wir versuchten, möglichst nicht nach links und rechts zu gucken. Wer wusste schon, welche unerwünschten Anblicke uns dort erwarteten? Im Badezimmer fanden wir eine große, frei stehende Badewanne vor. Ein Glück – so etwas gab es längst nicht in jeder New Yorker Wohnung. Wir sprangen hinein, machten uns so klein, wie wir konnten, und drehten den Wasserhahn auf. Ein dünnes Rinnsal plätscherte uns entgegen.

Ja! Noch mehr Glück.

Die Wohnungstür flog auf. Flammen schossen herein und verschlangen gierig alles, was ihnen im Weg stand. Der Drache versuchte, uns auszuräuchern – damit ihm seine Beute pünktlich zum Abendessen ins Maul spazierte. Doch wir zwangen uns zu bleiben, wo wir waren. Wir duckten uns noch etwas tiefer und spritzten uns mit dem Wasser nass, während wir beteten, dass es uns ausreichend Schutz bieten würde. Die Temperatur in der Wohnung stieg rapide an und ich fing an zu schwitzen. Es war so heiß, dass meine Augen schmerzhaft zu jucken begannen. Ich spritzte mir noch mehr Wasser auf die Arme, um mich irgendwie abzukühlen. Der Rauch quoll unter der Tür hindurch ins Badezimmer und brachte mich zum Husten. Maya gab mir ein nasses Handtuch und ich hielt es mir vor die Nase.

»Was macht der hier?«, flüsterte sie. Tränen strömten ihr über die Wangen – was wahrscheinlich nur zum Teil am Rauch lag. Doch es half mir, zu sehen, dass sie genauso viel Angst hatte wie ich. »Die sollten jetzt noch nicht wach sein!«

Ich nickte grimmig. Aber eine Antwort hatte ich auch nicht. Sie hatte recht – alle wussten, dass die Drachen Winterschlaf hielten und erst Ende Mai wieder erwachten, wenn wir Menschen uns längst aus den Straßen der Stadt in die unterirdischen U-Bahn-Schächte zurückgezogen hatten.

Warum war dieser Drache also im April schon munter? Und galt das auch für die anderen?

Von draußen kam ein kräftiges Schnauben. Es klang irgendwie genervt. Ich schielte zu Maya hinüber und entdeckte einen schwachen Hoffnungsschimmer in ihren Augen. Der Drache konnte uns nicht finden, was ihn spürbar frustrierte. Vielleicht würde er aufgeben und verschwinden. Vielleicht würden wir das hier ja doch überleben.

Vielleicht …

Plötzlich erbebte der Boden unter uns, als der Drache sich mit seinen mächtigen Hinterbeinen abdrückte und in den Himmel aufschwang. Einmal mehr ertönte das ohrenbetäubende Rauschen seiner Schwingen. Doch diesmal war ich erleichtert, es zu hören.

Der Drache trat den Rückzug an. Wir waren sicher. Für den Moment jedenfalls.

»Komm, lass uns verschwinden«, flüsterte ich, während ich aus der Badewanne krabbelte. Ich hielt Maya die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie nahm sie und ich spürte, dass sie immer noch zitterte. Und ich auch. Wie Espenlaub, wenn ich ehrlich war.

Hastig verließen wir die Wohnung. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Draußen in der Gasse ließ ich das Handtuch sinken und dem Husten, den ich die ganze Zeit unterdrückt hatte, freien Lauf. Mein Blick wanderte zum Himmel hinauf.

Er war leer. Einzig die Sonne und ein paar flauschige Wölkchen waren zu sehen. Ein perfekter Apriltag in New York City.

Der Drache war fort.

Fürs Erste.

Maya schaute mich an. »Das war knapp.«

»Zu knapp.« Ich schluckte und warf erneut einen ängstlichen Blick gen Himmel. Der Drache mochte verschwunden sein, doch ich machte mir nichts vor. Er würde zurückkehren. Aber nicht allein.

Was bedeutete, dass wir abhauen mussten. Und zwar schnell.

»Komm«, sagte ich. »Gehen wir die anderen warnen.«

Kapitel2

Niemand hätte die Drachen-Apokalypse vorhersehen können.

Sicher, Hollywood hatte uns vor allen möglichen Weltuntergangsszenarien gewarnt. Zombies? Klar. Die Pest? Alter Hut. Gigantische Meteore, die mit der Erde kollidieren und sie aus ihrer Umlaufbahn katapultieren, was mit spektakulären und oscarverdächtigen Spezialeffekten einhergeht? So amerikanisch wie der Unabhängigkeitstag.

Aber riesige, feuerspuckende Bestien aus alten Legenden, die über die Erde hereinbrechen und alles auslöschen, was ihnen in die Quere kommt? Die hatte niemand auf dem Zettel. Und so war auch niemand vorbereitet, als es passierte.

Okay, bis auf meinen Dad natürlich. Der hatte schon lange vor meiner Geburt angefangen, sich für irgendeine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes vorzubereiten. Und als die Drachen kamen, taten wir das, was jede anständige Prepper-Familie tun würde: Wir verkrochen uns in Dads unterirdischem Bunker in Cold Spring, New York, und warteten, bis das Schlimmste vorüber war. Wir aßen Konserven, lasen Bücher und sahen Filme auf etwas, das Mom »DVD-Player« nannte. Ich hatte mein eigenes Zimmer, das klein, aber gemütlich war. Und es gab sogar einen Trainingsraum mit einer Hantelbank, damit wir fit und in Form bleiben konnten. Nicht, dass wir hier drinnen verweichlichen, hielt mein Dad mir jedes Mal vor, wenn ich versuchte, mich vor einer Trainingseinheit zu drücken, um mein Buch fertig zu lesen. Am Ende überleben nur die Starken.

Das klingt jetzt vielleicht cool, aber glaubt mir, das war es nicht. Ich meine, stellt euch vor, drei Jahre lang zu Hause eingesperrt zu sein – und nicht mal für einen kurzen Spaziergang rauszukönnen. Von sieben bis zehn hatte ich kein FaceTime. Kein Minecraft. Kein WhatsApp. Keine Kinder in meinem Alter, mit denen ich hätte spielen können. Keine Schule, nicht mal virtuell. Es gab nur mich und meine Eltern, die ständig um mich herum waren – keine Chance, ihnen zu entkommen. Das führte so weit, dass ich mich manchmal fragte, ob es nicht besser wäre, draußen bei den Drachen unser Glück zu versuchen.

Schlussendlich blieb uns keine andere Wahl. Nach drei Jahren ging uns nämlich das Essen aus und wir waren gezwungen, an die Oberfläche zurückzukehren. Und was wir dort vorfanden, verschlug uns glatt die Sprache. Vor uns lag eine völlig neue Welt.

Ihr müsst das verstehen. Zu dem Zeitpunkt, als wir unter die Erde gingen, hatten alle die Drachen für eine vorübergehende Plage gehalten. Die Regierungen aller Länder hatten versprochen, sich darum zu kümmern – ihre Armeen würden die Biester kurz und klein schießen. Wir müssten nur abwarten, hatte mein Dad versprochen. Dann würde alles wieder wie früher. Rückblickend ist das fast schon zum Lachen. Dass wir wirklich geglaubt hatten, sie würden einfach verschwinden. Und die Welt würde zur Normalität zurückkehren.

Stattdessen war von der Welt, wie wir sie gekannt hatten, nichts mehr übrig. Die Drachen hatten mindestens die Hälfte der Bevölkerung ausradiert (nachdem viele steif und fest darauf beharrt hatten, es gäbe überhaupt keine Drachen, bis sie von ihnen zum Abendbrot verspeist wurden). Weitere fünfundvierzig Prozent, so schätzte mein Dad, waren verhungert oder an allen möglichen Krankheiten zugrunde gegangen. Die guten alten Wege eben, ins Gras zu beißen, wenn die Gesellschaft von heute auf morgen zusammenbricht.

Damit blieben noch etwa fünf Prozent Überlebende, quer über das ganze Land verteilt. Das vermuteten wir jedenfalls. Eine Volkszählung, die uns Genaueres hätte verraten können, ließ sich aus offensichtlichen Gründen nicht durchführen.

Wo waren die Drachen hergekommen? Das wusste niemand. Es gab keine Wikipedia mehr, in der wir hätten nachgucken können. Keine wissenschaftlichen Studien, die erklärten, wie diese mythologischen Kreaturen aus Fantasyromanen plötzlich im wahren Leben aufgetaucht waren und angefangen hatten, alles abzufackeln. Klar, Meinungen gab es eine Menge, solange das Internet noch funktionierte. Damals schien jeder, der einen Youtube- oder Tiktok-Account besaß, seine ganz eigene Theorie dazu zu haben. Ein paar Eier zum Beispiel, die seit der ersten Eiszeit in einem Gletscher eingefroren waren, bis ihn die Erderwärmung geschmolzen hatte. Regierungspläne zur Herstellung biologischer Massenvernichtungswaffen, bei denen etwas katastrophal schiefgelaufen war. Von den vollkommen abgedrehten Behauptungen ganz zu schweigen: Paralleluniversen, Zeitreisen, Aliens aus dem All. Was euch gerade so einfällt.

Letzten Endes spielte es jedoch keine Rolle, wo sie herkamen. Entscheidend war, dass sie hier waren.

Und dass die Menschheit zu einer gefährdeten Art geworden war.

»Komm schon!«, rief Maya und zerrte mich förmlich zurück auf den Times Square. Meine Mom war mal mit mir hier gewesen, noch vor der Apokalypse, und ich kann mich daran erinnern, wie ich mit ehrfürchtigem Staunen zu all den Neonlichtern und überlebensgroßen Werbeanzeigen hinaufgeblickt hatte, die auf gigantischen Bildschirmen hoch oben an den Fassaden der Wolkenkratzer flimmerten.

Nun flimmerte und leuchtete natürlich nichts mehr. Die Gebäude waren verkohlt und leer, die Schaufenster eingeschlagen und die Markisen hingen schlaff und von den durchziehenden Winterstürmen zerrissen herab. Überall standen ausgebrannte Autos und Taxis herum, manche mit offenen Türen, als sei jemand in letzter Sekunde hinausgesprungen, um einen verzweifelten Fluchtversuch zu unternehmen.

Als wenn das jemals etwas gebracht hätte …

Doch das Interessanteste am Times Square waren nicht die rußgeschwärzten Gebäude oder die verrosteten Straßenschilder, die auf Orte hinwiesen, die es schon lange nicht mehr gab. Es waren die vielen Wege, die die Natur gefunden hatte, um den Betondschungel zurückzuerobern. Grasbüschel und Wildblumen sprossen trotzig aus den Rissen im Gehsteig. Kletterpflanzen rankten sich an den Hauswänden empor, als gälte es, einen Wettlauf zu gewinnen. Und die Bäume der Stadt, einst so zurechtgestutzt, dass sie mehr tot als lebendig ausgesehen hatten, reckten frei und stark und stolz ihre Äste. Der Natur war es egal, dass wir Menschen nicht länger an der Spitze der Nahrungskette standen. Wenn überhaupt, schien sie ziemlich glücklich darüber zu sein.

Maya hielt vor einem Haus an der Straßenecke an. Früher hatte es als Hotel gedient, nun bot es unserem Grüppchen Überlebender ein Zuhause. Sie beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und atmete tief durch. »Wir haben es geschafft«, sagte sie.

»Jepp«, stimmte ich ihr zu, während ich den Himmel einmal mehr nach bedrohlichen Schatten absuchte. Doch die Luft schien rein zu sein.

Durch die breiten Türen eilten wir nach drinnen. In der Lobby war es dunkel und meine Augen brauchten einen Moment, um sich daran zu gewöhnen. Tagsüber machten wir das Licht nur an, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, denn wir versuchten, so viel Strom wie möglich zu sparen. Wir hatten zwar welchen, dank der Solaranlage, die jemand auf dem Dach installiert hatte, aber die Menge war begrenzt. Und damit mussten wir vor allem die lebensnotwendigen Dinge – wie die Sanitäranlagen und Wasserpumpen – rund um die Uhr am Laufen halten.

»Maya! Noah!«

Mayas Mutter kam hinter dem Tresen ihres kleinen Ladens hervor. Früher hatten die Hotelgäste dort Kaffee und Zeitschriften kaufen können, doch nun war er unsere Anlaufstelle für Dinge des täglichen Bedarfs: warme Kleidung, Nahrungskonserven, Batterien und Erste-Hilfe-Ausrüstung. Sie umfasste das Gesicht ihrer Tochter mit beiden Händen und drehte es hin und her. In ihrem früheren Leben war sie Firmenanwältin gewesen. Aber heutzutage, sagte sie gern, brauchten die Menschen Brot nötiger als Rechtsbeistand.

»Was ist los?«, fragte sie. »Ihr seht aus, als sei der Teufel hinter euch her.«

»Genau genommen war es ein Drache«, antwortete ich so beiläufig, wie ich konnte. Ich versuchte, es klingen zu lassen, als sei es keine große Sache. Als seien wir nicht vor zehn Minuten erst um Haaresbreite dem sicheren Tod von der Schippe gesprungen.

Mayas Mutter fiel die Kinnlade runter. Sie packte ihre Tochter, hob erst den einen, dann den anderen Arm an und untersuchte sie gründlich von allen Seiten. Als würde sie nach Brandwunden oder so was Ausschau halten. Nicht, dass wir in dem Fall noch in der Lage gewesen wären, zu gehen oder zu stehen.

»Es geht uns gut, Mom«, versicherte Maya und zog ihren Arm weg. »Wir haben uns in einer Badewanne versteckt, wie ihr uns geraten habt. Wir sind nicht mal angekokelt.«

Ihre Mutter entspannte sich ein wenig, doch die Sorgenfalten in ihrem Gesicht blieben. »So früh sollten sie nicht zurück sein«, verkündete sie beinahe anklagend.

Ich zuckte mit den Schultern. »Sag das mal dem Drachen.«

Sie fuhr sich mit der Hand durchs ergrauende Haar. »Wir müssen den anderen Bescheid geben. Würdest du den Feueralarm auslösen, Noah?«

Ich nickte. Der Feueralarm war ein Relikt aus früheren Zeiten und diente dazu, die Hotelgäste im Falle eines Brandes zu warnen, vor allem nach dem Auftauchen der ersten Drachen. Es hatte so viele Feuer gegeben: Ganze Städte waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ganze Wälder waren vernichtet worden. In der Luft hatte so viel Rauch gehangen, dass die Gesundheitsbehörden die Bevölkerung ermahnt hatten, nicht nach draußen zu gehen, und wenn doch, dann nicht ohne Masken. Viele hatten jedoch nicht darauf gehört, jedenfalls nicht, bis es zu spät war.

Damals waren die blitzenden Lichter des Feueralarms noch von einem lauten Signalton begleitet worden. Wenn Drachen in der Nähe waren, war ein solcher Lärm allerdings absolut nicht hilfreich, daher hatte Javier, der Techniktyp unserer Truppe, das System so umprogammiert, dass nur noch ein weißes Licht in den Zimmern und der Lobby aufblitzte. Wenn wir das Licht sahen, wussten wir, dass wir uns in der Lobby versammeln sollten, weil es etwas gab, das wir hören mussten.

Ich rannte zur Wand und zog den Alarmhebel, woraufhin im ganzen Hotel die Blitzlichter angingen. Dann ließ ich mich neben Maya in der Lobby nieder und wartete mit ihr auf die anderen. Auf unsere neue Familie, die mehr durch Not als durch Blutsverwandtschaft zusammengehalten wurde. Vor der Apokalypse waren wir Fremde gewesen. Nun waren wir tagtäglich aufeinander angewiesen.

Anfangs war Dad nicht unbedingt begeistert gewesen, der Gruppe beizutreten. Es handelte sich dabei um einen bunten Haufen Überlebender, denen wir unterwegs begegnet waren, nachdem wir unseren Bunker verlassen hatten. Sie waren auf dem Weg nach New York gewesen, wo es Gerüchten zufolge mehr Essen und Möglichkeiten gab, um sich vor den Drachen zu verstecken, als in den ausgebrannten Vororten. Mom hatte ihn jedoch daran erinnert, dass eine größere Gruppe besseren Schutz bot, und ich hatte mich nach drei langen Jahren allein mit meinen Eltern danach gesehnt, endlich wieder andere Kinder in meinem Alter zu haben, mit denen ich spielen konnte. Damit stand es zwei gegen einen und er war überstimmt.

»Was soll denn das?«, moserte Griffin, als die anderen ankamen und ihre Plätze einnahmen. Er war einer der Ältesten in der Gruppe, ein ehemaliger Geschichtsprofessor aus Syracuse, und bekannt dafür, etwas miesepetrig zu sein. »Ich hatte mich gerade hingelegt! Ich hoffe, das ist nicht wieder ein falscher Alarm.«

»Schön wär’s.« Mayas Mutter erhob sich und ließ den Blick über die versammelten Gruppenmitglieder schweifen. Einige hatten sich auf den abgewetzten Sesseln und Sofas niedergelassen. Andere standen oder hockten im Schneidersitz auf dem ausgelatschten Teppich. Jung, alt und alles dazwischen. Und die meisten mit kaum mehr Gemeinsamkeiten als dem Willen, am Leben zu bleiben.

Meinen Dad konnte ich nirgends entdecken, was mir ein bisschen Sorgen machte. Mir fiel ein, dass er heute jagen gehen wollte. Eine seiner Aufgaben bestand darin, Tiere aufzuspüren, die mit Frühlingsbeginn in die Stadt gekommen waren. Rehe, Kaninchen, vielleicht sogar ein Bär. Alles, was irgendwie essbar war und sich gut pökeln ließ, damit wir genügend Vorräte für die Monate hatten, die wir unter der Erde festsaßen, während oberirdisch die Drachen ihr Unwesen trieben. Mit jedem Jahr wurde das Angebot weniger, denn die Drachen jagten in den Sommermonaten die gleiche Beute wie wir.

Nervös biss ich mir auf die Unterlippe und schielte zum Hoteleingang. Hoffentlich war Dad nicht unserem großen Freund über den Weg gelaufen.

»Ich werde nicht lange um den heißen Brei herumreden. Es wurde ein Drache gesichtet«, verkündete Mayas Mutter nüchtern, ausdruckslos. Ich glaubte jedoch, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme zu hören. »Wie es scheint, sind sie dieses Jahr früher zurück.«

Ein Raunen ging durch die Lobby. Mayas Mutter drehte sich zu uns um. »Nur zu«, forderte sie uns auf. »Berichtet, was ihr erlebt habt.«

Sämtliche Blicke richteten sich auf Maya und mich. Ich rutschte verlegen in meinem Sessel herum. »Ähm, wir waren in der 42nd Street unterwegs«, erklärte ich. »Wir wollten, äh, Vorräte sammeln.«

Beinahe hätte ich den geplanten Abstecher in die Bibliothek erwähnt, verkniff es mir aber gerade noch. Ich wollte Maya vor ihrer Mom nicht in Schwierigkeiten bringen. Auch wenn wir um diese Zeit des Jahres, wenn die Drachen normalerweise noch im Winterschlaf waren, etwas mehr Freiheiten hatten, durften wir eigentlich nicht losziehen, ohne Bescheid zu sagen, in welchem Wolkenkratzer oder Häuserblock wir nach Vorräten suchen wollten. Auch ohne die Drachen lauerten dort draußen genügend Gefahren. Für den Fall, dass wir nicht zurückkehrten, musste also immer jemand wissen, wo sie uns finden konnten.

»Der Drache kam aus dem Nichts«, ergänzte Maya. Ihre dunkelbraunen Augen funkelten aufgebracht. Sie strich sich eine schwarze Locke aus dem Gesicht. »Er war ausgewachsen. Mit riesigen Hörnern. Hat versucht, uns zu erwischen. Wir sind nur knapp entkommen.«

Das Raunen wurde lauter. Einige jüngere Kinder brachen in Tränen aus. Der Anführer unserer Gruppe, ein Mann namens Mike, stand auf. Er ging auf Maya und mich zu und musterte uns mit durchdringendem Blick. Mike war früher bei den Marines gewesen und tougher als alle, die ich kannte, sogar als mein Dad. Aber als ich ihm nun in die braunen Augen sah, entdeckte ich dort einen Anflug von Furcht.

Mike war mutig. Aber er war auch klug.

»Ihr versucht nicht, uns auf den Arm zu nehmen?«, fragte er mit gesenkter Stimme. »Das wär nämlich kein sehr lustiger Scherz.«

»Natürlich wollen wir euch nicht auf den Arm nehmen!«, empörte sich Maya. »Wir sind doch nicht bescheuert!«

»Aber es ist erst April«, rief eine junge Mutter aus den hinteren Reihen. Sie wiegte ihren kleinen Sohn in den Armen. »Sie sollten frühestens in einem Monat aufwachen!«

»Vielleicht war es ja nur einer, der aus Versehen früher wach geworden ist! Vielleicht zieht er weiter!«, rief jemand anders. Ein paar Leute murmelten zustimmend. Sie suchten verzweifelt nach einer möglichen Erklärung. Irgendeinem Grund, nicht jetzt schon unter die Erde zu müssen.

Und ich konnte es ihnen wahrlich nicht verübeln.

Mike brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Als alle still waren, ergriff er das Wort. »Mag sein, aber wollen wir wirklich unser Leben darauf verwetten?« Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er nachdenklich an seinem von grauen Strähnen durchzogenen Bart. »Letztes Jahr waren sie eine Woche zu früh dran. Diesmal einen Monat. Gut möglich, dass sich ihr Schlafrhythmus ändert. Oder es liegt an dem ungewöhnlich warmen Wetter in letzter Zeit.«

Ich nickte grimmig. Wir wussten nicht viel über Drachen, aber wir wussten, dass sie Reptilien und Kaltblüter waren. Jeden Herbst zogen sie sich in ein unbekanntes Versteck zurück, wo sie bis zum Frühling durchschliefen. Wodurch wir ungefähr sechs Monate hatten, in denen wir überirdisch leben konnten, bevor wir wieder in die U-Bahn-Schächte mussten, um dort auszuharren, bis sie verschwanden.

Sechs Monate. Oder wohl eher nur noch fünf.

Javier rappelte sich auf. »Also dann, worauf warten wir?«, fragte er an die Gruppe gewandt. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Wir müssen unter die Erde, bevor jemandem was passiert.«

In der Lobby herrschte Stille. Als würden alle den Atem anhalten. Sämtliche Blicke waren auf Mike gerichtet. Er schwieg einen Moment, dann seufzte er.

»Einverstanden«, sagte er. »Wir fangen sofort an zu packen. Heute Abend geht’s runter.«

Aus der Gruppe war vereinzeltes Stöhnen zu hören. Was auch verständlich war. Niemand mochte es, monatelang in den heißen, schweißtreibenden Tunneln unter der Erde festzusitzen, wo die Luft stickig und das Essen streng rationiert war. Es war langweilig und deprimierend und erinnerte mich zu sehr an die Zeit im Bunker. Außerdem stank es meistens nach Pipi.

Und auch wenn es durchaus sicherer war, die Eingänge zu verriegeln, damit niemand hereinkam … bedeutete das im Umkehrschluss, dass auch niemand rauskonnte. Bis zum Herbst hielten wir also unsere eigene Art von Winterschlaf. Nur ohne den Teil mit dem Durchschlafen, der das Ganze wenigstens halbwegs erträglich gemacht hätte.

»Was ist mit meinem Vater?«, fragte ich und sah beklommen zur Hoteltür. »Er ist irgendwo da draußen.«

Mike nickte ernst. »Ich schicke ein paar Männer los, um ihn zu suchen und ihm Bescheid zu geben, was los ist. Wir bringen ihn sicher zurück, keine Sorge.« Er fing meinen Blick auf und grinste breit. »Komm schon, du kennst deinen Vater. Er lässt sich doch von einem popeligen Drachen nicht überrumpeln.«

Er lachte und ich lachte halbherzig mit, obwohl ich immer noch ein ungutes Gefühl dabei hatte. Allerdings hatte er nicht ganz unrecht. Nur wenige der noch lebenden Menschen konnten wohl von sich behaupten, tatsächlich einen Drachen getötet zu haben. Bei meinem Vater waren es gleich drei – zwei, bevor wir zum ersten Mal unter die Erde gegangen waren, und den dritten, kurz bevor wir die New Yorker Gruppe getroffen hatten. Aber das war nun auch schon einige Jahre her. Und selbst er hatte zugeben müssen, dass er dabei mehr Glück als Verstand gehabt hatte.

Was, wenn er da draußen einem Drachen begegnete und es diesmal nicht so glimpflich ausging? Mir wurde plötzlich ganz flau im Magen. Ich hatte schon meine Mom verloren. Dad war der letzte Rest Familie, den ich noch hatte.

Ihm passiert nichts, wies ich mich selbst zurecht. Wie Mikegesagt hat: Er würde niemals zulassen, dass ihm so ein popeliger Drache was tut.

Die Versammlung wurde aufgelöst und alle eilten in ihre Zimmer, um zu packen. Mayas Eltern begannen, den Laden auszuräumen und alles in Kisten zu verstauen, die sie mit unter die Erde nehmen würden. Ich fragte mich, was der vorgezogene Umzug für unsere Lebensmittelrationen bedeuten würde. Hatten wir genug gesammelt, um den Sommer zu überstehen?

Und was, wenn nicht?

In Gedanken sah ich den Drachen vor mir. Seine großen, wachsamen Augen. Den unerbittlichen Zug um sein Maul. Mir kroch ein Schauer über den Rücken. Schon bald würden mehr von der Sorte hier sein. Viel mehr.

Und wenn sie uns fanden, waren die Vorräte das geringste unserer Probleme.

Kapitel3

»Und er liest schon wieder, statt zu packen. Hätte ich mir eigentlich denken können.«

Ich sah von meinem Buch auf und zur Zimmertür. Es war eine Stunde her, dass Mike unseren sofortigen Umzug unter die Erde verkündet hatte, und wie alle anderen war ich auf mein Zimmer gegangen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Doch ich hatte mich einfach nicht konzentrieren können; ich machte mir viel zu große Sorgen um meinen Dad, der irgendwo dort draußen war, wo die Drachen lauerten. Schließlich hatte ich aufgegeben und mir mein Buch geschnappt. Ich hatte es zwar schon mehrmals gelesen, aber da wir es nicht mehr in die Bibliothek geschafft hatten, würde ich wohl oder übel damit zufrieden sein müssen.

Ich richtete mich im Bett auf, als ich die große, breitschultrige Silhouette in der Tür erkannte. »Dad!«, rief ich und warf mein Buch zur Seite. »Es geht dir gut!« Ich rannte zu ihm und schlang die Arme um ihn. Er klopfte mir unbeholfen auf den Rücken. Umarmungen waren nicht so sein Ding.

»Selbstverständlich geht’s mir gut!«, erwiderte er schroff, während er sich von mir löste und den Waffengurt abnahm, mit dem er sein Gewehr und die dazugehörige Ausrüstung auf dem Rücken trug. Er setzte die Waffe auf dem Boden ab. »Die Frage ist eher: Wie geht es dir?«

Ich verzog das Gesicht, ging zum Bett zurück und ließ mich auf der Kante nieder. »Mike hat dir wohl erzählt, was passiert ist.«

Mein Vater nickte und plumpste schwerfällig auf das andere Bett. Das, das er sich früher mit Mom geteilt hatte. Als sie noch bei uns war, hatte sie jeden Morgen die Betten gemacht. Eine Apokalypse sei keine Entschuldigung für Unordnung, hatte sie uns immer wieder ermahnt. Nun waren die Decken achtlos zusammengeknüllt und die Laken konnten dringend eine Wäsche gebrauchen. Dad rieb sich das bärtige Gesicht mit beiden Händen und nahm mich dann mit einem durchdringenden Blick unter die Lupe. »Alles okay?«

»Alles bestens«, versicherte ich. »Wir haben eine leere Wohnung gefunden und uns in der Badewanne versteckt. In den Leitungen war noch etwas Wasser.«

Mein Vater nickte beinahe abwesend, während sein Blick zu den Fenstern hinüberwanderte. Ich hatte die Vorhänge zugezogen, wie wir es im Fall einer Drachensichtung tun sollten. Damit die Biester nur ja keine Bewegung in den Zimmern wahrnahmen. Mike erzählte immer gern die Geschichte einer Familie von Drachenleugnern, die auf solche Vorkehrungen verzichtet hatten, weil sie der Meinung gewesen waren, bei den Fernsehberichten über Drachen handle es sich um Fake News. Bis eines der riesigen feuerspuckenden Monster geradewegs durch ihr Fenster gekracht und kopfüber in ihrem Wohnzimmer gelandet war.

»Danach waren sie aber so was von überzeugt, dass es Drachen gibt, das kann ich euch sagen!«, schloss er immer lachend.

Mein Vater streckte eine schwielige Hand aus und klopfte mir aufs Knie. »Sehr gut«, sagte er. »Das war genau die richtige Entscheidung.«

Sein Lob brachte mich zum Lächeln. Dad ging äußerst sparsam damit um, daher wusste ich es umso mehr zu schätzen, wenn ich mal eins bekam. Er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. »Hattest du Angst?«, fragte er.

»Ich …« Kurz spielte ich mit dem Gedanken zu lügen, weil ich nicht wollte, dass er mich für einen Schwächling hielt. Dann zuckte ich mit den Schultern. »Ein bisschen«, gestand ich.

Dad nickte. »Du wärst auch nicht ganz bei Trost, wenn nicht«, antwortete er und stand auf. »Das war ein echter Brocken.«

»Du hast ihn gesehen?« Erschrocken blickte ich zu ihm hoch.

»Jepp. Hat mich an der Ecke 50th und Broadway überrascht, als ich gerade einen Hirsch aufs Korn nehmen wollte. Hab aber ’nen ordentlichen Treffer gelandet. Ich glaub, ich hab ihn am Flügel erwischt. Du hättest ihn mal schreien hören sollen!« Er grinste. »Klang wie ein wilder Pfau beim Balzen.«

Ich schauderte leicht, als mir das entsetzliche Kreischen in den Sinn kam, das ich am Nachmittag gehört hatte. »Hast du ihn getötet?«, fragte ich hoffnungsvoll. Mein Blick fiel auf die drei schwarzen Risse, die Dad sich auf den rechten Unterarm tätowiert hatte. Einer für jeden Drachen, den er erlegt hatte.

»Nee. Ist mir leider entwischt.« Er hob sein Gewehr vom Boden auf und brachte es zum Bett, wo er anfing, es auseinanderzunehmen, um es zu reinigen. Mom hatte es nicht ausstehen können, wenn er seine Waffen auf dem Bett putzte.

Aber sie war nicht mehr da, also konnte sie sich auch nicht mehr beschweren.

Ich sollte das vermutlich erklären. Mom war vor zwei Monaten mitten in der Nacht verschwunden. Und niemand wusste, wohin. Abends hatte sie mir noch wie immer vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen. Am nächsten Morgen fehlte von ihr jede Spur. Dad hatte einen Suchtrupp aufgestellt, der wochenlang die Straßen und verlassenen Gebäude der Stadt durchkämmt hatte, doch sie war unauffindbar geblieben. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Ich weiß, manche in der Gruppe glaubten, sie hätte uns von sich aus verlassen. Und es stimmte durchaus, dass sie und mein Dad sich nicht mehr gut verstanden hatten. In den letzten Monaten waren ihre Streitereien schlimmer und schlimmer geworden und manchmal war Mom danach den ganzen Tag weggeblieben und erst spät in der Nacht zurückgekommen, ohne jemandem zu verraten, wo sie sich in der Zwischenzeit aufgehalten hatte. Damals hatte sie behauptet, sie hätte bloß etwas Luft gebraucht. Zeit zum Nachdenken. Aber nun fragte ich mich doch: Wo war sie hingegangen? Und war sie jetzt auch dort?

Trotzdem – wenn sie sich aus freien Stücken aus dem Staub gemacht hatte, hätte sie nicht wenigstens mir was gesagt? Oder mir eine Nachricht zukommen lassen, dass sie einen sicheren Ort zum Leben gefunden hatte? Wir hatten einander immer so nahegestanden. Das hatte ich jedenfalls geglaubt. Im Bunker hatten wir stundenlang zusammengesessen, nur sie und ich, und Bücher gelesen. Geredet, uns ausgetauscht. Wie konnte sie einfach abhauen, ohne sich zu verabschieden?

Die Alternative war jedoch fast noch schlimmer. Die Vorstellung, dass ihr was passiert war. Dort draußen lauerten so viele Gefahren, vor allem, wenn man allein unterwegs war. Und sie war nicht die Erste aus der Gruppe, die plötzlich verschwunden war …

Aber darüber wollte ich lieber nicht nachdenken.

Daher beschloss ich, die Hoffnung zu bewahren. Dass sie einen guten Grund für ihr Verschwinden gehabt hatte. Irgendetwas Wichtiges, das sie tun musste – worüber sie aber zur Geheimhaltung verpflichtet war. Und sobald das erledigt war, würde sie zu uns zurückkehren. Zu mir. Und wir wären wieder eine Familie.

Sofern wir dann noch hier waren …

Der Gedanke traf mich wie ein Schlag. »Was, wenn Mom zurückkommt und wir schon weg sind?«, fragte ich mit zitternder Stimme. »Sie weiß vielleicht nicht, dass die Drachen früh dran sind. Was, wenn sie den ganzen Sommer über hier draußen festsitzt?«

Bei der Vorstellung drehte sich mir der Magen um. Während es im Winter und Frühling relativ sicher war, in New York umherzustreifen, wurden wir zu Freiwild, sobald der Sommer kam und die Drachen zurückbrachte. Wenn Mom dann noch hier draußen war, würde sie aus eigener Kraft nicht überleben.

Letztes Jahr hatte eine Handvoll Mitglieder unserer Gruppe beschlossen, den Sommer über an der Oberfläche zu bleiben. Ihre Freiheit sei das Risiko wert, sagten sie. Sie wollten nicht länger in ständiger Angst leben. Es waren große, starke Männer, die jede Menge Waffen und Tricks auf Lager hatten, die sie zum Überleben brauchten. Wenn jemand fähig war, sich der Bedrohung zu stellen, dann sie. Doch als wir im Herbst aus den U-Bahn-Schächten kamen, war nur noch einer von ihnen am Leben. Und was er zu berichten hatte, war so grausig, dass es kaum auszuhalten war.

Mein Dad hielt beim Putzen seines Gewehrs inne. Er starrte nach unten auf seinen Schoß. »Glaubst du, darüber hätte ich nicht auch schon nachgedacht?«, erwiderte er leise.

Ich ließ erleichtert die Schultern sinken. Okay, er hatte einen Plan. Das hätte mir eigentlich klar sein müssen. Mein Dad hatte für alles einen Plan. »Also, was machen wir?«, fragte ich.

Mein Vater warf mir einen bohrenden Blick zu. »Du gehst mit den anderen in den Untergrund«, antwortete er mit Nachdruck. »Ich bleibe hier oben und versuche, deine Mutter zu finden.«

»Was?«, rief ich entsetzt. »Auf keinen Fall. Das kannst du nicht machen! Es ist viel zu gefährlich!«

»Ich bin mir der Gefahr bewusst«, sagte mein Dad. »Aber ich kann sie nicht ungeschützt hier draußen zurücklassen.« Ich hörte einen Anflug von Schmerz in seiner Stimme. Ich wusste, Moms Weggang hatte ihn schwer getroffen. Er sprach nicht darüber, aber ich konnte es in seinen Augen sehen, wenn jemand ihren Namen erwähnte. Ziemlich sicher gab er sich selbst die Schuld – ich wusste nur nicht so recht, warum. Hatte er etwas getan? Etwas gesagt? Alles, was ich wusste, war, dass er sie liebte. Dass er sie genauso sehr vermisste wie ich. Und dass er sich vor allem deswegen zum Jagddienst meldete, um nach ihr Ausschau zu halten.

»Gut.« Ich schluckte. »Dann bleibe ich auch.«

Ein harter Zug trat in sein Gesicht. »Nein. Keine Chance.«

»Komm schon, Dad!«, bettelte ich. »Du kannst mich beschützen. Und ich dich. Wir sind eine Familie. Du sagst doch immer, eine Familie muss zusammenhalten.«

Das war schon früher, vor alldem, sein Motto gewesen. Wir waren das unzerstörbare Familiendreieck. Was auch passierte, wir hielten zusammen. Wir drei gegen den Rest der Welt.

Doch nun war Mom fort. Und Dad wollte mich ebenfalls verlassen.

Mein Vater seufzte tief. »Tut mir leid, Noah. Aber es geht nicht anders. Du bleibst bei der Gruppe. Bei deiner Freundin Maya – ich habe schon mit ihrer Mutter gesprochen. Sie wird sich um dich kümmern. Du verbringst mit ihnen einen netten Sommer unter der Erde und wenn ihr am ersten November wieder rauskommt, stehe ich vor der Tür und warte auf dich. Mit Mom, wenn alles gut geht.«

Ich konnte die Entschlossenheit in seiner Miene erkennen und wusste, dass ich auf verlorenem Posten stand. Wenn mein Dad sich einmal entschieden hatte, ließ er sich durch nichts mehr umstimmen. Ich konnte sagen, was ich wollte, die Nummer war gelaufen.

Mir stockte der Atem. Er würde mich verlassen. Dann wäre ich ganz allein.

»So viel zum Thema Familie«, grollte ich, als die Wut darüber in mir hochkochte. Ich stand auf und stapfte an ihm vorbei zur Zimmertür, trat hinaus auf den Flur und knallte sie geräuschvoll hinter mir zu. Das Echo hallte durch den Korridor. Ich richtete den Blick auf die Wand vor mir. Es kostete mich meine komplette Willenskraft, nicht dagegenzuschlagen, und zwar fest.

»Wow. Was hat die arme Tür dir getan?«

Als ich aufsah, stand Maya mit verschränkten Armen vor mir im Flur. Sie zog die Augenbrauen hoch. »Was ist los?«, fragte sie. »Du schiebst doch wohl nicht immer noch Panik wegen des Drachen, oder?«

Ich machte ein finsteres Gesicht. »Nein. Natürlich nicht.«

»Liegt’s am Packen? Denn ganz ehrlich, das kann ich verstehen. Du kannst von Glück sagen, dass du zusätzlich zu deinem Kram nicht auch noch einen ganzen Laden verstauen musst.«

Ich lehnte mich gegen die Wand. »Es geht nicht ums Packen«, sagte ich. »Es ist nur …« Ich schielte zur Zimmertür hinüber. Reinigte mein Dad weiter seine Waffe? Oder räumte er meine Sachen zusammen, um mich fortschicken zu können?

»Ich weiß nicht, ob ich mitkomme«, platzte es unvermittelt aus mir heraus. Ich war selbst überrascht.