New Hope - Der Glanz der Hoffnung - Rose Bloom - E-Book
SONDERANGEBOT

New Hope - Der Glanz der Hoffnung E-Book

Rose Bloom

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Um die wahre Liebe zu finden, lohnt sich ein zweiter Blick

Grüne Wälder, der blau schimmernde See und himmlische Ruhe. Graham Campbell ist eins mit der Natur. Er liebt seine Arbeit als Ranger und ist glücklich in seiner Blockhütte am Rande von New Hope. Plötzlich zieht neben ihm Liz ein, über die keiner in der Kleinstadt etwas weiß. Da es die Höflichkeit gebietet, stellt Graham sich ihr vor – aber sie legt wohl noch mehr Wert auf ihre Privatsphäre als er selbst. Wortlos knallt sie ihm die Tür vor der Nase zu. Bei einer erneuten Begegnung findet Graham den Grund für Liz‘ Reaktion heraus: Sie ist durch ein Trauma verstummt.
Zwischen Graham und Liz entsteht ein besonderes Band, denn auch er hat mit einem tragischen Verlust zu kämpfen. Und je mehr Zeit er mit Liz verbringt, desto stärker sehnt er sich nach ihr und hofft, dass Liz auch ihm ihr Herz öffnet …

Der zweite Band der »New Hope«- Reihe: emotional und berührend

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



© 2021 by Rose Bloom © 2021 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover. Covergestaltung von Zero Werbeagentur, München Coverabbildung von Patrick Lienin, tomertu, Nella, dwph, Deny Wahyudi / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745752854www.harpercollins.de

Widmung

Wer glücklich sein will, braucht Mut! Mut zur Veränderung, neue Brücken zu bauen, alte Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen.

Unbekannt

Kapitel 1

Graham

»Ruhe!« Der Bürgermeister schlug mit seinem kleinen ockerfarbenen Hammer auf sein Pult, als würde es irgendetwas bringen. Diese ganze Veranstaltung hier war alberner als die Gesangseinlagen meines jüngeren Bruders Brax in seiner Schreinerei Woodworker. Ich verschränkte die Arme und rutschte weiter nach unten. Meine Hoffnung, mich in Luft auflösen zu können, schwand in jeder Sekunde.

»Jetzt geht’s gleich los«, flüsterte Brax, und seine Stimme war erfüllt von Vorfreude. Ich verdrehte die Augen und gab ein genervtes Brummen von mir. Als Dank rammte er mir den Ellenbogen in die Seite, und ich schnaubte erneut. Man könnte annehmen, er wäre genauso alt wie seine zehnjährige Tochter Ruby, und nicht neunundzwanzig. »Da!« Mit dem Finger deutete er auf den schwarzhaarigen, schlanken Mann, der sich gerade von seinem Platz erhob. Durch die Menge huschte ein Raunen.

»Archi, können wir bitte sachlich über dieses Thema sprechen, ohne dass du uns unterbrichst!« Antoines französischer Akzent war unverkennbar. Er stand zwischen den Stuhlreihen, die fast komplett belegt von allen Einwohnern New Hopes waren, und hielt in seinem linken Arm seinen kleinen Zwergspitz La Chance, der ganz aufgeregt zu kläffen begann. Großer Gott. Ich rieb mir mit Zeigefinger und Daumen die Nasenwurzel, denn hinter meiner Stirn fing es bereits an, heftig zu pochen. Ich wünschte mich in meine einsame Blockhütte einige Meilen von der Innenstadt New Hopes zurück. Bei dieser sinnlosen Bürgerversammlung waren deutlich zu viele Menschen und deutlich zu viele Meinungen vertreten. Das hier war für mich mein persönlicher Kreis der Hölle.

»Archibald! Mein Name ist Archi-bald!« Der Kopf des Bürgermeisters wurde besorgniserregend rot. Er war bekannt dafür, überzureagieren, aber im Grunde war er harmlos. Seine Vorzimmerdame Mrs. Appleworm, ein noch größerer Fan von Klatsch und Tratsch als Brax, hielt ihn wenigstens ein wenig in Schach. Jetzt tätschelte sie beruhigend den schweißbedeckten Rücken unseres Stadtoberhaupts.

»Was sagst du?«, flüsterte Brax glucksend und lehnte sich ein Stück über mich. »Ich würde sagen eine Sechs.«

»Nein! Der Rotton seines Gesichts geht bereits in seinen Hals über«, erwiderte Lake, unsere jüngere Schwester, auf meiner anderen Seite. »Das ist locker eine Sieben.« Brax lachte leise, und auch Lakes Freund Wyatt neben ihr, der erst vor Kurzem nach New Hope gezogen war, grinste breit. Meine beiden jüngeren Geschwister hatten schon in unserer Kindheit eine riesige Freude daran gehabt, unseren Bürgermeister auf die Palme zu bringen, und erfanden sogar eine Farbskala für die unterschiedlichen Rottöne seines wütenden Gesichts. Ich wandte mich ihnen zu. »Wenn ihr das nächste Mal denkt, ich müsste an dieser Veranstaltung teilnehmen, verwerft diesen Gedanken genauso schnell wieder, wie er aufkommt.« Ich hatte mich freiwillig als Babysitter für Ruby gemeldet, doch unsere Eltern waren eingesprungen, weil meine Teilnahme sich äußerst dringend angehört hatte. Und nun steckte ich in dieser Hölle fest.

»Wir haben dich nur gefragt, weil Mrs. Appleworm gesagt hatte, dass etwas auf der Tagesordnung steht, das dich als Ranger betrifft. Sie hat klargestellt, du müsstest heute dabei sein«, flüsterte Lake entschuldigend, während im Hintergrund der Eisdielenbesitzer Antoine immer noch mit unserem Bürgermeister stritt.

»Um zu besprechen, wer am Tag des Bären in das Bärenkostüm steigt? Euer Ernst?« Ich hatte zumindest angenommen, dass es um das Pfadfindercamp gehen würde, das ich betreute, denn was dieses Thema betraf, hatte ich einige offene Punkte anzusprechen. Doch nicht hier, vor allen.

»Du solltest wenigstens einmal erwägen, diesen wichtigen Part zu spielen. Du wärst perfekt dafür«, sagte sie und verkniff sich ein weiteres Lachen. »Tu es für unsere Stadt. Und auch ein wenig für unseren Spaß.« Ich verkniff mir einen weiteren Kommentar, denn mir war klar, dass Lake und Brax mich mit diesem Versammlungsabend einfach nur quälen wollten und mich reingelegt hatten. Irgendwann würde ich mich dafür revanchieren.

»Würde Familie Campbell sich bitte ebenfalls an unserem Stadtgeschehen beteiligen und nicht in der letzten Reihe schwatzen!«, rügte uns der Bürgermeister.

Brax hob die Hände. »Sorry, Archi!«

Dieser gab einen entnervten Laut von sich. Okay, diesmal musste auch ich fast grinsen. Fast. Die Menge um uns herum begann zu murmeln und zu tuscheln. Mrs. Appleworm gab ein ermahnendes Schhhhh von sich.

»Also können wir bitte noch einmal darüber sprechen, dass es für den allgemeinen Zusammenhalt äußerst schön wäre, wenn …«

»Nein, Antoine!« Erneut sauste der kleine Hammer auf das Pult. Tock. Tock. Tock. Das Geräusch hallte hinter meinen Schläfen wider. »Wir werden das Picknick am 4. Juli nicht durch ein Eiswettessen ersetzen und Schluss!«

Antoine schnaubte, und La Chance kläffte noch einmal laut, ehe die beiden wieder Platz nahmen. Der Eisladen gehörte Antoine, und er versuchte bei jedem Stadtfest, seine abartigen Kreationen unter die Menschen New Hopes zu kriegen. Lake, Wyatt, Brax und seine Tochter Ruby standen auf das Zeug, aber ich, um ehrlich zu sein, konnte dieser kalten Pampe noch nie irgendetwas abgewinnen.

»Hey, Graham«, zischte es hinter uns. Ich drehte mich um und schenkte dem älteren Herrn, der mit seinem besten Freund überall dort war, wo etwas passieren konnte, meine Aufmerksamkeit. Die beiden teilten sich eine Tüte Nüsse und hielten sie mir entgegen.

»Du siehst aus, als würdest du Nervennahrung brauchen«, meinte Mr. Butler und schob sich die Brille mit der anderen Hand zurecht.

»Und wenn es um Nervennahrung geht, weiß mein alter Freund hier ganz genau Bescheid«, scherzte Mr. Douglas. »Du solltest ihn bei den Abendessen mit seiner Frau erleben.«

»Wobei die nicht mal annähernd an die Filmabende mit deiner herankommen!«, konterte Mr. Butler. Für einen Moment herrschte Schweigen, dann brachen beide in leises Gelächter aus.

»Nein, danke«, sagte ich und nickte ihnen knapp zu. Ich würde diesen Abend auch irgendwie so überstehen. Oder ich nahm die Nusspackung, um sie Brax über den Kopf zu ziehen, weil erneut sein Ellenbogen meine Seite traf.

»Kannst du bitte damit aufhören«, raunte ich ihm zu, und das Einzige, was ich erntete, war ein grinsendes Kopfschütteln.

»Auf gar keinen Fall. Pass auf, jetzt geht es wieder los!« Er deutete mit dem Daumen in Richtung Antoine, der wieder aufgestanden war. Es dauerte sicher nur noch einen Moment, dann würde aus Archibalds Ohren weißer Rauch austreten.

»Eine Neun, locker«, sagte Lake.

»Das sehe selbst ich«, stimmte ihr Wyatt zu.

Brax rieb sich die Hände aneinander. »Wollen wir mal sehen, ob wir heute noch die Zehn erreichen. Wenn ich das schaffe, hab ich gewonnen«, erklärte er und schaute Lake an.

Meine Schwester zuckte nur mit den Schultern. »Nicht, wenn ich es eher schaffe.« Als beide sich gleichzeitig erhoben, und Archibalds Kopf in ihre Richtung ruckte, sank ich noch tiefer in meinen Sitz und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich liebte unsere Kleinstadt New Hope, die direkt an die wunderschöne Natur des Yosemite-Nationalparks grenzte, doch von solchen Veranstaltungen hielt ich mich in Zukunft um jeden Preis fern und würde nicht mehr auf die billigen Tricks meiner Geschwister reinfallen.

Kapitel 2

Liz

Ein weiteres Kleidungsstück fand den Weg in meine Reisetasche. Sie war jetzt schon randvoll mit Zeug, das ich mitnehmen wollte. Ich hätte meine Mom fragen sollen, ob sie mir ihren großen Koffer lieh, aber wahrscheinlich würde sie mir dann nur mein Vorhaben ausreden wollen. Mal wieder.

Doch ich war fest davon überzeugt, dass der Tapetenwechsel und die Zeit fernab von San Francisco in einem kleinen, beschaulichen Ort mitten in der kalifornischen Wildnis mir helfen konnte. New Hope. War der Name der Kleinstadt nicht schon ein Zeichen? Ich wollte zumindest daran glauben.

Ich zögerte kurz, ehe ich meine alte Kamera ebenfalls noch einpackte. Dann gaben die Zähne des Reißverschlusses ein lautes Ratschen von sich, als ich diesen schloss und von meinem Bett aufstand. Meine Wohnung war nicht sehr groß, aber viel mehr konnte ich mir von meinem Gehalt auch nicht leisten. Was allerdings auch nicht schlimm war, denn ich war nie der Typ gewesen, der mit Geld um sich schmiss, viele Partys feierte oder große Reisen unternahm. Das Abenteuer, das vor mir lag, war wahrscheinlich das aufregendste, das ich je wagen würde. Mit meiner Mutter war ich ständig umgezogen, allerdings hatte ich da auch keine andere Wahl gehabt. Meine bewusste Entscheidung, umzuziehen, würde mir diesmal wirklich helfen. Zumindest hoffte ich das.

Ich hievte die Tasche von der Matratze und zog sie durch den schmalen Flur bis vor meine Haustür. Die drei Stockwerke runter auf die Straße wären eine ziemliche Herausforderung.

Noch einmal lief ich die Räume meines Apartments ab: die Küche, das winzige Bad, das Wohnzimmer mit dem Doppelbett im Schlafbereich. Erinnerungen der letzten fünf Jahre hier überwältigten mich für einen Augenblick. Gute wie schlechte, und ich nahm einen tiefen Atemzug, um mich zu erden. Meine beste Freundin Payton würde sich um meine Blumen kümmern, die ich gestern Abend noch zu ihr gebracht hatte, denn tatsächlich wusste ich nicht, wann ich wieder hier sein würde. Ob ich es jemals wieder sein würde? Oder bereits nach einer Woche? Alles wäre möglich. In dieser Stadt hielt mich noch nicht mal mehr ein Job, der mich ohnehin nicht glücklich gemacht hatte und dessen Kündigung mehr eine Erleichterung als eine Katastrophe gewesen war.

Ich schaute durch die Wohnzimmerfenster hinunter auf die Straße. Fremde Menschen liefen über den Bürgersteig, die ich noch niemals gesehen hatte. Fremde Menschen wohnten in den Wohnungen neben meiner. Fremde Menschen hatten mitbekommen, was mir vor einem Jahr unten in dem angrenzenden Park passiert war, und keiner von ihnen hatte auch nur die Polizei gerufen.

Nein, entgegen der Meinung meiner Mom war der Entschluss, mir einige Zeit Ruhe zu gönnen, richtig und vor allem nötig. Jeden Tag, wenn ich einen Fuß aus meinem sicheren Apartment nach draußen setzte, spürte ich die heranrauschende Panik, die meinen gesamten Körper lähmte. Wenn ich jemals wieder zur Normalität zurückfinden wollte, musste ich diesen heftigen Druck auf meiner Brust loswerden. Und das ging nur mit einem Tapetenwechsel.

Mein Handy gab einen Ton von sich, und ich zog es aus meiner Jeanstasche. Payton hatte mir ein Bild von sich mit einem lächerlichen Katzenfilter geschickt und darunter »Gute Fahrt, melde dich, wenn du da bist, hab dich lieb« geschrieben. Ich musste grinsen. Sie würde ich am allermeisten vermissen. Auch wenn wir uns immer noch im gleichen Staat befanden, lagen etliche Meilen und eine Fahrt von fast fünf Stunden zwischen uns. In den letzten fünf Jahren meines sechsundzwanzigjährigen Lebens hatte ich mich nur in San Francisco aufgehalten. Ja, ich hatte seit langer Zeit sogar den immer gleichen Tagesrhythmus. Um acht Uhr aufstehen, duschen, danach eine Schüssel Haferflocken mit Mandelmilch, Arbeitsbeginn um neun, bis ich um neunzehn Uhr zurück in meine Wohnung kam und den Tag mit einer Serie auf meiner Couch ausklingen ließ. Keine Überraschungen bedeutete zumindest keine schlechten Nachrichten oder Erlebnisse. Eine Ewigkeit hatte ich mich in dieser trügerischen Sicherheit befunden.

An der Eingangstür warf ich noch einen Blick auf das Bild, das auf der Kommode stand, und strich sanft mit dem Finger über das lachende Gesicht meines kleinen Bruders. Die Kälte griff nach mir, begann an meinen Zehen und arbeitete sich langsam mit spitzen Krallen meinen Körper nach oben. Es war lähmend und beraubte mich für einen schweren Herzschlag all meiner Vorsätze. Tief atmete ich durch, schnappte mir meine Reise- und Handtasche und verließ mein Apartment, damit ich mir meine Abreise nicht noch anders überlegte. Nachdem ich abgeschlossen hatte, mühte ich mich mit dem Gepäck nach unten ab und erreichte außer Atem meinen kleinen Fiat, der am Straßenrand einen Block weiter stand. Ich sammelte mich einen Moment, ehe ich den Versuch startete, die schwere Tasche in den Kofferraum zu hieven.

Ein älterer Mann kam auf mich zu, und für einen Moment erstarrte ich. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, freundlich zu lächeln, auch wenn ich Fremden gegenüber immer noch misstrauisch war. Er wirkte kurz irritiert, weil ich ihm nicht antwortete. Mittlerweile kannte ich diese Reaktion schon, die ich bei Menschen hervorrief.

»Das Gepäck sieht schwer aus«, versuchte er es erneut, allerdings schüttelte ich wieder den Kopf. Er zog die dunklen Brauen zusammen und musterte mein Gesicht eindringlich. Ich legte die Hand auf den Mund und zuckte danach mit den Schultern, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich nicht sprechen konnte. Mir entging nicht der Moment, als die Erkenntnis bei ihm ankam. Plötzlich erschienen rote Flecken auf seinen Wangen, und er wirkte verlegen, als wäre meine Stummheit etwas, das ihm peinlich sein müsste. Ich wandte mich ab, doch er ließ nicht locker.

»Lassen Sie mich doch helfen. Bitte.« Als könnte er dadurch sein zu Unrecht schlechtes Gewissen erleichtern, nahm er einfach meine Tasche und hob sie an. Um ihn schnellstmöglich abwimmeln zu können, öffnete ich meinen Kofferraum und trat einen Schritt zur Seite. »Eine gute Fahrt«, sagte er hastig und eilte den Bürgersteig hinunter; er schien nicht schnell genug mich und diese Situation hinter sich lassen zu können. Ich schloss die Kofferraumklappe und setzte mich auf den Fahrersitz. Aus Gewohnheit drückte ich das Knöpfchen, das sofort die Verriegelung aktivierte. Menschen waren schwierig und kompliziert, und ich zählte mich definitiv dazu. Ich hatte keine Ahnung, ob diese nicht überall auf der Welt so waren und ich nur den Ort wechselte, aber meine Ängste und Dämonen mir ohnehin einfach folgten. Diese Reaktion, dieses Unbehagen auf mich war mir nur allzu bekannt, und seit über einem Jahr lebte ich jeden Tag damit.

Seufzend ließ ich die Stirn auf das Lenkrad sinken. Mein Herz wummerte heftig gegen meinen Brustkorb, als hätte ich einen Marathon hinter mir, und der Knoten in meinem Hals schnürte sich weiter zu. Jedes Mal, wenn ich die Straße betrat, zog er sich noch ein Stück zu, sodass mir das Atmen immer schwerer fiel. Würde ich diesem Gefühl, nie wirklich dazuzugehören, und der Schuld, selbst verantwortlich für mein Schicksal zu sein, überhaupt entfliehen können? Ich hatte keine Ahnung. Doch es war an der Zeit, es endlich herauszufinden.

Kapitel 3

Graham

Das Radio rauschte, als ich bestimmt zum dritten Mal den Sender wechselte. Irgendein Oldie erklang, und ich gab es auf und lehnte mich zurück. Seufzend legte ich den Arm auf dem geöffneten Fenster meines Wagens ab und schaute über die glitzernde Oberfläche des Sees vor mir, an dem meine Blockhütte stand. Sie lag am Rand des Yosemite-Nationalparks mitten im Wald, umgeben von dunkelgrünen Nadelwäldern und in sicherer Entfernung zu der Innenstadt von New Hope und anderen Menschen. Denn ich konnte nicht abstreiten, dass ich die Natur immer einer Stadt vorzog, egal, wie klein sie war. Es war nicht so, dass ich Menschen hasste, ich verstand die meisten von ihnen einfach nur nicht. Sie sagten, sie liebten die Natur und verteilten dann dort ihren Abfall, trampelten Pflanzen nieder oder veranstalteten ein Feuer zwischen trockenem Unterholz, das es nun im Sommer zu Genüge gab. Davon abgesehen, dass eine Menge von ihnen nur auf ihr eigenes Glück aus waren, und sie das Schicksal anderer kaum interessierte. Auch wenn es in unserer Kleinstadt noch recht beschaulich und familiär zuging, war jeder Besuch eines Touristen in dem umliegenden Nationalpark meiner Meinung nach einer zu viel. Und als Ranger des Parks wusste ich, wovon ich sprach. Ich erinnerte mich nicht nur an einen lebensmüden Besucher, der nur, um das beste Selfie zu bekommen, wilden Bären zu nahe kam, oder so dicht es ging am Abgrund eines ungesicherten Felsvorsprungs posierte.

Ich konzentrierte mich wieder auf das Hier und Jetzt und den Moment, in dem ich immer noch auf dem Parkplatz meiner Blockhütte stand und auf Brax wartete, der wie immer viel zu lange brauchte. Nachdem er mir geholfen hatte, einen Hängeschrank in der Küche zu reparieren, hatte er unbedingt mein Badezimmer benutzen müssen. Und war eine gefühlte Ewigkeit verschwunden, während ich bereits nach draußen gegangen war. Endlich kam er aus der Eingangstür und hob entschuldigend die Hände, während er auf meinen SUV zulief. Allein über sein heutiges Shirt, auf dem ein regenbogenkotzendes Einhorn zu sehen war, musste ich den Kopf schütteln. Doch an jedem anderen hätte es sogar noch lächerlicher ausgesehen. »Sorry, Gray-Gray, in das Badezimmer solltest du wohl bis morgen früh nicht mehr gehen.« Ich verkniff mir ein Augenrollen nicht nur über den Spitznamen aus unserer Kindheit, den ich wohl nie loswerden würde. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, schlug die Tür zu, und ich startete den Motor.

»Zu viel Information«, brummte ich.

Lässig schob sich Brax seine Sonnenbrille über die grünen Augen und gluckste.

»Wir sind Brüder, ich dachte, wir können uns alles erzählen.«

Was sollte ich darauf antworten? Am besten nichts, denn jedes Wort würde Brax nur noch anstacheln, um mich weiter zu quälen. Er drehte am Radio herum, als ich den Rückwärtsgang einlegte und auf der schmalen Kieseinfahrt, die zwischen meiner und der Nachbarhütte lag, wendete. Es hätte mir gereicht, wäre meine Blockhütte hier die einzige weit und breit gewesen. Mein Glück, dass seit Wochen glücklicherweise keine Urlauber den Weg in das Haus neben meinem gefunden hatten. Ich hatte versucht, es dem Vermieter abzukaufen, aber für Melvin wogen die Mieteinnahmen mehr als das Mitleid, das er für mich übrig hatte, wenn ich mal wieder deutlich zu laute Nachbarn ertragen musste. Und nicht nur das. Nicht nur einmal hatte mich Melvin, der selbst ein paar Orte weiter in Bear Valley wohnte, als Hausmeister für seine bruchfällige Bude benutzt.

»Lass das«, stieß ich knurrend hervor, weil Brax immer noch keinen Sender gefunden hatte und weiterhin am Radio rumspielte. Ich hasste es, wenn er das tat. Er konnte keine Minute stillsitzen.

»Du solltest mal bei Barney in Crestview vorbeifahren und dir ein Radio aus unserem Jahrhundert besorgen, Bro. Das alte Ding schafft nur Sender, die unsere Großeltern gehört hätten.« Ich spürte Brax’ nervtötendes Grinsen, ohne dass ich hinsah. »Und wenn du nur deshalb heute so übellaunig bist, weil du immer noch genervt über die Bürgerversammlung von vor zwei Wochen bist, das war nicht nur meine Idee.«

Mein Schnauben brachte mir nur weiteres Gelächter von meinem kleinen Bruder ein, und ich beschloss, nicht auf seine Aussage einzugehen, in der Hoffnung, dass er es auf sich beruhen ließ. Ich fuhr auf den Waldpfad und steuerte die Hauptstraße an. Wir waren sowieso viel zu spät für unser Treffen in Yuma’s Steakhouse mit Dad, unserem Freund Josh und Wyatt. Auch wenn Brax behauptete, ich wäre der unpünktlichste Mensch des Planeten, hatte er unrecht, wenn er sagte, es würde mir nichts ausmachen, andere warten zu lassen. Hier draußen tickten die Uhren einfach ein wenig anders, und in meinem Job kamen unvorhergesehene Dinge, bei denen ich einspringen musste, nicht gerade selten vor.

Plötzlich versperrte ein rostroter Fiat den schmalen Weg. Es war unmöglich mit den hohen, massiven Kiefern am Rand, dass zwei Autos sich aneinander vorbeiquetschten. Also war ich der Erste, der den Rückwärtsgang einlegte und in Richtung See zurückfuhr.

»Wer ist denn das?«

»Hat sich bestimmt verfahren«, antwortete ich knapp und schlug das Lenkrad ein, sodass ich auf meinem Parkplatz stehen bleiben konnte.

»Sieht nicht so aus«, erwiderte Brax trocken.

Die Hoffnung, es würde noch länger in diesem Sommer ruhig an meinem See bleiben, löste sich mit einem Schlag in Luft auf. Der Fiat parkte direkt vor der Nachbarhütte, und ich unterdrückte ein Seufzen. Bitte nicht, flehte ich im Stillen. Melvin hatte mich mal wieder nicht informiert, dass irgendwelche Touristen ihren Urlaub hier verbrachten.

Umgehend wollte ich wieder Gas geben, allerdings hielt Brax mich auf. »Warte doch mal, lass uns schauen, wer ab sofort neben dir wohnt.«

»Sei nicht so neugierig, das geht uns nichts an.«

»Dich sollte es aber etwas angehen.«

Die Abendsonne spiegelte sich auf den Scheiben des Fiats, und immer noch erkannte man nicht, wer oder vor allem wie viele in dem Auto saßen. Hoffentlich keine Gruppe von Teenagern, die laute Partys am See feierten. Ich musste Melvin unbedingt noch mal ein Angebot machen, damit dieser Spuk endlich ein Ende hatte.

Während sich die Fahrertür öffnete, hielt selbst ich die Luft an. Zuerst konnte man nur goldblonde lange Haare und einen Hinterkopf erkennen. Definitiv den einer Frau. Langsam drehte sie sich um und schlug die Tür zu, wellige Strähnen fielen in ihr Gesicht. Als sie den Kopf hob und gegen die Sonne blinzelte, um die Umgebung zu betrachten, wusste selbst ich nicht, wie ich reagieren sollte. Die Countrymusik, die Brax eingestellt hatte, dudelte immer noch im Hintergrund, aber ich nahm sie kaum wahr. Ich konnte nur die fremde Frau beobachten, wie sie mit vorsichtigen Schritten in Richtung Hütte lief und am Ende stehen blieb. Mit einer Hand strich sie sich die Haare auf eine Schulter zur Seite und hob die Finger als Sonnenschutz über ihre Augen. Sie war durchschnittlich groß, trug ein weites einfarbiges Shirt und eine lockere Jeans, und dennoch konnte ich aus der Ferne erkennen, dass sie attraktiv war. Ein schmales Gesicht, grazile Züge, volle Lippen. Doch vielleicht zog mich eher die Zurückhaltung an, die sie ausstrahlte. Die Vorsicht, die sie nicht drauflosrennen ließ und mit der sie besonnen und nachdenklich wirkte. Außerdem war da noch irgendetwas anderes. Etwas, das ich nicht benennen konnte, das ihren Körper jetzt angespannt und ihren Blick nervös werden ließ und in mir den verrückten Wunsch weckte, herauszufinden, was diesen Ausdruck verursachte. Aber ich mischte mich nicht in Dinge anderer ein. Niemals.

Als erinnerte sie sich nun, dass wir ebenfalls noch da waren, ruckte ihr Blick zu uns und riss mich aus meinen Gedanken zurück. Wir hatten sie viel zu lange beobachtet.

»Oh, wow«, sagte Brax plötzlich. »Wir sollten sie begrüßen.« Seine Hand war bereits am Türgriff, doch ich drückte das Gaspedal durch, als wären wir auf der Flucht. Sprunghafte, überstürzte Handlungen waren normalerweise überhaupt nicht mein Ding, aber ebenso wenig wollte ich etwas mit den Menschen, die für kurze Zeit in Melvins Hütte wohnten, zu tun haben. Ich wollte nur meine Ruhe hier draußen. Mein Stückchen Natur ganz für mich allein.

»Alles klar bei dir?«, fragte Brax, während wir den Weg erneut Richtung Hauptstraße viel zu schnell über Schlaglöcher und unebenen Boden hoppelten.

Ich nickte. »Dad und Josh sind sicherlich schon da. Wir sollten endlich fahren.«

»Wenn du mich mal fahren lassen würdest, dann wären wir vielleicht endlich mal pünktlich.«

Niemals, schoss es mir sofort durch den Kopf. Ich vertraute meinem Bruder und meiner restlichen Familie mehr als einem anderen Menschen, trotzdem fiel es mir schwer, die Kontrolle abzugeben und mich sicher auf der Beifahrerseite eines Autos zu fühlen.

»Und außerdem, kann es sein, dass du deine neue Nachbarin heiß findest?«, fragte Brax. »Oder flüchtest du nur deshalb, damit sie nicht merkt, neben was für einem grummeligen Miesepeter sie ab sofort wohnt?«

Ich konnte förmlich hören, wie herausfordernd er grinste, und war kurz davor, ihn aus meinem SUV zu schmeißen. Wieso hielt ich es noch für eine gute Idee, dass wir heute zusammen zum Steakhouse fuhren? Nur weil ich ausnahmsweise in der Stadt gewesen war und Brax dann aus der Schreinerei mitgenommen hatte, um mir bei den Reparaturmaßnahmen meiner Küche zu helfen. Das nächste Mal musste ich mir unbedingt was einfallen lassen, damit er mit seinem eigenen Wagen fuhr. Sein ständiges Geplapper brachte mich an den Rand meiner Zurückhaltung.

»Komm schon, gib es doch einfach zu.«

»Wir kennen sie doch überhaupt nicht.«

»Seit wann muss man jemanden kennen, um ihn attraktiv zu finden? Das wäre ja was ganz Neues«, sagte Brax, strich sich den Ärmel seines Longsleeves zurück und legte seinen tätowierten Unterarm auf dem geöffneten Fenster ab. In seinen Worten steckte nicht nur seine gesamte Belustigung, sondern ich spürte auch seine Blicke wie spitze Pfeile auf meinem Gesicht. Sie sollten mir egal sein, doch leider waren sie es nicht. Jetzt hatte er etwas, mit dem er mich die nächsten Wochen aufziehen konnte. Jeden Sonntag traf sich unsere Familie auf der Obst- und Gemüsefarm meiner Eltern zum Abendessen. Ich sah es bereits vor mir, wie Brax mich vor allen damit nervte.

»Du tust, als hättest du zum ersten Mal eine Frau gesehen.«

»Ich?« Er lachte laut und nervig. »Ich denke nicht, dass das auf mich zutrifft. Eher auf dich, großer Bruder.«

»Was schenken wir Mom dieses Jahr zum Geburtstag?«

»Oh nein, du kannst nicht einfach das Thema wechseln! Komm schon, lass uns noch ein wenig darüber sprechen! Ruf Melvin an und frag, wer sie ist!« Und wieder lehnte er sich vor und wechselte den Radiosender.

Wenn es ein nächstes Mal geben sollte, würde er definitiv im Kofferraum meines SUVs mitfahren.

»Ich denke nur an dich, Gray-Gray«, redete Brax unbekümmert weiter. »Endlich wohnt mal jemand Interessantes direkt neben dir und du tust so, als würde sie nicht existieren?«

Ich verdrehte die Augen und bog auf die Hauptstraße ein. Wahrscheinlich würde er den ganzen Abend auf dieser Sache herumreiten, und so wie ich ihn kannte, auch noch die gesamten nächsten Wochen.

Doch das Einzige, das bei Brax wirklich half, war, ihn in solchen Situationen zu ignorieren. Er war wie Feuer und jeder Spruch in seine Richtung das Öl, das ihn nur noch mehr zum Lodern brachte. Dennoch konnte ich ihm nicht wirklich böse sein, denn seine Sprüche waren nur ein Mittel zum Zweck. Solange er sich von seinen eigenen Gedanken ablenken konnte, war ihm alles recht, und das war auch der alleinige Grund, weshalb ich ihn gewähren ließ.

Als alleinerziehender Vater einer zehnjährigen Tochter hatte er es nicht gerade einfach, auch wenn er seine Rolle wirklich fantastisch ausfüllte. Er kam klar, auch wenn ich mir sicher war, dass der Verlust seiner Freundin und Highschool-Liebe Annie eine tiefe Wunde in seine Seele gerissen hatte.

»Also, wie gehen wir die Sache an?«, riss er mich aus meinen Gedanken, und ich seufzte tief und genervt.

Als wir endlich das Steakhouse erreichten, hatte Brax mindestens sechs Pläne geschmiedet, wie ich mich der Unbekannten vorstellen konnte. Ich parkte ein und stieg aus dem Auto, während mein kleiner Bruder immer noch plapperte. Ich liebte ihn, aber er kommentierte das ganze Leben wie ein Moderator bei einem Footballspiel. Seine Worte prasselten auf mich ein und prallten an mir ab, während er mir zum Eingang folgte und ich einen Blick über die verwitterte Außenverkleidung aus Holz und das grüne Flachdach warf. Yuma’s Steakhouse prangte in schiefen Lettern auf der weißen Markise. Eine Renovierung würde dem Laden wirklich guttun.

»Okay, genug jetzt«, sagte ich und drückte die Glastür auf. Der Duft von gebratenem Fleisch und Frittiertem drang uns sofort entgegen und raubte mir für einen Moment die Luft.

»Hallo, Jungs!«, begrüßte uns die Empfangsdame und schenkte besonders Brax ein breites Lächeln. Er liebte es zu flirten und strahlte mit seinem gesamten Aussehen, den Tattoos, den Muskeln und dem schiefen Lächeln, ein Bad-Boy-Image aus. Jedoch war er in Wirklichkeit ganz anders. Diesen Blick hinter diese Fassade schenkte er allerdings nur den wirklichen Vertrauten in seinem Leben.

»Das Thema ist noch nicht abgeschlossen«, raunte er mir zu, ehe wir an den Empfangstresen gingen. »Wunderschönen guten Abend, Leanne.«

Sie errötete und warf schwungvoll ihr braunes Haar zurück. »Euer Dad und die anderen sind schon da. Ihr könnt direkt durchgehen«, hauchte sie, während sie Brax nicht aus den Augen ließ.

»Danke schön, dann bis später.« Er zwinkerte ihr zu, und ich gab mir das Schauspiel nicht weiter und betrat den Innenraum. Brax folgte mir mit ein wenig Abstand.

»Sollten wir nicht lieber über das sprechen, was da draußen vor sich geht?«, fragte ich leise, während wir unseren Stammtisch in einer hinteren Nische ansteuerten.

Brax lachte. »Wieso? Da gibt es nichts.«

»Ein ziemlicher Arschlochmove, wenn du ihr Hoffnungen machst.«

»Sie weiß, dass das zwischen uns nur ein harmloser kleiner Flirt ist.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Dad schaute auf und hob die Hand, als er uns erkannte. »Hey, Jungs!«

Josh und der Freund unserer Schwester, Wyatt, saßen bereits am Tisch. Josh kannten wir seit unserer Schulzeit, denn wir hatten die gleiche Highschool besucht. Wyatt war vor einigen Monaten von meiner Tante Andi, die die Musikagentur meines Grandpas nach seinem Tod weiterführte, zu uns geschickt worden, um sich einzukriegen. Es gab Eskapaden in seiner Zeit als Indie-Rockstar, was es mir nicht gerade einfach gemacht hatte, ihn als Freund meiner kleinen Schwester zu akzeptieren. Mittlerweile war er geblieben, nicht nur für sich, sondern auch für Lake, und ich konnte behaupten, dass auch ich ihn tatsächlich mochte. Er war ein guter Kerl, arbeitete hart und vergötterte Lake. Das reichte mir aus, um ihn wie meine Eltern und Brax in der Familie willkommen zu heißen.

Wir begrüßten alle mit einem Handschlag, und Brax rutschte zu Josh auf die Sitzbank. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich ans Tischende, während sich Wyatt erneut neben Dad setzte.

»Na, Dad, welche Ausrede hast du heute wieder vor Mom erfunden?«, neckte ihn Brax. Meine Mom und Lake lebten ausschließlich vegetarisch, was wir Campbell-Männer leider nur kurz durchgehalten hatten. Heimlich hatten wir als Kinder mit unserem Dad einmal in der Woche hier im Yuma’s Steakhouse im Nachbarort gegessen und diese Tradition auch noch als Erwachsene beibehalten. Auch wenn Mom und Lake am liebsten gesehen hätten, dass wir durchhielten, waren sie keine Menschen, die andere verurteilten. Sie hatten die unglaubliche Gabe, jeden so zu akzeptieren, wie er war. Deshalb war ich mir auch sicher, dass Mom von Dads Ausflug einmal die Woche wusste, auch wenn er uns vorspielte, es heimlich zu tun. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander und waren schon immer unser großes Vorbild einer tollen, respektvollen Partnerschaft gewesen.

»Warum brauche ich eine Ausrede, wenn ich mich mit meinen Jungs treffe?« Er schlug Wyatt leicht auf die Schulter, und der grinste genauso breit wie die anderen.

»Wie geht es euch denn?«, fragte Dad, und ich warf Brax einen bösen Blick zu, den er mit einem Zwinkern in meine Richtung beantwortete.

»Alles gut wie immer. Der neue Auftrag in San Francisco läuft wunderbar, und unser Auftraggeber Mr. Van hat uns grünes Licht für seine anderen Restaurants in Kalifornien gegeben.« Innerlich atmete ich auf, dass er nicht schon wieder mit dem Thema der neuen Nachbarin anfing.

»Oh wow, das ist großartig!«, meinte mein Dad, und auch wir anderen beglückwünschten Brax zu seinem Erfolg. Dann kam die Kellnerin, um die Bestellung aufzunehmen, und glücklicherweise fand sich danach anderer Gesprächsstoff. Und als wir uns über die Schwangerschaft von Joshs Freundin Midge unterhielten, hörte auch Brax endgültig auf, mir zweideutige Blicke zuzuwerfen, was mir ziemlich recht war.

Kapitel 4

Liz

Hatte ich wirklich gedacht, dass die Menschen hier anders wären oder eher, dass ich weniger von ihnen über den Weg lief als in San Francisco?

Nur fünf Minuten hier, und diese Hoffnung war zerstört worden, als ich feststellen musste, nicht allein hier draußen zu wohnen. Durch die Scheiben des Fahrzeugs hatte ich nicht sicher erkennen können, wer darin saß. Zumindest war es definitiv ein Mann auf dem Fahrersitz, und ich war froh, dass er nicht ausgestiegen war und mich gleich überschwänglich begrüßt hatte. Von wegen abgeschiedenes und einsames Grundstück direkt am See. Diesem Melvin würde ich wegen dieser dreisten Lüge eine eindeutige Nachricht schreiben!

Ich legte keinen großen Wert darauf, dass sich jemand vorstellte, und das hatten die Leute im Wagen glücklicherweise auch nicht. Trotzdem hatten sie mich beobachtet, und das war mir ziemlich merkwürdig vorgekommen. Ich verdrängte die Gedanken an diese Begegnung für den Moment und suchte den Holzunterstand neben der Haustür, in dem der Schlüssel für die Hütte hängen sollte.

Von außen sah das Haus nicht gerade so aus wie auf den Bildern. Das Holz war verwittert, an den Fensterläden blätterte bereits die grüne Farbe ab. Doch die Lage direkt im Wald, fernab von der nächsten Stadt New Hope, war perfekt für mich. Ich brauchte keinen Luxus, aber zumindest ein funktionierendes Badezimmer und Strom. Das alles sollte diese Hütte doch bieten.

Mit dem Schlüssel bewaffnet, lief ich über die vordere Veranda zur Eingangstür und schloss auf. Dicker Staub und stickige Luft begrüßten mich. Die Fensterläden waren zugeklappt, und Licht fiel nur durch einige wenige Spalte darin in den Innenraum und über den abgewetzten Holzboden. Der Vermieter hatte geschrieben, dass alles für meine Ankunft bereit war, was auch immer das nun bedeutete. Vorsichtig betrat ich die Hütte, deren Wände ebenfalls vollständig aus Holz bestanden. Ich öffnete zuerst die Läden und die Fenster, damit Licht und frische Luft hineinkam. So wirkte die Einrichtung ganz anders. Gemütlicher. Es gab einen ummauerten Kamin in der Mitte des Raumes, der den Wohn- und Schlafbereich voneinander abtrennte, sowie eine Couch mit kariertem Stoffmuster auf der linken und eine offene Küche auf der rechten Seite. Im hinteren Bereich führte eine Tür in einen weiteren Raum – vermutlich ins Badezimmer –, und ein schmiedeeisernes Bett mit hohen Pfosten befand sich an der linken gegenüberliegenden Wand dazu.

Es hätte schlimmer sein können, hieraus könnte man sicherlich etwas machen. Erneut ging ich auf die Veranda und lief diese ums Haus entlang, an einer Hollywoodschaukel vorbei, bis zu den steinernen Stufen, über die man hinunter zum See gelangte. Von hier oben erkannte ich, dass das Ufer ein Gemisch aus Stein, Sand und Lehm war. Ruhig und still lag das Wasser dahinter. Ich hob den Blick und atmete tief die frische Abendluft ein. Es nutzte nichts, trotz der Idylle hier draußen schnürte etwas meine Brust zu, das ich nicht lösen konnte. Gänsehaut stellte sich wie schon beim ersten flüchtigen Anblick auf diesen See, der Lake Hawk hieß, auf meinen Armen auf, und ich wandte mich schnell ab und ging erneut ins Innere.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, den Raum von Staub und alten Gerüchen zu befreien, klopfte die abgewetzten Sofakissen aus und schmiss die Decken von der Couch sowie vom Bett in die Waschmaschine im Badezimmer. Stück für Stück räumte ich meine eigenen Sachen aus und richtete mich in der Hütte ein, ehe ich Payton – nach einigen Versuchen, das beste Netz im Zimmer zu finden – ein Foto schickte, das sie mit einem Daumen-hoch-Smiley kommentierte.

Es war bereits dunkel, und ich hatte überhaupt nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war, da hörte ich plötzlich Reifen auf dem Kies draußen. Waren die Bewohner der anderen Hütte zurückgekommen? Ich hatte keine Ahnung, ob ich das gut oder schlecht finden sollte.

Vorsichtig schlich ich zum Küchenfenster, von dem aus ich einen hervorragenden Blick auf die gegenüberliegende Blockhütte hatte. Sie war zweistöckig, deutlich größer und moderner als meine. Hinter dem Haus konnte ich den Teil einer weitläufigen Terrasse erkennen, die auf hohen Pfosten halb über dem See schwebte. Lampions waren am Geländer angebracht, die in der Dämmerung einer nach dem anderen automatisch aufglimmten.

Der weiße SUV mit der grünen Aufschrift U.S. Park Ranger hielt auf dem Parkplatz vor der Eingangstür. Jetzt konnte ich den Mann, der gerade ausgestiegen war, auch deutlich erkennen. Sein Körper war riesig und muskulös, er hatte fast schwarzes volles Haar und entsprach dem Bild des Holzfällertypen, den man hier draußen in der Einöde erwartete. Leider musste ich auch zugeben, dass er mir ein wenig Angst einjagte. Seine angespannte Haltung, die dicht zusammengezogenen dunklen Brauen und der Bart, der die Hälfte seines Gesichtes versteckte, als hätte er etwas zu verbergen.

Trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihm abwenden, während ich flach atmete, als könnte er mich sonst hören. Zuerst lief er auf seine Eingangstür zu, dann zögerte er. Seine Schultern senkten sich schnell, als käme ein Seufzen über seinen Lippen, und auf einmal wandte er sich meiner Hütte zu. Ich duckte mich hinter die Gardine und fühlte mich wie eine Verrückte, ihn weiter zu beobachten. Doch sagte man nicht, man sollte seine Feinde eher im Blick haben als seine Freunde? Ihn als Feind zu bezeichnen, war sicherlich völlig überzogen, dennoch bedeutete mir irgendetwas an ihm, dass ich mich besser fernhalten sollte.

Aber mein Vorhaben schwankte, da er mit großen Schritten plötzlich auf meine Hütte zukam. Ich trat vom Fenster weg und nagte nervös an meinem Daumennagel. Was sollte ich nun tun? Hier draußen war weit und breit kein Mensch außer ihm und mir. Was ich davon halten sollte, konnte ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, doch was sollte gut daran sein?

Meine Hände fuhren zu meinem Hals, der sich unter dem Gefühl der näher kommenden Schritte des Fremden immer mehr zusammenzog. Im Grunde war es egal, ob Menschen in der Nähe waren oder nicht, man war trotzdem allein auf sich gestellt. Selbst in einer Großstadt.

Ein energisches Hämmern gegen meine Tür ließ mich zusammenzucken. Wollte er sich nur vorstellen und würde danach wieder verschwinden? Was, wenn nicht?

Erneut klopfte es. »Miss?« Seine Stimme war tief und dunkel. Ungeduld schwang darin mit. Mein Blick flog zu dem Kaminbesteck. Okay, das war wirklich übertrieben.

Vorsichtig, als könnte er jeden meiner Schritte hören, schlich ich zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Zuerst starrte ich nur gegen seine breite Brust, dann schaute ich langsam an ihm hoch. Ich wartete auf den Moment, in dem er gegen das Türblatt drückte und sie mit seinen Pranken aufdrückte, aber er tat gar nichts. Er stand einfach nur da und sah mich wortlos genauso an wie ich ihn. Das Erste an ihm, was mein wirkliches Interesse weckte, waren seine Augen. Es war nicht unbedingt die Farbe, auch wenn das helle Blau wie das eines Huskys im Kontrast seiner dunklen Haare stand, sondern eher der weiche Ausdruck darin, der widersprüchlich zu seinem Auftreten war und mich verwirrte.

Allerdings besann ich mich auf seine ablehnende Haltung und darauf, dass ich hier im Grunde nur meine Ruhe wollte. Ich hatte keine Lust, mich oder mein Stummsein immer wieder zu erklären, Dinge über meine Vergangenheit preiszugeben oder jemanden hinter meine Schutzmauern schauen zu lassen. Der Typ holte Luft, aber ehe er etwas sagen konnte, schlug ich die Tür vor seiner Nase zu und sprang einen Satz zurück.

Es funktionierte nicht. Es war besser, wenn er gleich verstand, dass ich keine Nähe suchte. Ich nahm an, dass er erneut klopfen würde, doch es dauerte nicht lange und seine leiser werdenden Schritte verrieten mir, dass er abhaute. Wieder schlich ich zum Küchenfenster und erspähte seinen breiten Rücken, der sich von mir entfernte. Vielleicht lag ich falsch, und er wollte genauso wenig Kontakt mit mir wie ich mit ihm. Und über diesen Umstand sollte ich nur mehr als froh sein.

Kapitel 5

Graham

Kühle Wellen schlugen sanft an meine Haut, während meine Arme durch das Wasser pflügten. Links. Rechts. Links. Rechts. Meine Atmung war völlig synchron mit meinen Schwimmbewegungen, während mein Blick sich in dem kurzen Augenblick über der Wasseroberfläche nach vorn richtete. Ein heller Lichtstreifen schimmerte in der Ferne, wo die Kieferkronen sich weit in den Himmel erstreckten. Ich drehte den Kopf, und dieser versank im Wasser. Stille begrüßte mich. Herrliche Stille. Bis ich erneut auftauchte und tief sowie kräftig einatmete.

Meine Muskeln brannten, meine Lunge japste nach frischer Luft, doch diese Erlösung konnte ich meinem Körper noch nicht geben. Wie jeden Morgen genoss ich das belebende Gefühl einer Schwimmrunde in dem See vor meiner Blockhütte. Ich nahm den Kopf hoch, und das Ufer kam in Sicht. Während ich mit den Füßen nach dem steinigen Grund tastete, brandeten kleine Wellen sanft am Rand. Geschafft. Ich erhob mich senkrecht aus dem Wasser und strich mir die Tropfen aus den Haaren. Brax benötigte morgens seinen Kaffee, Lake eine Yogaeinheit, und ich brauchte zum Wachwerden nur meine Ruhe und diesen See. Das Licht der aufgehenden Sonne brach sich auf der Wasseroberfläche, auf der noch leichter Morgennebel schwebte. Trotz der kühlen Luft fror ich nicht, mein Herz pumpte schnell und kräftig in meiner Brust.

Eine Bewegung in meinem Augenwinkel zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und ich unterdrückte ein Seufzen.

Die kleine Gardine am Küchenfenster wackelte noch. Hatte sie mich beobachtet? Schon wieder? Ich streckte mich und straffte die Schultern. Wieso verwirrten mich meine Gefühle seit ihrem Einzug ständig auf eine Art, die ich so nicht kannte? Anderen Menschen war ich meist höflich reserviert gegenüber. Okay, Brax würde behaupten, dass höflich nicht gerade in meinem Repertoire an Gefühlsregungen zu finden war. Aber wer glaubte schon kleinen Brüdern?

Seitdem diese Frau vor einigen Tagen nach New Hope gekommen war, war sie sofort zum Gesprächsthema Nummer eins gekürt worden – und das nicht nur bei unserem gestrigen Familienessen, weil Brax seine vorlaute Klappe nicht hatte halten können. Und das, obwohl der Mittelpunkt eigentlich der Besuch von Wyatts Mom gewesen sein sollte, und nicht eine Frau, die niemand kannte. Doch nicht nur Brax schien den Umstand, dass ich aktuell nicht allein hier draußen wohnte, zu beschäftigen wie nichts anderes, selbst mein Dad hatte ernsthaft interessiert gewirkt. Kein Wunder, dass New Hopes Bewohner dann ebenfalls ihre Ohren weit aufstellten, in dieser Kleinstadt funktionierte der Funk innerhalb der Stadtgrenzen ausgezeichnet. Ich erinnerte mich an Wyatts Ankunft im Frühling und daran, wie verrückt alle gespielt hatten. Auch wenn man den Leuten hier zugutehalten musste, dass die wichtigsten Informationen im Stadtkern blieben. Wyatt hatte erst Ärger mit den Paparazzi bekommen, weil sein ehemaliger Freund Brady seine Finger im Spiel gehabt hatte.

Aber diese mysteriöse Frau, die sich bisher kaum hatte blicken lassen, gab selbst mir Rätsel auf. Ich sollte mich aus ihren Angelegenheiten raushalten und froh über den Umstand sein, dass sie mir genauso wenig auf die Pelle rückte wie ich ihr. Es gab einen Grund, weshalb man sich in einem Haus im Wald versteckte, und dieser ging mich rein gar nichts an.

Also wandte ich mich ab, stieg aus dem Wasser und lief auf das Ufer zu. Dort schnappte ich mir mein Handtuch, das ich mir um meine Hüften band, schlüpfte in meine abgelatschten Schlappen und lief auf meine Blockhütte zu. Zügig erklomm ich die hohen Treppenstufen meiner Veranda mit Blick auf den See und öffnete die Terrassentür. Sofort umfing mich Wärme und der intensive Holzgeruch. Ich ging in mein Badezimmer, damit ich heiß duschen und mich anziehen konnte. Eine Viertelstunde später saß ich an der Theke meiner offenen Küche und schaufelte Rührei auf eine Gabel, während ich mir meinen Dienstplan für die Woche ansah. Im Sommer tummelten sich haufenweise Touristen auf den Campingplätzen in der Umgebung, aber ich wusste aus Erfahrung, dass es trotzdem noch genug gab, die dachten, sie könnten mitten in der Natur übernachten. Ein riesiger Fehler, wenn man sich hier nicht auskannte. Denn so wunderschön es hier mit den Bergen, Wiesen, Wäldern und Wasserfällen war, inmitten des Lebensraumes von Schwarzbären und Luchsen mit Essen im Gepäck zu nächtigen, fiel so ziemlich unter die mieseste Idee aller Zeiten.

Mein Handy klingelte, und ich gab ein Brummen von mir. In diesem Moment wäre es mir lieber gewesen, wenn der Empfang genauso mies wie auf der Farm meiner Eltern gewesen wäre. Melvins Nummer so früh am Morgen auf dem Display zu sehen, verhieß nichts Gutes und war weit von meiner geliebten Ruhe entfernt.

»Wunderschönen guten Morgen, Graham!«, begrüßte er mich.

Tief seufzte ich. Wenn er so übertrieben freundlich war, hatte das nur einen einzigen Grund. »Was willst du, Melvin?«

»Du kommst immer direkt zum Punkt, das mag ich so an dir, mein Lieber.«

»Ich lege jetzt wieder auf«, murmelte ich.

Melvin atmete geräuschvoll ein. »Nein! Nein! Warte! Du musst mir einen Gefallen tun! Ich stecke hier mitten in Brenton bei meiner Schwester fest und kann erst morgen früh in New Hope sein.«

»Was soll ich tun?«

»Die neue Vermieterin hat mich angeschrieben, es gäbe keinen Strom in dem Haus.«

»Oh, Melvin …« Mein Bauchgefühl hatte mich nicht getäuscht. Melvins Anrufe waren niemals gut. »Wieso verkaufst du mir die alte Hütte nicht endlich, sie macht nur Ärger, den ohnehin ich immer ausbaden muss!«

»Wir sprechen später darüber«, nuschelte er schnell, und ich spürte genau, wie er mich zu dem Thema abwimmeln wollte. »Also gehst du jetzt rüber und schaust dir den alten Generator mal an? Du kennst dich ohnehin am besten mit dem Teil aus.«

Ich kniff die Augen zusammen, auch wenn er es nicht sehen konnte. Eigentlich hätte ich Melvin noch mal deutlicher sagen sollen, dass seine Bruchbude nicht mein Problem war, und er sich jemand anderen suchen sollte. Andererseits war die Frau nun ganz allein drüben in der Hütte ohne Strom. Wenn sie vorher nicht ebenfalls in der Einöde gelebt hatte, hatte sie keine Ahnung, wie so ein Generator funktionierte. Verdammt. Wenn meine Mom mir eines beigebracht hatte, dann, dass man sich um seine Mitmenschen kümmerte. Auch wenn ich insgeheim überhaupt keine Lust dazu hatte. Sie und meine Schwester Lake quatschten ständig von Karma, und obwohl ich nicht daran glauben wollte, konnte ich diese Frau nicht hängen lassen. Oder Melvin.

»Du bist mir was schuldig.« Mit diesen Worten legte ich auf und unterdrückte damit Melvins Lobrede auf meine Ritterlichkeit. Verdammter Idiot. Und verdammt, dass ich nicht einfach Nein sagen konnte. Als ich mich aufraffte und den benutzten Teller in die Spülmaschine stellte, wusste ich, dass ich schon mit einem Bein in meinem eigenen Verderben stand.

Liz

Ich hasste die Dunkelheit. Zum Glück war es helllichter Tag, was den Umstand etwas besser machte, dass es in der gesamten Hütte seit einigen Stunden keinen Strom gab. Die Nacht ohne das schummrige Küchenlicht war mehr als eine Katastrophe gewesen.

Wieso hatte ich es noch mal für eine gute Idee gehalten, von San Francisco in die kalifornische Wildnis zu ziehen? Es war eine Kurzschlussreaktion, da musste ich meiner Mutter zustimmen. Aber als mir die Anzeige im Internet mit beschaulichen Ferienhäusern in wunderschöner Natur ins Auge gesprungen war, fand ich einen Aufenthalt am Rand eines Nationalparks mit einer herrlichen Aussicht auf die umliegenden Berge mehr als nötig.

Allerdings hatte mir niemand gesagt, dass die angebliche einsame Hütte nicht ganz so einsam war, wie es den Anschein hatte, und dass ein mürrischer Riese mit Vollbart und Todesblick nebenan wohnen würde, der jeden meiner Schritte beobachtete. Als würde ihm mein Aufenthalt hier gewaltig gegen den Strich gehen, dabei hatte ich ihm weder etwas getan, noch kannten wir uns. Besser, ich hielt mich weiterhin von ihm fern.

Plötzlich riss mich ein dynamisches Klopfen gegen meine Eingangstür aus meinen Gedanken. Ich zog die Decke enger um meinen Körper und drückte mich in die weichen Polster der Couch. Das Haus bestand aus nur einem Raum und einem angrenzenden Badezimmer. Es hatte keine Hintertür. Hier zu entkommen, wäre ein von Anfang an missglücktes Vorhaben. Aber vielleicht war es auch nur der Vermieter, der es doch schon früher geschafft hatte, hier aufzutauchen? Hoffnung verdrängte meine Angst, es könnte jemand anderes sein.

»Miss?« Die dunkle Stimme des Holzfällertypens ließ mich erneut zusammenzucken. Mist. »Melvin schickt mich! Wegen des kaputten Generators!«

Nervös tippte ich mit den Fingerspitzen auf meinen Oberschenkel. Es fröstelte mich. Hier mitten im Wald war es trotz der eigentlichen sommerlichen Temperaturen nicht wirklich warm, schon gar nicht um diese frühe Uhrzeit. Doch ich war eine Frühaufsteherin und konnte, obwohl ich hier keinen Job hatte, nicht bis mittags im Bett bleiben.

Erneut klopfte er an die Tür, diesmal noch energischer, als könnte man dadurch hören, wie angefressen er war. »Ich weiß, dass Sie da sind«, rief er, und es hörte sich eher an wie ein Knurren. Was für ein Problem hatte der Typ?

Die Wut über sein Verhalten verdrängte ein Stück weit meine Angst vor diesem Fremden. Ich schmiss die Decke beiseite und stand sprunghaft auf. Fast vernahm ich seinen schnellen Atem durch die Eingangstür und erinnerte mich an seinen Anblick im See. Jeden Morgen drehte er seine Runden, und es war gleichzeitig anziehend und falsch, zu beobachten, wie sich seine muskulösen Arme durch das Wasser arbeiteten. Sein Rücken hob sich im immer gleichen Rhythmus. Ich erkannte die Kraultechnik, die er nutzte. Mein Trainer hatte sie mich immer und immer wiederholen lassen, bis ich nicht nur die schnellste meines Jahrgangs war, sondern auch die Beste. Brustschwimmen. Delfin. Rückenschwimmen. Kraulen. Niemand machte mir darin etwas vor. Hatte mir etwas darin vorgemacht, korrigierte ich mich im Stillen.

»Miss!«

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich zur Tür gegangen war, aber in dem Moment, in dem er wahrscheinlich erneut klopfen wollte, riss ich sie auf, und seine Hand schwebte in der Luft. Kurz wirkte sein Gesichtsausdruck überrascht, dann ließ er den Arm sinken und war genauso mürrisch wie eh und je.

»Der Generator«, sagte er, als müsste ich nun wissen, was zu tun ist.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

Er zog die dichten Brauen zusammen. »Ich bin hier, um ihn mir anzusehen.« Seine Haltung war angespannt, was mit seiner Größe nicht gerade einladend wirkte. Ich selbst war nicht winzig, eher durchschnittlich, aber selbst wenn er so groß wie ich gewesen wäre, hätte er mir Angst gemacht. Auf einmal wurden meine Hände schwitzig, und mein Herz begann zu rasen. Ich blinzelte schnell, und sofort sah ich vor meinem inneren Auge wie in einer Diashow Bilder, die ich dort nie wieder haben wollte. Panisch riss ich die Lider auf, und bevor mein Gegenüber mir etwas anmerken konnte, knallte ich ihm die Tür erneut vor der Nase zu. Blitzschnell sprang ich einen Schritt zurück, als hätte das Holz auf einmal Feuer gefangen. Ich hörte draußen Geräusche, ein Scharren von seinen Stiefeln, schließlich entfernten sich seine Schritte, bis ich selbst mit den Kniekehlen gegen die Couch stieß und mich auf die weiche Sitzfläche fallen ließ. Mein Atem raste, und ich schaute mich im Raum um, als könnte der Mann jederzeit irgendwo auftauchen. Meine Finger glitten zu meinem Hals. Ich spürte die Male, obwohl diese schon lange nicht mehr sichtbar waren.

Ein Klopfen im hinteren Bereich des Hauses ließ mich zusammenzucken, und ich verfluchte diese verdammte Schreckhaftigkeit. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Hier draußen fühlte ich mich nicht frei und sicher, ich fühlte genau das Gegenteil und das lag nur an diesem Nachbarn.

Mein Handy klingelte, und ich atmete tief ein. Schnell griff ich danach und drückte es mir ans Ohr und suchte im Zimmer die Stelle mit dem besten Empfang. »Elizabeth?«

Ich nickte, als könnte meine Mom die Geste sehen. Sie weigerte sich unablässig, sich per Videoanruf bei mir zu melden, sodass wir in Gebärdensprache miteinander kommunizieren konnten. Generell hatte sie diese ohnehin nicht richtig gelernt und sich auch nach einem Jahr nicht wirklich damit auseinandergesetzt, dass ich stumm war, und die Worte niemals wiederkommen würden. Egal, welche Therapie sie mir als Nächstes vorschlug. Es würde nichts bringen. »Elizabeth! Sag doch etwas! Lass diesen Quatsch endlich und komm nach Hause!«

Ich schloss die Augen. Es war nicht so, dass meine Mom eine schlechte Mutter gewesen war, allerdings hatte sie mich noch nie verstanden. Auch wenn ich es gern anders gehabt hätte, wir kamen uns mein gesamtes sechsundzwanzigjähriges Leben nicht näher als am Tag meiner Geburt. Leider hatte sie mir vor meinem Aufenthalt hier vorgeworfen, mehr nach meinem Dad zu geraten, der eines sehr gut konnte: abhauen. Hin und wieder schickte er mir oder meiner Mutter eine Nachricht, aber wirklichen Kontakt oder auch nur eine Ahnung, wo er sich jetzt herumtrieb, hatten wir nicht. Was vielleicht auch besser war.

Ich tippte zweimal gegen den Lautsprecher unten am Handy, damit meine Mutter wusste, dass ich den Anruf beendete. Danach schrieb ich meiner Mom eine Nachricht, dass es mir leidtäte, und es mir gut ging. Es kam nichts zurück.

Im gleichen Moment, in dem ich das Smartphone auf die Polster neben mich legte, piepste der Backofen in der offenen Wohnküche und die elektrische Anzeige darauf begann, zu blinken. Der Storm war wieder da.

Wenigstens eines, das wiedergekommen war.

Ich stand auf und ging vorsichtig zu dem Fenster in der Küche. Der bärtige Mann lief auf seine Blockhütte zu, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Hatte er sich trotzdem um den Generator gekümmert? Schien wohl ganz so, denn warum war sonst der Strom wieder da.

Schnell wandte ich mich ab und sah mich in dem Raum um. Abgesehen davon, dass es hier an vielen Ecken handwerklich etwas zu tun gab, war sie recht hübsch. Ich mochte das Holz, den runden steinummauerten Kamin inmitten des großen Zimmers, der ihn damit abteilte, und die rustikale, offene Wohnküche. Ein neuer Anstrich, ein paar Lichterketten und kuschelige Kissen; im Handumdrehen wäre die Hütte ziemlich wohnlich, und ich könnte es hier aushalten. Wenn ich nur drinnen bleiben und vor allem um diesen Nachbarn einen großen Bogen machen könnte, den ich ganz und gar nicht einschätzen konnte. Wovon ich in Anbetracht der Leere des Kühlschrankes leider nicht ausgehen konnte. Zwar hatte ich mir ein paar Dinge zum Essen mitgebracht, aber die reichten nicht auf ewig.

Draußen hörte ich das Geräusch von Autoreifen auf Kies und warf noch einen letzten Blick durch das Fenster hinaus. Der SUV war gerade weggefahren. Das war meine Chance einen ersten Rundgang durch die Stadt zu unternehmen.

Kapitel 6

Graham

Wenn mich jemand fragte, was ich in meinem Job als Ranger liebte, dann war die Ruhe das Erste, was mir in den Sinn kam. Umgeben von Berggipfeln, die in den Himmel ragten, rauschenden Wasserfällen und jahrtausendalten Mammutbäumen, die mehr gesehen hatten, als wir in einem Leben jemals nachholen könnten, fühlte ich mich geerdet. Ich brauchte weder ein Smartphone noch irgendetwas anderes, das mich von der Schönheit dieser Natur ablenkte.

Ich brauchte nur diese Stille sowie das sanfte und stetige Flüstern der Wälder.

Natürlich gab es auch in meinem Job Dinge, die ich nicht unbedingt gern tat, wie Führungen für deutlich zu viele Touristen durchzuführen, oder ein und die gleiche Standpauke darüber halten, weshalb ein Spaziergang fern von offiziellen Wanderwegen schlecht war. Aber die meiste Zeit versuchte ich, dieses Gefühl der Ruhe festzuhalten. Nicht nur durch meine Mom, die der naturverbundenste Mensch war, den ich kannte, war es tief in mir verankert. Bereits in meiner Kindheit hatte ich am liebsten mit einem Buch in meinem Baumhaus gesessen, während meine Freunde mit einer Spielkonsole in ihrem Zimmer gehockt hatten. Mein ganz persönlicher Ruhebereich, den niemand anderes betreten durfte und den ich mit zwei jüngeren, ständig aktiven Geschwistern unbedingt gebraucht hatte. Jeder von uns hatte seinen eigenen Rückzugsort gehabt. Brax seinen Schuppen hinter dem Haupthaus, in dem er nichts anderes tat, als stundenlang zu schnitzen, und Lake saß ewig auf ihrer Lichtung, um dem Rauschen des Windes zuzuhören und alle möglichen Tiere zu beobachten. Durch unsere Eltern, die sich aus eigener Kraft eine Obst- und Gemüsefarm aufgebaut und uns gezeigt hatten, wie wichtig es war, im Einklang mit der Natur zu leben, hatten wir drei Geschwister einige elementare Lektionen mitbekommen. Und in meinem Job konnte man diese perfekt an andere Menschen weitergeben. Zumindest probierte ich es, auch wenn das bei den meisten Leuten, die mir begegneten, verschwendete Mühe war. Nach einer Woche in der Wildnis auf komfortablen Campingplätzen fuhren sie mit ihren Spritschleudern zurück in die Großstadt, um ihren Freunden zu erzählen, wie großartig es hier war.

»Guten Morgen, Graham!«

Ich stützte mich auf der Theke ab und nickte Buddy zu, der am Eingang des Parks in dem Touristenzentrum arbeitete. »Morgen, Bud.«

Er erhob sich aus seinem Drehstuhl, ehe er im hinteren Bereich des Raumes verschwand und mit einem dampfenden Becher in der Hand zurück zu mir kam. Breit grinsend schob er ihn mir über den Tresen zu.

»Du bist der Einzige, der sich morgens keinen Kaffee bei mir holt, wenn er hier ist.« Er sah sich um, als teilten wir ein Geheimnis, und senkte die Stimme. »Ich hab ein neues Rezept ausprobiert.«

Stirnrunzelnd nahm ich den Becher und nippte einmal dran. »Zimt.«