Nicht schwindelfrei - Jürg Schubiger - E-Book

Nicht schwindelfrei E-Book

Jürg Schubiger

4,9

Beschreibung

Pauls Gedächtnis ist sehr fadenscheinig und unzuverlässig geworden. Namen sind ihm entfallen, seine Lebensgeschichte hat Lücken. Und manchmal weiß er auch nicht mehr, was sich gehört. Seine Umgebung behandelt ihn wie einen Kranken, sie reagiert mit Mitleid und Ungeduld, zuweilen auch mit amüsierter Verwunderung. Paul selbst dagegen empfindet seinen Zustand als durchaus angenehm: Befreit vom Ballast der Erinnerungen ist er offen für das, was der lebendige Augenblick anbietet. Mit unverstellter Freude kann er staunen über die kleinen Seltsamkeiten des Alltags, die Kunst - und nicht zuletzt auch die Liebe. Jürg Schubiger begleitet Paul poetisch und mit feiner Ironie durch seine Tage und lässt uns die Welt durch seinen eigenwilligen Blick neu betrachten.

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Jürg Schubiger

Nicht

schwindelfrei

Roman

Er sei krank, hiess es, oder er sei krank gewesen. Ihm selbst war aber gar nicht so. Für den Vorgang, den die bekümmerten Menschen um ihn Genesung nannten, hatte er kein genaues Wort. Er sagte Besinnung dazu oder Auffrischung, Aufforstung. Es hatte eine Zeit gegeben, da war er vergesslich gewesen, sehr sogar oder grenzenlos, das mochte er nicht mehr leugnen. Marion, seine Frau, hatte ihn zart und zäh begleitet durch Dickichte von Wochen, Monaten hindurch, für alle Betreffenden, für alle Betroffenen zweifellos eine schwierige Zeit. Theo, der ältere Bruder, stand immer zur Verfügung mit Ermunterungen, Prosecco, Gebäck. Pauls Gedächtnis kläre sich Stück für Stück, sagten sie. Und so sagte auch Paul selbst. Allerdings blieb da die Frage: Wo war er auf die Dauer besser ausgerüstet, im Erinnern oder im Vergessen? Nahm die Erinnerung jetzt überhand? Ergriff sie Besitz von ihm?

Du machst Fortschritte, sagte Marion, kurz bevor Paul den Löffel so ungeschickt hielt, dass ihm die Suppe dem kleinen Finger entlang in den Ärmel lief. Solche Pannen gehörten schon nicht mehr zum Alltag. Man rechnete nicht mehr damit.

Tom, der Bub, lachte hihi – wie nur Blonde lachen können, die bleich sind und beim Lachen rotköpfig werden. Er hatte eine empfindliche Haut, die er vor der Sonne schützen müsste. Jeden Sommer aber beschaffte er sich einen Sonnenbrand und durfte dann schlechte Laune haben.

Aus Pauls Panne mit der Suppe machte Tom eine Zirkusnummer. Er wiegte den vollen Löffel hin und her, bis die Suppe ihm hurra! vom Ellenbogen tropfte. Marion wandte sich ab. Sie sah müde aus, selbst von hinten, vor allem von hinten. Ein knapper Satz von Paul war hier erforderlich. In Marions Rücken sagte er: Etwas Spass lockert die Familie.

Ich brauche weiss Gott keine Lockerung, wo doch ohnehin schon alles auseinander fällt, kam es von Marion, matt, traurig sogar, etwas Haltbares wäre mir lieber.

Tom, mit Blick auf seine Mutter, tat so, als würde er seinem Vater Suppe in die Ohren giessen.

Paul kam ihm lachend und mit schrägem Kopf entgegen.

Stillhalten, befahl der Bub.

Paul besann sich: So, das reicht! Die Mahnung galt auch für ihn selbst. Seine Stimme, die ihn überraschte, war lauter als nötig. Aber wer weiss denn immer im Voraus, was nötig ist und wie viel davon.

Tom verstummte und Marion blieb weiterhin stumm.

Auerochse, nannte sie den Mann in solchen Fällen. Manchmal sagte sie auch: mein Auerochse. Er hätte sie gern selbst irgendwie genannt, aber im ganzen Tierreich fand er nichts, das passte. Nur Unpassendes stellte sich ein, Gans oder Schwan zum Beispiel. Oder Kamel. Paul liebte die Kamele über alles. „Über alles“ war übertrieben, aber er liebte diese Tiere. Ihr Wiederkäuen mit erhobenem Kopf, die wulstigen, filzigen Augen, denen man nicht ansah, was sie sahen. Und wie umständlich sie vom Liegen auf die langen Beine kamen. Vielleicht liebte Paul diese Tiere doch „über alles“. Nur gab es eben Verschiedenes, das er auf diese Weise liebte, und seine Liebe kannte keine dauerhafte Ordnung.

Theo kündigte sich an. So nachdrücklich klingelte nur er. Wer seinen Daumen kannte, konnte sich vorstellen, dass er damit einen Klingelknopf breitdrückte. Nun stand er in der Wohnungstür. Er hinkte herein. Das Auftreten des gesunden Beines hatte etwas Triumphierendes. Er schob eine Pralinenschachtel, King­size, auf die Hutablage, um die Arme für Marion frei zu bekommen. Als er sie auf den frisch geschminkten Mund zu küssen versuchte, wich sie ihm aus, ärgerlich und lachend. Sie wollte zurück ins Geschäft. Theo streckte Paul eine kräftige Rechte entgegen. Für Tom war sein Händedruck eine männliche Herausforderung, der er nur knapp gewachsen war.

Marion bat den Gast an den Tisch zu einem Es­presso. Mit einer Hälfte des Gesässes setzte sie sich kurz dazu.

Theo hatte Mühe gehabt, einen Parkplatz zu finden. Er sprach von einer Parkplatznot. Seine grossen Hände lagen flach auf dem Tisch. Er vergewisserte sich der Blicke der Familie und erklärte: Früher habe ich jedes Wochenende in den Bergen verbracht, ist es nicht so? Er hob eine Hand vom Tisch und verschaffte so der Frage Raum. Jedes Wochenende! Nun, das liegt jetzt hinter mir. Ich habe für die Berge innerlich einfach keine Verwendung mehr. Theo beugte sich zum Bruder vor: Stell mich vor das Breithorn, Paul. Du kennst das Breithorn, das Zermatter Breithorn.

Paul kannte es nicht. Doch er hätte, das kam ihm zu spät in den Sinn, wenigstens nicken können.

Fünfmal war ich oben. Heute aber, heute trinke ich lieber in Ruhe mein Bier. Berge und Bier, ein Bedauern schien nicht dabei zu sein. Theo nannte weitere Hörner, die er alle nicht mehr besteigen wollte, das Wetterhorn, das Fetschhorn, das Lagginhorn, das Nadelhorn, das Finsteraarhorn.

Tom sagte: In den Bergen ist sowieso nichts los. Ausser der Natur natürlich.

Theo blickte Marion nach. Sie winkte mit gespreizten Fingern und ging.

Paul erhob sich: Ein Bier, in Ruhe ein Bier.

Recht so, rief Theo ihm in die Küche nach. Es war der Tonfall des älteren Bruders, der Paul sofort viel jünger werden liess. Er bestaunte Theo, sein Auftreten, das Unverrückbare an ihm, das bedenkenlos Selbstgemachte seiner Person und seiner Karriere. Theo sass da mit seiner ganzen Erfolgsgeschichte, an die Paul sich im Einzelnen nicht zu erinnern brauchte, um ein Wetterhorn in ihm zu sehen.

Theo war Transportunternehmer. Als Automechaniker hatte er angefangen, war dann als Fahrer weit herumgekommen. Er wusste alles über die Frauen von anderswo. Als sein Chef drei alte Lastwagen austauschte, nahm Theo sie zu einem Spottpreis an sich. Er hing an diesen Fahrzeugen, kannte ihre Vorzüge und schmunzelte über ihre Tücken. Die durchgesessenen Sitze liess er erneuern, bezahlte den Sattler mit Transportleistungen. Er fuhr nun auf eigene Rechnung, mit einem Kollegen als Partner, der aber, wie sich zeigte, nur als Fahrer und als Kumpel zu gebrauchen war. Einer, der freitags in der Kneipe ganze Stücke von Gläsern abbiss und zwischen den Zähnen knirschen liess.

Theo und Paul stützten sich, die Hand am Glas, auf die Ellenbogen. Tom hatte sich über den Küchenbalkon in den Garten davon gemacht.

Theo schnäuzte sich laut in ein viel zu kleines Papiertaschentuch. Und du? Good news?, fragte er.

Paul nickte.

Die Ärzte zufrieden?

Sehr. Sehr zufrieden.

Theo überhörte die Auskunft oder vergass sie gleich wieder. Beim Abschied, der nach dem zweiten Bier erfolgte, wünschte er Paul eine gute Besserung. Er packte die Klinke, drehte sich auf der Schwelle um und mit einer über dem Kopf geschüttelten Faust beschwor er die gute Besserung herauf, machte sie fast schon unabwendbar.

Paul dachte über seine Fortschritte nach. Marion klagte kaum mehr über ein Durcheinander im Ge­schirrschrank, das zu wackligen Stapeln von Tellern, Tassen, Teeschalen führte und zu mehrstimmig blinkenden Mischungen von Gerät und Besteck. Paul war sich nicht sicher, wie viel Besserung er brauchte oder ertrug. Vielleicht war es nur das Wort, das ihn beklommen machte. Es wies den davon Betroffenen in eine fahl beleuchtete Zukunft, ausgedehnt wie eine städtische Gleisanlage bei Nacht.

Ich würde mich schon erinnern, schrie er eines Sonntagabends über den Tisch, gern und genau erinnern, jawohl, wenn es etwas zu erinnern gäbe, wenn etwas vorgekommen, vorgefallen wäre. Aber was, bitte, ist da schon gewesen? Gar nichts!

Das war nicht klug von ihm. Das klang hilflos. Das liess einen Rückfall vermuten. Es war nebensächlich, gewiss, wie ein einzelnes, zufällig verwackeltes Foto von ihm, aber es weckte Bedenken.

Immerhin weiss ich noch, sagte Paul, dass nachts alle Katzen schwarz sind, dass eine Taube auf dem Dach besser ist – oder umgekehrt.

Paul dachte sich Erinnerungsstücke aus, mit denen er vor der besorgten Familie besser bestehen konnte. Stücke, die ihn inwendig ergänzten, auspolsterten, seinem Seelenfleisch Gewicht hinzufügten.

Es musste eine Zeit gegeben haben, da hatte er nur noch liegen und sitzen können. Da hatte er gekaut, was man ihm in den Mund schob. Sich aufrichten aber, sich aufrecken, das kam erst später, nach einem langen, freundlich begleiteten Training. Zu seiner eigenen grossen Verwunderung ging eines Vormittags ein Ruck durch seinen Körper. Er streckte sich, die Waden spannten, das Becken fand seinen Platz, die Wirbelsäule wurde spürbar zur Säule hinauf zum Nacken und höher, höher – und schon blieb der Boden weit unter ihm zurück. Er streckte sich, und schlagartig sank vor seinem Blick der Horizont. Was sich über dem Scheitel befand, das bodenlose Gewölbe, musste damals noch ganz und gar Ausland gewesen sein. Paul geriet in einen Schwindel, der ihm derart die Glieder und den Magen verdrehte, dass er drauf und dran war, den Bettel hinzuwerfen oder die Flinte ins Korn. Doch was wäre er heute, ohne das, was hier Bettel und Flinte hiess.

Erst nach und nach entdeckte er das unbewohnte, nur von Wolken flüchtig besiedelte Feld über den Dächern, über den Bäumen.

Ja, so musste es gewesen sein.

Stehen, das war etwas, wenn es gelang. Auf zwei Füssen und alles Übrige obendrauf. Zwei Arme, zwei Hände und die Frage, was er damit anfangen sollte. Vorläufig gar nichts. Er schaute in die Weite. Sie brauchte gar nicht sehr weit zu sein, diese Weite. Er stand und schaute, und das war’s. Er stand wie ein junger Baum, eine Esche zum Beispiel. Weit weniger verwurzelt allerdings. Er musste standfest bleiben, die Füsse dabei aber frei behalten für kommende Schritte. Das kann nur ein tollkühner, ein unverfrorener Mensch gewesen sein, der den aufrechten Gang erfunden hat, dachte Paul.

Marion klatschte dann und wann Applaus. Das Geräusch, das sie erzeugte, erschreckte ihn. Sie meinte es gut, das hielt er sich ständig vor Augen, sie meinte es sehr gut. Marion hätte ihr Hemd vom Leib gegeben, ihr einziges, letztes, das zwar zu eng war für ihn, aber tauglich als Liebesbeweis. Er hätte ihr seinerseits ohne Weiteres seine Hose geschenkt, seine einzige, letzte. Nun sah er sie vor sich, die beiden Beschenkten, nebeneinander, Mann und Frau, wie die ersten Menschen, sie ohne Hemd, er ohne Hose.

Bald folgte das Stehen auf einem Bein. Was sich als nützlich erwies, wenn man in ein Beinkleid stieg, mit dem unbelasteten Fuss in eine Röhre vordrang, die stets länger war, als man annahm. Versuchte man auf diesem Fuss zu stehen, bevor er sich wieder vollständig im Freien befand, kam man ins Stolpern. Eine Hauptschwierigkeit lag darin, dass man auf dem anderen Fuss balancierend die Hose hochziehen musste. Nun, Paul hatte diese Dinge rasch im Griff. Es machte ihm Vergnügen, sich übungshalber mitten am Tag ein paar Mal aus- und anzuziehen.

Schon eine Woche später, es war an einem Donnerstag, wandte er sich dem Gehen zu. Um Marion eine Freude zu machen.

Paul freute sich. Das Wort „unbändig“ war hier am Platz.

Das alles müsse er sich jetzt allmählich zurückerobern, sagte Theo. Marion sagte: in Erinnerung rufen. Sie sah dabei nachdenklich aus, als holte sie bei sich selbst etwas ins Gedächtnis zurück, das halb schon unterwegs, halb noch im Vergessenen geborgen war.

Das Stehen wie das Gehen erfüllen einen bis zum Rand, stellte Paul fest. Es waren die lohnendsten Tätigkeiten. Das Greifen kam dazu, das Greifen mit zwei freien Händen und das viele, was man sonst mit Händen noch tun kann.

Dann das Schauen, der Himmel, der Horizont, das ganze Unvermutete. Geriet ein Baum in den Blick und ging man auf ihn zu, erhielt der Horizont eine wachsende Beule oder ein Horn.

Dann die vielen Dinge. Besonders aber die Luft um die vielen Dinge herum. Man vergass sie leicht, weil sie unsichtbar war, alles in allem aber doch das Schönste, was man hier antraf, hier und irgendwo. Die Luft, der Luftzug. Der Wind über dem aufgeregten Gras. Der Wind und die Bäume. Zweige verschoben sich übereinander, kleinere wippten. Auch wogende Bewegungen wie von Seegras kamen vor. Selbst in einer Flaute zwinkerten einzelne Blätter. Manchmal glaubte man in diesem Flimmern und Fluten Wiederkehrendes zu erkennen, eine Art Echo, das sich dann aber verwischte.

Pauls Arzt, Condrau, war braun gebrannt und fit. Bei der ersten Konsultation gab er gründlich Auskunft über seine Person und seine Karriere. Der Patient sollte wissen, wem er sich anvertraute. Ein Forschungs-Stipendium hatte Condrau erlaubt, sich an einer amerikanischen Universität fortzubilden. Ihr Name klang so schön, dass Paul ihn behielt: Loma Lind University, California. Eine andere Uni hatte er nur einmal genannt und mit weniger Nachdruck. Europa sei ein weisser Fleck auf der Karte seines Forschungsgebiets.

Die ersten Darlegungen hatten Paul konfus ge­macht. Über seine Biografie wisse er offensichtlich nicht viel mehr, als auf dem städtischen Einwohner­amt unter seinem Namen zu finden sei, sagte Condrau aus heiterem Himmel. Als Paul schwieg, ging der Arzt zu Ermutigungen über. Sein Zuspruch bekam dem Patienten besonders schlecht. Die übrigen Ärzte, beigezogen nach Bedarf, ertrug er leidlich, erwartete aber nichts von ihnen. Er nahm die verschriebenen Arzneien, einmal täglich, zweimal täglich, vor dem Essen, nach dem Essen, er nahm keine doppelt und liess keine aus. Auch was der Physiotherapeut ihm auftrug, erledigte er gewissenhaft.

Paul hatte Beate nicht hereinkommen hören. Er musste geschlafen haben, und Tom hatte ihr die Tür aufgemacht. Sie näherte sich so leise, als könnte sie die Heilung eines Kranken, der nach schlaflosen Nächten endlich etwas Schlummer gefunden hat, ernsthaft gefährden. Sie schob einen Sessel dicht an seinen heran. Als sie flüsternd neben ihm sass, wusste Paul vorübergehend nicht mehr, wer sie war. Natürlich kannte er sie, Beate, kein Zweifel, doch fiel ihm nicht mehr ein, wie sie in sein Leben, und er ja notwendigerweise auch in ihres, gekommen war. Etwas Schwäger-Schwiegerisches mochte da im Spiel sein. Oder war sie eine Kusine?