Nicht wissen, glauben will der Mensch - Bernd Gänsbacher - E-Book

Nicht wissen, glauben will der Mensch E-Book

Bernd Gänsbacher

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Beschreibung

Welche Rolle spielt die Psyche bei der Entstehung von Krebs und was weiß man über Denkvorgänge und Automatismen des Intellekts. Universitätsprofessor Bernd Gänsbacher geht der spannenden Frage nach, ob psychologische Faktoren die Krebsentstehung und das Krebswachstum beeinflussen können. Die meisten Patienten würden wohl eine kämpferische Grundeinstellung einnehmen, wenn das ihre Prognose beeinflussen würde. Wir Menschen sind von unserer Natur her geneigt, Informationen sofort so anzupassen, dass sie zu unserem inneren Weltbild passen. Sie werden mit den schon abgespeicherten Vorurteilen, Meinungen und Erinnerungsfragmenten blitzschnell verglichen und dann erst dem Bewusstsein zugeführt. Diese Tendenz des Menschen zeigt, dass er vor allem von seinen subjektiven Meinungen, Vorurteilen und Erfahrungen geleitet wird und nicht von der aktuellen Realität des Lebens. Selten ist der Mensch ein objektiver Beobachter. Manchmal muss man ihn vor seinen eigenen Entscheidungen schützen.

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Dieses Buch ist meiner märchenhaften, geistreichen und allzeit fordernden Muse gewidmet

Inhalt

Die Psyche

Funktionsmechanismen des Intellektes

Erziehung und Entwicklung der Psyche

Die Erinnerung

Darwin, die Evolution und die natürliche Auslese

Der Entscheidungsfindungsprozess des Menschen

Die Intelligenz

Das Lernen

Die Meditation

Das Glück

Positive und negative Psychologie

Kulturen und Glaubensüberzeugungen

Die Psyche und der Krebs

Ausblick

Die Psyche

Seit zwei Jahren treffen sich die vier Freunde – Fulvio, Dietmar, Niday und der Professor – in der Gaststätte Loy zum Stammtisch. In der Vergangenheit wurden vor allem der genetische Hintergrund der Krebsentstehung und der Einfluss der Umwelt und insbesondere der Ernährung diskutiert. Aus diesen Diskussionen sind schon drei Bücher entstanden, die der Professor publiziert hat: „Die Sprache der Gene“, „Warum erkranken Menschen an Krebs?“ und „Krebsrisiko senken durch gesunde Ernährung“.

Eine Kritik von Niday in der Vergangenheit war, dass die Psyche viel zu wenig Platz in den Diskussionen bekommen hätte. Die vier Freunde sind wieder im Loy; gespannt horchen sie, was der Professor ihnen nun über die Psyche zu erzählen hat.

B.G.: Es ist wissenschaftlich fast nicht möglich, den Einfluss der Psyche auf Krankheitsprozesse zu messen. Klar bewiesen sind die negativen Auswirkungen von psychischen Störungen bei Krankheiten wie Depressionen, Neurosen, Manien und ähnlichen Erkrankungen. Auch die neurodegenerativen Prozesse wie Alzheimer, wo die Träger der Emotionen – die Hirnzellen – betroffen sind, werden wissenschaftlich klar erfasst. Extrem schwierig wird es hingegen, wenn man den normalen Zustand oder die positiven Auswirkungen einer psychischen Einstellung wissenschaftlich untersuchen will. Es gibt Wissenschaftler an exzellenten Universitäten, die sich mit diesem Thema einen Namen gemacht haben, wobei aber zum Beispiel das gesamte Feld der positiven Psychologie in den letzten Jahren eher ins Abseits geraten ist, weil so viele selbst ernannte Experten versuchen, mit billigen Glücksversprechen Profit zu machen oder aus Marketinggründen das Positive hervorheben.

Niday ist erstaunt. Über den Körper – die Physis – wissen wir durch die Forschung so viel, aber die Psyche ist scheinbar ein undurchschaubares Problem. Er will wissen, ob beide aus der Erbsubstanz, dem Genom, jedes einzelnen Menschen abgeleitet werden.

B.G.: Der Körper hat sich aus einer befruchteten Eizelle durch einen Reifungsprozess von verschiedenen Zellgruppen gebildet. Während des Embryonalstadiums schalten einzelne Zellen verschiedene Gruppen von Genen ein, z. B. in einer Zelle herzspezifische Gene, die dann zu einem Zellverbund führen und das Herz bilden. In einem anderen Zellverband werden Gene eingeschaltet, die dann Leberzellen und später die Leber formen. Auf diese Weise wird jedes Organ des Körpers gebildet. Genauso ist es mit dem Gehirn, das aus vielen Milliarden Neuronen besteht und die Psyche beherbergt. Die 25 000 Gene, die sich in der Erbsubstanz – dem Genom – jeder einzelnen Zelle des Menschen befinden, enthalten die vollständigen Informationen, die gebraucht werden, um einen Menschen zu bauen. In jedem einzelnen Organ werden aber nur die Kapitel abgelesen, die für die Struktur und die Funktion des jeweiligen Organs notwendig sind. Auch im Gehirn, dem Sitz der Psyche, sind nur ein Teil der 25 000 Gene aktiv eingeschaltet. Eine Zelle hat im Embryonalstadium die hirnspezifischen Gene aktiviert, um dann zusammen mit den Tochterzellen das Hirn zu bauen. Dieser Zellverbund interagiert untereinander, mittels Synapsen, den Verbindungen der Nervenfortsätze, und hormonähnlichen Stoffen – manche werden Neurotransmitter genannt – und erzeugen elektrische Entladungen der Zellmembranen oder Ionenflüsse, die das Empfinden und die Gedanken auslösen. Es gibt im Gehirn ungefähr 100 Milliarden Synapsen, einzelne Neuronen haben zwischen einer und 200 000 Synapsen. Durch das Abfeuern von einem Neuron werden circa 500 bis 1000 Gensequenzen abgelesen.

Diese Hirnzellen sind genauso wie die anderen Körperzellen durch die Evolution geformt worden. Nachfahren und Überlebensvorteile sind die Währung der Evolution. Umwelteinflüsse, denen alle Spezies ausgesetzt waren, führten zu den heutigen Körperformen, aber auch zum Verstand, der das Verhalten und die Gedankenmuster des modernen Menschen prägt. Vieles über Verhalten und Aussehen von Pflanzen, Tieren und Menschen im Laufe der Jahrtausende kennen wir nicht, weil es nicht überlebt hat. Andere Eigenschaften und Verhaltensmuster waren erfolgreicher, haben zu mehr Nachkommen und zum Überleben von unseren heutigen Pflanzen, Tieren und Menschen geführt. Die Plastizität der menschlichen Natur und der Erbsubstanz hat ein Überleben unter widrigsten Umständen wie Eiszeiten, Hitze-und Hungerperioden sowie anderen Gefahren erlaubt. Auch Gefühle, Glauben, Intellekt und andere Auswirkungen der Hirnzellen, die den modernen Menschen prägen, müssen Überlebensvorteile gebracht haben, sonst wären sie eliminiert worden.

Für Darwin sind die Menschen von heute das Produkt einer langen Kette von Siegen. Bei diesen Kämpfen ging es immer um das Überleben und die Fortpflanzung. Wenn Pflanzen, Tiere und Menschen ihre Erbsubstanz nicht mehr weitergeben, hört das Leben auf diesem Planeten schlagartig auf und die Erde wird zu einem fliegenden Felsbrocken, der wie die Venus oder der Mars durch das Weltall segelt. Ohne Leben gäbe es keine Evolution, keine Moral, keine Religionen mit ihren Göttern. Die Evolution hat nur eine Regel: Was die Weitergabe der Erbsubstanz fördert, ist wichtig, alles andere wie z. B. Moral, Ethik oder Glaubensüberzeugungen, spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Eigenschaften, die zu Vorteilen für die Weitergabe eines bestimmten Genpools führen, werden sich in der Bevölkerung vermehren und am Ende bei fast allen Menschen vorhanden sein. Dabei werden negative Emotionen über positive Emotionen triumphieren, weil z. B. ein ängstlicher Jäger und Sammler vorsichtiger und zurückhaltender durchs Leben geht und sich dadurch weniger Gefahren aussetzt als ein optimistischer draufgängerischer Kämpfer. Mehr ängstliche und vorsichtige Jäger werden deshalb überleben und die Gelegenheit haben, Kinder zu zeugen.

Die Gene sind ja nur der Bauplan, nach dem diese doch grundsätzlich unterschiedlichen Dinge gebaut werden. Woher stammen Körper und Psyche der Menschen?, fragt Fulvio neugierig nach.

B.G.: Der Sauerstoff, den wir atmen, der Wasserstoff, den wir im Wasser gebunden vorfinden, und das Eisen im Hämoglobin unserer roten Blutkörperchen und viele andere Elemente sind in sterbenden Sternen vor Millionen von Jahren entstanden. Durch eine Supernova, eine Sternexplosion, zu der es kommt, wenn die Gravitationskräfte in den Sternen den Kampf gewinnen, entstehen Sterne, die nur noch aus Eisenoxid bestehen. Dabei werden die Begleitumstände erzeugt, die notwendig sind, um Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Schwefel und viele andere organische Moleküle zu bilden. Nur unter diesen Umständen entstehen Temperaturen von ungefähr 100 Millionen Kelvin, die notwendig sind, um alle bekannten Elemente der Natur hervorzubringen. Wenn Sterne sich im Nebel des Universums bilden, entstehen die Bausteine des Lebens. Ein Neutronenstern entsteht durch den Kollaps eines Sterns, in dem ein Eisenkern, anfangs so groß wie die Erde, auf die Größe einer Stadt zusammenschrumpft. In jeder Sekunde kollabieren irgendwo im Universum Sterne und so entstehen die schwarzen Löcher im Universum, die erst vor wenigen Jahrzehnten entdeckt wurden. Schwarze Löcher und schwarze Materie sind die mysteriösesten Objekte im Weltall. Nichts kann aus den schwarzen Löchern heraustreten. Die Gravitationskräfte sind so stark, dass nicht einmal das Licht entkommen kann. Diese sterbenden Sterne besitzen mindesten 50-mal mehr Masse als unsere Sonne. Und ganz unerwartet geben diese schwarzen Löcher nicht Aufschluss über den Tod, sondern über die Geburt des Lebens.

Also, Überreste der sterbenden Sterne formen diesen Nebel und der kann voller organischer Elemente sein, kommentiert Niday. Wir stammen also alle von der Milchstraße ab.

B.G.: Ja, denn diese Elemente sind die Grundbausteine jeden Lebens. Das Vorhandensein dieser organischen Elemente ist Voraussetzung, aber keine Garantie, für Leben, denn nur einige wenige Vorgänge sind komplex genug, damit Leben entstehen kann. Immer noch finden Astronomen in den entstehenden Sternen die frühesten Anzeichen von Leben, aber es gibt nur wenige planetenähnliche Gebilde im Universum, auf denen Leben in unserem Sinne entstehen könnte.

Im Universum – ebenso wie auf unserer Erde – herrschen ein Kommen und ein Gehen. Es ist als regierten die gleichen Gesetzmäßigkeiten. Sterne werden irgendwo gebildet, sie sterben und neue entstehen, und damit bilden sich die Bausteine für neues Leben. Ein Beweis dafür sind Meteoriten aus dem Weltall; sie enthalten Aminosäuren, die man auf der Erde findet. Aufgrund von stringenten wissenschaftlichen Kriterien und genauer Beobachtung der Sterne konnten Wissenschaftler in den letzten Jahrzehnten die Geschichte des Universums enthüllen, den Ursprung des Lebens erklären und das Verblassen der letzten Sterne und das Verschwinden von Lichtobjekten im Universum voraussagen.

Wie ist Leben aus diesen explodierenden Sternen entstanden?, will Fulvio wissen.

B.G.: Wenn in diesen Sternen die reichlich vorhandenen Heliumkerne zu Kohlenstoffkernen verschmelzen, treten extrem hohe Temperaturen auf. Unter diesen Begleitumständen sind die Sauerstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Schwefel-, Kohlenstoffmoleküle und viele andere Moleküle, aus denen z. B. Aminosäuren, Zucker und Fettsäuren aufgebaut sind, entstanden. Die Bausteine des Lebens wurden im Laufe von Millionen Jahren zu den verschiedensten Lebensformen zusammengefügt, von der Umwelt geformt und ständig angepasst: zuerst zu fischartigen Wesen, dann zu Amphibien, die sowohl im Wasser als auch an Land leben konnten, und dann zu Landwesen, die manchmal gigantische Ausmaße erreichten, wie zum Beispiel die Dinosaurier, die vor Hunderten Millionen Jahren diesen Planeten bevölkerten. Diese gigantischen Lebensformen waren nur in einer optimalen Umwelt überlebensfähig. Ihre massigen Körper wurden immer größer, bis die Tiere den ganzen Tag über fressen mussten, nur um sich am Leben zu erhalten.

Schon die kleinsten Störfaktoren waren lebensgefährlich. Äußere Umstände, wie Meteoriteneinschläge, Vulkanausbrüche oder Temperaturschwankungen, hatten die Verfügbarkeit der Nahrung vermindert und damit vermutlich vor 65 Millionen Jahren zum Aussterben der Dinosaurier geführt.

Kleine Säugetiere haben das durch das Aussterben der Dinosaurier entstandene Vakuum als Erste gefüllt und sich in den verschiedensten Formen weiterentwickelt, immer angepasst an die Umweltfaktoren, die letztendlich die entscheidenden Kräfte sind. Kommt es durch Vulkanausbrüche zu Gas- oder Staubwolkenbildung, die den Sonnenstrahleneinfall auf die Erde beeinträchtigen, dann fallen die Temperaturen und die Artenvielfalt und das Wachstum der Flora verändern sich entsprechend.

Es hat viele solcher Anpassungsphasen gegeben. Was wir jetzt auf diesem Planeten beobachten können, ist das Resultat der Veränderungen, die sich in den letzten Millionen Jahren abgespielt haben. Im Laufe der letzten Millionen Jahre sind zuerst die Säugetiere und dann die Menschen zur dominierenden Spezies dieses Planeten aufgestiegen. Der Mensch hat seine Gelegenheit optimal genutzt. Seine Intelligenz hat ihm Möglichkeiten eröffnet, Probleme zu lösen, Gesellschaftsstrukturen und Organisationen zu gründen, die überlebensfähige Formen angenommen haben. Wie wir wissen, ist der Mensch jetzt sogar in der Lage, das Umfeld und die Natur maßgeblich zu beeinflussen. Ob er diese Macht zu seinem Vorteil oder zu seinem Nachteil nutzt, wird die Zukunft zeigen. Denn Stillstand gab es in der Natur nie und wird es nie geben, alles ist in Bewegung und in einem Kreislauf miteinander verbunden.

Was kannst du uns Laien über die Psyche des Menschen erzählen?, fragt Fulvio vorsichtig. Der Intellekt und die Intelligenz haben den Menschen zur dominierenden Spezies auf diesem Planeten gemacht. Über meinen Körper weiß ich einiges, über meine Psyche wenig.

B.G.: Die Psyche ist genauso wie der Körper eine Ansammlung von Modulen, ähnlich wie die Organe des Körpers, die von der natürlichen Auslese über Millionen Jahre aufgebaut und ausgebildet wurden, um die Probleme unserer Urahnen, die in einer feindlichen Umwelt überleben mussten, zu lösen. Diese einzelnen Organstrukturen der Psyche verstehen wir bei Weitem nicht so genau wie beim Körper, und das ist auch einer der Gründe, warum wir z. B. einen unglücklichen Gemütszustand nicht unmittelbar in einen Glückszustand umwandeln können.

Ich bin nicht wirklich ein Spezialist auf dem Gebiet der Psyche, werde aber zusammenfassen, was führende Wissenschaftler – unter ihnen auch Nobelpreisträger – publiziert haben. Die Menschen sind höher entwickelte Tiere. Vor ungefähr 5000 Generationen gab es nur ungefähr 10 000 Menschen auf diesem Planeten. Die Gene der modernen Menschen stammen von diesen Vorfahren ab und sind deshalb auch untereinander zu 99,9 Prozent identisch. Das Gehirn ist auch ein Produkt dieser Gene und ist der Sitz der Psyche. Die Wissenschaft hat generell Schwierigkeiten, die Psyche der Menschen zu analysieren. Bei einer Körperzelle können Wissenschaftler das Genom durchlesen, überprüfen und viele Rückschlüsse ziehen. Will man aber etwas über die Psyche des Menschen wissen, kann man nicht einfach eine Hirnzelle nehmen und das Genom analysieren. Die Erbsubstanz einer Hirnzelle lässt nur in den seltensten Fällen Rückschlüsse auf die Funktion der Psyche des Menschen zu.

Wir Menschen erleben unsere innere Welt schon in den ersten Jahren des Lebens in Form von Ideen, Gedanken, Bedürfnissen, Wünschen, gespeichertem Wissen, Erwartungen, Hoffnungen, Absichten, Meinungen und wir bemerken bald ähnliche innere Welten in anderen Menschen. Wir können durch Introspektion in unsere Welt hineinschauen, aber nie in jene anderer Menschen. Wir nehmen aber an, dass ihre Welt ähnlich geschaffen ist und sie deshalb auch ähnlich funktionieren.

Um die Psyche eines anderen Menschen zu verstehen, versetzen wir uns in diese Person. Durch „Anziehen des mentalen Schuhs einer anderen Person“ interpretieren wir ihre Aktionen und sagen ihre zukünftigen Reaktionen und Handlungen so gut wie möglich voraus. Je besser wir die mentale Struktur, die Glaubenswerte, die Meinungen und die Wünsche dieses Menschen verstehen, umso genauer werden sich unsere Interpretationen bewahrheiten. Es ist aber unklar, ob man dadurch dieselben Neuronen und Signalwege im Hirn aktiviert wie der andere Mensch. Menschen haben im Elektroenzephalogramm (EEG) bestimmte Hirnstromwellen nicht nur dann, wenn sie selbst Handlungen durchführen, sondern auch, wenn sie andere Menschen bei Handlungen beobachten. Das könnte man auch als Lernen durch Imitieren bezeichnen. Das Rückenmark hemmt die motorische Ausführung dieser Hirnströme und erlaubt so dem Gehirn, diese Reaktion aufgrund einer Beobachtung ohne Bewegungsabläufe zu erzeugen. Die Neuronen, die dafür verantwortlich sind, werden als Spiegelneuronen bezeichnet. Das Gehirn des Menschen ist also fähig, nicht nur die eigenen Erfahrungen zu registrieren, sondern auch die der anderen Menschen. Diese Spiegelneuronen sind auch verantwortlich für die Fähigkeit, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und Handlungen vorauszuahnen. Wenn bei beiden Menschen, dem Handelnden und dem Beobachtenden, dieselben Hirnareale aktiviert werden, stimmen die Abläufe überein. Auch wenn ein Affe einen Artgenossen beim Einsammeln von Bananen beobachtet, werden in ihren beiden Gehirnen dieselben Areale aktiviert.

Wir leben so in einer gemeinsamen mentalen Welt und erleben sowie interpretieren alles Erlebte durch unsere eigenen und sehr persönlichen mentalen Abläufe. Alles, was wir sehen und erleben, wird sofort interpretiert, um zukünftige Handlungen und Geschehnisse optimal zu planen. Diese nicht sichtbaren Absichten, die durch Einfühlungsvermögen vorhersagbar werden, beherrschen die mentale Welt. Menschen mit Autismus haben diese Fähigkeit nicht und ecken deshalb mit ihrem Verhalten oft an. Um diese Vorgänge besser zu verstehen, hat man versucht, mentale Vorgänge durch funktionale Magnetresonanz-Untersuchungen bestimmten Arealen des Gehirns zuzuordnen. Diese Studien sind aber kontrovers und oft schwer wiederholbar.

Wir nutzen eine gemeinsame Sprache und erleben uns gegenseitig in sozialen Interaktionen. Wir passen uns damit an und werden – wie die Fachsprache es nennt – ein sozialisiertes Wesen. Dadurch wird die mentale Welt begreifbar. Die Sozialisation ist also Anpassung an gesellschaftliche Denkmuster durch Verinnerlichung von sozialen Gesetzen, die in der gegebenen Gesellschaft vorherrschen.

Der Zustand einer Lunge wird durch Thorax-Röntgenaufnahmen oder Lungenfunktionstests evaluiert. Kannst du uns ein Beispiel geben, wie man die Psyche wissenschaftlich untersuchen kann? Passiert dies mittels Fragen und Antworten, durch Bildaufnahmen des Gehirns oder durch andere Modalitäten?, will Dieter wissen.

B.G.: Es gibt ein Spektrum von Untersuchungsmethoden, die von nicht invasiven Tests, wie Befragungen und Bildaufnahmen (Imaging Methoden), bis hin zu invasiven Tests, wie zum Beispiel Biopsien, reichen. Leidet ein Mensch an einer psychischen Erkrankung, geht man dem Problem auf den Grund, bis man die Antwort hat. Man kann aber nicht so weit gehen wie bei Untersuchungen im Tiermodell. Gerade Experimente im Tiermodell haben verblüffende Ergebnisse gezeigt, die uns die Grenzen unseres Wissens und die Komplexität der Psyche aufzeigen. Man hat zum Beispiel Ratten Elektroden unterhalb der Großhirnrinde implantiert. Durch Drücken eines Hebels konnten die Ratten schwache Stromstöße erzeugen. Mit der Zeit zogen die Ratten derartige Stromstöße sogar dem Fressen, dem Sex und allem anderen vor. Sie waren von dieser elektrischen Stimulation abhängig geworden und suchten immer wieder diese Befriedigung, sodass sie alles andere vernachlässigten. Für diese Tiere war nach kurzer Zeit eine – ihnen vorher unbekannte – Erfahrung zum wichtigsten Teil ihres Lebens geworden. Äußere Faktoren in der Umwelt hatten in diesem Fall durch ihr Einwirken die Psyche in höchstem Grade beeinflusst.

Beim Menschen hat man auch außerordentlich interessante Beobachtungen durch diverse Imaging-Verfahren wie z. B. MRT gemacht. Ein Mensch, der in einer Situation handelt, die für ihn ein moralisches Problem darstellt, aktiviert einen bestimmten Teil seines Gehirns. Wenn die Situation für ihn aber kein moralisches Problem darstellt, leuchtet dieses Zentrum während der Handlung nicht auf. Das ist ein Hinweis auf eine moralische Schaltzentrale im Gehirn. Also besteht bei allen Menschen ein Mechanismus, der bei bestimmten moralischen Problemen aktiviert wird und ähnliches Handeln hervorruft.

Der kleine Kopf eines Babys vergrößert sich in den ersten Lebensjahren deutlich, folglich müssen sich Hirnzellen teilen und vermehren können. Wie ist es später im Leben, teilen und vermehren sich Hirnzellen kontinuierlich im Laufe des Lebens?, fragt Niday. Die Psyche sitzt in den Hirnzellen. Wenn Hirnzellen kontinuierlich neu entstehen, dann würde ich mir infolgedessen eine Veränderung der Psyche erwarten.

B.G.: Dass sich menschliche Hirnzellen ein Leben lang teilen, weiß man in der Zwischenzeit. Lange glaubte man, adulte Hirnzellen seien statisch und könnten sich nicht mehr teilen. In der Zwischenzeit kennt man bestimmte Hirnareale, in denen neuronale Stammzellen sitzen, die andauernd neue Zellen nachschieben. Man spricht in diesem Falle von Neurogenese. Dieses Wissen wird zum Beispiel bei der Bestrahlung von Hirntumoren genutzt. Das Hirnareal, in dem dies stattfindet, bezeichnet man als Hippocampus. Die Strahlentherapeuten versuchen – sofern möglich – den Hippocampus nicht in den Strahlenverlauf zu integrieren, damit diese Stammzellen nicht beschädigt werden. Der kontinuierliche Nachschub von Hirnzellen ist für das Lernen und den Erinnerungsprozess wichtig. Ausgeprägter Schlafmangel kann zu einer verminderten Neurogenese führen. Außerdem braucht das Hirn den Schlaf auch, um den mentalen Abfall wegzuräumen und Querverbindungen zwischen den Nervenfortsätzen zu stabilisieren.

Die kognitive Welt und ihre Abfolgen können wir Menschen nicht voraussagen, in der physikalischen Welt der Körperzellen ist das hingegen möglich. Wenn ein bestimmtes Gen einen Textfehler hat, können die Ärzte dem Kind nach der Geburt eine genetische Krankheit mit den entsprechenden Symptomen voraussagen. Einen normalen Zustand der Psyche oder die Variationsbreite der Erscheinungsbilder können wir dagegen aus der Erbsubstanz nicht ablesen. Wir können die mentale Welt beobachten, beschreiben und erahnen, genauso verstehen wie die physikalische Welt werden wir sie vermutlich nie. Dazu fehlen uns die Mittel und Ausrüstungen. Das wird sich mit der Zeit vielleicht verändern, weil man jetzt schon bestimmte Genkonstellationen in Familien von Depressiven findet, die als Ursache für bestimmte Krankheiten infrage kommen. Dies gilt aber nur für ein paar wenige Erkrankungen der Psyche. Es ist auch noch ungeklärt, ob der Gemütszustand des Menschen alleine aufgrund der lokalen Konzentration von chemischen Substanzen erklärt werden kann.

Wir Menschen erkennen Bewusstseinsvorgänge in anderen Menschen und in uns selbst. Wir können diese Vorgänge als Ideen, gespeichertes Wissen, Gedanken, Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen, Hoffnungen, Absichten, Meinungen und vieles andere mehr interpretieren. Wir schreiben diese Fähigkeit einer mentalen Welt zu und unterscheiden sie strikt von der physikalischen Welt. Um andere Menschen zu verstehen und ihr Handeln zu interpretieren, müssen wir die Fähigkeit haben, diese Bewusstseinsvorgänge in unserem eigenen kognitiven System nachzuspielen. Dadurch können wir Handlungen anderer Menschen vorausahnen. Das klingt, als ob die Wissenschaft genau versteht, welche Mechanismen in der Psyche am Werke sind, kommentiert Fulvio.

B.G.: So einfach ist es doch nicht. Viele Kräfte spielen eine Rolle. Hat jemand die Fähigkeit, Dinge realitätsnahe zu erkennen, werden Konsequenzen sehr oft mit den Erwartungen übereinstimmen. Bei einer realitätsfernen Interpretation von Geschehnissen werden jedoch die etwaigen Folgen von Entscheidungen und Handlungen große und oft negative Überraschungen mit sich bringen.

Jeder hat die Möglichkeit und die Freiheit, sich seine eigene mentale Welt zu erschaffen. Der Glaube, welcher Art auch immer, gibt den Menschen Halt. Das erklärt auch, warum alle Menschengruppen, die man auf diesem Planeten entdeckt hat, Glaubensvorstellungen hatten und diese meist rigoros verfolgten. Der Drang an etwas zu glauben, liegt tief in den Menschen verwurzelt. Das macht ihn aber auch leicht verführbar. Zahlreiche Beispiele in der Geschichte belegen, wozu es führt, wenn einzelne Personen in Führungspositionen mit ihren Wahnvorstellungen die Masse des Volkes verführen.

Der Glaube ist eine interessante menschliche Eigenschaft, die ihn von Tieren und Pflanzen unterscheidet, wirft Niday ein. Woher kommt dieses Bedürfnis nach Glauben?

B.G.: Menschen sind glaubenserzeugende Maschinen. Es werden im Durchschnitt weltweit zwei bis drei neue Glaubensbewegungen pro Tag erfunden und es gibt ungefähr 10 000 unterschiedliche Glaubensüberzeugungen weltweit. Die meisten Glaubensbekenntnisse sind Erklärungsversuche von sozialen Gruppen, die in der Vergangenheit in schwierigen Zeiten gelebt haben. Diese Erklärungen sind durch das damalige Wissen generiert worden, haben aber bis heute überlebt. Es ist schon verwunderlich, in der heutigen modernen Welt glühende Anhänger für mehrere Tausend unterschiedliche Glaubensrichtungen zu finden. Gemeinsam ist vielen Glaubensbekenntnissen ein ähnliches Verständnis von moralisch richtigem und falschem Handeln. Der Kern vieler Glaubensbekenntnisse mag wohl geheimnisvoll, irrational oder sehr subjektiv sein, aber er hilft vielen Menschen unter schwierigen ökonomischen, spirituellen und sozialen Bedingungen zu überleben. Der Glaube hat vielen Menschen erlaubt, Ziele gemeinsam zu erreichen, die sie alleine nicht erreicht hätten. Es ist einfach so: Der Mensch will glauben, weil die Neuronen Glaubensvorstellungen erzeugen.

Woher der Glaube kommt, ist ungeklärt. Es gibt Krankheitsprozesse im Gehirn wie die Temporallappen-Epilepsie, die bei einer Erscheinungsform, dem „Gschwind Syndrom“, eine Hyperreligiosität erzeugen. Das könnte ein Hinweis für eine organische Ursache des menschlichen Glaubens sein. Demnach würde es ein Glaubenszentrum im Gehirn geben, ebenso wie es ein Atemzentrum gibt. Man muss atmen, ob man will oder nicht, ebenso müsste man glauben, ob man will oder nicht.

Die Qualität des Glaubens ist direkt abhängig vom Wahrheitsgehalt und von der Qualität der Informationen, welche wir abgespeichert haben. Je genauer und präziser die Informationen über den Ablauf der Welt sind, umso besser werden wir die Welt verstehen und umso weniger werden wir den Glauben benötigen. Niemand will den Glauben aber ganz aufgeben, weil wir vor einer amoralischen Welt, die keinen Sinn hat und keine Prinzipien kennt, Angst haben, auch wenn die Wissenschaft uns versichert, dass es nicht so weit kommen wird.

Auch unter den verschiedenen Glaubensüberzeugungen gibt es einen Überlebenskampf. Am meisten Anhänger haben Glaubensüberzeugungen, die Gesundheit, Ehebildung und Sicherheit in den Vordergrund stellen. Obwohl die Wissenschaft oft auf Kollisionskurs mit dem Glauben ist, halten die Menschen weiter an ihrem Glauben fest und geben ihn ihren Kindern weiter.

Was können Wissenschaftler tun, um die psychische Welt zu analysieren?, fragt Niday nach. Sie können doch nur Hypothesen aufstellen, beweisen können sie nichts wirklich.

B.G.: Richtig, die Psyche ist weder Materie noch Energie. Sie basiert aber auf beiden, hat aber letztlich eine eigene Dimension und ist deshalb von der Wissenschaft noch nicht richtig erfasst und verstanden worden. Man hat aber interessante Beobachtungen gemacht. Zum Beispiel verhalten sich bestimmte Eigenschaften der Psyche, wie das Glücksgefühl des Einzelnen, ähnlich wie das Körpergewicht. Auch das Körpergewicht des Menschen schwankt durch die ererbte Genkonstellation in einer bestimmten Bandbreite. Die meisten Menschen, die versuchen, durch Diät das Körpergewicht zu reduzieren, pendeln nach einiger Zeit wieder beim ursprünglichen Körpergewicht ein. Genauso hat jeder Einzelne eine bestimmte Bandbreite für Glück vererbt bekommen. Die Gene, die wir von unseren Vätern und Müttern geerbt haben, spielen bei der Psyche eine große Rolle. Es können also geborene Pessimisten und depressive Menschen nicht auf Dauer in Optimisten oder Glückspilze umgewandelt werden. Ihr Verhaltensmuster bleibt ihnen über das ganze Leben erhalten. Bestätigt wurde dies auch durch Beobachtung von eineiigen Zwillingen, die sich in ihren psychischen Eigenschaften viel stärker ähneln, als sich zweieiige Zwillinge gleichen. Ähnliches hat man bei Adoptionsstudien gefunden. Die adoptierten Kinder ähneln in ihren psychischen Eigenschaften viel mehr den leiblichen Eltern als den Adoptiveltern. Zwei Adoptivkinder unterschiedlicher Herkunft, die in derselben Familie aufwachsen, sind sich nicht ähnlicher als zwei Menschen, die man zufällig auf der Straße trifft und zwei eineiige Brüder sind sich ähnlich, egal, ob sie in der eigenen Familie oder als Adoptivkinder in unterschiedlichen Familien aufwachsen. Das zeigt, wie stark sich die Gene im Gegensatz zum Umfeld oder zur Erziehung auf die Entwicklung des Kindes auswirken.

Die Gene sind das Gerüst des Menschen, aber die Feinstrukturen werden durch die Interaktion mit dem unmittelbaren Umfeld geprägt. Die Grundeigenschaften, z. B. eine pessimistische Einstellung, bleiben in jedem Umfeld gleich, aber das Erscheinungsbild unterliegt dem Einfluss der Umgebung. Der Akzent der Kinder ähnelt z. B. mehr dem Akzent der Gleichaltrigen als dem der Eltern.

Funktionsmechanismen des Intellektes

Es muss doch Hypothesen geben, wie der Intellekt funktioniert. In der Informationstechnologie und Computerwissenschaft versucht man künstliche Intelligenz zu erzeugen. Computer können jetzt schon bestimmte Arbeiten von Menschen verrichten, kommentiert Niday.

B.G.: Einer der führendenden Computerspezialisten der Princeton-Universität, John von Neumann, beschrieb wohl als erster die Funktionsweise des Gehirns ähnlich wie die eines Computers. Er sah große Ähnlichkeiten zwischen dem Aufbau des Gehirns und dem modularen Aufbau eines Computers. Der modulare Aufbau des Gehirns wurde auch von Medizinern betont. Der primitive Teil, den wir mit manchen Tieren gemeinsam haben, liegt in der Tiefe und beinhaltet die Basalganglien. Dieser Teil wird auch als Reptilienhirn bezeichnet und ist der Sitz von vier Zentren: den Zentren für Egoismus, Fressen, Kämpfen und Sexualverhalten. Darauf gestülpt ist das limbische System, das auch als das primitive Säugetiergehirn bezeichnet und den sozialen Emotionen zugeordnet wird. Um diesen Teil ist das moderne Gehirn gestülpt, das den Intellekt trägt. Auch die meisten anderen Teile des Körpers kommen von vorzeitlichen Tieren und diese wieder stammen von den Reptilien ab. Was wir aber jetzt beim heutigen Menschen sehen, ist das Produkt evolutionärer Kräfte, die zu einer starken Modifizierung geführt haben, um den Anforderungen eines modernen Lebens zu genügen.

Die Computerspezialisten verwenden ihren Intellekt, um künstliche Intelligenz zu erzeugen. Sie verwenden dieselbe Logik in ihren Algorithmen, die ihr Intellekt vorgibt. Also nehmen sie die Funktionsweise des Gehirns als Vorbild, ergänzt Dietmar.