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"EIN MEISTERWERK DES THRILLER UND KRIMI-GENRES. Blake Pierce gelingt es hervorragend, Charaktere mit so gut beschriebenen psychologischen Facetten zu entwickeln, dass wir das Gefühl haben, in ihren Gedanken zu sein, ihre Ängste zu spüren und ihre Erfolge zu bejubeln. Dieses Buch voller Wendungen wird Sie bis zur letzten Seite wachhalten." --Books and Movie Reviews, Roberto Mattos (über So Gut Wie Vorüber) NICHTS ALS MORD ist das fünfte Buch einer neuen FBI Thrillerserie des USA Today Bestsellerautors Blake Price, dessen Nummer 1 Bestseller Verschwunden (Buch 1) (kostenloser Download) über 1.000 Fünfsternebewertungen erhalten hat. Eine Frau wird in Bordeaux tot aufgefunden, ermordet vor der Kulisse der idyllischen Weinberge. Die Behörden vermuten eine Verbindung zu einem ähnlichen Mord in Italien - und einen aktiven Serienmörder. FBI-Spezialagentin Adele Sharp, Agentin mit drei Staatsbürgerschaften: USA, Frankreich und Deutschland, wird hinzugezogen, die als Einzige mit internationaler Expertise und brillantem Verstand alle Puzzleteile zusammensetzen kann. Adele dringt in die dunkle Psyche des Mörders ein, findet Hinweise dort, wo andere niemals Schlüsse hätten ziehen können und ist zuversichtlich, dass sie ihn fassen kann, bevor er wieder tötet. Bis eine schockierende Wendung alles, was sie zu wissen glaubte, ins Wanken bringt. NICHTS ALS MORD ist eine actiongeladene Krimiserie voller internationaler Intrigen und fesselnder Spannung, die Sie bis spät in die Nacht blättern lässt.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
NICHTS
ALS
MORD
(Ein Adele Sharp Mystery – Buch 5)
B L A K E P I E R C E
Blake Pierce
Blake Pierce ist USA Today Bestsellerautor der Mystery-Serie RILEY PAGE, die siebzehn Bücher umfasst. Blake Pierce ist auch Autor der Krimireihe MACKENZIE WHITE, die vierzehn Bücher umfasst; der Krimireihe AVERY BLACK, die sechs Bücher umfasst; der Krimireihe KERI LOCKE, die fünf Bücher umfasst; der Krimireihe DAS MAKING OF RILEY PAIGE, die sechs Bücher umfasst; der Krimireihe KATE WISE, die sieben Bücher umfasst; des Krimis CHLOE FINE, der sechs Bücher umfasst; der Thriller-Reihe JESSIE HUNT, bestehend aus 14 Büchern (weitere in Vorbereitung); der psychologischen Thriller-Reihe AU PAIR, bestehend aus drei Büchern; der Mystery-Reihe ZOE PRIME, bestehend aus vier Büchern (weitere in Vorbereitung); der neuen Mystery-Reihe ADELE SHARP, bestehend aus sechs Büchern (weitere in Vorbereitung); der neuen Mystery-Reihe LONDON ROSES EUROPAREISE, bestehend aus sechs Büchern (weitere in Vorbereitung); und des neuen FBI-Spannungsthrillers LAURA FROST.
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
LONDON ROSES EUROPAREISE
MORD (UND BAKLAVA) (Band #1)
ADELE SHARP MYSTERY-SERIE
NICHTS ALS STERBEN (Band #1)
NICHTS ALS RENNEN (Band #2)
NICHTS ALS VERSTECKEN (Band #3)
NICHTS ALS TÖTEN(Band #4)
NICHTS ALS MORD (Band #5)
DAS AU-PAIR
SO GUT WIE VORÜBER (Band #1)
SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)
SO GUT WIE TOT (Band #3)
ZOE PRIME KRIMIREIHE
GESICHT DES TODES (Band #1)
GESICHT DES MORDES (Band #2)
GESICHT DER ANGST (Band #3)
GESICHT DES WAHNSINNS (Band #4)
GESICHT DES ZORNS (Band #5)
JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)
DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)
DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)
DAS PERFEKTE LÄCHELN (Band #4)
DIE PERFEKTE LÜGE (Band #5)
DER PERFEKTE LOOK (Band #6)
DIE PERFEKTE AFFÄRE (Band #7)
DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)
DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)
DIE PERFEKTE VERKLEIDUNG (Band #10)
CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (Band #1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (Band #2)
SACKGASSE (Band #3)
STUMMER NACHBAR (Band #4)
HEIMKEHR (Band #5)
GETÖNTE FENSTER (Band #6)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (Band #1)
WENN SIE SÄHE (Band #2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (Band #3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Band #4)
WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (Band #5)
WENN SIE FÜRCHTETE (Band #6)
WENN SIE HÖRTE (Band #7)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (Band #1)
WARTET (Band #2)
LOCKT (Band #3)
NIMMT (Band #4)
LAUERT (Band #5)
TÖTET (Band #6)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (Band #1)
GEFESSELT (Band #2)
ERSEHNT (Band #3)
GEKÖDERT (Band #4)
GEJAGT (Band #5)
VERZEHRT (Band #6)
VERLASSEN (Band #7)
ERKALTET (Band #8)
VERFOLGT (Band #9)
VERLOREN (Band #10)
BEGRABEN (Band #11)
ÜBERFAHREN (Band #12)
GEFANGEN (Band #13)
RUHEND (Band #14)
GEMIEDEN (Band #15)
VERMISST (Band #16)
AUSERWÄHLT (Band #17)
EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE
EINST GELÖST
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (Band #1)
BEVOR ER SIEHT (Band #2)
BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)
BEVOR ER NIMMT (Band #4)
BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)
EHE ER FÜHLT (Band #6)
EHE ER SÜNDIGT (Band #7)
BEVOR ER JAGT (Band #8)
VORHER PLÜNDERT ER (Band #9)
VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)
VORHER VERFÄLLT ER (Band #11)
VORHER NEIDET ER (Band #12)
VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)
VORHER SCHADET ER (Band #14)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (Band #1)
LAUF (Band #2)
VERBORGEN (Band #3)
GRÜNDE DER ANGST (Band #4)
RETTE MICH (Band #5)
ANGST (Band #6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Band #1)
EINE SPUR VON MORD (Band #2)
INHALT
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREIßIG
KAPITEL EINUNDDREIßIG
KAPITEL ZWEIUNDDREIßIG
Ein einsamer Lichtstrahl brach die violette Flüssigkeit in dem bauchigen Glas und warf einen purpurnen Schimmer auf den leeren Tisch. Amelia Gueyen wischte den Tisch ab, holte die restlichen Gläsern und stellte es auf das braune Tablett, das schräg an die Rückenlehnen zweier gepolsterter Stühle gelehnt war.
Sie streckte ihren Rücken und zuckte wegen eines kleinen Stechens zusammen, bevor sie das Tablett mit den nun halbverschütteten Weingläsern ausbalancierte und zu sich der Holzvitrine hinter der geschnitzten Eichentheke zurückkehrte. Sie seufzte und kippte den Inhalt der Gläser in das metallene Spülbecken, das hinter dem Eichenrahmen des Tresens versteckt war, bevor sie die Kristallgläser vorsichtig in das Trockengitter aus Plastik neben der Spüle legte. Einer der Angestellten morgen früh würde die Sachen in den kleinen Geschirrspüler stellen, noch bevor die ersten Kunden kamen. Sie hoffte, dass sie daran denken würden, die Temperatur dieses Mal niedriger einzustellen. Sie wollte nicht, dass es so kommen würde, wie beim letzten Mal, als sie einen Haufen von Glassplittern aufräumen musste, die im teuersten Gerät des Ladens verstreut waren.
Sie spürte ein weiteres Stechen und fühle sich unwohl in ihrer weiß-schwarzen Uniform. In kursiven goldenen und blauen Buchstaben stand der Name Chateau Bordeaux auf ihrem Revers, neben dem kleinen goldenen Namensschild auf dem GUEYEN stand.
Durch die Fensterscheiben an der hinteren Wand des Weinladens blickte sie in Richtung der einfallenden Sonne. Sie blinzelte ein paar Mal dem Lichtstrahl entgegen, das durch das verschleierte Glas glitzerte. Es wurde bereits Abend. Sie blickte auf ihre Uhr. 16:23 Uhr.
Über eine halbe Stunde, nachdem sie geschlossen hatten.
Warum stand dann immer noch eine graue Limousine auf dem etwas entfernten Parkplatz hinter den Müllcontainern? Sie runzelte die Stirn, neigte den Kopf und sah hinter die Theke, die in die Küche führte. „Andre?”, rief sie. „Andre, bist du noch hier?”
Keine Antwort.
Sie runzelte die Stirn. Sie schob vorsichtig das hölzerne Tablett auf den Tresen und vergewisserte sich, dass es stabil stand, bevor sie ihre Hände abwischte und sich mit schnellen Schritten durch den Raum ging und sich auf das Fenster zu
bewegte. Sie erkannte weder das graue Auto, noch einen der Angestellten, der dumm genug wäre, so nahe an den Mülltonnen zu parken.
„Andre?”, rief sie erneut und sprach diesmal etwas lauter.
Manchmal kam der ältere Sommelier vorbei, wenn Amelia Gueyen Schicht hatte. Sie hatte diese überraschenden Besuche nie gemocht - und es kam ihr oft so vor, als ob der ältere Mann ihr bei jeder Bewegung über die Schulter schaute, als ob sie überprüfen oder ihr Verhalten beurteilen wollte.
Es stimmte zwar, dass sie erst seit einem Jahr als Sommelierin arbeitete, aber sie hatte lange genug studiert und war auf dem Weingut ihres Großvaters aufgewachsen, sodass sie ihr Wissen und ihren erlesenen Geschmack gerne an den besten Weinverkostern testete.
Die letzte Gruppe von Touristen, die vorbeigekommen war, schien sich sicher nicht beschwert zu haben. Schon gar nicht der letzte Gast, ein bärtiger Kerl mit einem Bäuchlein - er hatte versucht, ihr seine Nummer in einem leeren Weinglas zuzuschieben. Sie aber hatte den Inhalt postwendend in die Spüle geworfen, während er von der anderen Seite des Raumes zuschaute. Sein niedergeschlagener Blick hatte ihr nicht gefallen, aber man konnte nur eine bestimmte unaufgeforderte Aufmerksamkeit ertragen, bevor es anstrengend wurde. Gefühle waren nicht der Grund, warum Amelia sich für diesen Job beworben hatte - Weintrauben hatten keine Gefühle und die Gärung war eine langsame, sorgfältige Kunst, aber auch eine Wissenschaft. Die Arbeit als Sommeliers, kombiniert mit den eignen Weinbergen, war für Amelia Gueyen die perfekte Verbindung von Wissenschaft und Kunst.
Sie erreichte nun das Fenster und blickte auf den Parkplatz hinter dem Weinladen hinaus. Einen Moment lang spürte sie Angst aufflackern. Was, wenn das Auto dem bärtigen Typen gehörte? Vielleicht war es ihm vor seinen Freunden peinlich gewesen, als sie den Zettel weggeworfen hatte.
Vielleicht wollte er sich mit ihr unterhalten. Vielleicht wollte er mehr...
Sie zitterte, eilte aber dennoch schnell zur Tür und ignorierte das erneute Stechen in ihrem Rücken, das die Folge des Anhebens eines zu schweren Kartons an diesem Tag zu sein schien. Sie bewegte sich auf das Türschloss zu, aber gerade dann ertönte das kleine klirrende Glockenspiel über der Tür leise und gab eine harmonische Melodie von sich.
Und die Tür knarrte, so unheimlich wie beim Öffnen eines Sargdeckels.
Amelia blieb stehen und starrte zur Tür, eine Hand halb ausgestreckt, die andere massierte ihren unteren Rücken. Ihre Augen richteten sich auf das Holztablett, das sie auf der Theke liegen gelassen hatte. Sie konnte durch die Anstrengung des Tages spüren, wie ihre Füße schwitzten. Sie stand mit starren Beinen da, während sie zusah, wie sich die Tür öffnete. Sie schob eine Haarsträhne an ihrer Wange vorbei hinter ihr Ohr und wischte sich den Schweißfilm ihrer Schläfe.
„Entschuldigung”, rief sie reflexartig, „wir haben geschlossen!” Ihr letztes Wort kam einem leichten Aufschrei nahe. Sie sah der Gestalt zu, wie sie durch den Laden schlich.
Eine Sekunde später spürte sie Erleichterung. Es war also doch nicht der bärtige Mann. Tatsächlich verspürte sie, als sie genauer hinsah, plötzlich ein impulsives Gefühl des Selbstbewusstseins. Der Mann, der jetzt vor ihr stand, sah aus, als sei er aus einer Filmszene entflohen. Er sah wahnsinnig gut aus, mit einem schmalen ordentlich getrimmten Bart und Augen wie Saphire, die mit Sternenlicht gesprenkelt waren. Er hatte kein einziges Haar am falschen Platz und obwohl sie an die vielseitigen herrlichen Gerüche an ihrem Arbeitsplatz gewöhnt war, entdeckte sie einen, den sie vorher nicht gerochen hatte - einen schwachen Hauch von Zitrus-Aftershave. Er lächelte sie an und nickte höflich, als er das Studio betrat und winkte ihr mit einer sanften Handbewegung zu.
Amelia konnte den Beruf eines Menschen oft allein durch einen Blick auf seine Hände bestimmen. Etwas, auf das ein Sommelier bei seinen Kunden oft achtete - Blutergüsse, dicke Schwielen, oder weiche Fingerkuppen. Sie hatte Musiker, Arbeiter und einmal sogar einen Bankier erkannt, die nur mit ihren Händen arbeiteten.
Dieser Mann hatte die Hände eines Malers oder vielleicht eines Chirurgen. Vorsichtige, schlanke Finger. Er hielt einen kleinen schwarzen Beutel, ähnlich dem eines Doktors oder wie der Tierarzt in der Hand, der einmal ihre Mutter besuchte hatte, als ihre Katze krank war.
Sie lächelte den Mann höflich an, aber innerlich war sie in Aufruhr. Sie glättete die Vorderseite ihrer Uniform und versuchte hastig, ihr Haar zurechtzurücken, war dann aber etwas verlegen, als sie bemerkte, dass sie wahrscheinlich ihre Uniform durchgeschwitzt hatte und ihm nun Schweißflecken präsentieren würde, wenn sie die Arme hob. Genauso schnell ließ sie ihre Ellbogen fallen und stellte sich mit geradem Rücken auf und erwiderte sein Lächeln.
„Es tut mir leid”, stammelte sie. „Wir haben geschlossen.”
Der freundliche Gesichtsausdruck des Mannes ließ nach. Es war, als sähe man in den Sonnenuntergang, ein Strahlen, das hinter einem Horizont der Enttäuschung verschwand.
„Aber wir haben gerade erst geschlossen”, sagte sie schnell, als ob sie versuchte, seine Enttäuschung aufzufangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. „Ich denke, ich könnte Ihnen noch ein Glas unserer Spezialität einschenken. Tatsächlich”, fügte sie mit nicht geringem Stolz hinzu, „habe ich an der Rezeptur mitgearbeitet.“
Das Gesicht des Mannes hellte sich wieder auf. Er nickte ihr zu und neigte seinen Kopf in einer Art kleinen Schleife. Dann sprach er mit amerikanischem Akzent, Französisch abgehakt und sauber, aber auch zögerlich, als er nach den richtigen Worten suchte. „Es wäre mir ein Vergnügen”, sagte er. Er lächelte sie an und dann ging er zu einem der Tische hinüber, die sie kürzlich abgeräumt hatte.
Amelia sah zu, wie er sich bewegte und lies mit ihrem Blick nicht von seinem gut gebauten Körper ab, den man durch den Schnitt des schicken Anzuges erkennen konnte. Es sah fast so aus, als käme er gerade von einer Hochzeit oder Beerdigung. Sie machte sich eine geistige Notiz, danach zu fragen, falls sich die Gelegenheit dazu ergab.
Amelia warf einen Blick zurück zur Tür. Sie wusste, dass es gegen die Regeln des Ladens verstieß, Leute nach Feierabend hereinzulassen. Es würde ihr auch Kopfschmerzen bereiten, die Kasse nach Feierabend nochmals zu öffnen. Andererseits, obwohl sie es nur ungern zugab, hatte sie im letzten Jahr eine Reihe von Kunden wie diesen gutbetuchten Amerikaner gehabt. Sie hatte diese unerwünschte Aufmerksamkeit langsam satt. War es wirklich so schlimm, ihren Job zu benutzen, um Aufmerksamkeit zu erregen, auf die sie sich tatsächlich freute?
Sie sah ihn an und lächelte leicht. Er war wirklich ziemlich gut aussehend. Vielleicht nicht so groß, wie sie es gerne gehabt hätte, aber diese Augen, diese Kieferpartie, die Haltung, das selbstbewusste Auftreten, all das machte zusammengenommen jeden kleinen Fehler wett, den sie vielleicht entdeckt hatte.
Ein weiterer Nachteil von jemandem, dessen Arbeit es war, Kritik zu üben: Einige meinten, sie sei bei den Partnern, die sie wählte, übermäßig kritisch, aber Amelia konnte mühelos eine Zehn-Euro-Flasche Wein von einer Hundert-Euro-Flasche unterscheiden. Sie brauchte dafür nur einen Augenblick und genauso wollte sie Qualität bei den Männern in ihrem Leben.
Der gutaussehende Mann setzte sich an den Tisch, lehnte sich zurück und legte seine kleine, schwarze Aktentasche darauf. Da bemerkte sie, dass er Handschuhe trug. Reithandschuhe? Oder vielleicht Fahrhandschuhe?
Die Handschuhe waren schwarz und mit auffälligen Nähten. Er klopfte mit den Fingern einen Moment lang auf dem Tisch herum. Sie sah zu, wie er die Handschuhe langsam auszog und in die Tasche legte. Er schloss die Tasche wieder, wenn auch nicht vollständig. Diesmal warf sie einen flüchtigen Blick auf etwas, das darin glitzerte. Eine Streichholzschachtel?
Er war doch etwa kein Raucher, oder? Sie hasste es, wenn das passierte. Die Hübschesten hatten immer ein verstecktes Laster. Sie zog es einfach vor, davon zu erfahren, nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte.
Amelia sah den Amerikaner noch einmal eingänglich und fragte sich, wie er ohne diesen Anzug wohl aussah. Dann schmunzelte sie in sich hinein, ging hinüber hinter den Tresen und zog einen der besonderen Weine dem Holzschlitz an der Rückseite der Vitrine heraus. Sie holte zwei saubere Gläser und ging wieder dorthin zurück, wo er auf sie wartete.
Er bemerkte das zweite Glas. „Werden Sie mit mir trinken”, rief er quer durch den Raum und lächelte.
Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Meine Schicht ist schon fast vorbei.”
Der Mann kicherte. „Es wird unser kleines Geheimnis bleiben.”
Sie strich sich eine Haarsträhne zurück hinter das Ohr und ging dann zum Tisch, wobei ihre Absätze jedes Mal mit einem Klacken den Boden berührten, während sie wieder auf den Mann zuging. Sie stellte das Tablett und die beiden Gläser auf den Tisch neben ihm. Sie zögerte und merkte dann, dass sie ihren Flaschenöffner mit den anderen verschmutzten Gläsern zurückgelassen hatte.
„Merde”, fluchte sie. „Entschuldigung, eine Sekunde.”
Sie drehte sich um und eilte weg, aber einige Sekunden später hörte sie hinter sich ein leises Ploppen. Sie blickte erstaunt zurück und bemerkte, dass der Korken nun entfernt war. Der Mann wedelte mit der Hand über die Öffnung der Flasche, atmete tief ein und lächelte dann.
„Spätburgunder, oder?”, fragte er fröhlich.
Als sie ein zweites Mal zu ihm zurückkam und den Flaschenöffner mit dem Geschirr stehen ließ, setzte sie sich langsam an den Tisch und hob beeindruckt die Augenbrauen. „Sie kennen sich mit Weinen aus”, sagte sie. „Sind Sie auch Sommelier?”
Er schüttelte vornehm den Kopf. Seine Hände umklammerten das Glas, während er einschenkte und sie bemerkte, wie er es immer weiterdrehte und die Flüssigkeit darin studierte. Eine seiner Augenbrauen wölbte sich leicht auf seiner Stirn.
„Wissen Sie, es gibt Geschichten über Wein... Haben Sie von Dionysos, dem griechischen Gott, gehört?”
Sie runzelte die Nase und schüttelte den Kopf, als sie sich auf dem Stuhl gegenüber von ihm niederließ.
Er lächelte. „Das ist natürlich nur ein Mythos. Aber manche glauben, Dionysos' Verliebtheit in den Wein sei auf dessen Potenzial zurückzuführen Götter zu erschaffen. Die Frucht im Garten Eden, so sagen manche, sei einer Traubensorte nahegekommen. Es war sicher kein Apfel”.
Sie lächelte und war einen Moment lang verwirrt.
Scheinbar spürte er ihre Verwirrung und lachte. „Sind Sie zur Schule gegangen, um Wein zu trinken?”, fragte er.
Sie schnaufte ein wenig und sagte: „Eigentlich gesagt war es Agrartechnik.” Sie wünschte sich immer noch, sie hätte nicht so sehr geschwitzt, aber es war schön, über sich selbst zu sprechen. Nicht jeder teilte ihr Interesse an Wein. Sie studierte seine Lippen, seinen Kiefer, seine Augen, mit denen er seinem Gegenüber scheinbar tief in die Seele schauen konnte. Eine Sekunde lang linste sie im Augenwinkel auf die Arzttasche mit dem leicht geöffneten Reißverschluss. Sie konnte immer noch nicht ganz sehen, was sich darin befand und ihr wurde klar, dass es vielleicht unhöflich war, sie anzustarren. „Sie haben mir Ihren Namen gar nicht gesagt”, sagte sie.
Er grinste über das ganze Gesicht. „Sie können mich Gabriel nennen.”
„Es ist mir ein Vergnügen, dich kennen zu lernen, Gabriel”, sagte sie.
„Die Freude ist ganz meinerseits, Amelia.”
Sie lächelte, aber ihr Ausdruck erstarrte. Ein langsamer, kühler Wind schien plötzlich durch das Atelier zu wehen. Woher kannte er ihren Namen? Auf ihrem Namensschild stand nur ihr Nachname. Die Mitarbeiter des Ladens hatten sich bewusst hierzu, nach einigen unerwünschten Anrufen verschiedener Kunden, entschieden.
„Wie bitte?”, sagte sie.
Er lächelte sie wieder an, seine aufrüttelnden blauen Augen änderten im verblassenden Sonnenlicht fast ihre Farbe in ein tiefes Violett. „Und was genießen Sie außer Wein noch?”
Sie rieb sich an einem ihrer Arme, knöpfte den Ärmel auf und entschied, dass ihr das nur noch unbequemer war, bevor sie ihn wieder zuknöpfte. „Musik, Kunst, Poesie.”
„Wunderbar. Alles, wunderbar. Sie sind jung, nicht wahr?”
Sie rümpfte die Nase. „Ich bezweifle, dass ich viel jünger bin als Sie.”
Er zuckte bescheiden die Achseln. „Wie alt sind Sie, fünfundzwanzig?”
Sie fühlte ein weiteres Aufkommen von Unbehagen. Warum stellte er ihr diese Fragen? Er ging so schnell und nahtlos von einer Diskussion über Wein zu einem Ausflug in ihr Privatleben über. Es war keine große Mühe für jemanden, der wie Gabriel aussah, aber Amelia war auch nicht dumm. Plötzlich bemerkte sie, dass sie mit einem Fremden allein war und warf einen Blick auf die graue Limousine, die hinter den Müllcontainern parkte. Sie konnte das Nummernschild nicht ganz erkennen.
Sie beobachtete, wie sich die Finger des Mannes um das Weinglas legten. Er hatte noch etwas Wein im Glas, zusammen mit einem kleinen roten Rand auf seiner Oberlippe, den er nach einem Moment ableckte und zufrieden seufzte.
„Nun, ich hoffe, es hat Ihnen gefallen”, sagte sie leise. Während seines fast leer war, war ihr eigenes Glas fast unberührt. „Aber ich muss jetzt wirklich schließen. Das ist Vorschrift.”
„Liebe Amelia”, sagte Gabriel, „das verstehe ich vollkommen. Es ist wichtig, sich an die eigenen Regeln zu halten. Ich muss Sie noch etwas anderes fragen. Haben Sie jemals über das Leben nach dem Tod nachgedacht?”
Ihr Magen drehte sich um und nun ließ sie zum ersten Mal zu, dass die Emotion sich in Ausdruck eines zerknitterten Stirnrunzelns in ihrem Gesicht wiederspeigelte.
Er deutete ihren Gesichtsausdruck, war aber trotzdem neugierig und lächelte im Gegenzug. „Sie sind wirklich ziemlich hübsch, wenn Sie die Stirn runzeln, wissen Sie das? Nun, haben Sie an das Leben nach dem Tod gedacht?”
„Entschuldigung, was meinen Sie damit? Das ist eine sehr seltsame Frage.”
Sie zitterte und begann, sich vom Tisch zu entfernen. Vielleicht war es einfach nur seine amerikanische Art. Sie hörte oft, dass sie sogar Fremden sehr persönliche Fragen stellten. Den Franzosen gefiel diese Art des Eindringens in die Privatsphäre nicht besonders. Emotionen und dergleichen waren schön und gut, aber sicher nicht gegenüber völlig Fremden, nicht einmal gegenüber gutaussehenden. Andererseits hatte er gesagt, sie sei hübsch. Aber solche Worte begannen, ihren Zauber zu verlieren und sie klangen jetzt nur noch unangenehm.
„Ich habe darüber nachgedacht, Amelia, verstehst du?”, sagte er leise. „Der große Maler Albrecht Dürer malte ein Bild mit dem Titel: Der Engel mit dem Schlüssel der bodenlosen Grube. Darin schilderte er den einzigen Weg ins Jenseits. Haben Sie die Offenbarung gelesen? Oder haben Sie das nordische Ende betrachtet? So viele Theorien, so viele Gedanken. Aber die besten, wenn Sie mich fragen”, sagte er und plapperte weiter, als ob sie noch interessiert und nicht ängstlich wäre, „sind meiner bescheidenen Einschätzung nach diejenigen, die von einem ewigen Leben sprechen. Eine Fortsetzung. Unendliche Gesundheit. Keine Krankheit oder Traurigkeit mehr. Können Sie sich das vorstellen?”
Sie verschränkt jetzt ihre Arme. Natürlich versuchte der einzige gut aussehende Mann, der ihr jemals Aufmerksamkeit schenkte, nur, mit seinem Glauben hausieren zu gehen. Sie sagte es nicht laut, aber sie dachte es. Wer kam nach Feierabend zu einer jungen Frau in einen Weinladen und fing an, mit ihr über das Leben nach dem Tod zu sprechen?
Sie stieß sich vom Tisch weg und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid”, sagte sie leise, „ich bin nicht interessiert. Zu welcher Kirche Sie auch gehören, es tut mir leid. Ich möchte wirklich, dass Sie jetzt gehen.”
Der Mann sah zu ihr auf und seine Augen funkelten noch immer vor Heiterkeit. Wenn irgendetwas in ihrem Gesicht ihn verwirrte, zeigte er es nicht. Er nahm stillschweigend hin, was sie gerade gesagt hatte. Dann griff er in die Tasche seiner Arzttasche und zog seine beiden schwarzen Handschuhe heraus. Er zog sie vorsichtig an, wie ein Jockey vor einem Pferderennen. Als sie an seinen Händen waren, nahm er das Glas, aus dem er getrunken hatte und schüttete dann den verbleibenden Inhalt zur Seite.
Sie schrie beinahe und beobachtete wie die Spritzer das gemaserte Holz des Bodens trafen.
„Das hätten Sie nicht tun sollen”, schnappte sie jetzt wütend. Es spielte keine Rolle, wie gut jemand aussah, es ergab keinen Sinn, Wein zu verschwenden oder den Boden zu beflecken.
Er antwortete nicht sofort, sondern stellte stattdessen das Glas in seine kleine Tasche.
„Warten Sie mal”, protestierte sie, „das können Sie nicht mitnehmen.”
„Oh”, sagte er, „wie wäre es, wenn ich es einfach bei Ihnen kaufe?” Er versuchte, den Reißverschluss der Tasche zu schließen, aber sie ging nicht vollständig über dem Stiel des Glases. Nun war die Arzttasche noch weiter geöffnet und sie starrte auf den Inhalt. Ihr Herz sprang ihr beinahe aus der Brust. Ein kaltes, eiskaltes Gefühl breitete sich über ihre Wirbelsäule und bis zur Schädelbasis aus.
In der Tasche war ein Seil, Klebeband und eine Reihe kleiner Messer, die scheinbar durch einen dünnen Riemen miteinander verbunden waren. Sie entdeckte weitere Instrumente, für die sie keinen Namen hatte, einige mit kleinen Haken und andere mit Sondiernadeln. Sie entdeckte einen Infusionsbeutel und Gummischläuche.
Plötzlich bekam sie Angst. Sie stieg in ihre Brust und strömte in ihren Bauch, wie Whiskey, dessen Wärme sich nach dem Trinken im Körper ausbreitete. Sie sah schnell weg und hoffte, der Mann hätte ihre Aufmerksamkeit nicht bemerkt.
Sie machte mit ihrem Kopf eine Bewegung, von der sie hoffte, dass er es als höfliches Nicken wahrnehmen würde und nicht als eine verängstigte Geste.
„Entschuldigung”, sagte sie. „Ich muss mir die Nase putzen.”
Der Mann schaute sie nur an und machte eine galante Geste nach hinten. „Tun Sie, was Sie tun müssen”, sagte er. „Ich gehe, sobald ich kann. Ich möchte nicht stören.”
Als sie versuchte, ihre zitternden Hände zu verbergen, begann sie schnell wegzugehen.
Fingerabdrücke, dachte sie bei sich. So ein seltsamer Gedanke. Ein seltsamer Gedanke, aber einer, der ihr logisch erschien. Er wollte das Glas nicht zurücklassen, denn es waren seine Fingerabdrücke darauf. Dieser Gedanke versetzte sie nur noch weiter in Panik.
Sie musste raus. Aber wohin sollte sie gehen? Ihr Auto war auf dem gleichen Parkplatz geparkt wie seine graue Limousine. Sie musste hinten rausgehen, um das Gebäude herum und er würde sie durch das Fester sehen. Sie musste vor den Müllcontainern langgehen, um zu ihrem Auto zu gelangen. Er könnte sie vor ihr erreichen. Besonders mit ihrem kaputten Rücken. Sie würde es kaum schaffen.
Sie brauchte Hilfe. War Andre hier? Nein, sie hatte sein Auto nicht gesehen. Sie musste die Polizei rufen.
Sie lief steif, mit geradem Rücken und kümmerte sich nicht mehr um die Schweißflecke auf ihrer Uniform. Sie bewegte sich hastig zu einem der Nebenräume im hinteren Teil des Weinladens. Der Raum hier war kalt und oftmals kühlte sie hier einige der älteren Jahrgänge, bevor sie sie den reicheren Kunden servierte.
Mit kribbelnden Fingern tastete sie nach ihrer Tasche und holte hastig ihr Telefon heraus. Es dauerte ein paar Versuche, sich an ihre eigene Pin zu erinnern, so ängstlich wie sie war. Adrenalin durchströmte sie, pulsierte in ihrem Körper auf und ab.
„Komm schon”, murmelte sie „Komm schon!”
Dann hörte sie ein leises Klicken. Ein Klopfen auf ihre Schulter. Ein Klopfen mit einem behandschuhten Finger, das Gefühl von glattem Leder.
Ein Moment absoluten Grauens.
Sie drehte sich schnell um und wurde mit offener Hand hart an die Seite des Kopfes geschlagen. Ein zweiter Schlag folgte, aber kein wilder, untrainierter Schlag. Eine seltsame Schussbewegung, direkt in ihre Kehle.
Sie gluckste, keuchte und hörte eine leise, beruhigende Stimme, als mehr Druck auf ihren Hals ausgeübt wurde. „Bald wird alles vorbei sein, liebe Amelia. Wehre dich nicht, es könnte deine Luftröhre zerbrechen. Das würde ich nicht wollen.”
Dann wurde sie ohnmächtig.
***
Schmerz, pulsierende Nadeln in ihren Augen, in ihrem Kopf.
Sie fühlte sich schwach, träge und ihre Kopfschmerzen nahmen nur noch zu. Es war wie ein Kopfschmerz, den sie einmal bekommen hatte, als ihre Nase verstopft war und sie nachts durch eine dünne Decke atmen musste. Nicht genug Sauerstoff.
Ihre Augen flatterten träge und ihre Augenlider fühlten sich schwer an, wie mit Blei beschwert. Die Innenseite ihrer Augäpfel war kratzig und schmerzte und sie blinzelte gegen einen plötzlichen Blitz an.
Sie versuchte, sich umzusehen und stellte fest, dass ihr Kopf sich zwar bewegen konnte, ihr Körper jedoch gefesselt war. Das erfüllte sie mit noch größerer Furcht. Aber die Angst bewegte sich auch wie ein ständiges Kribbeln an ihrem Körper entlang, durch sie hindurch, wie Melasse, die über den Boden sickerte.
Sie versuchte, aufzustehen, stellte aber fest, dass ihr Rücken gegen etwas Kaltes gepresst war. Eine Sekunde später bemerkte sie, dass sie ihre Bluse nicht anhatte. Aus irgendeinem Grund machte ihr das noch mehr Angst.
Als sie nach unten blickte, bemerkte sie, dass ihre BH-Träger über ihre Schultern heruntergelassen worden waren und dass Metallklammern an ihren Armen hingen, die sie festhielten. Auch ihre Beine konnte sie nicht bewegen. Sie blickte nach unten und befürchtete das Schlimmste, aber sie sah, dass sie immer noch ihre Hose trug; zumindest das war der Fall.
So entblößt schaute sie sich um und stellte fest, dass sie sich in einem unbekannten Raum befand. Helles Licht, wie Kinoscheinwerfer, strahlen auf sie herab. Plötzlich sah sie ihren Arm an und schrie fast. Eine Nadel war in ihr Handgelenk gestochen worden und führte zu einer Infusion und einem Beutel mit Gummischlauch.
Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie etwas in ihren Körper pumpen würden. Aber nach einem Moment des verwirrten Starrens wurde ihr klar, dass sie etwas aus ihrem Körper herauspumpten.
Jemand nahm ihr Blut ab.
„Hilfe”, krächzte sie mit geschwächter Stimme. Die Worte schafften es kaum, über ihre Lippen, bevor sie nur noch ein Krächzten waren und verstummten.
Wie viel Blut hatte sie bereits verloren?
Sie versuchte, erst in die eine und dann in die andere Richtung zu schauen, aber das blendende Licht flackerte immer noch vor ihr. Das kühle Metall klebte an ihrem halbnackten Oberkörper. Und dann, ein verschwommener Schatten.
Sie brauchte einen Moment, um sich darauf konzentrieren, aber sie erkannte, dass es der Schatten des Mannes war.
Er war immer noch so gut aussehend, wie sie sich erinnerte. Kein einziges Haar war fehl am Platz. Er trug immer noch die gleichen schwarzen Handschuhe: Reithandschuhe? Fahrhandschuhe?
Er pfiff leise vor sich hin und klopfte gegen eine Nadel. Er schnippte ein paar Mal mit der Nadelspitze und sie merkte, dass die Nadel am Ende einer Spritze war. Er hielt die Spritze hoch, und hielt sie gegen das Licht und bewegte sich dann auf sie zu.
Eine Sekunde später hielt er jedoch inne. „Ah, liebe Amelia, Sie sind wach. Wie schade. Ich hatte gehofft, Sie könnten noch etwas länger wegbleiben. Das ist kein angenehmer Vorgang. Ich wollte Ihnen nicht zur Last fallen.”
Sie stöhnte und versuchte zu sprechen. „Fick dich”, schaffte sie zu sagen.
„Tz, tz, tz“ sagte er leise und sprach immer noch mit diesem amerikanischen Akzent. Zuerst war es so charmant gewesen, aber jetzt fühlte es sich an, als ob er sie verspotten würde. „Amelia”, sagte er leise, „sieh mal, ich will Ihnen nicht wehtun. Ich verspreche Ihnen”, sagte er und kreuzte die Finger über seiner Brust, „ich habe Sie in keiner Weise unangemessen behandelt.
Er tatschelte ihre Wange und machte eine bescheidene Geste in Richtung ihres unbekleideten Oberkörpers. „Ich suchte nur nach der besten Vene. Das ist wirklich eine Kunstform. So wie Sie über Wein sprechen, verstehe ich das.” Er lächelte sie an. „Ich habe nichts Unanständiges getan. Ich hoffe, Sie glauben mir.”
Sie nickte nicht, sie antwortete nicht. Sie wehrte sich gegen die Fesseln an ihren Handgelenken und Beinen. Aber sie war festgeschnallt.
Er legte einen seiner Finger auf seine perfekten Lippen und seine blauen Augen blickten zu ihr hinab. „Liebe Amelia, ich hatte Sie gefragt, ob Sie an das Leben nach dem Tod glauben. Es schien Sie nicht zu interessieren. Ich nehme an, das könnte eine gute Sache sein. Wenn Sie an den Ort kommen, hoffe ich, dass Sie mir auf der anderen Seite davon erzählen werden. Wie auch immer, es war mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe, Sie wiederzusehen. Danke.” Er fügte diesen letzten Teil schnell hinzu und beugte seinen Kopf. „Ich danke Ihnen von Herzen.”
Und dann, mit derselben schnellen Bewegung, mit der er sie bewusstlos geschlagen hatte, zog eine Hand, etwas Scharfes aus der Nähe seiner Taille hervor. Etwas Metallenes blitzte auf und ihre Kehler schmerze plötzlich.
Adele keuchte und wedelte ihre Hand vor ihrem Gesicht, als die Staubwolke des Lastwagens über sie hinwegwehte. Sie runzelte die Stirn, senkte den Kopf und rannte weiter. Sie spürte, wie ihr heißer Atem nur stoßweise von ihren Lippen kam, in leisen Zügen ausströmte und auf die kalte Morgenluft traf. Ein Fuß vor den anderen, ein Jogging-Schritt.
Einatmen, ausatmen, den Schweiß abwischen. Einatmen, ausatmen. Sie joggte weiter, sie erhöhte das Tempo, den Blick immer nach vorn gerichtet.
Fünf Uhr dreißig am Morgen. Um diese Zeit öffnete die Anlage. Sie hatte den Zeitplan der Fabrik bereits auswendig gelernt. Sie hatte bereits die Namen der verschiedenen Arbeiter in der Schicht gelesen. Sie hatte bereits die Grenze ihres Ermessens als DGSI-Agentin überschritten. Technisch gesehen war sie eigentlich nicht bei der Agency angestellt, sondern freiberuflich tätig, nachdem sie wieder nach Paris zurückgezogen war.
Sie joggte die Straße hinauf und setzte damit einen vertrauten Weg fort, den sie sich in den letzten zwei Wochen erarbeitet hatte.
Während sie weiterlief, warf sie einen Blick auf die dahinter liegende Einrichtung.
Der Weg, den sie gewählt hatte, um die riesige Anlage in der Ferne zu umrunden, war kaum mehr als ein zweistündiger Lauf. Dieses Pensum lief sie jeden Morgen. Ganz einfach. Eigendynamik sorgte für Disziplin. Disziplin förderte Ausdauer. Kleine Effekte verstärkten sich mit der Zeit.
Und doch hatte sie sich heute für den Tag entschieden, die Anlage zu betreten. Der Fall des Mordes an ihrer Mutter musste langsam gelöst werden, konnte aber nicht warten. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht; jetzt war es Zeit zu handeln. Kein Aufklären mehr, kein Verfolgen der Lastwagen und kein Beobachten der Laderampen. Jetzt ging sie in die Höhle des Löwen.
Schokoriegel. Eine seltsame Sache, sie in etwas so Graues und Düsteres verpacken zu lassen, hinter einem dünnen, mit Stacheldraht verkleideten Zaun.
