Nichts davon ist wahr - Michelle Painchaud - E-Book

Nichts davon ist wahr E-Book

Michelle Painchaud

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Beschreibung

Ein psychologisch ausgefeilter Thriller der Extraklasse Mit vier Jahren wurde Erica Silverman entführt. Jetzt, 13 Jahre später, ist sie wieder da. So scheint es zumindest … Denn das Mädchen, das aufgetaucht, heißt eigentlich Violet. Sie wurde ihr ganzes Leben darauf vorbereitet, Erica zu sein: Violets Vater ist ein hochprofessioneller Betrüger, der vor nichts zurückschreckt, um diesen Identitätsschwindel durchzuziehen. Doch je länger Violet sich als Erica ausgibt, desto schwerer fällt es ihr, dieses skrupellose Spiel weiterzuspielen.

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Seitenzahl: 329

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über das Buch

Vergebt mir. Ich spiele ein Mädchen, das vor dreizehn Jahren verschwunden ist. Ein reiches Mädchen. Ein totes Mädchen.

Mit vier Jahren wurde Erica Silverman entführt. Jetzt, 13 Jahre später, ist sie wieder da. So scheint es zumindest … Denn das Mädchen, das auftaucht, heißt eigentlich Violet. Sie wurde ihr ganzes Leben darauf vorbereitet, Erica zu sein: Violets Vater ist ein hoch professioneller Betrüger, der vor nichts zurückschreckt, um diesen Identitätsschwindel durchzuziehen. Doch je länger Violet sich als Erica ausgibt, desto schwerer fällt es ihr, dieses skrupellose Spiel weiterzuspielen. Wem gilt ihre Treue?

Psychologisch perfekt ausgefeilter Thriller der Extraklasse

 

 

 

 

Für PM.

Du brauchst keine Angst mehr zu haben.

 

 

 

 

»Las Vegas is the only place I know

where money really talks –

it says, ›Good-bye‹.«

Frank Sinatra, Schicksalsmelodie

1. TÄUSCHEN

Ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, meinen neuen Namen zu schreiben.

Mit der Zeit wird es einfacher werden. Wie die meisten Dinge. Aber momentan ist es noch seltsam und ungewohnt, den Namen Erica an den Rand meines Mathe-Arbeitsblatts aufs Papier zu bringen. Der Name ist schön und er ist süß. Aber er passt nicht zu mir.

»Erica?« Mr Roth, der Mathelehrer im Opapulli, lächelt. »Möchtest du dich der Klasse vorstellen?«

Nein. Lieber würde ich mich auf der Stelle übergeben.

»Klar.« Ich stehe auf und gehe nach vorn. Das Whiteboard ist so geisterhaft weiß und leer, dass es mich einschüchtert. Ich will mich nicht umdrehen. Ich will die Klasse nicht ansehen. Ich drehe mich um.

»Hi. Mein Name ist Erica Silverman.«

Ein Raunen geht durch die Reihen. Augenpaare starren mich an. Meine Mitschüler haben schon von mir gehört. Ein schwarzhaariges Mädchen ganz vorne funkelt mich böse an, aber ich meide alle Blicke. Erica ist noch ein bisschen empfindlich. Roth räuspert sich.

»Das genügt. Vielleicht ist es am besten, wenn du uns nichts Persönliches erzählst, Erica.« Er wendet sich an die Klasse. »Bitte behandelt sie genauso respektvoll wie jeden anderen Schüler. Und denkt daran, wenn ihr mit den Journalisten da draußen über Erica sprecht, lasse ich euch nachsitzen. Je eher wir diese Leute ignorieren, umso eher werden sie abziehen.«

Zustimmendes Gemurmel erfüllt den Raum. Ich setze mich wieder. Durch das Fenster rechts von mir kann ich den Rasen vor der Schule sehen. Die Reporter gehen am Zaun hin und her und machen Fotos. Seit heute früh sind es noch mehr geworden, zwei weitere Sendewagen parken dort. Sie sind wegen mir hier. Vor den Kameras fällt mir das Verstellen leicht. Meine Mitschüler sind eine andere Nummer. Aber ich kann nicht zugeben, dass ich nervös bin. Lampenfieber ist was für Anfänger.

»Aasgeier.«

Eine leise Stimme von links. Neben mir fläzt ein Junge auf seinem Stuhl. Er sieht aus, als wäre er gerade aufgewacht: Die welligen blonden Haare stehen wild vom Kopf ab und seine blauen Augen fallen fast zu. Er ist nicht übermäßig attraktiv, hat aber ein ebenmäßiges, freundliches Gesicht, das man allerdings sofort wieder vergisst.

»Aasgeier? Wer, ich?«, flüstere ich.

Er zuckt zusammen. »Nein. Die da. Diese Arschlöcher von Paparazzi.«

Arschlöcher. Ich lasse mir das Wort auf der Zunge zergehen. Ich habe bestimmt einen Monat lang niemanden fluchen gehört und selbst die höfliche Ausdrucksweise imitiert. Ich schaue aus dem Fenster und setze ein Lächeln auf.

»Langsam gewöhne ich mich daran. Diese Woche hat nur aus Kameras und Polizisten bestanden. Wenn ich noch einmal mit Blitzlicht fotografiert werde, brauche ich einen Blindenhund.«

Ich meine es als Scherz, aber er runzelt die Stirn. »Du kannst ihnen doch sagen, dass sie sich verpissen sollen.«

Das wollte ich ja. Glaub mir, Junge, als sie sich heute früh um unser Auto drängten, hätte ich ihnen am liebsten Tausend üble Dinge an den Kopf geworfen. Doch das geht nicht. Ich versuche, überrascht auszusehen, so wie es die verletzte Erica wohl wäre. »Ich glaube, das wäre ziemlich unhöflich.«

»Haben deine Kidnapper-Eltern dir etwa beigebracht, dass man auf dir herumtrampeln darf?«

Mein Blick verfinstert sich. So reagiere ich immer, wenn die Sprache auf meine Eltern kommt. »Ich würde schon gern unhöflich zu denen sein, ich weiß nur nicht, ob sie es wert sind, dass ich überhaupt mit ihnen spreche.«

Er grinst. »Die Antwort gefällt mir schon besser.«

Aus den Lautsprechern tönt das Morgengebet. Wir senken die Köpfe. Das hier ist eine private christliche Schule. Das Kreuz auf dem Dach wirft seinen Schatten auf den Rasen. Der blonde Junge neben mir senkt den Kopf nicht. Das schwarzhaarige Mädchen schaut finster auf den Boden. Einige Schüler starren geradeaus. Jeder betet auf seine Art. Ich falte die Hände und lehne meine Stirn dagegen. Ich achte darauf, die empfindlichen Partien meines Gesichts nicht zu berühren. Die blauen Flecken von der Schönheitsoperation sind verschwunden, aber den Phantomschmerz in meinen Muskeln spüre ich noch.

Lieber Gott, vergib mir meine Sünden. Ich spiele ein Mädchen, das vor dreizehn Jahren verschwunden ist. Ein reiches Mädchen.

Ein totes Mädchen.

— — —

Im Alter von vier Jahren war Erica Silverman ein bezauberndes kleines Mädchen: hellblondes Haar, tiefbraune Augen mit langen Wimpern und ein strahlendes Milchzahnlächeln. Sie war der ganze Stolz der Familie Silverman, des Luftfahrtingenieurs Mr Silverman und seiner Frau, die aus einer alteingesessenen, reichen Familie aus Georgia stammte und in den besten Kreisen verkehrte. Die beiden ließen sich in Seven Hills nieder, wo die wilde Wüste um Las Vegas von künstlichen grünen Hügeln und majestätischen Villen zurückgedrängt wurde. Erica spielte gern Prinzessin und Drache und mochte Porzellanpuppen mit glänzenden Augen.

Eines Tages war Erica nirgends zu finden, als ihre Mutter sie vom Kindergarten abholen wollte. Das Sicherheitspersonal hatte gerade mal 30 Sekunden lang nicht aufgepasst. Mehr Zeit war nicht nötig, um die am Straßenrand auf ihre Mutter wartende Erica zu entführen.

Die Jagd nach dem Entführer dauerte Jahre, bis die Polizei die intensive Suche nicht mehr rechtfertigen konnte. Lösegeld wurde nie gefordert. Es gab keine Spur. Immer neue Privatdetektive kamen und gingen und jeder scheiterte aufs Neue. Für die weitere Suche bedurfte es eines konkreten Hinweises auf das Mädchen. Man vermutete, dass es in einen anderen Bundesstaat, vielleicht sogar über die Grenze gebracht worden war. Nach sieben Jahren brach Mr Silverman zusammen, was durchaus typisch für Eltern ist, deren Kinder sterben – er war verzweifelt und durcheinander, da war nichts mehr zu retten. An einem Dienstagmorgen zerschlug er jedes einzelne Möbelstück in seinem Büro im 15. Stock und zuletzt die Fensterscheibe. Sie erwischten ihn gerade noch rechtzeitig, bevor er hinausklettern konnte. Nach seinem psychotischen Zusammenbruch kam er in die beste Nervenklinik, die Mrs Silverman sich leisten konnte. Jetzt hing alles an ihr, allein litt und wartete sie auf ein Lebenszeichen ihrer Tochter.

Ab hier gibt es zwei Versionen der Geschichte:

Die Wahrheit: Erica ist tot. Ihr Entführer Gerald Brando tötete sie nach 48 Stunden. Der 36-jährige Computerverkäufer aus Boulder City war durch einen Zeitungsartikel über ihre Familie auf sie aufmerksam geworden und seitdem von ihr besessen. Ein Jahr lang beobachtete er sie, kannte ihren Tagesablauf und ihre Eigenheiten. Die Entführung hatte er minutiös geplant, deshalb war jeder Gedanke an Flucht oder Befreiung absolut sinnlos. Er hatte einen IQ von 120, war deswegen aber nicht übertrieben stolz oder gab damit an. Mein Vater Sal begegnete ihm im Gefängnis, wo er wegen Mordes an einem anderen Kind saß. Gerald hat der Polizei nie von Erica erzählt, aber beim Sport im Gefängnishof erzählte er Sal alles bis ins kleinste Detail.

Die Lüge: Ein Paar hatte Erica entführt und als ihr eigenes Kind aufgezogen. Dem mit Sal befreundeten Paar wurde ein Teil des Geldes versprochen, wenn der Schwindel klappte. Gerade flüchten sie ins Ausland und überlassen die jetzt 17-jährige Erica – mich – der Polizei.

Sal ist ein Trickbetrüger. Ich bin seine Tochter. Und das hier ist unser größter Coup.

Bis heute war ich noch nie auf einer Highschool. Oder einer Middleschool. Oder auf irgendeiner anderen Schule. Schule war einfach nicht drin, wenn man so viel umzog wie wir. Sal unterrichtete mich zu Hause. Vor einem Jahr lernte ich Differenzialrechnung, alles über die Klassiker und über Sals persönliches Lieblingsthema, taktische Militärphilosophie. Der Schulunterricht ist zu einfach. Das Zeug habe ich schon vor Jahren gelernt, aber ich lasse mir nichts anmerken. Ich melde mich nicht und beantworte manche Fragen absichtlich falsch. Nur ein paar. Erica ist ein kluges, aber nicht zu kluges Mädchen. Wenn jemand zu klug ist, fühlen die Leute sich nicht wohl. Ich will aber, dass sich in meiner Nähe alle wohlfühlen. Denn Leute, bei denen man sich wohlfühlt, haben nur selten etwas zu verbergen.

Meine Freistunden werden mir schnell zum liebsten Teil des Schultags. Man muss nicht gerade sitzen und tun, als passte man auf. Stattdessen: Freiheit. Die Freiheit, durch die Gänge zu laufen und die Umgebung und die Leute in Augenschein zu nehmen. Die Schüler auf den Fluren sehen mich flüchtig an. Den ganzen Monat lang war ich Thema in den Nachrichten. Sie wissen genau, wer ich bin, tun aber, als wäre nichts. Gruppen von Mädchen beobachten mich, lassen ihre Blicke über mein Gesicht und meine Uniform schweifen und sehen dann wieder weg, als wäre ich ihnen völlig egal. Und doch höre ich ihr Flüstern und ihr lautes Kichern. Die sprechen doch garantiert über mich. Ich atme tief ein, versuche, meine Verwirrung wegzuatmen. Denk an Sals Worte! An das, was er mir beigebracht hat. Die oberste Regel eines Trickbetrügers: Auch wenn du keinerlei Selbstvertrauen hast – tu so, als hättest du welches.

Bring sie dazu, an deine Illusion zu glauben.

Ich drücke die Schultern durch und werfe die Haare zurück. Selbstvertrauen. Ich gehe mit großen, gleichmäßigen Schritten. Starren einige Schüler mich zu lange an, lächle ich, woraufhin sie abrupt wegschauen. Selbstvertrauen. Bring sie dazu, alles und jedes zu glauben. Bring sie dazu, an dich zu glauben.

Die Mädchentoilette – ein Rückzugsort vor ihren Blicken. Ich hatte es mir leichter vorgestellt, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht so stressig. Sobald ich die Tür hinter mir zuziehe, fällt mir ein Stein vom Herzen. Die Spiegel sind sauber; in den Kabinen sind kaum Schmierereien. Wenn ich mein neues Gesicht im Spiegel sehe, bleibt mir immer noch das Herz stehen und mir gefriert das Blut in den Adern. Ich muss mich ansehen. Ein normales Mädchen meidet Spiegel nicht – sie sind ihre besten Freunde und schlimmsten Feinde, sie ist von ihnen besessen. Ich starre in den Spiegel und sage tonlos meinen richtigen Namen, als schlösse der Spiegel dieses Geheimnis in seiner silbrigen Tiefe ein.

Violet.

Mein richtiger Name ist Violet.

Meine Haare sind nicht so blond, wie sie sein müssten, aber wir haben beschlossen, das Aschblond zu lassen. Strähnchen hätten unnatürlich ausgesehen, so als wollte ich verzweifelt die Haarfarbe eines kleinen Mädchens nachahmen. Mit zunehmendem Alter dunkelt Blond oft nach, wodurch meine Farbe erklärt werden kann. Meine Wangenknochen treten deutlicher hervor als früher. Implantate waren keine Option, die würde man auf Röntgenbildern sofort sehen, aber der Knochen wurde für dieses Aussehen abgeschliffen. Meine Augen sind jetzt größer und runder. Sie haben sie an den Seiten aufgeschnitten (der Arzt hatte das mit dem Schälen von Trauben verglichen). Meine früher gekrümmte Nase zeigt jetzt leicht nach oben (man müsse den Knorpel abschleifen, hatte der Arzt gesagt). Drei Operationen in fünf Jahren. Ich bin schön, aber stolz darauf bin ich nicht. Ich fühle mich einfach nur verloren, klein, verschlungen. Erica hat mich in einem Stück hinuntergeschluckt. Je mehr ich mich auf ihr Leben einlasse, umso überzeugender werde ich sein. Ich muss aufpassen und mir meiner Umgebung bewusst sein, so wie Sal es mir beigebracht hat. Ich darf den Betrug nicht auffliegen lassen, schließlich soll er uns so viel Geld bringen, dass wir uns aus der Kleinkriminalität zurückzuziehen können. Aus jeder Art von Kriminalität. So viel Geld, dass wir uns kaufen können, was unser Herz begehrt: Häuser, Autos, kleine Inseln. 60 Millionen Dollar sind keine Peanuts. Und leicht kommt man an so eine Summe auch nicht heran. Vom Silverman-Gemälde wird selbst in den dunkelsten Ecken der Unterwelt von Las Vegas gemunkelt, es ist der Heilige Gral jedes gewieften Einbrechers. Keiner glaubt, dass dieser Coup gelingen kann – er ist eine Art Goldmedaille der Kriminellen. Sals Leute benutzen ihn sprichwörtlich: »Wenn du mich unter den Tisch trinken kannst, Kumpel, dann klaue ich das Silverman-Gemälde.« Es ist wie der Mount Everest für Bergsteiger, der Marianengraben für Taucher oder der Super Bowl für Footballmannschaften.

Und ich werde es im Alleingang stehlen.

Mein ganzes Training und alles, was Sal mir beigebracht hat, läuft hier und heute zusammen. In diesem Moment.

Ich lächle den Spiegel an. Es sieht zu warm und echt aus. Einstudiert. Ich ziehe meine Mundwinkel ein wenig nach unten. So. Schon besser. Ehrlicher – was auch immer das ist. Ich kann nicht mehr ehrlich sein. Damit ist es seit einem Monat vorbei, seitdem ich aus dem Polizeiauto stieg und die Welt der Privatschulen und schicken Uniformen betrat.

Ehe mein Undercover-Job begann, ließ Sal mich normale Schüler beobachten. Wir parkten gegenüber einer Schule und sahen zu, wie sie herumwuselten, lachten, stritten, einander küssten. Sie waren ehrlich. Ich dagegen lebte und arbeitete mit Menschen, die mit ihrem ganzen Körper logen. Mit meiner irreführenden Körpersprache trickste wiederum ich diese Menschen aus. Ich kann Menschen gut lesen, doch bei diesen Jugendlichen musste ich mich nicht wirklich anstrengen. Für mich waren sie offene Bücher voll unterschiedlichster Gefühle, wobei Liebe, Hass und alles dazwischen sich so schnell abwechselten, wie wenn ein ungeduldiges Kind mit der Fernbedienung in der Hand zwischen den Kanälen hin und her zappte.

Sal lächelte. »Siehst du? Es ist ganz leicht, ihnen die Normale zu vorzuspielen. Einfach indem du ihnen gar nichts vorspielst.«

Ich würde ihn gerne anrufen. Ich will seine Stimme und sein Lachen hören und ihn um Rat fragen. Aber ich kann nicht. Nicht in dieser entscheidenden Phase. Ich muss alle überzeugen, dass ich Erica bin. Mit jedem Anruf, jedem Wimpernschlag, jedem Lächeln und Winken. Es ist die Rolle meines Lebens.

Jemand betritt das Mädchenklo. Es ist das schwarzhaarige Mädchen, das mich vorhin so böse angefunkelt hat. Unsere Blicke treffen sich. Ihre tiefbraunen Augen sind dick mit Eyeliner umrandet, der ihrem Blick etwas Düsteres verleiht. Sie sieht weg, lehnt sich gegen das Waschbecken und steckt sich eine Zigarette an. Ich gehe in eine der Kabinen. Ich bin nervös. Plötzlich kommt mir das Geräusch beim Pinkeln besonders laut vor. Als ich aus der Kabine gehe, ist sie immer noch da und bewegt sich auch dann keinen Millimeter, als ich das Waschbecken hinter ihr benutzen will. Sie sieht mich durchdringend an und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Ich trockne meine Hände ab. Anderen Leuten jagt sie vielleicht Angst ein, aber ich kenne diesen Typ Mensch. Sie spielt die Starke, um ihre Verletzlichkeit zu verbergen. Jede von uns spielt ihre Rolle.

»Ich habe dich durchschaut.« Sie hustet.

Ich setze mein Pokerface auf und lege zugleich etwas Unsicherheit in meinen Blick, damit sie denkt, sie hätte die Oberhand. »Bestimmt hast du das.«

Lachend drückt sie die Zigarette auf dem Waschbeckenrand aus. »Du bist nicht die Erste, die diese Nummer abzieht. Das haben schon zwei andere Mädchen versucht. Du wirst auffliegen, wie die beiden auch.«

Sie hat recht. Ich habe viel über die beiden Mädchen gelesen, die vor drei beziehungsweise acht Jahren vorgaben, Erica zu sein. Sie hatten es auf das schöne Leben abgesehen – und genau das wurde ihnen zum Verhängnis. Man kann anderen nur eine bestimmte Zeit lang etwas vorspielen. Man muss sich auf die Beute konzentrieren, sie schnappen und abhauen, ehe man auffliegt. Die Beute dieser Mädchen bestand in einem Luxusleben. Meine ist einfacher und viel profitabler: das Silverman-Gemälde.

Die anderen Mädchen wurden geschnappt. Aber das waren eben die anderen. Ich habe sogar DNA – eine Haarsträhne der echten Erica, die Gerald im Gefängnis aufbewahrt hatte. Sal hat sie geklaut. Und ich habe einen Laborassistenten, der die Strähne für uns als frische DNA-Probe markierte, nachdem Sal ihn erpresst hat. Ich habe einen Bruch im rechten Wadenbein, den mir Sals Arzt zugefügt hat. Mein Bruch ist an genau derselben Stelle, in genau demselben Winkel verheilt wie der Bruch, den Erica sich bei einem Treppensturz zugezogen hatte.

Und ich habe Sal an meiner Seite.

Vor inzwischen fast einem Monat fand »Erica« heraus, dass ihre Eltern nicht ihre richtigen Eltern waren und sie entführt wurde. Erica mag verletzt und etwas zu nachgiebig sein, aber sie lässt niemanden auf sich herumtrampeln. Sie ist frustriert und wütend, schließlich hat im vergangenen Monat jeder Polizist und jeder Reporter ihr unterstellt, nicht die echte Erica zu sein. Sie hat die Nase voll von all den Unterstellungen.

»Du bist nicht die Erste, die an mir zweifelt«, gebe ich zurück. »Und du wirst nicht die Letzte sein.«

Sie kichert wie eine Hyäne. »Das habe ich schon mal gehört.«

Sie wirft die Tür hinter sich zu, der Knall reißt mir ein Loch in die Brust. Es ist mein erster Schultag und schon ist mir jemand auf der Spur. Fantastisch. Aber sie ist nur ein Mensch.

Ich dagegen habe mein Leben lang trainiert.

Die einschüchternde Art dieses Mädchens hat wahrscheinlich gereicht, um die vorherigen »Ericas« zu entlarven. Ich bin anders. Sal hat mich aus dem Kinderheim geholt, weil ich aussah wie sie. Er zog mich groß, weil ich später zu Erica werden sollte. Er wusste, dass ich mich eines Tages ganz einfach in sie verwandeln könnte, so einfach wie andere Leute sich einen Handschuh überstreifen.

Und noch ehe ich Ericas Namen kannte, war sie ein Teil von mir.

In der Cafeteria hole ich mir ein Sandwich und zeige der Schülerin an der Kasse meine Essenskarte. Die Tasten der Kasse sehen alt und abgenutzt aus. Als die Schülerin die Kasse öffnet, steigt eine Erinnerung in mir auf.

— — —

Als Fünfjährige ist Violet die perfekte Ablenkung.

Benzingeruch verstopft ihre Nase und Zigarettenrauch lässt ihre Augen tränen. Die grell leuchtenden Markennamen der Biere im Schaufenster blenden sie. Sie tapst zur Kasse und quetscht die größtmöglichen Krokodilstränen hervor – was in einer ihr unbekannten Tankstelle, in der furchterregende Leute sie anstarren, ganz einfach ist. Der Kassierer sieht sich um und hofft, dass sich jemand um die Heulsuse kümmert, was aber nicht geschieht. Also kommt er hinter dem Tresen hervor und stellt Fragen. Wo sind die Eltern? Auf der Toilette? Bei der Tiefkühlware? Sie suchen gemeinsam; das Weinen wird lauter. Der Kassierer bittet das Mädchen, mit ihm hinter dem Tresen auf ihre Eltern zu warten. Zehn Minuten. 15. Erst nach einer halben Stunde kommt ein Mann mit zerzausten grauen Haaren hinein. Er ist groß, gut gebaut und hat die besten Jahre gerade erst hinter sich.

»Hat jemand meine Tochter gesehen? Meine Tochter, sie ist blond und hat braune Augen. O Gott, bitte, jemand muss sie doch gesehen haben!«

Der Kassierer kommt hinter dem Tresen hervor und beruhigt den Mann. Das Mädchen läuft nicht gleich auf ihn zu – irgendetwas stimmt hier nicht. Er will sichergehen, dass der Mann wirklich ihr Vater ist.

Der Kassierer steht mit dem Rücken zur Kasse. Violet ist gerade groß genug, um an den Knopf heranzukommen, der die alte Kasse aufspringen lässt. Aber sie ist auch klein genug, um nicht von der Sicherheitskamera erfasst zu werden. Sals panische Schreie übertönen das leise Kling, mit dem die Kasse sich öffnet. Kleine Finger tanzen über die Plastikfächer und greifen Zehner und Zwanziger. Sie nimmt, so viel sie kann, und stopft die Scheine unter ihren Overall. Dann schließt sie die Kasse leise wieder.

Sie ruft »Daddy!« und rennt mit fliegenden Zöpfen auf ihn zu. Das Wiedersehen ist nicht echt. Jedes Mal, wenn sie sich trennen und einander wiederbegegnen, tun sie nur so. Sie machen es gut und verdienen sich damit statt Fast Food ein ordentliches Essen und ein weiches Bett in einem Motel. Sal lächelt voller Stolz. Violet ist glücklich, weil er stolz ist, weil jemand, irgendjemand, stolz auf sie ist.

— — —

Heute habe ich das Haus seit einem Monat zum ersten Mal verlassen.

Haus trifft es nicht ganz. Mrs Silvermans Domizil gleicht eher einem Schloss oder einer großen Villa. Der Garten ist deutlich über einen Hektar groß und liegt in einer der besten Lagen in einem bewachten Wohngebiet von Las Vegas. Die Buntglasfenster heben sich wie ein Regenbogen von den schneeweißen Steinbalkons ab. Der Hausmeister schlendert zwischen Büschen umher, die gerade erst Knospen angesetzt haben. Der Garten wirkt übertrieben – er ist zu saftig und unnatürlich im Vergleich zur angrenzenden Wüste.

Mrs Silverman lässt mich an der langen Leine, damit ich zur Schule gehen kann. Ich habe fast Angst davor, wieder in den silbernen BMW zu steigen, mit dem sie vorfährt, doch ich unterdrücke das Gefühl und versuche, fröhlich auszusehen. Sie hat blondes, zu einem perfekten Bob frisiertes Haar. Ihr dunkelblauer Anzug bringt ihre blasse Haut und die roten Lippen zum Leuchten. Sie hat eine schmale Nase und hohe Wangenknochen. Inzwischen sehe ich ihr ähnlich. Zu ähnlich. Sie steigt mit einem breiten Lächeln aus dem Auto. Es ist zu gewollt. Zu herzlich.

Sie umarmt mich. Die Reporter am Zaun drängen auf uns zu, aber die Polizisten halten sie mit aller Macht zurück.

Spiele deine Rolle gut, Violet. Verliere dich im Schmerz dieser Frau, in ihrer tiefen Erleichterung, die so einfach nachzuahmen ist. Werde zu einer Strömung im Fluss ihres Lebens und im Meer ihres Kummers. Sie schluchzt in meine Haare.

»Tut mir leid, Schatz, tut mir leid. Ich habe dich vermisst. Es ist zwar nur Schule, aber ich habe dich so sehr vermisst …«

»Schon okay.« Ich schluchze; mir kommen die Tränen. Sie riecht nach Rosen und teurer Lotion. Die schiere Kraft ihrer Traurigkeit und ihrer Fröhlichkeit machen das Schauspielern leicht. Was auch immer man vortäuschen will – der Trick dabei ist, sich vorzustellen, es wäre echt. Keine Zweifel. Nur Vertrauen. Das helle Licht der Februarsonne fällt auf uns, auf mein Gesicht, auf ihr Gesicht und auf unsere verschlungenen Körper. Sie weint in meine Haare. Ich mache das Gleiche. Ich bin ein Spiegel.

In diesem Augenblick bin ich Erica Silverman.

2. ÜBERZEUGEN

Ericas Haus sieht nicht wie ein Gefängnis aus.

Die breite Treppe aus Eichenholz ist glänzend poliert. An den Wänden hängen Gemälde. Die Räume sind lichtdurchflutet; von den hohen Decken hängen Kristallkronleuchter – funkelnde Regenbögen im Haus eines toten Mädchens. Die Möbel sind teuer, die Böden aus hochwertigem Parkett. Alles hier zeugt von Wohlstand. In genau so ein Haus würden Sal und ich einbrechen. Wenn die Türen weit offen stehen und die Besitzer im Esszimmer zu Abend essen, kann man große Häuser leicht ausrauben. Man kleidet sich wie ein Dienstleister, betritt grüßend und lächelnd das Haus, und niemand schöpft auch nur den leisesten Verdacht. Sal ging gern als Klempner, während mir die rosa Poloshirts der Hausmädchen gefielen. Wir stahlen teures Parfüm und Elektronikartikel. Mit viel Glück manchmal auch Schmuck.

Doch heute bin ich ein ganz anderes Mädchen. Eines, das keine Ahnung hat, wie man fast jedes auf dem Markt befindliche Industrieschloss knackt. Eines, das den Charakter eines Menschen nicht exakt anhand dessen Kleidung bestimmen kann. Ich werfe meinen Rucksack aufs Bett und sehe mich in Ericas Zimmer um. In meinem Zimmer. In den Regalen sitzen Puppen, in deren Glasaugen sich mein neues Gesicht spiegelt. 13 Jahre lang haben sie darauf gewartet, dass Erica zurückkehrt und mit ihnen spielt. Sie wissen Bescheid. Mit jeder ihrer Puppenlocken und jedem Seidenkleidchen verhöhnen sie mich. Sie wissen, dass ich nicht Erica bin. Anders als Mrs Silverman verzweifeln Puppen nicht. Und die Verzweiflung macht sie gegenüber der Wahrheit auch nicht blind. Auf dem Schminktisch erinnern Nagellackfläschchen und Ponyaufkleber an eine lang vergangene Zeit. Am Spiegel klebt eine Bleistiftzeichnung: eine Strichmännchenfamilie.

Mrs Silverman konnte nicht loslassen.

Und diese Tatsache ist für den Erfolg unseres Coups von entscheidender Bedeutung. Als ich aus dem Auto stieg, sah Mrs Silverman mich an, brach zusammen und begann zu weinen. Ich half ihr wieder hoch. Eine volle Stunde lang hielt sie mich umklammert. Ihre Hände gruben sich wie Klauen in meinen Rücken. Sie betastete ihn – betastete mich. Es konnte nicht nur an meinem Gesicht liegen, das dem Phantombild der Polizei der nun 17-jährigen Erica auf unheimliche Weise ähnelte. Mütter haben ein Gespür für so etwas. Diesmal war da noch etwas. Verzweiflung wahrscheinlich. Mit zwei falschen Ericas hatte sie es schon zu tun gehabt, hatte Hoffnung geschöpft, die zerstört worden war, erneut Hoffnung geschöpft und erleben müssen, wie auch diese zerstört wurde. Mr Silverman zog sich in den Wahnsinn zurück. Und sie hatte ihre Tochter und ihren Ehemann verloren.

Verzweiflung.

Ich aber bin überzeugend. Das Gesicht, die DNA. Die DNA war letztlich entscheidend. Ich durfte Mrs Silverman nicht sehen, bis die Probe bestätigt wurde. Erica wurde mit vier Jahren entführt. Damit war sie alt genug, um geliebt zu werden, aber jung genug, um die Zeit zu meiner Verbündeten zu machen. Die Zeit verzerrt die kleinen Fehler, die Sal mit viel Mühe verstecken und ausmerzen wollte. Mrs Silverman lässt es zu, dass Zeit und Gefühle ihre Hoffnungen verzerren. Sie sieht mich als die wahre Erica. Ihr Herz sagt ihr, dass ich die echte bin.

Sie sagte alle Verabredungen, Wohltätigkeitsbälle und Abendessen ab und verbrachte einen Monat allein mit mir im Haus. Wir lackierten uns die Nägel. Wir redeten. Hauptsächlich redeten wir und machten Essen, als könnten Nahrungsmittel den klaffenden Schlund der verlorenen Zeit füllen. Sie stellte mir Fragen zu jedem Jahr, jedem Geburtstag und jedem Weihnachtsfest. Ich erfand eine Geschichte für sie, die uns beide zum Weinen brachte. Eine Geschichte, die Sal und ich uns in den Monaten vor meiner Ankunft hier bis ins kleinste Detail ausgedacht und eingeübt hatten. Ich kenne jede Einzelheit, jeden Fahrradunfall und jedes Haustier, als wäre es mein eigenes Leben.

Wäre ich in diesem Monat gefilmt worden, hätte ich einen Oscar bekommen. Oder sogar zwei. Das war nicht nur einfache Schauspielerei. Ich ließ die tote Erica lebendig werden, rief ihre Seele an und lud sie ein, durch mich zu leben. Violet hatte ich so stark verdrängt, dass ich schon Angst bekam, sie verloren zu haben. Aber die Schule brachte sie wieder zum Vorschein. Sie trat aus dem Schatten von Mrs Silvermans Leid ins Licht. Aber nur ein klein wenig. Ich darf nicht zu viel von Violet zeigen.

Es klopft.

»Herein.«

Mrs Silverman lächelt zögernd. »Wie geht es dir?«

»Die Schule war anstrengend.«

»Waren sie nett zu dir?«

»Ich weiß nicht.« Ich streiche über die kindische rosafarbene Bettwäsche. »Sie haben mich angestarrt. Als wollten sie mir etwas unterstellen oder an mir zweifeln.«

Mit gequältem Gesichtsausdruck setzt sie sich zu mir.

»Du weißt ja, dass es zwei andere Ericas gab. Deine Mitschüler sind einfach verwirrt.«

»Genau wie ich.«

Sie drückt mir die Hand. »Was verwirrt dich denn?«

»Ich weiß nicht!« Ich stehe auf. Wut. Verwirrung und Wut. »Wie konnten sie das tun? Wie konnten sie mich entführen und es mir 13 Jahre lang verschweigen? 13 Jahre! Ich habe sie geliebt, ihnen vertraut!«

»Ihnen.« Mrs Silverman beißt sich auf die Lippen. Sie weiß, dass ich meine Entführer-Eltern meine. »Ich weiß auch nicht, Erica. Es waren eben schlechte Menschen –«

»Waren sie nicht!«, schreie ich. Sie zuckt zusammen. »Sie waren keine schlechten Menschen. Sie waren meine Eltern. Und jedes Mal, wenn ich dich ansehe, oder wenn ich die Journalisten sehe, oder meine Eltern im Fernsehen sehe, dann –« Ich verschlucke mich. »Dann will ich etwas kaputt machen. So lange, bis mir endlich jemand einen Grund sagt.«

»Erica –«

»Einen Grund!« Ich trete gegen die Tür.

»Erica, bitte.« Sie umarmt mich. »Atme. Tief atmen, genau wie wir es geübt haben.«

»Die Reporter tun, als sei das alles eine große Unterhaltungsshow.« Jetzt habe ich Schluckauf. »Aber es ist mein Leben! Mein Leben!«

»Ich weiß, ich weiß«, summt sie und drückt mich fester an sich. »Ich hatte gehofft, sie würden dich allmählich in Ruhe lassen. Es tut mir leid. Sie sind so aufdringlich, weil wir noch kein offizielles Statement veröffentlicht haben.«

»Können wir das nicht einfach hinter uns bringen?« Ich wische mir Tränen aus den Augen.

»Willst du das wirklich?« Mrs Silverman sieht mich besorgt an. »Vielleicht stehst du das nicht durch.«

»Doch, tue ich«, beharre ich. »Ich habe einfach keine Lust mehr. Ich will einfach nur zurück.«

Mrs Silverman zuckt zusammen. Ich bin zu schnell zu weit gegangen.

»Nicht zu meinen früheren Eltern«, stottere ich. »Ich meine, so wie es vorher war. Ruhig und friedlich.«

Sie entspannt sich etwas, sieht aber immer noch aus, als könne sie jeden Moment zusammenbrechen. »Das wird dauern.«

»Entschuldige. Ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.«

Sie streichelt meine Schulter. Die Berührung ist federleicht und wirkt auf unerklärliche Weise zögerlich. Ungläubig, dass ich wirklich hier bin. Und dankbar. Jeder ihrer Blicke, jede ihrer Berührungen ist noch genauso intensiv wie am Tag meiner Ankunft. Jeden Tag strahlt sie eine 13 Jahre währende Liebe aus, die ich aufsauge. Nie wurde ich so fest und mit einem so starken Beschützerinstinkt umarmt. Ihre Umarmungen dauern ewig. Ihre dünnen Arme zittern, als fürchte sie, ich würde mich in Luft und Lügen auflösen, sobald sie loslässt.

Sal war für mich Mutter und Vater in einem. Ein oder zwei Mal hat er mich auch umarmt. Eher, als ich jünger war. Bevor Sal mich adoptierte, hatte ich Pflegemütter, an die ich mich aber nicht erinnere.

Mrs Silverman ist meine erste richtige Mutter. Aber ich habe sie noch nicht »Mom« genannt. Die echte Erica würde an meiner Stelle auch zögern, Mrs Silverman Mom zu nennen – wenigstens im ersten Monat. Aber dieser Monat geht seinem Ende zu. Ich habe den seelischen Zustand eines entführten Mädchens überzeugend gespielt. Jetzt ist es Zeit für den nächsten Schritt.

»Mal sehen, was ich tun kann.« Endlich lässt sie los und geht zur Tür. »Einige Sender wollen Interviews mit uns. Wenn wir in einer Sendung auftreten, geben die anderen hoffentlich Ruhe. Und jetzt komm runter. Marie hat Croissants gebacken.«

»Okay.« Ich hole Luft. »Tief atmen.«

»Genau.« Sie atmet im gleichen Rhythmus. Sie lächelt wieder. »Tief atmen. Wir stehen das durch. Gemeinsam.«

Ihre Schritte hallen durch den Flur. Als ich nach unten komme, ist sie nicht in der Küche. Marie, Mrs Silvermans Haushaltshilfe, wirbelt zwischen den marmornen Arbeitsplatten hin und her. Sie stellt mir Fragen, ohne mich anzusehen.

»Wie war es in der Schule?«

»Langweilig.« Ich setze mich auf einen Barhocker.

Sie lacht, wie Leute lachen, die taktvoll über etwas hinweggehen möchten. Sie hat meinen Ausbruch vorhin mitbekommen. Sie ist mindestens 20 Jahre älter als Mrs Silverman und ihre von tiefen Falten durchzogene Haut zeugt von schweren Zeiten. Außer dem einen oder anderen FastFood-Lieferanten ist sie die Einzige, die im letzten Monat Zutritt zum Haus hatte.

Marie reicht mir ein noch warmes Croissant. »Bist du zur Schule gegangen, als du bei deinen anderen Eltern gelebt hast?«

»Ich wurde zu Hause unterrichtet. Wahrscheinlich sollte niemand herausfinden, dass ich nicht wirklich ihr Kind bin. Sie hätten ja eine Geburtsurkunde und solches Zeug vorzeigen müssen. Und das hatten sie nicht.«

»Hast du je –« Marie hält inne. »Vergiss es. Diese Frage steht mir nicht zu.«

»Ob ich je geahnt habe, dass sie nicht meine richtigen Eltern sind?« Sie ist leicht zu durchschauen. »Nein. Ich sehe ihnen zwar überhaupt nicht ähnlich und habe mich auch manchmal darüber gewundert, aber sie sagten, ich sähe aus wie eine Tante, die ich nie kennengelernt habe. Als ich sie nach Babybildern von mir fragte, hatten sie keine. Es gab viele solcher Kleinigkeiten, aber bis vor Kurzem ergaben sie keinen Sinn.«

Marie schweigt taktvoll. Ich balle die Fäuste.

»Ich werde ihnen nie verzeihen.«

»Das würde ich auch nicht.« Energisch durchschneidet sie eine Tomate.

»Bist du so weit, Erica?«, dringt Mrs Silvermans Stimme vom Flur. »Die Klinik schließt bald.«

»Komme schon.« Ich schlinge das Croissant hinunter und mit ihm meinen Ärger. »Danke, Marie. Du bist eine wirklich gute Köchin.«

Mrs Silverman steht zögernd im Türrahmen, den glasigen Blick in die Ferne gerichtet. Hinter dem gesicherten, schmiedeeisernen Tor warten Reporter. Beruhigend nehme ich ihre Hand.

»Gemeinsam«, nicke ich.

»Gemeinsam.« Sie lächelt. Ihre Augen leuchten jetzt wieder in einem klaren Saphirblau.

— — —

Nach Ericas Entführung brach Mr Silverman wie ein Spielzeugsoldat entzwei.

Ich versetze mich in seine Lage: Sie war sein Engel. Sie war der Grund, warum er so hart arbeitete, erst im Dunklen nach Hause eilte und so viele Puppen kaufte. Sie war der Grund für seine gute Laune und seinen schnellen, wachen Geist. Als sie verschwunden war – als sie entführt wurde –, richtete sich seine rasiermesserscharfe Intelligenz gegen ihn selbst und zerstörte – gleich einem Hai, der seine Beute angreift – seine Vernunft. Danach war auch er verschwunden. Nur sein von Hoffnungslosigkeit ausgemergelter Körper blieb zurück. Mrs Silverman ließ ihn in das Rehabilitationszentrum Whiteriver bringen, wo er seit vier Jahren lebt. Im vergangenen Monat haben wir ihn jeden Mittwoch besucht. Er hat weder mit mir noch mit Mrs Silverman auch nur ein Wort gesprochen. Wahrscheinlich weiß er nicht, wer wir sind oder dass er sich noch in der Welt der Lebenden befindet. Er will immer nur Dame spielen. Aufrecht hält ihn allein der vordergründige Wille nach Vorwärtsbewegung, wie bei einer darwinschen Lebensform. Atmen, blinzeln, atmen, seufzen. Er ist zwar hier, aber irgendwie auch nicht. Sein Körper sitzt am Linoleumtisch im Besucherraum. Nur sein Körper.

»Dad«, sage ich leise. »Ich bin’s.«

Er bekommt eine Glatze. Früher war er sehr attraktiv, aber durch das Alter und die emotionalen Schwierigkeiten ist er dünn und unterernährt. Bartstoppeln verleihen seinem Gesicht eine kränklich graue Färbung. Die dunklen Augen wirken apathisch und milchig. Er mustert mich, dann wendet er sich wieder seinem Damespiel zu. Er bewegt einen schwarzen Spielstein. Ich schlage ihn mit meinem roten.

In einen Fuchspelzmantel gehüllt beobachtet uns Mrs Silverman. Sie drückt in einiger Entfernung an einem Kaffeeautomaten herum und wirkt nervös. Sie hätte gerne, dass Mr Silverman die Stirn runzelt, grinst, irgendetwas tut. Ich soll die Zauberformel sein, die ihn zurück in die Realität holt. Dabei sehe selbst ich, dass er schon zu weit weg ist. Als ich zur Krankenschwester sagte, er werde sich bestimmt an mich erinnern, lächelte sie nur mitleidig. Keine seiner Aussagen haben Gewicht. Die Polizei wird niemandem glauben, der seit Jahren in der Irrenanstalt sitzt. Vielleicht kann ich ihm etwas Trost spenden. Ein bisschen Wahrheit geben. Sollte er etwas über mich erzählen, würde ihm ohnehin niemand glauben.

Ich nehme seine Hand.

»Ihre Tochter musste nicht lange leiden, Mr Silverman«, flüstere ich.

Gerald hatte ihr mit einem Messer die Pulsadern aufgeschnitten. Klinisch sauber, schnell und leise. Sie starb am Blutverlust und spürte wahrscheinlich nur eine zunehmende Kälte und Schläfrigkeit. Missbraucht wurde sie erst lange, nachdem sie gestorben war. Ihre Seele hat das nicht miterlebt.

Eine Krankenschwester bringt Wasser und Tabletten.

»Die sollen ihn, beruhigen«, versichert sie mir, als sie meinen fragenden Blick bemerkt.

Mr Silverman schluckt die Tabletten mechanisch, reflexartig. Sein Blick wandert wieder zum Damespiel – der einzigen Sache, die ihm wichtig zu sein scheint. Ich beneide ihn. Dieses Strategiespiel ist so viel einfacher als das, in dem ich mich gerade befinde. Und in dem ich die Hauptfigur bin. Alles hängt von mir ab.

Es wäre schön, zur Abwechslung mal eine einfache Spielfigur zu sein statt immer die Königin.

Mr Silverman lächelt sanft und bewegt einen Spielstein auf meine Grundlinie. Er schaut zu mir auf, feine Falten umspielen seine Augen.

»Ich habe gewonnen«, säuselt er.

— — —

»Hat er irgendetwas gesagt?«, drängt Mrs Silverman. Ich zögere und suche eine hübsche Lüge aus der in meinem Hirn abgespeicherten Sammlung heraus.

»Ich glaube, er hat etwas von Ballettunterricht gemurmelt?«

Hoffnung flackert in ihrem Blick auf. »Ja, als du jünger warst, hattest du Ballettunterricht. Vielleicht kommt er wieder zu sich. Wir sollten ihn weiter besuchen und aus seinem Panzer befreien.«

Ich bringe es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen oder zu widersprechen. Sie liebt ihn noch immer. Eltern, die einander lieben. Ob Erica wusste, wie viel Glück sie hatte?

Wieder zu Hause, bemerke ich, dass Marie mein Bett neu bezogen hat: blau mit weißen Blumen. Es riecht nach einem noblen Kaufhaus. Ich falle ihr um den Hals. Sie antwortet lachend auf Spanisch. Ich werfe mich aufs Bett, breite die Arme aus und spüre die weiche, gute Qualität. Die Laken sind so anders als die dünne Motelbettwäsche, in der ich einen Großteil meines Lebens geschlafen habe. Zum Abendessen gibt es Rippchen, die sich fast von allein vom Knochen lösen, und zum Nachtisch Sorbet. Ich schwebe auf Wolke sieben. Dieses Essen ist tausendmal besser als Sals verkohlte Versuche oder Fast Food aus dem Supermarkt. Mrs Silverman schiebt mir mit leuchtenden Augen ein Glas Wein zu.

»Probier mal. Trink langsam. Das ist ein sehr guter Wein von einem sehr guten Winzer.«

Sal ließ mich oft an seinem Lieblingswhiskey nippen. Der Wein ist milder und fruchtiger. Er brennt nicht so stark wie Whiskey. Ich muss trotzdem etwas husten. Lachend nimmt Mrs Silverman einen Schluck.

»Jetzt, wo du offiziell auf die Highschool gehst, lass uns ein paar Regeln festlegen.«

»Regeln«, wiederhole ich.

»Zum Beispiel Alkohol.« Sie dreht das Weinglas am Stiel hin und her. »Ein paar Schlückchen hier und da sind harmlos. Aber du bist jung, und junge Leute in Gruppen trinken gern. Ich bin sicher, dass du bald Freunde finden wirst. Die Erica, die ich kenne, ist überall beliebt.«

Ich will das Gesicht verziehen, aber Erica zwingt mich zu einem geschmeichelten Lächeln.

»Glaub mir, für Alkohol wirst du in deinem Leben noch genug Zeit haben. Du musst ihn nicht auf einmal trinken. Das ist ungesund. Wenn du ab und zu etwas trinkst, stört mich das nicht, Hauptsache, du und deine Freunde seid hier und ich habe eure Autoschlüssel. Ist das klar?«

Ich hatte schon vorher hin und wieder eine Ahnung von ihrer strengen Seite bekommen, beispielsweise als sie nach Einzelheiten aus meinem Leben bei den Entführern fragte. Geht es um meine Sicherheit oder meine Vergangenheit, verwandelt sie sich in eine Löwenmutter. Ich nicke.

»Glasklar.«

»Wenn um dich herum jemals alle betrunken sind, du dich unwohl fühlst oder Angst hast, ins Auto zu steigen, dann ruf mich an. Ich hole dich auf jeden Fall ab und werde keine Fragen stellen.«

»Wirklich keine Fragen?«

»Nicht eine einzige. Wenn so etwas aber ein zweites Mal vorkommt, brauche ich vermutlich Antworten.«

Ich nicke. Das klingt fair. Sal setzte mir nie wirkliche Grenzen, außer dass ich rechtzeitig für einen Coup oder für den Bus/Zug/Flug zu unserem nächsten Unterschlupf zu Hause sein musste. Auf Partys gehen war langweilig, wenn man täglich irgendwelche Nummern in Nachtclubs durchzog: Taschendiebstahl auf der Tanzfläche. Typen mit übergroßer Libido, die dumm genug waren, eine Minderjährige wie mich anzumachen, und dadurch allzu leicht erpressbar waren. Mädchen aus Studentenverbindungen, die auf der Suche nach Koks waren und sich stattdessen Backpulver andrehen ließen. Es gab unendlich viele Möglichkeiten. Aber nur zum Spaß auf eine Party gehen? Nur um Alkohol zu trinken, und nicht, um Geld zu machen? Klingt nach Zeitverschwendung.

»Haben dir diese Leute alles erzählt?«, fragt Mrs Silverman weiter. »Ich meine, über das Älterwerden und über, äh, Begegnungen mit dem anderen Geschlecht?«

»Diese Unterhaltung haben wir geführt, ja. Ich denke, ich weiß Bescheid.«

»Du solltest wissen, dass immer ein Kondom im Spiel sein muss. Immer. Ich will nicht, dass du eine Geschlechtskrankheit bekommst oder schwanger wirst. Jetzt, wo du endlich zu Hause bist, möchte ich ein möglichst gutes Leben für dich.«

Violet verdreht die Augen. Erica wird rot. »Mir passiert nichts. Gesunder Menschenverstand, richtig?«

»Wenn du die Pille nehmen möchtest, vereinbaren wir einen Termin beim Arzt. Aber sag es mir. Sei ehrlich zu mir.«

So machen Eltern das. Es fühlt sich merkwürdig an. Während ich mit Sal unterwegs war, hatte ich keine Zeit für feste Freundschaften, von Jungs oder Liebe ganz zu schweigen. Ich hatte einfach nicht die Gelegenheit dazu, entweder planten wir den nächsten Coup oder wir flohen vom Schauplatz des letzten. Einmal habe ich so getan, als wäre ich verliebt, aber das war Teil des Plans gewesen. Die Leere klingt in meinen Worten nach.

»Ich glaube nicht, dass mich jemand genug lieben wird, um so etwas mit mir zu machen.«

Mrs Silverman runzelt die Stirn. »Natürlich wird dich jemand gernhaben – und umgekehrt. Das ist nur eine Frage der Zeit. Wenn es so weit ist, möchte ich, dass du richtig vorbereitet bist.«

Er wird nicht kommen. Aber ich lächle trotzdem. Die Menschen mögen blinden Optimismus. Er weckt ihren Beschützerinstinkt.