Nichts ist vergessen - Ursula Schmid-Spreer - E-Book

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Ursula Schmid-Spreer

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Beschreibung

Vor 30 Jahren wurde die Leiche einer Hausfrau gefunden, erwürgt mit einer Strumpfhose. Ein Fall, der nie gelöst wurde – auch wenn Spuren ins Rotlichtmilieu führten. Nur rollt ein Journalist die Sache neu auf und Oberkommissar Hofmockel muss die vielen Puzzlesteinchen zusammensetzen, um diesen Mord aufzuklären. Was hat seine Freundin Cora mit der Sache zu tun? Welche Rolle spielt ihre Großmutter? Gibt es ein Familiengeheimnis? Kann der Fall etwa durch ein altes Tagebuch aufgeklärt werden?

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Ursula Schmid-Spreer
Nichts ist vergessen
Ein Nürnberg-Krimi

Inhaltsverzeichnis

Nichts ist vergessen

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Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

1

Erik Pfeiffer sah zerknirscht aus. Die tägliche Redaktionskonferenz war nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Sein Vorschlag, das Wort Sommerloch zu thematisieren, indem er den Ort Sommerloch in der Nähe von Bad Kreuznach vorstellen wollte, war nicht gut angekommen.
»Lasst euch was Spektakuläres einfallen«, hatte der Chefredakteur geknurrt. Die Mitarbeiter schwiegen. Die zündende Idee wollte nicht kommen, bis Pfeiffer das Wort Cold Case in die Runde warf. Der Chef hatte eine Augenbraue hochgezogen und Erik beeilte sich, schnell das Wort Altfall hinterherzuschieben. Tags zuvor hatte er sich durch das Programm gezappt und war bei einem privaten Sender hängen geblieben. Dort wurden alte Fälle thematisiert, aufbereitet und als Spielfilm gezeigt.
Der Chefredakteur schob die Unterlippe nach vorne und kaute ein Hautfuzzelchen ab, schwieg ein paar Sekunden und meinte dann: »Hast du was Spezielles im Auge?«
Pfeiffer war in der Zwischenzeit nicht untätig gewesen, hatte schnell gegoogelt, war auf einen Artikel auf einer Nürnberger Seite gestoßen. Er nickte eifrig, legte sein iPhone auf den Tisch. »Vor dreißig Jahren hat man eine verschnürte Tote gefunden. Der Fall ist nie gelöst worden.«
»Perfekt!«, schrie der Chefredakteur. »Mach was draus. Sei ein bisschen provokant, nicht übertreiben, aber stell die Bullerei ruhig als außerstande hin, provoziere. Gute Idee! So, weiter mit dem Sport.«
Den Rest des Tages verbrachte Pfeiffer im Internet und mit dem Schreiben des Artikels. Am nächsten Tag stand auf Seite eins der Nürnberger Nachrichten:
In diesem Monat jährt es sich zum 30. Mal. Der Polizei ist es nicht gelungen, den Fall der Hausfrau Karin G. aus Nürnberg aufzuklären. Die Tote wurde damals erstickt und gefesselt auf einem alten Bauernhof entdeckt. Außerdem wurde festgestellt, dass sich Gummierungsreste von einem Heftpflaster auf Nase und Mund befanden. Greift die Polizei alte Fälle nicht mehr auf? Werden die Toten vergessen? Mord verjährt nicht! Aus dem Auge, aus dem Sinn? Den Gesetzeshütern ist es damals nicht gelungen, den Fall aufzuklären. Durch neue Erkenntnisse in der DNA-Forschung wäre es sicher möglich, alte Fälle aufzuklären …
Wir halten Sie auf dem Laufenden, liebe Leser, denn kein Mord ist je vergessen.
(Erik Pfeiffer)

2

Krankenhaus Martha Maria
»Schwester Rabiata«, sagte Belu zornig. »Ich habs im Bein und nicht im Kopf. Jetzt lassen Sie mir gefälligst mein Handy.«
»Du bist schon wieder fit, wie ich höre!« Klaus Hofmockel stand im Krankenzimmer. In der Hand hielt er einen Strauß bunter Sommerblumen. Er zupfte eine kleine Margerite heraus, überreichte sie der Schwester, deutete eine Verbeugung an und nahm ihr dabei das Telefon ab. Dann griff er nach ihrer Hand und hauchte einen Kuss darauf.
»Unsere Frau Hauptkommissarin ist immer im Dienst. Sie können sich bei so einer hervorragenden Ermittlerin in der Stadt immer sicher fühlen.«
Die Krankenschwester setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und verließ kommentarlos das Krankenzimmer.
»Hallo!« Klaus wandte sich zu Belu. »Hier ein bisschen Gemüse für dich.« Er sah sich suchend nach einer Vase um, wurde im Bad fündig. Belu klopfte auf ihr Bett, ein Zeichen, dass Klaus sich hinsetzen sollte.
»Was sagt der Onkel Doktor?«
Belu grummelte.
»So schlimm?« Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.
»Komplizierter Bruch. Falle für mindestens fünf Wochen aus. Dann auch noch Reha. Scheiße.«
»Es wird zwar schwer werden, dich zu ersetzen – aber ich tue mein Bestes. Ich kann mir ja einen Schnüffler zu Hilfe holen.«
»Einen Schnüffler?«
»Herrn Lehmann.«
»Wer um Gottes willen ist Herr Lehmann?«
»Du kennst Herrn Lehmann nicht?«
»Klausi! Mir hat Schwester Rabiata schon gereicht. Reiz mich nicht!«
»Also gut, Herr Lehmann ist der Schäferhund von unserem Hausmeister. Du hast recht, Lehmännchen kann kein Polizeihund werden: Er hat einen Knochen geklaut.«
Belu lachte, stemmte sich am Bettgalgen hoch und schüttelte ihre langen schwarzen Haare. Normalerweise trug sie ihre Matte, wie sie ihre Haare bezeichnete, immer zu einem Zopf geflochten. Weiche Wellen umhüllten ihr Gesicht. »Halt mich auf dem Laufenden! Und jetzt erzähl. Was gibts Neues?«
»Nö, nö, meine Liebe. Erst bist du dran. Schön ausführlich.«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
»Also gut. Ist aber stinklangweilig.« Belu machte eine Kunstpause. Dann meinte sie schmunzelnd: »Ich bin auf einer Schnecke ausgerutscht.«
Klaus stieg sofort auf ihren lockeren Ton ein und konterte: »Hast du die denn nicht gesehen?«
»Nein, die kam doch von hinten.«
»Seit wann bist du so witzig, Bertaluise? Dieser Part, Witze zu reißen, kommt doch von mir. Jetzt aber mal ehrlich. Was hast du gemacht?«
»Es war tatsächlich eine Schnecke. Sie saß auf der letzten Treppenstufe. Ich wollte nicht auf sie drauftreten, habe einen großen Satz gemacht, bin aufs Kopfsteinpflaster gefallen, Knöchel verdreht, aua! War das jetzt detailliert genug?«
Klaus’ Mund stand offen. »Und das gab so einen komplizierten Bruch?«
»Als mir eine Dame beim Aufstehen helfen und ich auftreten wollte, war der Knöchel dann vollends durch. Das tat höllisch weh. Und jetzt lieg ich hier und muss mir von Schwester Rabiata das Handy wegnehmen lassen, bekomme Gemüse geschenkt anstatt Gummibärchen und mein Kollege erzählt mir nicht mal, was im Büro so los ist.« Belu zog geräuschvoll die Nase hoch.
»Ich dachte, Gemüse erhellt dein Gemüt, Gummibärchen machen nur dick, wenn du die ganze Zeit liegen musst.« Klaus war ehrlich zerknirscht. »Ich bringe dir morgen welche mit.«
»Jetzt erzähl schon, was ist in der Zwischenzeit im Präsidium los gewesen?«
»Wir hatten eine Feueralarmübung. Jeder im Gebäude musste ejakuliert werden. Das war vielleicht ein Spaß da draußen.«
»Was habt ihr gemacht? Ejakuliert?«
»Sorry, ich meinte natürlich, das Haus musste evakuiert werden. Peinlich.« Klaus schlug sich selbst leicht auf den Mund.
»Wie ist die neue Oberstaatsanwältin? Du weißt genau, dass mich das mehr interessiert als eine Feueralarmübung!«
»Viel kann ich noch nicht sagen. Das wird sich erst rausstellen, wie gut man mit ihr arbeiten kann. Jedenfalls beruft sie laufend Treffen per SMS ein. Sie meldet sich nicht per Mail. Das könnte untergehen, meint sie.«
»Wenn ich daran denke, wie oft du meine Mails erfolgreich ignoriert hast, kann ich die Dame vollkommen verstehen.«
Belu verschränkte die Arme vor der Brust, deutete mit dem Zeigefinger auf ein Glas, das am Nachttisch stand.
»Kannst du mir das Wasser reichen?«
»Das will ich meinen.« Klaus schenkte ein, reichte Belu das Glas und erzählte weiter. »Neulich hat sie gesimst, sie lädt uns zum Petting ein.«
»Kaum bin ich mal ein paar Tage nicht da, scheint es ja wirklich drunter und drüber zu gehen.«
»Entschuldige Belu, wirklich. Sie hat raspelkurze Haare. Mir ist sie zu burschikos.«
»Also überhaupt nicht dein Typ. Was ist nun mit dem Petting?«
»Natürlich nichts. Sie meinte Meeting, verstehst du. Meetings, die beruft sie laufend ein. Es wäre die Autokorrektur gewesen, die das Wort so verhunzt hat.«
»Hat sie sich so entschuldigt?« Belu schmunzelte.
»Nö, ist einfach drüber hinweggegangen, wie wenn es das Normalste auf der Welt wäre, dass die Autokorrektur Wörter verhunzt.« Klaus tippte auf das Glas seines Smartphones.
»Wer's glaubt! Kein Mord, kein Totschlag?« Belu spielte mit ihren Haaren, zwirbelte sie zu einem Zopf.
»Nein, aber ...«
»Was ist los, Klaus?«
»Die neue Oberstaatsanwältin. Sie ist … nun, wie soll ich sagen … speziell.«
»Ich kann mir schon vorstellen, was du mit speziell meinst. Sie will aufräumen. Und da du sie mir als burschikos geschildert hast, Kollege Klaus, duldet sie wohl keinen Widerspruch. Auf deine blöden Sprüche geht sie nicht ein. Habe ich recht, oder habe ich recht?«
»Wie immer, Chefin. Ich weiß nicht, was ich von der Dame halten soll. Sie trägt eine große Herrenarmbanduhr.«
»Danach solltest du sie nicht beurteilen. Sie ist sicher tüchtig.«
»Das mag ja sein. Sie hat mir doch tatsächlich einen dreißig Jahre alten Fall auf den Schreibtisch geknallt. Richtig hingeknallt.«
»Eine Frau, die weiß, was sie will.« Belus Mund verzog sich leicht. »Ich werde die Dame sicher bald kennenlernen. Sie hat dir also einen Cold Case gegeben. Will alte Fälle aufarbeiten und natürlich auch gelöst wissen. Da hast du was vor dir. Erzähle!«

3

Zimmer Oberstaatsanwaltschaft
Oberstaatsanwältin Paula Trejo warf erneut einen Blick auf die Zeitung des Vortags. Resigniert ließ sie das Blatt sinken.
Hatte dieser verdammte Journalist nichts Besseres zu tun, als einen alten Fall wieder aufzuwärmen? Sie knabberte an der Innenseite ihrer linken Wange. Ihr Einstieg in Nürnberg sollte also mit einem Cold Case beginnen.
Sie rieb sich die Augen. Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich morgens die Wimpern getuscht hatte. »Mist!«, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Sie zog eine Schublade auf, holte den Handspiegel hervor und beseitigte die schwarzen Schlieren, die sich unter ihren Augen gebildet hatten.
»Fliegenbeine«, stellte sie fest. »Und müde siehst du aus, Paula, ein Date hattest du auch schon monatelang nicht mehr. Scheiße – das ist schon kein Mist mehr.« Sie hielt sich gerade noch zurück, um erneut mit der Hand auf den Schreibtisch zu schlagen. Sie schüttelte sich und richtete den Kragen ihrer Bluse. Ziemlich schmucklos, dachte sie, als sie sich in ihrem Büro umsah. Bin ich ja auch. Schmucklos, aufs Wesentliche konzentriert. Schreibtisch, Stuhl, kleine Besucherecke, Bücherregal. Ob ich wohl rüschiger wäre, wenn ich drei Mädchen hätte? Sie betrachtete ihre Mokassins. Das waren Schuhe nach ihrem Geschmack, weich, flach, die sich ihrem Fuß anpassten. Damit konnte man schnell rennen.
Wie wohl die Kollegen sein werden? Paula rollte mit dem Stuhl zurück und legte das rechte Bein über das linke. Sie rieb einen kleinen Fleck vom Saum der Hose. Morgen würde sie wohl ins Krankenhaus fahren müssen, um der Kollegin Bertaluise Nürnberger ihre Aufwartung zu machen. Sagte man das so? Aufwartung? Paula schmunzelte. Ob das auch so ein verrücktes Huhn war wie dieser Hofmockel? Sprüche hatte der drauf. Das würde noch ein hartes Stück Arbeit werden, den zur Raison zu bringen. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt.
Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht, als ich mich nach Nürnberg versetzen ließ. Eine Rheinländerin nach Franggn. Paula übte ein paarmal, das K wie ein G klingen zu lassen, gab es dann aber auf.
Kollege Hofmockel wirkte nicht recht begeistert, als er erfuhr, dass er diesen Cold Case bearbeiten sollte.
Sie stand auf, richtete sich erneut die Bluse, die aus dem Hosenbund gerutscht war, und griff zum Telefonhörer. Nach dem zweiten Läuten wurde bereits abgenommen.
»Hallo Sohnemann! Ich mache mich auf den Weg. Komme heute mal pünktlich nach Hause. Kannst du schon Kartoffeln aufsetzen?«
»Machst du Auflauf, Mama?«
»Ja, genau so, wie ihr ihn mögt. Bis gleich.«
Sie musste nur die Stimme einer ihrer drei Buben hören und schon besserte sich ihre Laune.
Ein letzter Blick zu der Zeitung, die auf dem Schreibtisch lag. »Ein dreißig Jahre alter Fall«, dachte sie. »Da hatte der Journalist recht: Mord verjährt nicht. Noch nach Jahrzehnten konnten Täter mittels neuer Methoden überführt werden. Wie gut, dass sich die DNA-Analysen so weiterentwickelt haben.«
»Wenn ich ehrlich bin«, sprach sie laut zu sich selbst, »dann hat dieser provokante Zeitungsartikel den Ausschlag gegeben.«
Sie setzte sich, strich über den Zeitungsartikel. »Und wenn wir jetzt noch genügend Geld zur Verfügung bekommen, können wir auch effektiv arbeiten«, resümierte Paula Trejo. Sie nahm einen Aktenordner und stellte ihn in eine größere Schublade. Sie wollte pünktlich Feierabend machen. Das war sie ihren Söhnen schuldig. Das Telefon läutete, sie ignorierte es, schloss mit Nachdruck die Tür, sperrte ab. Auf dem Weg zum Parkplatz ließ sie noch einige Gedanken zu. Mal sehen, was dieser Hofmockel taugt und draufhat. Und wenn es genehmigt wird, dann kann die Aufklärung dieses ungelösten Mordfalles auch vorangetrieben werden. Das werden arbeitsintensive Ermittlungen werden.
Krankenhaus
»Sie nimmt nicht ab«, sagte Klaus zu Belu gewandt. »Jetzt habe ich es zigmal läuten lassen.
»Vielleicht ist sie schon gegangen?«
»Sag mal, es ist erst achtzehn Uhr. Da macht man nicht schon Feierabend.« Klaus tat entrüstet. »Die Oberstaatsanwältin wird doch wohl nicht geregelte Arbeitszeiten einführen?«
Belu richtete sich in ihrem Bett auf, drückte den Knopf der Servosteuerung. Langsam kam das Rückenteil höher. Aufatmend ließ sie sich zurückgleiten.
»Jetzt erzähl schon von diesem alten Fall.«
»Weißt du was, Chefin, wenn du hier wieder rauskommst, lade ich dich auf einen Tequila ein. Ich habe ein neues Lokal entdeckt. Die Wirtin heißt Esmeralda und kommt aus Großhabersdorf.«
»Klausi! Was ist mit dem Fall?«
»So genau habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht reingesehen.«
»Du lenkst ab. Willst du es mir nicht erzählen?«
»Also gut, du gibst ja doch keine Ruhe. Oberstaatsanwältin Trejo hat mir einen dreißig Jahre alten Fall auf den Schreibtisch geknallt.«
»Sagtest du schon.«
»Mitte der 80er hat man eine Frau tot aufgefunden. Sie war mit einer Strumpfhose an Händen und Füßen gefesselt. Ihre Identität konnte geklärt werden. Eine biedere Hausfrau, verheiratet, eine Tochter. Der Ehemann Postbeamter, kein Motiv, er selbst hatte ein Alibi.«
»Warum hat diese Oberstaatsanwältin ausgerechnet diesen Fall wieder ans Tageslicht gezogen?«
Klaus nahm eine Zeitung aus seiner Jackentasche, zeigte wortlos auf einen Artikel, den er angemarkert hatte.
»Ach Belu, vielleicht war der Fall auch turnusmäßig dran.«
»Ich glaube eher, dass dieser Artikel etwas damit zu tun hat. So einen Angriff kann man nicht auf sich sitzen lassen.«
Belu klopfte mit dem Zeigefinger auf den Bericht.
»Da hast du was vor dir, lieber Kollege.«
Klaus nickte. »Weißt du, ich habe nachgedacht.«
»Klausi, gib nicht so an!«
Er zog eine Schnute. »Haha, Frau Kollegin sind witzig. Den genetischen Fingerabdruck gibts ja noch nicht so lange. Ich fange am besten damit an, Spuren auszuschließen.«
»Das ist gut. Überprüfe, ob es Fingerspuren von Kollegen oder auch vom Rettungsdienst gibt.«
»Mach ich. Da hast du dir wohl zum richtigen Zeitpunkt den Fuß gebrochen, würde ich sagen.«
»Ich wünsche dir meine Schmerzen, Herr Kollege!«
»Ist ja schon gut. Ich halte dich auf dem Laufenden.« Klaus hob die Hand, nickte und verließ das Krankenzimmer. Was würde da auf ihn zukommen? Ihm graute ein bisschen davor, diesmal der verantwortliche Ermittler zu sein.
Kommissariat, Büro von Belu und Klaus
Es klopfte lebhaft. Sein Herein wurde nicht abgewartet, die Tür öffnete sich sofort. Zuerst sah Klaus nur einen Kopf mit ein paar roten Locken, dann zeigte sich ein Fuß, der in einer Sandalette mit höherem Absatz steckte.
»Hallo, meine Süße, was machst du denn hier?« Klaus sprang von seinem Schreibtischstuhl hoch und eilte auf den Fuß zu, zog den dazugehörenden Körper ins Büro. Noch im Türrahmen küsste und umarmte er die Dame.
»Nicht so stürmisch! Siehst du nicht, dass ich einen Kaffeebecher in der Hand habe?«, meinte sie lachend.
Klaus nahm seiner Freundin Cora den Pappbecher ab, stellte ihn achtlos auf den Schreibtisch und küsste sie erneut.
»Klaus, wir haben uns doch erst vor Kurzem verabschiedet.«
»Ich kann nicht genug von dir bekommen!«
»Man merkt, dass du alleine im Büro bist. Keine Belu, die dich an der Kandare hält.« Cora schüttelte ihre Mähne, zeigte eine Reihe gesunder Zähne.
»Du weißt doch, dass ein Kuss nur eine Anfrage ist, ob das Parterre frei ist.«
»Klausi! Ich habe gar nicht viel Zeit. Eine Kollegin ist beim Zahnarzt und ich springe für sie ein. Außerdem muss ich noch an die Uni.«
»Und da denkst du an mich und bringst mir ein süßes Teilchen mit.« Klaus verdrehte die Augen genießerisch und leckte sich über die Lippen.
»Woran arbeitest du? Gibts was Neues?«
»Eher was Altes. Der Fall ist an die dreißig Jahre alt. Turnusgemäß muss er bearbeitet werden.«
»Darfst du mir sagen, worum es geht?«
»Eigentlich nicht. Nur so viel, die Leiche war mit einer Strumpfhose gefesselt.«
Cora lächelte, warf einen Blick auf den geöffneten Akt, zuckte leicht zusammen. Schnell hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie lächelte und hauchte ihm eine Kusshand zu. »Bis heute Abend und dann rasierst du dich. Du kratzt.«
Krankenhaus
Belu drehte sich von einer Seite auf die andere. Sie konnte nicht schlafen, drehte das Licht auf. »So untätig zu sein, ist einfach nichts für mich. Verdammt noch mal! Jetzt halte ich schon laute Selbstgespräche.« Sie beherrschte sich gerade noch, die Nachtschwester zu rufen. Ihre Gedanken gingen zu der Treppenstufe. Wie immer war sie wohl in Gedanken gewesen. Aufstehen konnte sie auch nicht. Da hatte sie sich etwas eingebrockt. Wie kann man nur eine Stufe übersehen? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, griff nach einem Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren. Dann griff sie zur Schublade und holte ihr iPhone heraus.
»Bring morgen den Akt mit«, simste sie Klaus. Sie musste etwas tun. Faul im Bett liegen war so gar nicht ihr Ding.
Kommissariat, Büro
»Falls jemand Nerven findet, das sind meine.« Klaus grummelte. Der Kollege an der Pforte sah Oberkommissar Klaus Hofmockel über den Brillenrand hinweg an. Da Klaus wahrscheinlich einen Monolog führte, antwortete der Kollege nicht. Der Aufzug musste wohl irgendwo festsitzen. Die gute Laune, die er nach dem Aufstehen und mit Blick auf die schlafende Cora verspürt hatte, war am Schwinden. Er hätte nicht auf sein Handy schauen sollen. »Morgenstund ist aller Laster Anfang«, schimpfte er leise vor sich hin. »Belu ist langweilig in ihrem Krankenhausbett und schon scheucht sie mich rum.« So stapfte er missmutig die Treppen zu seinem Büro hoch, schnüffelte Reinigungsmittel, riss sowohl Fenster als auch die Schublade auf und holte sich den Aktenordner.
Krankenhaus
»Und hast du die Unterlagen dabei?« Belus langes Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten. Sie sah nicht mehr ganz so blass aus. Klaus nickte, reichte ihr die Mappe. Die nächste Stunde herrschte Schweigen, nur das Rascheln von Papier unterbrach die Stille, wenn Belu die Seiten umblätterte.
»Ich sehe ja, wie die Rädchen in deinem Kopf herumrattern. Aber ich habe jetzt, ehrlich gesagt, keine Zeit mehr, um auf das Ergebnis zu warten«, meinte Klaus. Er trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf der Bettkante.
»Verstehe ich ja, aber ich wollte mir einen Überblick verschaffen, worum es bei diesem Fall geht.«
»Selbstverfreilich! Belu, du sollst dich schonen, du bist krank!«
»Das hättest du wohl gerne? Schwester Rabiata hat das auch schon mitbekommen. Ich hab's im Fuß und nicht im Kopf!«
Klaus stöhnte. Seine Chefin war einfach unverbesserlich. Desto mehr verwunderte es ihn, dass sie abrupt das Thema wechselte:
»Und? Alles gut mit Cora?«
»Warum fragst du?«
»Es interessiert mich halt, wie es meinen Mitarbeitern geht.«
Ein breites Lächeln zauberte sich in Klaus' Gesicht. Er konnte gar nicht anders als grinsen. »Ich bin sehr glücklich. Ich hoffe, dass ich noch lange mit Cora zusammenbleiben werde.«
»Das wünsche ich dir von Herzen. Mit einem Bullen liiert zu sein, bedeutet oft Verzicht.«
Warum sagte sie es so ernst? Sie verzog zwar den Mund, aber ihre Augen lächelten nicht mit.
Klaus verabschiedete sich von Belu, als es an der Tür sehr energisch klopfte. Mit Schwung riss er sie auf.
»Ablösung«, trällerte er fröhlich. »Guten Morgen, Frau Oberstaatsanwältin. Darf ich bekannt machen? Bertaluise Nürnberger, erste Hauptkommissarin«, er zeigte auf Belu, deren Schultern sich unwillkürlich gestrafft hatten, »und das ist Paula Trejo, unsere neue Oberstaatsanwältin.«
Er sah noch, wie sich die Damen die Hände schüttelten, dann rief er ein fröhliches »Wiedersehen!« in die Runde und schloss sehr sorgfältig die Tür.
Cora schlenderte die Breite Gasse entlang. In der Hand hielt sie einen frisch gepressten Saft, geholt von der Fruchtecke. Das, was ihr Klaus gesagt, was sie selbst gesehen hatte, saß in ihrem Gedächtnis fest wie eine Spinne im Netz. Ein alter Fall. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Endlich!
*
Die alte Frau bewegte sich behäbig auf ihren beiden Stöcken vorwärts. Ein Schritt vor den anderen. Langsam. Sehr langsam. Sie sah sich immer wieder um. Betrachtete die Bäume, die in der Anlage liebevoll gepflegt wurden. Der Weg zur Kapelle war geteert, am Rand blühten Butterblumen. Sie blieb immer wieder stehen, schnaufte, murmelte irgendetwas. Die Altenpflegerin, die gerade einen Herrn im Rollstuhl an eine Bank schob, verfolgte sie mit Blicken. »Es muss schrecklich sein«, sagte sie zu ihrer Kollegin, »wenn man geistig fit ist wie ein Turnschuh, aber der Körper streikt.«
»Ja, sie macht den Jungen noch was vor!«
»Und das mit 84!«
*
Ehebrunnen
Cora steckte den Becher ordentlich in den Müllbehälter, der an einem Laternenpfahl angebracht war. Sie ließ sich auf eine Bank nahe des Ehebrunnens fallen. Mit Blick auf die Uhr am Weißen Turm stellte sie fest, dass es für die Vorlesung, die sie eigentlich besuchen wollte, zu spät war. Sie würde nicht mehr pünktlich kommen. Und den begleitenden Kommentar des Dozenten für nachträglich Hereinschlüpfende wollte sie sich auch nicht anhören. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Sie war vollkommen durcheinander. Ein alter Fall, hatte Klaus gesagt. Und noch etwas hatte sie aufgeschnappt. Der Name – das ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie würde etwas tun. Sie musste einfach!

4

Rechtsmedizin Erlangen
Klaus fuhr mit der Oberstaatsanwältin Paula Trejo zum Rechtsmedizinischen Institut nach Erlangen. Sie hatte darum gebeten, wollte die Räumlichkeiten und den Rechtsmediziner persönlich kennenlernen. Die Fahrt verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Klaus passte sich dem fließenden Verkehr an. Er hielt sich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. In der Universitätsstraße herrschte reges Treiben. Studenten mit Rucksäcken wuselten eilig von einer Vorlesung zur nächsten. Galant hielt Klaus Oberstaatsanwältin Trejo die Tür auf. Dr. Schimmelfuß erwartete sie bereits. Er lächelte, sodass seine Hasenzähne besonders hervorstachen.
»Sie wollen sich also mal unsere Gerichtsmedizin ansehen und mich kennenlernen, gnädige Frau. Ich weiß, auch ein schlechter Ruf verpflichtet.«
»Aber nicht doch, Herr Doktor. Ich möchte schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Nur eine Stimme zu hören, ohne ein Gesicht dazu, gefällt mir nicht so sehr.«
Klaus verdrehte die Augen. Sollte das etwa ein Flirtversuch sein? Dann waren beide, seinem Geschmack nach, sehr untalentiert und ungeübt.
»Ich war damals noch nicht bei der Gerichtsmedizin«, sagte Dr. Schimmelfuß. »Deshalb musste ich mich erst orientieren und die Unterlagen lesen. Der Fall wird also wieder aufgerollt?«
»Ja,« sagte Paula Trejo, während sie hinter dem Rechtsmediziner herging. Klaus, der die Räumlichkeiten nun wirklich in- und auswendig kannte, hätte sich lieber abgeseilt, als den beiden bei ihrem Geplänkel zuzuhören.
»Meinen Sie, dass wir den Sarg öffnen lassen, um dann eine Autopsie durchzuführen? Sie wissen ja, wie die sterblichen Überreste nach all dieser Zeit aussehen können.« Dr. Schimmelfuß kratzte sich nachdenklich an der Nasenspitze und meinte: »Eine Obduktion ist damals vorgenommen worden. Die Frau wurde erstickt. Das war die Todesursache.«
Paula Trejo hüstelte gekünstelt. »Wir werden sehen, außerdem muss das dann zu gegebener Zeit der Ermittlungsrichter entscheiden. Vorerst werden wir klären«, Trejo wandte sich an Klaus, »wie wir mit den Materialien zurechtkommen, die wir vorliegen haben.«
Klaus lächelte etwas gequält. Dieser Small Talk, den die Oberstaatsanwältin da führte, gefiel ihm überhaupt nicht. Er hätte jede Menge Arbeit, von Aktenstudium über Telefonate, schlichtweg Ermittlungsarbeit, stattdessen verplemperte er seine Zeit mit Geplauder.
»Kaffee kann ich Ihnen anbieten«, sagte Dr. Schimmelfuß freundlich in seine Gedanken hinein. »Wir haben eine neue Kaffeemaschine und das Gebräu, das sie fabriziert, schmeckt gar nicht so schlecht.« Er verzog den Mund zu einer Grimasse. Klaus und Paula nickten unisono. Klaus' Blick streifte kurz das Gesicht der Oberstaatsanwältin. Es war immerhin seine erste Zusammenarbeit mit ihr.
»Mal sehen, ob sie umgänglich ist«, dachte er, »und mit uns zusammenarbeiten möchte. Mangelnde Information kann ich nicht gebrauchen.« Er bohrte sich den Finger in die Wange und kaute die Haut in der Innenseite der Mundhöhle ab.
Paula Trejos Blick ruhte auf Klaus. Auch sie machte sich ihre Gedanken: »Alleingänge und mangelnde Infos kann ich gar nicht ab. Mal sehen, wie sich der Kollege macht.« Sie lächelte.
Die alte Frau ließ den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten. Dabei murmelte sie immer wieder: »Vergib mir meine Sünden, Mutter Maria.« Die Kapelle war nachträglich zum Seniorenheim dazugebaut worden. Die alten Leute besuchten den Andachtsraum gerne. Es standen immer frische Blumen auf dem kleinen Altar. Eine der Schwestern zündete jeden Morgen eine Kerze an. Es war eine geruhsame Atmosphäre, die vorherrschte. Selbst Gäste, die ihre Angehörigen besuchten, verweilten wie selbstverständlich einige Zeit an dem friedlichen Ort.
Die alte Frau verbrachte über eine Stunde in der Kapelle. Auf dem ganzen Gelände standen Gehwagen. Manche Bewohner überschätzten ihre Kräfte und waren dann dankbar, wenn sie sich aufstützen konnten. Sie nahm so einen Rollator, der in einer Nische der kleinen Kirche stand, rollte langsam zum Haupthaus zurück. Das hauseigene Café war ein beliebter Treffpunkt. Dort gab es verschiedene Zeitschriften und Zeitungen.
Die Gehhilfen steckten jetzt in Halterungen. Die Tür zum Café öffnete sich automatisch. Die alte Frau ließ sich auf einem Stuhl nieder, griff sich die Tageszeitung und begann zu lesen. Ihre Lippen bewegten sich, sie schüttelte den Kopf und murmelte etwas von »diese Politik«. Eine der Schwestern beobachtete sie.
»Wenn ich mit 84 noch so fit im Kopf bin, kann ich mich glücklich schätzen«, dachte die Pflegerin.
Krankenhaus
»Ich krieg hier noch die Krise. Es juckt höllisch. Macht man das heute überhaupt noch, dass man den Fuß eingipst?«
Der Arzt, der die Visite bei Belu abhielt, sah sie konsterniert an. »In Ihrem Fall schon, Sie Unruhegeist. Sie bleiben ja nicht friedlich liegen, bewegen sich laufend. Wie soll da ein Bruch heilen?«
»Ich bin es nicht gewöhnt, so untätig rumzuliegen«, murrte Belu.
»Da müssen Sie jetzt wohl durch, Frau Kommissarin. Sie wissen ja, die Gedanken sind frei. Und hier ist die Fernbedienung, vielleicht finden Sie einen spannenden Krimi auf einem der Kanäle. Oder noch besser: Schreiben Sie einen. Diesbezüglich haben Sie doch bestimmt einiges erlebt.«
»Dann geben Sie mir wenigstens die Stricknadel, damit ich mich kratzen kann.«
Der Arzt lachte, machte eine kleine Verbeugung und verabschiedete sich.
Belu ließ sich in die Kissen zurücksinken. Er hatte recht, die Gedanken waren frei. Was sollte sie von dieser neuen Oberstaatsanwältin halten? War sie übereifrig? Korrekt? So wie sie aussah, wirkte sie sehr burschikos. Flache Schuhe.
»Wenn eine schon flache Schuhe anhat«, sagte Belu laut. »Was soll man von einer Dame halten, die daherschlurft? Und diese superkurzen Raspelhaare!«
Welch ein Glück, dass sie alleine im Zimmer war. Es zahlte sich aus, Beamtin und damit Privatpatientin zu sein. Sie nahm die Fernbedienung und zappte die Programme durch. Nichts war dabei, was sie interessieren könnte. »Flache Schuhe«, dachte sie erneut. Sie selbst hatte mindestens sieben Zentimeter hohe Schuhe an. Sie wollte die neue Oberstaatsanwältin nicht an Äußerlichkeiten festmachen. Immerhin hatte sie Klaus geschimpft, als er die Dame als burschikos bezeichnet hatte, nur weil sie eine große Herrenarmbanduhr trug.
Das Gespräch war freundlich, aber distanziert verlaufen.
»Die wollte mich kennenlernen und sehen, wie ich so ticke«, dachte sie.
Belu schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie griff zu einer Modezeitung, konnte sich aber nicht konzentrieren, denn das Bild der Oberstaatsanwältin Paula Trejo schob sich immer wieder vor ihr geistiges Auge.
»Anstand hat sie wenigstens, sie hat sich vorgestellt und mir gute Besserung gewünscht.«
Zornig drückte Belu die Knöpfe der Fernbedienung und zappte sich erneut durch alle Programme. »Nur Schmarrn, Wiederholungen und Liebesschmonzetten. Und das, nachdem ich so viel Fernsehgebühren bezahle.«
Kommissariat, Büro
Klaus holte sich eine Tasse Kaffee, legte einen Fuß auf dem Papierkorb ab. Er schlug die Aktenmappe auf und begann, konzentriert zu lesen.
»In den frühen Morgenstunden, drei Uhr dreißig, war der Bäckergeselle Friedrich Albrecht mit dem Mofa unterwegs zu seinem Arbeitsplatz. Sein Weg führte ihn an einem alten Bauernhof vorbei, der nicht mehr bewirtschaftet wird. Er war noch müde und übersah daher einen Stein. Er stürzte, rutschte in den Graben und versuchte, sich an einem herabhängenden Ast festzuhalten. Im Fallen erkannte er einen Fuß. Er selbst hatte sich nur Hautabschürfungen zugezogen und seine Handgelenke schmerzten, da er sich mit ihnen abgestützt hatte. Er sah nach, ob er tatsächlich einen Fuß gesehen oder ob er sich getäuscht hatte.«
Klaus ließ das Blatt sinken. »Wäre nichts für mich, so bald aufzustehen. Dieser Albrecht muss noch sehr müde gewesen sein, dass er den Stein nicht gesehen hat.«
Er suchte in den Papieren nach der Adresse und der Telefonnummer. Er ließ es etliche Male läuten, niemand hob ab. Er machte sich geistig eine Notiz, dass er nach diesem Herrn Albrecht noch recherchieren und ihn noch einmal anrufen wollte. Dann las er die Ausführungen des Protokolls weiter.
»Es war eine junge Frau, die er fand. Zugedeckt mit Blattwerk. Sie trug eine Unterhose, ansonsten war sie nackt. Sie war an Händen und Füßen mit einer Strumpfhose verschnürt.«
»Strumpfhose, verschnürt«, sagte Klaus laut. »Fixiert, gebunden, was fällt mir dazu ein?« Bevor er zum Telefonhörer griff, las er den letzten Satz der Niederschrift. Nachdem das Blattwerk weggeräumt worden war, fand man eine Zigarette auf der Brust der Toten.
Klaus wählte eine Nummer. Sofort wurde abgenommen.
»Himmel, muss dir langweilig sein, wenn du schon abnimmst, während es das erste Mal klingelt. Oder hast du Röntgenaugen?«
»Ich habe es doch auf dem Display gesehen!«
»Ich habe einen neuen Witz, Chefin, damit du wenigstens einmal am Tag was zu lachen hast.«
»Das wird wieder was sein«, hörte Klaus aus dem Hörer. Irrte er sich, oder klang Belu verschnupft?
»Also hör zu: Was sagt ein Mann, wenn er bis zum Bauchnabel im Wasser steht? Na, was meinst du?«
Man hörte ein lang gezogenes Schnaufen. Klaus konnte sich lebhaft vorstellen, wie Belu nun die Augenbrauen nach oben zog.
»Das geht über meinen Verstand. Gut, gell?«
Ein paar Sekunden war es still. Dann prustete Belu los, lachte schallend. »Das passt wie die Faust aufs Gretchen.«
»Wer zweideutig denkt, hat eindeutig mehr Spaß«, konterte Klaus, grinste und rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn. Wenn Cora nichts dagegen hatte, würde er sich doch einen Dreitagebart stehen lassen. Das kratzte dann sicher nicht mehr.
»Warum ich eigentlich anrufe: Denkst du dasselbe wie ich? Verschnürt, gefesselt, fixiert? Nach was schaut das aus?«
Eine Weile war es still im Hörer, dann kam es wie aus der Pistole geschossen. »Du hast recht, das ist ...«
»... Bondage«, ergänzte Klaus. »Danke, dann weiß ich, was ich als Nächstes tun muss.«

5

1987
»Hast du verstanden? Das Safeword ist mayday. Und da man bekanntlich mit einem Knebel im Mund nicht rufen kann, klopfst du mit den Zehen zweimal auf den Boden.«
Die Domina strich ihm zärtlich über die Wangen. In der Hand hielt sie eine brennende Kerze, ließ das heiße Wachs über seinen Hals laufen. Wenn der Mann ein Kätzchen gewesen wäre, hätte er zu schnurren begonnen. So stand er einfach nur da in seiner Feinrippunterhose und dem Netzhemd. Schon immer übte es eine Faszination auf ihn aus, wenn er gefesselt wurde. Wenn sie als Kinder Räuber und Indianer gespielt hatten, hatte er sich fangen und an Händen und Beinen fesseln lassen. Aus Jux waren sie als Teenager in Sexfilme gegangen. Die Szenen, in denen jemand mit Seilen verknotet oder fixiert wurde, erregten ihn besonders. Am Anfang ihrer jungen Liebe hatte sich seine Frau ja noch darauf eingelassen. Sie war unerfahren und dumm, aber neugierig. Mit zunehmenden Ehejahren lehnte sie es allerdings ab, ihm Handschellen anzulegen, geschweige denn, sich selbst festzurren zu lassen. So gönnte er sich – immer öfter – in der Mittagspause den Besuch bei einer Domina. Sie war keine Professionelle, das dachte er zumindest. Schließlich empfing sie ihn in einem Wohnhaus. Gab es ihm doch das Gefühl, sich nicht der käuflichen Liebe hinzugeben.
Wenn seine Sekretärin wüsste, was er sich da so in der Mittagszeit gönnte. Sie profitierte davon, er war dann rundweg ausgeglichen und sah über manchen Fehler hinweg.
»Knie dich nieder!«, befahl die Dame. »Wirds bald!«
Gehorsam kniete er sich hin.
»Wenn du besonders brav bist, Sklave, darfst du mich Monique nennen.« Sie legte ihm ein Hundehalsband um und zog ihn hinter sich her.
»Folge mir.«
Gehorsam ließ er sich in das Zimmer mit dem Andreaskreuz führen. Er liebte Fesselspielchen, die ihn noch mehr aufgeilten, das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, allem, was da kommen mochte. Es törnte ihn noch mehr an, wenn er versuchte, sich zu befreien, und es ihm nicht gelang.
»Das wirst du schön bleiben lassen, Sklave«, meinte Madame. »Du kommst frei, wenn ich es sage, verstanden? Verstanden, habe ich gefragt!« Er nickte artig. Ja, so liebte er es. Wirklich zu schade, dass seine Frau so eine hausbackene Gemahlin war und für sie nur Blümchensex infrage kam. Die Domina gab ihm einen Klaps auf die Wangen, das Wachs einer Kerze tropfte auf seinen Körper. Sie nahm eine Peitsche und ließ sie langsam über seinen Rücken gleiten. Mit Blick auf eine Uhr, die leicht versteckt auf einem Kästchen stand, meinte sie: »Das nächste Mal bekommt das Halsband Stacheln.« Dann nahm sie ihm die Fesseln ab, entfernte die Zwicker an den Brustwarzen. »Den Rest kannst du selbst abnehmen. Hier ist ein Tuch für das Wachs.« Er tat, wie ihm geheißen, bedauerte, dass die Zeit schon vorbei war. Jetzt würde er wieder einige Tage warten müssen. Zu oft konnte er sich diese Stunde bei der Dame nicht erlauben. Seine Frau sollte es nicht mitbekommen, wofür er so viel Geld ausgab. Beschwingt ging er ins Büro zurück. Seine Mitarbeiterin wunderte sich schon gar nicht mehr, dass ihr Chef, der in der Früh meist muffelig war, oft nach der Mittagspause völlig entspannt und fröhlich zurück ins Büro kam.
Die Dame im Morgenmantel reichte ihrer Kollegin eine Tasse Tee.
»Da schimpfen sie immer über uns, über das älteste Gewerbe der Welt, und im Grunde genommen sind sie froh, dass es uns gibt.« Sie zog den Gürtel ihres Bademantels enger, fläzte sich auf das kleine Sofa.
»Stimmt, ich habe diese heuchlerische Gesellschaft so was von satt! Der da eben, biederer Ehemann, Abteilungsleiter und dann kommt er in der Mittagspause zu mir.«
»Solange die Kasse stimmt, mache ich fast alles. Ich verkaufe Seifenblasen und ich erfülle Träume. Das, was eigentlich der Job der Ehefrauen wäre.«
»Und da die Frauen es anscheinend nicht können oder wollen, sind wir da. Mit dem Unterschied, dass wir Geld dafür nehmen.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass die Freier sich zu Hause gehen lassen. Am Wochenende ziehen sie wahrscheinlich die Schlafanzughosen noch nicht einmal aus. Mit dem Unterhemd, unrasiert, ungepflegt und schlampig hockt er dann das ganze Wochenende vor der Glotze. Bei uns trauen sie sich nicht, ungewaschen aufzutauchen.«
»Und wenn doch, dann stelle ich ihn unter die Dusche.«
»Hol doch bitte mal den Sekt aus dem Kühlschrank.« Sie stand auf, wäre beinahe über den langen Bademantel gestolpert. Sie öffnete eine Vitrine, holte drei Sektgläser heraus und goss ein.
»Drei Gläser?«
»Ja, Uli kommt nachher noch. Sie hat einen tollen Job aufgetan. Stell dir vor, so ein alter Geschäftsmann hat sie ins Theater eingeladen.«