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Nie wirst du entkommen E-Book

Karen Rose

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Beschreibung

»Sexy und spannend vom Anfang bis zum Schluss!« »Komm zu mir!«, lockt die Stimme, die Cynthia seit Wochen verfolgt. Gequält von entsetzlichen Erinnerungen, tut die junge Frau schließlich, wie ihr geheißen, und stürzt sich vom Balkon ihrer Wohnung. Sie ist nur die Erste in einer ganzen Serie von Toten. Allen ist eines gemeinsam: Es sind Patientinnen von Tess Ciccotelli. Detective Reagan, der die Ermittlungen leitet, hält die bildschöne Psychiaterin zunächst für eine äußerst gefährliche Frau. Bis er endlich erkennt, dass Tess Opfer einer bösen Intrige zu werden droht, ist es beinahe zu spät ...

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Karen Rose

Nie wirst du entkommen

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Sexy und spannend vom Anfang bis zum Schluss!«

Inhaltsübersicht

Für Martin, der mich [...]PrologSamstag, 11. März, 23.45 Uhr1. KapitelSonntag, 12. März, 0.30 UhrSonntag, 12. März, 1.15 Uhr2. KapitelSonntag, 12. März, 10.30 UhrSonntag, 12. März, 12.30 UhrSonntag, 12. März, 12.30 UhrSonntag, 12. März, 13.25 Uhr3. KapitelSonntag, 12. März, 14.43 UhrSonntag, 12. März, 15.30 Uhr4. KapitelSonntag, 12. März, 18.30 UhrSonntag, 12. März, 20.30 UhrSonntag, 12. März, 23.30 Uhr5. KapitelMontag, 13. März, 7.40 UhrMontag, 13. März, 8.30 UhrMontag, 13. März, 8.30 UhrMontag, 13. März, 9.15 UhrMontag, 13. März, 9.30 UhrMontag, 13. März, 9.45 UhrMontag, 13. März, 10.30 Uhr6. KapitelMontag, 13. März, 15.15 UhrMontag, 13. März, 15.45 UhrMontag, 13. März, 16.45 Uhr7. KapitelMontag, 13. März, 16.45 UhrMontag, 13. März, 20.30 UhrMontag, 13. März, 20.30 UhrMontag, 13. März, 23.15 Uhr8. KapitelMontag, 13. März, 23.55 UhrDienstag, 14. März, 0.35 UhrDienstag, 14. März, 8.09 UhrDienstag, 14. März, 11.55 UhrDienstag, 14. März, 12.35 Uhr9. KapitelDienstag, 14. März, 12.35 UhrDienstag, 14. März, 15.15 UhrDienstag, 14. März, 15.30 UhrDienstag, 14. März, 16.45 Uhr10. KapitelDienstag, 14. März, 17.10 UhrDienstag, 14. März, 18.30 UhrDienstag, 14. März, 18.55 Uhr11. KapitelDienstag, 14. März, 19.45 UhrDienstag, 14. März, 20.50 UhrDienstag, 14. März, 21.40 UhrDienstag, 14. März, 22.55 Uhr12. KapitelDienstag, 14. März, 23.55 UhrMittwoch, 15. März, 6.00 Uhr13. KapitelMittwoch, 15. März, 7.20 UhrMittwoch, 15. März, 8.03 UhrMittwoch, 15. März, 8.55 UhrMittwoch, 15. März, 9.45 UhrMittwoch, 15. März, 11.15 UhrMittwoch, 15. März, 11.55 UhrMittwoch, 15. März, 12.15 Uhr14. KapitelMittwoch, 15. März, 15.10 UhrMittwoch, 15. März, 17.10 UhrMittwoch, 15. März, 17.15 UhrMittwoch, 15. März, 18.45 UhrMittwoch, 15. März, 19.25 UhrMittwoch, 15. März, 20.15 UhrMittwoch, 15. März, 21.00 Uhr15. KapitelMittwoch, 15. März, 21.45 UhrMittwoch, 15. März, 22.45 UhrMittwoch, 15. März, 23.45 Uhr16. KapitelDonnerstag, 16. März, 6.15 UhrDonnerstag, 16. März, 7.30 UhrDonnerstag, 16. März, 7.30 UhrDonnerstag, 16. März, 7.40 UhrDonnerstag, 16. März, 8.00 UhrDonnerstag, 16. März, 8.15 UhrDonnerstag, 16. März, 8.45 Uhr17. KapitelDonnerstag, 16. März, 9.35 UhrDonnerstag, 16. März, 11.00 UhrDonnerstag, 16. März, 11.00 UhrDonnerstag, 16. März, 12.15 UhrDonnerstag, 16. März, 13.30 Uhr18. KapitelDonnerstag, 16. März, 14.00 UhrDonnerstag, 16. März, 14.55 UhrDonnerstag, 16. März, 15.15 UhrDonnerstag, 16. März, 16.00 UhrDonnerstag, 16. März, 17.05 Uhr19. KapitelDonnerstag, 16. März, 19.15 UhrDonnerstag, 16. März, 22.45 UhrDonnerstag, 16. März, 23.20 UhrFreitag, 17. März, 2.35 Uhr20. KapitelFreitag, 17. März, 2.55 UhrFreitag, 17. März, 7.30 UhrFreitag, 17. März, 7.30 UhrFreitag, 17. März, 7.30 UhrFreitag, 17. März, 8.15 Uhr21. KapitelFreitag, 17. März, 9.30 UhrFreitag, 17. März, 10.15 UhrFreitag, 17. März, 10.30 UhrFreitag, 17. März, 11.15 UhrFreitag, 17. März, 12.15 UhrFreitag, 17. März, 14.15 UhrFreitag, 17. März, 14.45 UhrFreitag, 17. März, 15.00 UhrFreitag, 17. März, 15.15 Uhr22. KapitelFreitag, 17. März, 17.00 UhrFreitag, 17. März, 17.15 UhrFreitag, 17. März, 18.00 UhrFreitag, 17. März, 18.10 UhrFreitag, 17. März, 18.45 UhrFreitag, 17. März, 19.00 UhrFreitag, 17. März, 19.30 UhrFreitag, 17. März, 19.30 Uhr23. KapitelFreitag, 17. März, 19.30 UhrFreitag, 17. März, 20.15 UhrFreitag, 17. März, 20.15 UhrFreitag, 17. März, 20.20 UhrFreitag, 17. März, 20.45 UhrSamstag, 18. März, 8.30 UhrSamstag, 18. März, 9.45 UhrEpilogPhiladelphia, Samstag, 28. Oktober, 19.25 UhrDank an …
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Für Martin, der mich genau so liebt, wie ich bin, und der mir immer dann M&Ms kauft, wenn ich sie am nötigsten habe. Ich liebe dich.

Für meine Kinder, die Verständnis zeigen, wenn ich mich zum Schreiben in mein Arbeitszimmer einschließe, und die selbst schon unglaubliche Geschichten erfinden. Ich bin euch dankbar und sehr, sehr stolz auf euch beide.

Für Karen Koszolnyik und Karen Solem, die immer noch all meine Träume wahrmachen, obwohl ich dachte, dass bereits alle wahrgemacht worden wären.

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Prolog

Chicago

Samstag, 11. März, 23.45 Uhr

Cynthia.«

Es war bloß ein Flüstern, unendlich leise, aber sie hörte es dennoch.

Nein. Cynthia Adams kniff die Augen zusammen und drückte ihren Hinterkopf ins Kissen, dessen Weichheit ihren erstarrten Körper zu verspotten schien. Ihre Finger gruben sich in das Laken und krallten sich so fest in den Stoff, dass es schmerzte. Nicht schon wieder. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, unkontrolliert und verzweifelt. »Geh weg«, flüsterte sie heiser. »Geh weg. Bitte lass mich in Frieden.«

Aber sie wusste, dass sie ins Leere sprach. Wenn sie die Augen öffnete, würde sie nur ins Dunkel ihres Schlafzimmers starren. Hier war niemand. Und dennoch quälte sie das furchtbare Flüstern bereits seit Wochen. Jede Nacht lag sie voller Furcht im Bett und wartete. Wartete auf die Stimme aus ihrem schlimmsten Alptraum. Manchmal hörte sie sie. Manchmal lag sie nur wach, steif wie ein Brett, und wartete. Es war der Wind. Und es waren Schatten. Es war gar nichts.

Aber es war real. Sie wusste es.

»Cynthia? Hilf mir doch!« Die Stimme eines kleinen Mädchens, das mitten in der Nacht Trost brauchte. Ein verängstigtes kleines Mädchen. Ein totes kleines Mädchen.

Sie ist tot. Ich weiß, dass sie tot ist. Jeden Sonntag legte sie Lilien auf Melanies Grab. Melanie war tot.

Aber sie war trotzdem hier. Und sie will mich zu sich holen. Blind griff sie nach der Flasche auf ihrem Nachttisch und schluckte zwei Tabletten. Geh weg. Bitte geh doch weg.

»Cynthia?« Es war echt. So echt. Bitte, lieber Gott, hilf mir. Ich verliere den Verstand. »Warum hast du das getan?« Das Flüstern verebbte, kehrte dann jedoch lauter zurück. »Ich muss es wissen. Warum?«

Warum? Sie wusste nicht, warum. Verdammt, sie wusste doch nicht, warum. Sie drehte sich auf die Seite, vergrub ihr Gesicht im Kissen und machte sich so klein wie möglich. Hielt den Atem an. Wartete.

Es war still. Melanie war fort. Cynthia holte vorsichtig Atem und fuhr entsetzt hoch, als der Duft in ihre Nase drang. Lilien! »Nein.« Hastig floh sie aus dem Bett und wich zurück, ohne den Blick von dem Kissen nehmen zu können, unter dem die Spitze einer einzelnen Lilie zu sehen war.

»Du hättest dort sein müssen, Cynthia.« Das Flüstern war nun scharf, verbittert. »Ich hätte Lilien auf dein Grab legen müssen.«

Cynthia sog bebend die Luft ein. Sie zwang sich zu wiederholen, was die Psychiaterin ihr zu sagen geraten hatte. »Das ist nicht echt. Das ist nicht echt.«

»Es ist echt, Cynthia. Ich bin echt.« Melanie war nicht länger ein Kind, ihre Stimme klang wie die einer verärgerten Erwachsenen. Cynthia schauderte. Melanie hatte ein Recht darauf, wütend zu sein. Ich bin ein Feigling gewesen. »Du bist einmal weggelaufen, Cyn. Du hast dich versteckt. Dieses Mal kannst du dich nicht mehr verstecken. Du wirst mich nie wieder im Stich lassen!«

Cynthia wich langsam zurück, bis sie an ihre Zimmertür stieß. Sie schloss die Augen, während sie hinter sich nach dem kalten, tröstenden Griff tastete. »Du bist nicht echt. Du bist nicht echt.«

»Du hättest an meiner Stelle sein sollen. Warum hast du mich verlassen? Wieso hast du mich bei ihm gelassen? Wie konntest du das nur tun? Du hast gesagt, du liebst mich. Aber du hast mich im Stich gelassen. Mit ihm. Du hast mich nie geliebt.« Ein Schluchzen brach durch Melanies Stimme, und in Cynthias Augen brannten Tränen.

»Das ist nicht wahr. Ich habe dich geliebt«, flüsterte sie verzweifelt. »So sehr.«

»Du hast mich nie geliebt.« Melanie war wieder das Kind. Das unschuldige Kind. »Er hat mir wehgetan, Cyn. Und du hast es zugelassen. Du hast zugelassen, dass er mir wehgetan hat … immer wieder. Wieso?«

Cynthia riss die Tür auf und taumelte rückwärts in den Flur, wo eine einzelne Lampe brannte. Sie erstarrte. Noch mehr Lilien. Überall. Sie wandte sich langsam um und starrte fassungslos auf die Blumen. Sie verspotteten sie. Verspotteten ihren Verstand.

»Komm zu mir, Cyn.« Melanies Stimme klang lockend. »Komm. Es ist gar nicht so schlecht hier. Wir können zusammen sein. Du kannst für mich sorgen. Wie du es versprochen hast.«

»Nein.« Sie presste sich die Hände auf die Ohren und rannte zur Tür. »Nein!«

»Du kannst dich nicht verstecken, Cyn. Komm zu mir. Du willst es doch.« Sie klang jetzt so lieb, so süß. Melanie war so süß gewesen. Damals. Nun war sie tot. Und ich bin schuld.

Cynthia riss die Wohnungstür auf. Und unterdrückte einen Schrei. Dann bückte sie sich langsam und hob das Bild auf, das auf der Fußmatte lag. Entsetzt starrte sie auf die leblose Gestalt, die an einem Seil baumelte, und die Erinnerungen an den Tag, an dem sie sie gefunden hatte, stürmten in ihr Bewusstsein. Melanie hatte am Seil gebaumelt, sich sachte bewegt …

»Du hast mich dazu getrieben«, sagte Melanie, die Stimme nun kalt wie Eis. »Du verdienst dein Leben nicht.«

Die Hände, die das Foto hielten, zitterten heftig. »Das ist wahr«, flüsterte sie.

»Dann komm zu mir, Cyn. Bitte komm.«

Cynthia wich wieder zurück, hinein in die Wohnung, ihre Hand tastete nach dem Telefon. »Ruf Dr. Chick an. Los«, murmelte sie. Sie wird mir sagen, dass ich nicht wahnsinnig geworden bin. Aber in diesem Moment klingelte das Telefon, und sie zuckte erschreckt zurück. Starrte auf den Hörer, als sei er ein lebendes Wesen. Als könne er im nächsten Moment zischeln und zubeißen. Aber der Apparat klingelte nur.

»Geh ran, Cynthia«, sagte Melanie ruhig. »Mach schon.«

Mit bebenden Händen griff Cynthia nach dem Telefon. »H-hallo?«

»Cynthia? Hier ist Dr. Ciccotelli.«

Die Erleichterung war so groß, dass Cynthia die Knie nachgaben. Diese feste, vertraute, lebendige Stimme. Cynthia schluchzte auf. »Ich höre sie, Dr. Chick. Melanie. Sie ist hier. Ich höre sie.«

»Natürlich hören Sie sie. Sie ruft Sie zu sich. Und genau das ist es, was Sie verdienen. Gehen Sie zu ihr. Machen Sie dem ein Ende. Jetzt gleich.«

»Aber …« Tränen rannen Cynthia über die Wangen.

»Aber …«

»Tun Sie es, Cynthia. Sie ist tot, und das haben Sie zu verantworten. Gehen Sie zu ihr. Tun Sie, was Sie schon vor Jahren hätten tun müssen. Kümmern Sie sich um sie.«

»Komm zu mir«, befahl Melanie, ihre Stimme nun wieder die einer Erwachsenen. »Komm.«

Cynthia ließ den Hörer fallen und wich zurück. Ich bin so müde. So furchtbar müde. »Lass mich schlafen«, flüsterte sie. »Ich möchte nur schlafen.«

»Komm zu mir«, sagte Melanie ebenso leise. »Dann lass ich dich schlafen.«

Das hatte Melanie ihr schon so oft versprochen. In so vielen Nächten. Cynthia wandte sich um und blickte zum Fenster. Hinter der Scheibe lag das Dunkel der Nacht. Und was noch? Schlaf. Frieden.

Frieden.

Das Wohnzimmer war leer. Cynthia Adams war nicht länger in Reichweite der Kamera. Der Bildschirm des Laptops zeigte die panische Frau nicht mehr. Sie würde es tun. Die Spannung stieg. Nach vier Wochen würde Cynthia Adams es nun endlich tun. Nach vier Wochen intensiver »Pflege« stand sie nun am Rand des Wahnsinns. Nur noch ein kleiner Schubs, und sie würde in den Abgrund stürzen. Und das hoffentlich buchstäblich.

»Sie ist am Fenster.« Die Frau auf dem Beifahrersitz war bleich. Ihre Stimme zitterte, als sie das Mikrofon behutsam in den Schoß legte. »Ich kann das nicht mehr.«

»Du machst das, solange ich es dir sage.«

Sie zog den Kopf ein. »Sie will springen. Bitte, ich muss ihr sagen, dass sie das nicht darf.«

Nicht darf?Das Mädchen war so irre wie Cynthia Adams. »Sag ihr, dass sie kommen soll.« Sie rührte sich nicht. Die Wut kochte augenblicklich hoch. »Sag es ihr, oder dein Bruder stirbt. Du solltest inzwischen wissen, dass ich nicht bluffe. Sag ihr, sie soll kommen, du würdest sie brauchen, sie schulde es dir. Sag ihr, dass alles gut wird, wenn ihr zusammen seid. Mach schon. Und tu es mit Gefühl.« Aber sie regte sich immer noch nicht. »Mach schon!«

Endlich nahm sie das Mikrofon. »Cyn«, flüsterte sie. »Ich brauche dich. Ich habe Angst.« Und das war die Wahrheit. Nichts steigerte die Dramatik effektiver als die Wirklichkeit. »Bitte, komm.« Ihre Stimme brach. »Dann wird alles wieder gut. Bitte.« Ihr Flüstern wurde flehend.

Der Blick auf Adams’ Fenster vom Fahrersitz aus war großartig. Die Schiebetür glitt langsam zur Seite, und Cynthia Adams erschien. Ihr Nachthemd wehte im kalten Märzwind.

Sie würde eine attraktive Leiche abgeben. Ganz Gloria Swanson. Boulevard der Dämmerung … ein toller Film. Heutzutage brachte Hollywood so etwas nicht mehr zustande. Ja, damit würde sich dieses Ereignis wunderbar feiern lassen: Popcorn und ein alter Film. Nur gäbe es nichts zu feiern, wenn Cynthia Adams nur auf dem Balkon herumstand. Spring schon, du dumme Kuh.

»Sag ihr, dass sie kommen soll. Sie soll springen. Gib alles, Herzchen.«

Sie schluckte bei diesem sarkastischen Kosenamen, gehorchte aber. »Cynthia, nur noch einen Schritt. Einen kleinen Schritt. Ich warte auf dich.«

»Jetzt wie ein Kind. Wie ein kleines Mädchen.«

»Bitte, Cynthia. Ich habe solche Angst.« Das Mädchen konnte wirklich gut mit der Stimme umgehen. Es konnte problemlos von einer Erwachsenen zu einem Kind, von der toten Melanie zu der Psychiaterin Ciccotelli überwechseln. »Bitte komm.« Sie holte tief Luft und stieß sie bebend wieder aus. »Ich brauche dich.«

Und dann war es geschafft. Das Mädchen stieß einen entsetzten Schrei aus, als Adams fiel. Zweiundzwanzig Stockwerke. Sogar im Auto hörten sie den Aufschlag des Körpers. Tja, vielleicht war sie als Leiche doch nicht mehr so attraktiv. Aber Schönheit lag im Auge des Betrachters, und Adams’ Anblick, wie sie mit zerschmetterten Gliedern halb auf dem Gehweg lag, war … atemberaubend. Das Mädchen auf dem Beifahrersitz schluchzte hysterisch.

»Reiß dich zusammen. Du musst noch einen Anruf erledigen.«

»O Gott, o Gott!« Sie wandte sich vom Beifahrerfenster ab, als der Wagen an Adams’ Leiche vorbeifuhr. »Ich kann nicht glauben, dass … Gott, mir wird schlecht.«

»Aber nicht in meinem Auto! Nimm das Telefon. Los!«

Schaudernd griff sie nach dem Telefon. »Ich … ich kann nicht.«

»O doch. Drück auf die Kurzwahl eins. Das ist die Privatnummer von Ciccotelli. Wenn sie drangeht, sagst du ihr, dass du eine besorgte Nachbarin von Cynthia Adams bist. Sie würde auf der Brüstung stehen und springen wollen.«

Sie wählte und wartete. »Es geht keiner ran. Sie schläft bestimmt.«

»Dann ruf noch einmal an. Lass es klingeln, bis die Prinzessin drangeht. Und mach den Lautsprecher an. Ich will das hören.«

Beim dritten Versuch war es so weit. »Hallo?«

Sie hatte tatsächlich geschlafen. Am Samstagabend allein zu Hause. Es war sehr befriedigend zu wissen, dass selbst Ciccotellis Privatleben eine bekannte und kontrollierbare Größe war. Ein Stoß veranlasste das Mädchen, ihren Text aufzusagen. »Dr. Ciccotelli? Dr. Tess Ciccotelli?«

»Ja. Wer ist da?«

»Eine … eine Nachbarin von einer Ihrer Patientinnen. Cynthia Adams. Da stimmt etwas nicht. Sie steht am Balkongeländer. Sie sagt, sie will springen.« Mit geschlossenen Augen beendete das Mädchen den Anruf und ließ das Handy in den Schoß fallen. »Mir reicht’s.«

»Für heute Abend schon.«

»Aber …« Sie fuhr herum, den Mund geöffnet. »Aber Sie haben doch gesagt …«

»Dass dein Bruder am Leben bleibt, wenn du mir hilfst. Und ich brauche deine Hilfe noch länger. Übe weiter an Ciccotellis Stimme. Du musst sie in ein paar Tagen noch einmal spielen. Für heute Abend sind wir fertig. Ein Wort darüber, und dein Bruder stirbt.«

Ciccotelli war im Anmarsch. Mögen die Spiele beginnen.

[home]

1

Sonntag, 12. März, 0.30 Uhr

Normalerweise zog ein Selbstmord eine größere Menschenmenge an, selbst in einer exklusiven Gegend wie dieser hier, dachte Detective Aidan Reagan grimmig, als er die Wagentür zuwarf und ihn der kalte Wind erfasste, der vom See herüberwehte. Aber natürlich blieben Leute mit Verstand in einer solchen Nacht im Warmen. Aidan konnte sich den Luxus nicht erlauben. Die Zentrale hatte sich gemeldet, und Aidan und sein Partner waren die Nächsten in der Umgebung gewesen. Und dann ausgerechnet ein verdammter Selbstmord.

Aber immerhin konnte ihn das von dem Kindermord ablenken, an dem er seit zwei Tagen arbeitete. Er hasste Kindermorde, aber vielleicht hasste er Selbstmorde noch ein bisschen mehr. Blieb nur zu hoffen, dass er die Akte dieser Lebensmüden möglichst rasch vom Tisch bekam, damit er sich wieder um den Kerl kümmern konnte, der einem Sechsjährigen einfach das Genick gebrochen hatte.

Die Leute, die am Bordstein standen und gafften, sahen aus wie die typischen Twens, die sich in der Stadt vergnügt hatten und nun nach Hause wollten. Sie warteten schweigend und blickten mit einer Mischung aus Entsetzen, morbider Faszination und Mitgefühl auf die Szenerie. Das Entsetzen konnte Aidan verstehen. Leichen sahen niemals hübsch aus, aber jemand, der aus dem zweiundzwanzigsten Stock gefallen war, bot einen Anblick, der das übliche Grauen bei weitem übertraf. Was das Mitleid anging … das würde Aidan sich für die wirklichen Opfer aufheben. Wer behauptete, dass Selbstmord ein Verbrechen ohne Opfer war, hatte noch nie eine betroffene Familie benachrichtigen müssen.

Aidan hingegen schon.

Wie schön, wenn diese Gaffer das einmal miterleben könnten. Dann würden sie eine solche Szene gewiss nicht mehr so verdammt faszinierend finden. Aber wenigstens wussten sie, was sich gehörte, und standen brav hinter dem gelben Absperrband, das ein Officer zwischen zwei Laternenmasten gespannt hatte. Ein gelegentliches Stampfen von frierenden Füßen unterbrach dann und wann die unnatürliche Stille. Einer der beiden Uniformierten wartete am Absperrband, der andere der Leiche abgewandt auf dem Bürgersteig.

Aidan näherte sich dem Officer, sein Abzeichen in der Hand. Selbst nach vier Monaten kam es ihm noch seltsam vor, sich einem Uniformierten vorzustellen, ohne selbst in Uniform zu sein. »Reagan, Morddezernat«, sagte er knapp, dann blieb er wie angenagelt stehen, als ihm der Gestank entgegenschlug und er die Tote aus nächster Nähe sehen konnte. Sein Magen, von dem er geglaubt hatte, er sei nach zwölf Jahren Polizei abgehärtet, krampfte sich zusammen. »Lieber Himmel.«

Der Beamte nickte nüchtern. »Das habe ich auch gesagt.«

Aidan ließ seinen Blick rasch über die Reihen identischer Balkone das Haus hinaufgleiten, dann wieder zurück zu dem eisernen Stachel, der aus dem ragte, was einst die Brust der Frau gewesen war. Ihr Oberkörper war aufgerissen, und man sah zerschmetterte Knochen und … Innereien. Einen kurzen Moment lang starrte er sie an und dachte an das andere Mal, dass er so etwas gesehen hatte. Doch dann straffte er die Schultern. Dies war nicht damit vergleichbar. Im anderen Fall war das Opfer unschuldig gewesen. Diese Frau war durch eigenen Wunsch gestorben. Kein Mitgefühl, sagte er sich.

Diese Frau hatte sich zweiundzwanzig Stockwerke tief auf Beton fallen lassen … und auf einen dekorativen, schmiedeeisernen Zaun. Der Zaun war nur ungefähr einen Fuß hoch und bestand aus hübschen Bögen, zwischen denen im Abstand von ungefähr einem Meter jeweils ein spitzer Dorn aufragte. Die Wucht des Aufpralls hatte sie buchstäblich aufgesprengt und ihr Blut in einer Fontäne auf einen schmuddeligen Schneehaufen in einiger Entfernung sprudeln lassen. »Volltreffer«, murmelte er.

Der Uniformierte verzog das Gesicht. »Sozusagen.«

Aidan riss sich von dem Anblick los und sah dem Mann ins Gesicht. »Sie sind?«

»Forbes. Das da drüben ist mein Partner DiBello. Er hält die Menge in Schach.« Forbes schnitt ein Gesicht. »Ich habe beim Münzenwerfen verloren.«

Aidan betrachtete die Menge, die nicht in Schach gehalten werden musste, aber gelost war gelost. »Hat jemand etwas gesehen?«

»Zwei Siebzehnjährige sagen, sie sei gegen Mitternacht vom Balkon gesprungen.« Forbes zeigte mit einem behandschuhten Finger nach oben. »Von dem Balkon, wo die Vorhänge flattern. Dritter von links.«

»Kein Schubs oder Stoß?«

»Die Kids haben jedenfalls nichts gesehen. Sie meinen, sie sei das Geländer aufwärts geglitten.«

Aidan runzelte die Stirn. »Geglitten? Klingt nach einem Geist.«

Forbes hob die Schultern. »Ihre Worte. Die sie übrigens mehrmals wiederholt haben. Sie sitzen im Streifenwagen und warten, dass Sie mit ihnen sprechen. Sie sind ziemlich aufgewühlt.«

»Arme Kids.« Sie hatten sein Mitgefühl verdient. Diese Erfahrung würde sie noch lange verfolgen. Sie waren erst siebzehn, nur ein Jahr älter als seine Schwester.

Er schauderte, als er sich vorstellte, dass Rachel solch einen scheußlichen Anblick verarbeiten müsste, dann nickte er in Richtung Menschenmenge. »Kannte sie jemand von denen da?«

»DiBello hat sie gefragt, aber es sieht nicht so aus.«

Aidan betrachtete das Gesicht der Frau, das nun aufgedunsen und formlos wirkte. Blut rann aus Ohren, Nase und dem offenen Mund. Der Zaun hatte den Aufprall etwas gemildert, aber jeder Sturz aus solcher Höhe zerschmetterte den Schädel und ließ die Gesichtszüge zu einer makabren, wächsernen Maske erstarren. »Tja, ich denke, jetzt würde sie ohnehin niemand mehr erkennen. Wir müssen in ihre Wohnung. Ist der Hausmeister irgendwo in der Nähe?«

»Ich habe geklopft, aber er ist nicht da. Ein Nachbar meinte, er sei bei einem Spiel von den Bulls.«

»Das Spiel war vor zwei Stunden zu Ende. Wo ist er denn jetzt?«

»Ich habe ihn angefunkt. Aber ich werde es noch einmal versuchen.«

»Danke. Können wir übrigens die Leute auf die andere Straßenseite schaffen? Und niemand soll Fotos machen. Sagen Sie Ihrem Partner, er soll darauf achten, dass die Leute ihre Fotohandys in der Tasche lassen.« Aidan holte sein eigenes Handy hervor und forderte eine richterliche Anordnung und einen Gerichtsmediziner an. Dann hockte er sich neben die Leiche, um sie genauer zu betrachten. Sie war in schwarze Seide und Spitze gekleidet, und er hätte gerne gewusst, ob sie sich extra zu dem Anlass angezogen hatte. Falls ja, war der Effekt durch den Eisendorn zunichte gemacht worden. Die Eingeweide quollen auf den Beton.

Er schluckte. Wer immer das aufwischen musste, würde keinen Spaß haben. Das war das Problem mit Selbstmorden, dachte er bitter. Die Leute verabschiedeten sich mit viel Dramatik, dachten aber nie darüber nach, welche Konsequenzen das für andere hatte. Für die anderen, die sie zurückließen. Für die anderen, die hinter ihnen aufräumen mussten.

Verdammt egoistisch, so ein Selbstmord. Verdammt vermeidbar. Verdammt noch mal!

Erst jetzt bemerkte er, dass er die Fäuste geballt hatte, und er lockerte sie wieder. Reiß dich zusammen, Reagan. Er holte tief Luft, und der metallische Blutgeruch und der Gestank geplatzter Gedärme ließ ihn würgen. Aber er nahm auch einen Hauch Zimt wahr, und einen Sekundenbruchteil danach hörte er hinter sich das Knirschen im Schnee. Sein Partner war da.

»Scheußliche Art, abzutreten«, bemerkte Murphy in seiner typischen, ruhigen Art.

Aidan warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Scheußliche Sache für ihre Angehörigen. Ich kann’s kaum erwarten, sie zu besuchen.«

»Alles der Reihe nach, Aidan«, sagte Murphy. Aber seine Augen waren so freundlich und verständnisvoll, dass Aidan sich wie ein grüner Junge vorkam. »Was wissen wir?«

»Nur, dass sie aus dem zweiundzwanzigsten Stock gesprungen ist. Zwei Zeugen behaupten, sie sei die Brüstung hinauf›geglitten‹, was immer das bedeuten soll. Ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen. Was sie betrifft – sie war jung. Ihre Arme sind recht straff.« Er konzentrierte sich auf die Gliedmaßen, die die einzigen relativ unbeschädigten Körperteile waren. »Ende zwanzig, Anfang dreißig, schätze ich.« Er deutete auf eine Hand, die über einem Bogen des Schmuckzauns hing. »Dicker Klunker an der rechten Hand, keine Anzeichen für einen Ring an der linken, also ist sie vermutlich unverheiratet. Da hatte jedenfalls einer anständig Geld. Dieser Ring da dürfte ein paar Scheinchen kosten. An Armen und Händen sind keine Hinweise auf Gegenwehr zu erkennen.«

Murphy hockte sich neben ihn. »Todschicke Farben.«

Ihre langen Fingernägel waren leuchtend rot lackiert. »Ist mir auch schon aufgefallen. Rot im Kontrast zu schwarzer Seide, macht was her.«

Murphy zuckte die Achseln. »Wäre nicht die erste Selbstmörderin, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen wollte. Und niemand kennt sie?«

Aidan stemmte sich hoch. »Nein. Bleibt zu hoffen, dass die Wohnung, aus der sie gesprungen ist, ihre war. Ich habe einen Durchsuchungsbefehl angefordert, und die Gerichtsmedizin ist auf dem Weg. Komm, reden wir mit den Kids, die …«

»Lassen Sie mich durch.« Eine sanfte Stimme drang zu ihnen herüber – sanft, aber sehr bestimmt.

»Ma’am, ich kann Sie nicht durchlassen. Bleiben Sie bitte hinter der Absperrung.«

Aidan sah auf, als DiBello den Arm hob, um einer Frau in einem dunkelbraunen Wollmantel den Weg zu versperren. Der Wind wehte ihr das dunkle Haar ins Gesicht.

Wieder sprach sie. Ihre Stimme war ruhig und gelassen, klang aber nach Autorität. »Ich bin ihre Ärztin. Und jetzt lassen Sie mich bitte durch, Officer.«

»Tun Sie es«, rief Murphy, und DiBello gehorchte, aber Aidan vertrat ihr rasch den Weg, bevor sie den Tatort kontaminieren konnte. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, war aber immer noch nicht groß genug, um über seine Schulter zu blicken. Aidan legte ihr die Hände an die Oberarme und drückte sie sanft zurück, obwohl er spürte, dass sie sich versteifte.

»Ma’am, wir warten auf die Gerichtsmedizin. Sie können im Augenblick nichts tun.«

Sie trat einen Schritt zurück und verharrte reglos. »Sie ist also gesprungen?«

Aidan nickte. »Tut mir leid, Ma’am. Vielleicht können Sie uns sagen …« Doch seine Worte verklangen, als sie sich endlich die Haare aus dem Gesicht schob und er sie augenblicklich erkannte. Erneut brachte der Zorn sein Blut in Wallungen. »Sie sind Ciccotelli!« Dr. Tess Ciccotelli. Diese Frau war keine Ärztin. Sie war ein Seelenklempner. Und als sei das allein nicht schlimm genug, hatte Miz Chick auch noch einen Ruf wie Donnerhall.

Nein, sie war nicht einfach eine Wald-und-Wiesen-Psychiaterin für gestörte Geschäftsleute, die gestanden, ihre Mutter zu hassen. Sie war eine Seelenklempnerin, die wochenlange handfeste Polizeiarbeit über den Haufen warf, sobald sie in den Zeugenstand trat und mit ruhiger Stimme aussagte, dass der geständige Mörder von drei Kindern und einem Polizisten nicht in der Lage war, den Prozess durchzustehen. Vier trauernde Familien mussten auf Gerechtigkeit verzichten, weil eine »Ärztin« behauptet hatte, der Killer sei geistig umnachtet und nicht zurechnungsfähig gewesen.

Natürlich war der Mistkerl geistig umnachtet. Er hatte den brutalen Mord an drei kleinen Mädchen gestanden. Fast noch Babys. Und dann hatte er mit bloßen Händen einen erfahrenen Cop erwürgt, der versucht hatte, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Dass der Mann verrückt war, machte ihn nicht weniger schuldig. Nun saß der verdammte Dreckskerl in einer kuscheligen Nervenklinik in Chicago und häkelte Topflappen, anstatt in der Todeszelle auf seine Spritze zu warten. Das war nicht fair. Nicht richtig. Aber es war geschehen. Und diese Frau war schuld daran.

Aidan war mit den anderen Cops im Gerichtssaal gewesen und hatte wider besseres Wissen gehofft, dass Ciccotelli ihre Meinung ändern und das Richtige tun würde. Er erinnerte sich noch genau, wie die Eltern der Mädchen leise geweint hatten, als sie erkannten, dass es für sie keine Gerechtigkeit geben würde. Wie die Frau des Polizisten reglos und umgeben von einer Armee anderer Cops dagesessen und ins Leere gestarrt hatte. Aber Ciccotelli hatte nicht mit der Wimper gezuckt, sondern nur mit ihren kühlen braunen Augen emotionslos geradeaus geblickt.

Genauso wie sie ihn jetzt ansah. »Und Sie sind?«, fragte sie.

»Detective Aidan Reagan. Und dies ist Todd Murphy, mein Partner.«

Ihre Augen verengten sich leicht, als sie sein Gesicht musterte, und er musste sich regelrecht Mühe geben, seinen wütenden Ausdruck beizubehalten. Von seinem Platz aus im Gerichtssaal hatte sie aalglatt und extrem beherrscht gewirkt, aus der Nähe jedoch war sie vor allem schön – wenn auch immer noch unerreichbar. Als sie sich nun an Murphy wandte, war es an ihm, die Augen zu verengen. »Todd, bitte sagen Sie Ihrem Partner, er soll mich durchlassen. Ich kann sie wenigstens identifizieren.«

Murphy legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich glaube nicht, dass Sie das tun sollten, Tess. Sie … sie sieht wirklich nicht gut aus.«

Aidan trat zur Seite und streckte den Arm in aufgesetzter Galanterie aus. »Wenn sie sie sehen will, dann lass die liebe Frau Doktor doch um Himmels willen vorbei.«

Murphy warf ihm einen warnenden Blick zu. »Aidan.«

»Schon gut, Todd«, murmelte sie und trat vor. Dann stand sie eine Weile da, betrachtete die Leiche, ohne mit der Wimper zu zucken und wandte sich schließlich gefasst und kühl zu ihnen um. »Sie heißt Cynthia Adams. Sie hat keine nahen Verwandten.« Aus ihrer Jackentasche holte sie eine Visitenkarte und reichte sie Todd mit ruhiger Hand. »Rufen Sie mich an, wenn Sie Fragen haben. Ich beantworte sie, so gut ich kann.«

Und damit drehte sie sich um und ging auf den grauen Mercedes zu, der neben Murphys schlichtem Ford geparkt war. Aidans Verärgerung wallte erneut auf.

»Und das ist alles?«

»Aidan«, warnte Murphy wieder. »Nicht jetzt.«

»Wenn nicht jetzt, wann dann?« Doch er beherrschte sich, als er sich wieder der kleinen Menschenmenge bewusst wurde, die nur allzu nah stand. »Sie rollt hier an und identifiziert das Opfer so kalt, als ob sie Leichenbeschauerin wäre. Und dann geht sie einfach weg? Was ist denn mit dem Grund, warum die Lady sich aus dem zweiundzwanzigsten Stock gestürzt hat, Doktor?Sie sollten es doch wissen, oder?« Und es sollte Ihnen etwas ausmachen, verdammt, dachte er zornig. Gibt es überhaupt etwas,das Ihnen etwas ausmacht?

»Was für eine Ärztin sind Sie eigentlich?«, zischte er und sah, wie sie stehen blieb, die Hände tief in den Taschen vergraben.

Sie holte ihre Handschuhe aus der Manteltasche und zog sie an, ohne sich zu ihnen umzudrehen. »Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen, Todd«, sagte sie, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte und davonging.

Murphys Augen schleuderten Blitze, als er sich zu Aidan wandte. »Ich sagte doch, nicht jetzt, Aidan!«

Aidan machte auf dem Absatz kehrt. »Na und? Sieht nicht so aus, als ob es sie kümmert!«

»Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Du kennst sie nicht.«

Aidan blickte über die Schulter. Murphy sah Ciccotelli hinterher, die nun die Straße überquerte. Sein Gesicht war, ganz untypisch für ihn, ein einziges, besorgtes Stirnrunzeln. »Aber du, was?« Es war kaum zu fassen. Der ehrwürdige, stoische Todd Murphy hatte sich von einer eiskalten Ziege wie Miz Chick um den Finger wickeln lassen. Tja, das wird mir nicht passieren.

Murphy stieß verärgert den Atem aus, der sich zu einer Dampfwolke verwandelte, und einen Moment lang stand diese Wolke wie eine Barriere zwischen ihnen. Dann war sie fort, genau wie das Stirnrunzeln, und Murphy sah Ciccotelli mit einer Traurigkeit hinterher, die Aidan verunsicherte. »Ja, zufällig tue ich das. Geh und sprich mit den Teenies. Ich bin gleich zurück.«

Aidan zuckte die Achseln, um das Unbehagen abzuschütteln. Sollte sich Murphy seinetwegen doch mit dem Eiszapfen auseinandersetzen. Er hatte Besseres zu tun. Zum Beispiel einen Tatort zu untersuchen, damit die Gerichtsmedizin aufsammeln konnte, was von Cynthia Adams übriggeblieben war, und sie alle nach Hause gehen konnten. Er würde mit den Kids reden, sich die Wohnung ansehen und dann verschwinden.

 

Nur noch eine Minute. Eine weitere Minute. Tess Ciccotelli sagte sich die Worte im Geist wieder und wieder, um die Fassung bewahren zu können, bis sie endlich allein war. Cynthia war tot. Lieber Gott. Lag nun auf der Straße, aufgerissen wie …

Nicht daran denken. Denk nicht daran, dass sie tot und verstümmelt ist. Lauf. Lauf weg. Nur noch eine Minute. Dann kannst du zusammenbrechen, Tess. Aber noch nicht.

Sie mühte sich mit dem Autoschlüssel ab, und spürte, dass Todd Murphy und sein Partner sie beobachteten. Todd Murphy und sein zorniger Partner, wer immer das war. Er hatte sich als Aidan Reagan vorgestellt, fiel ihr wieder ein, als der Schlüssel endlich ins Schloss glitt und sie die Tür öffnen konnte.

Sie zwang sich, sich auf seine kalten blauen Augen zu konzentrieren. Er war wütend gewesen. Und wie. Nur noch eine Min …

»Tess?«

Verdammt. Vor Schreck ließ sie die Schlüssel fallen, die klirrend unter das Auto rutschten. Sie holte tief Luft. Sie hätte es fast geschafft. »Schon gut, Todd. Machen Sie Ihren Job.«

»Mach ich. Tess, Sie zittern.«

»Todd, bitte.« Ihre Stimme kippte. Wie demütigend. »Ich muss hier weg, und zwar schnell.«

Er nahm ihren Arm und half ihr auf den Fahrersitz. »Aber gerade jetzt sollten Sie nicht fahren. Ich rufe jemanden, der Sie nach Hause bringt.«

»Da gibt es keinen«, sagte sie betäubt. »Deswegen habe ich auch so lange gebraucht, um herzukommen. Ich habe meinen Partner und meine Freunde angerufen. Ich fahre nie allein zu einem Patienten. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht.« Sie wusste, dass sie Belanglosigkeiten von sich gab, und konnte sich nicht bremsen. »Aber niemand hat abgenommen, also bin ich letztlich doch allein gefahren.« Sie schloss die Augen. Riss sie wieder auf, als sie Cynthia sah, wie … sie dort lag. »Und es war zu spät.«

»Das ist nicht Ihre Schuld, Tess«, sagte Murphy sanft. »Und das wissen Sie.«

Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Resolut drängte Tess es zurück. »Sie ist tot, Todd.« Was für eine dämliche Aussage. Cynthia Adams lag mit zertrümmertem Schädel und Innereien, die nach außen gekehrt waren, auf der Straße. O ja, und ob sie tot war.

»Ich weiß.« Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. »Wieso sind Sie hergekommen, Tess? Hat sie Sie angerufen?«

Tess schüttelte den Kopf. »Nein. Es war eine ihrer Nachbarinnen.«

»Warum ist sie gesprungen?«

Seine Stimme war ruhig und so sanft und nagte an dem Damm, der ihre Tränen zurückhielt. »Verdammt, Todd, lassen Sie mich bitte. Ich rede morgen mit Ihnen, versprochen.«

»Ich lasse Sie erst gehen, wenn ich sicher weiß, dass Sie in Ordnung sind.«

Tess holte tief Atem und stieß ihn langsam und kontrolliert wieder aus. Sie packte das Steuer mit beiden Händen und blickte über seine Schulter zu seinem Partner, der am Streifenwagen stand. Sein hartes Gesicht wurde von den blitzenden Lichtern beleuchtet. Er sah zu ihnen herüber, beobachtete sie. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie seinen durchdringenden Blick spüren. Seine Feindseligkeit. Er hatte die blauen Augen verengt, die Kiefermuskeln angespannt. »Sie haben einen neuen Partner«, murmelte sie und zwang sich, dem Blick dieses Mannes standzuhalten.

»Ja. Aidan Reagan.«

Aidan Reagan. »Ist er mit Abe verwandt?« Sie kannte Abe Reagan und vertraute ihm. Vertraute auch seiner Frau, Kristen. Die beiden waren gute Menschen.

»Aidan und Abe sind Brüder.«

»Das hätte ich mir denken können.« Aidan Reagan sah genauso gut aus wie sein Bruder. Er hatte dasselbe dunkle Haar und dieselben blauen Augen, obwohl Aidans härter und nüchterner wirkten. Seine Gesichtszüge waren schärfer, sein Kiefer ein wenig kantiger. Der Mund … weicher, bevor er sie erkannt hatte. Er hatte das Potenzial für Leidenschaft. Aber nicht mir gegenüber.

»Tess, er …« Murphy brach ab.

»Mag mich nicht«, sagte sie mit aufgesetzter Heiterkeit. »Schon in Ordnung, Todd. Das geht vielen so.«

Sein Seufzen war tief und traurig. »Er war damals im Gerichtssaal.«

Murphy musste nicht erst sagen, um welchen Tag, um welchen Prozess es sich handelte. Sie wussten es beide. Harold Green hatte brutal drei kleine Mädchen getötet. Aber der Obdachlose hatte nicht drei Sechsjährige mit Pferdeschwänzen und Zahnlücken gesehen, sondern Dämonen mit blutigen Reißzähnen, die ihn zerfetzen wollten. Sie war zunächst sehr skeptisch gewesen, aber nach etlichen Stunden Beobachtung und einer eingehenden Beratung mit den Ärzten, die Harold Greens Schizophrenie viele Jahre lang zu behandeln versucht hatten, hatte sie ihm glauben müssen. Der Mann war tatsächlich verrückt. Und deshalb laut Gesetz nicht für seine Taten verantwortlich. Genau das hatte sie vor Gericht ausgesagt, obwohl es ihr kaum gelungen war, bei all den verächtlichen und sogar hasserfüllten Blicken aus dem Publikum ihre kühle Fassade aufrechtzuerhalten.

Sie hielten sie für eiskalt, all die Cops, die sich an jenem Tag im Gerichtssaal aufgehalten hatten. Sie wusste es. Sie glaubten, sie hatte sich von einem rücksichtslosen Mörder täuschen lassen. Sie glaubten, dass ihr die Tränen der Eltern nichts ausmachten.

Aber sie irrten sich. Und wie sie sich irrten.

Dass Detective Reagan an jenem Tag auch dort gewesen war, erklärte vieles. Noch immer stand er auf der anderen Straßenseite und starrte sie mit unverhohlener Feindseligkeit an. Tess war die Erste, die den Augenkontakt unterbrach, indem sie in Murphys besorgtes Gesicht blickte. »Ich verstehe.«

»Nein, tun Sie nicht. Nicht ganz. Er hat das dritte Mädchen gefunden.«

Sie packte das Steuer fester. Sie war an diesem Tag bei Green gewesen und hatte aus ihm herausgebracht, wo das dritte Mädchen versteckt war. Er hatte behauptet, es wäre noch am Leben. Aber als die Polizei ankam, stellte sich heraus, dass das nicht der Fall war. Tess hatte nicht gewusst, wer das Mädchen gefunden hatte. Und sie hatte es auch nicht wirklich wissen wollen. Dass sie den Ort nicht rechtzeitig genug hatte herausfinden können, war bitter gewesen.

Und wie musste es erst dem Menschen ergangen sein, der die Kinderleiche schließlich entdeckt hatte? »Ja, das erklärt es wirklich. Er hat ein Recht auf seine Wut.«

»Er ist ein guter Mensch, Tess. Und ein guter Cop.«

Sie nickte. »Schon gut, Murphy, wirklich. Ich verstehe jetzt.« Und das tat sie. Besser, als sich irgendjemand vorstellen konnte. »Könnten Sie mir meine Schlüssel holen? Sie sind unters Auto gefallen.«

Murphy seufzte. »Okay. Ich rufe Sie morgen an. Ich brauche Cynthia Adams’ Akte.« Er tastete auf dem Asphalt und hob ihren Schlüssel auf.

Tess nickte und spürte Erleichterung, als der Motor verlässlich mit einem Grollen zum Leben erwachte. Sie wollte die Tür zuziehen, als sie innehielt. »Sagen Sie Ihrem Partner …« Aber was immer sie zu sagen hatte – es würde nichts ändern. »Ach, schon gut. Danke, Todd. Wie immer.«

Ihre Hände bebten, als sie anfuhr. Sie gab sich drei Blocks, dann fuhr sie in eine ruhige Seitenstraße, ließ den Kopf auf das Steuer sinken und die Tränen laufen. Verdammt, Cynthia, warum hast du mich nicht angerufen? Warum hast du dir das angetan?

Aber sie wusste es ja. Genau wie sie wusste, dass sie nichts hätte tun können, um die Frau daran zu hindern. Sie konnte nur Menschen helfen, die sich helfen lassen wollten. Die anderen taten, was immer sie für richtig hielten. Das wusste sie. Aber das Wissen machte es nicht erträglicher.

Cynthia Adams hatte gelitten und sich für etwas schuldig gefühlt, über das sie keine Kontrolle gehabt hatte. Ihren eigenen Tod jedoch hatte sie kontrollieren können. Und darin lag die bittere Ironie.

Vollkommen erschöpft fuhr Tess wieder an und zu ihrer Wohnung. Heute Nacht würde sie nicht mehr schlafen. Cynthias Akte war zentimeterdick. Es würde mehr als nur ein paar Stunden dauern, für Murphy und seinen zornigen Partner die wichtigen Fakten herauszusuchen. Aber das war das wenigste, was sie tun konnte. Für Aidan Reagan und Cynthia Adams.

Und vielleicht für sich selbst.

Sonntag, 12. März, 1.15 Uhr

Halb erstaunt, halb verärgert hatte Aidan beobachtet, wie Murphy noch eine Weile lang Ciccotellis Wagen nachgeblickt hatte, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte und in den Profi verwandelte, den Aidan zu schätzen gelernt hatte. Murphy hatte die Gerichtsmedizin und die Spurensicherung eingewiesen, und Aidan hatte sich mit den beiden Jugendlichen unterhalten.

Die Kids hatten nichts Neues zu sagen. Nur dass Adams auf das Geländer »zugeglitten« war, sich dort umgedreht hatte und mit ausgestreckten Armen hinuntergestürzt war. Er hatte die beiden mit ihren Eltern nach Hause geschickt. Nach solch einer Erfahrung würden sie nie wieder dieselben sein.

Nun standen Murphy und er vor Cynthia Adams’ Wohnung und beobachteten den betrunkenen Hausmeister, der sein Bestes gab, um den Schlüssel ins Schloss zu manövrieren. Jim McNulty hatte den Sieg der Bulls offensichtlich gefeiert und sich in seiner Lieblingsbar volllaufen lassen. Sie hatten gerade schon aufgeben wollen, als er torkelnd und mit klimperndem Hauptschlüssel angekommen war. Die Gerichtsmedizin hatte soeben Cynthia Adams’ Leiche auf eine Bahre gehoben, und weil sie sie nicht von dem Zaun hatten trennen können, hatten sie ein Stück davon absägen müssen. Der Hausmeister hatte sie wegen des Zaunstücks angeschnauzt, bis sein Blick auf den toten Körper gefallen war.

Seitdem hatte er kein Wort mehr gesagt.

»Wie lange kannten Sie Miss Adams?«, fragte Aidan und zog den Kopf ein, als der Seufzer des Mannes eine stinkende Alkoholwolke hervorbrachte. Was für ein Glück, dass nirgendwo offenes Feuer war. McNulty war bis oben hin voll. »Seit drei Jahren. Sie ist vor drei Jahren eingezogen.« Er drückte die Tür auf, und Aidan fielen sofort zwei Dinge auf. Erstens, dass es in der Wohnung eiskalt war, was er natürlich erwartet hatte. Die Balkontür stand seit über einer Stunde offen. Der überwältigende Duft der Blumen jedoch ließ ihn blinzeln. In Cynthia Adams’ Wohnung befanden sich mehr Blumen, als er je bei einem Floristen gesehen hatte.

Murphy runzelte die Stirn. »Was ist das denn?«

»Lilien.« Aidan betrat die Wohnung und hob zögernd eine auf. »Begräbnisblumen.«

»Meine Güte«, murmelte Murphy und ließ den Blick durch das Wohnzimmer gleiten. »Das sind ja Unmengen. Die müssen locker hundert Dollar gekostet haben.«

Aidan zog eine Braue hoch. »Mindestens dreimal so viel.« Als Murphy ihn fragend ansah, zuckte er die Schultern. »Ich habe auf dem College mal einen Gartenbaukurs belegt.« Er nahm den obersten Brief von einem dicken Stapel, der auf einem Tischchen im Eingangsbereich lag. »Ziemlich viel Post.« Er wandte sich an den Hausmeister. »War sie weg?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Auf der Oberlippe war ein Schweißfilm erschienen, und sein Blick huschte von hier nach da. »Nein. Aber sie war mit der Miete einen Monat im Rückstand. Zum ersten Mal in den drei Jahren, die sie hier gewohnt hat. Der Verwalter meinte, ich soll sie im Auge behalten, damit sie nicht heimlich auszieht.«

Aidan durchquerte vorsichtig das Wohnzimmer, um nicht auf die Blumen zu treten, und blickte auf den Balkon hinaus. »Eine Trittleiter«, rief er Murphy zu. »Die Jugendlichen meinten, sie sei das Geländer hinaufgeglitten. Sie hat eine Trittleiter benutzt.«

»Sehr praktisch gedacht.«

Der Hausmeister taumelte zur Balkontür. »Die war vor einer Woche noch nicht hier. Ich war neulich hier, um einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren, und da stand das Ding noch nicht da.«

»Wenn Sie am Wasserhahn zu tun hatten, wieso haben Sie dann den Balkon sehen können?«, fragte Murphy sanft.

Der Hausmeister wurde blass. »Ich wollte eine rauchen.«

»Sie hat die Leiter also extra für das große Ereignis dorthin plaziert«, murmelte Murphy, dann wurde seine Stimme jedoch scharf. »Aidan.«

Aidan fuhr herum. Murphy hielt ein Papier zwischen zwei behandschuhten Fingern. Seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepresst. Es war ein Foto, auf glänzendem Papier gedruckt. Darauf war eine Frau zu sehen, die an einem Seil baumelte, die Füße gut einen halben Meter über dem Boden. Ihr Gesicht sah grotesk aus, die Augen quollen hervor, und der Mund stand offen, als ob sie um Luft rang.

»Wer ist das?«, fragte Murphy den Hausmeister.

Der Mann wich einen Schritt zurück; sein Gesicht war noch eine Spur blasser geworden. »Weiß ich nicht. Hab ich noch nie gesehen. Ich glaube, ich muss hier raus.«

»Moment noch, Mr. McNulty.« Aidan vertrat ihm den Weg. »Bitte. Sie haben gesagt, der Verwalter hätte Sie gebeten, ein Auge auf die Wohnung zu halten. Haben Sie vielleicht gesehen, wer die vielen Blumen angeschleppt hat? War es Miss Adams?«

»Ich weiß es nicht. Tut mir leid«, nuschelte er.

»Na gut. Wir können uns ja die Bänder vom Sicherheitsdienst ansehen.« Er hatte die Kamera, die auf den Fahrstuhl gerichtet war, gesehen, sobald sie das Gebäude betreten hatten.

McNulty schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Die Kamera ist kaputt.«

»Wie praktisch«, knurrte Murphy. »Seit wann?«

McNulty scharrte mit den Füßen. »Seit ein paar Wochen.«

Aidan sah ihm in die Augen. »Wochen?«

McNulty sah zur Seite. Sein blasses Gesicht bekam rote Flecken. »Okay, Monaten.«

Aidan war sicher, dass McNulty mehr wusste, als er sagte. »Hat Miss Adams kürzlich Besuch gehabt?«

McNulty wirkte, als würde er am liebsten im Boden versinken. »Sie hat viel Besuch gekriegt.«

Nun war Aidan hellwach. Aus dem Augenwinkel sah er, dass auch Murphy aufhorchte. »Was für Besuch, Sir?«

McNultys Versuch, nonchalant zu sein, scheiterte kläglich. »Viele Leute mochten Cynthia.«

»Sie meinen viele Männer?«, fragte Aidan scharf.

McNulty schloss die Augen. Seine Miene war deutlich schuldbewusst. Wäre er nüchtern gewesen, hätte man ihn vermutlich nicht so leicht durchschauen können, dachte Aidan. Vielen Dank, Bulls. »Auch, ja.«

»Auch ja oder grundsätzlich ja?«

Er riss die Augen auf, nun panisch. »Hören Sie, wenn meine Frau das rausfindet … die bringt mich um.«

Murphy blinzelte. »Sie hatten also eine Affäre mit Miss Adams?«

»Nein.« McNulty schüttelte vehement den Kopf. »Keine Affäre. Es war nur einmal.«

Aidan zog eine Braue hoch. »Einmal.«

McNulty wich noch einen Schritt zurück. »Zwei-, dreimal. Höchstens.«

»Hat sie … sich bezahlen lassen, Mr. McNulty?«, fragte Murphy ruhig.

Aidan bezweifelte, dass der entsetzte Gesichtsausdruck des Mannes gespielt war. »Nein, meine Güte, nein! Sie war nur … dankbar. Das ist alles.«

Langsam wurde es interessant, fand Aidan. »Dankbar? Wofür?«

»Ich habe die Kamera in diesem Stock ausgeschaltet, okay? Ein paar von ihren Freunden wollten nicht gesehen werden. Ich weiß keine Namen, und ich wollte sie auch nicht wissen. Sie hat eben ihr Ding gemacht, und ich habe weggesehen. Das schwöre ich. Kann ich jetzt bitte gehen?«

Aidan warf Murphy einen Blick zu. »Brauchen wir ihn noch?«

»Im Moment nicht«, erwiderte Murphy freundlich, und sie sahen zu, wie McNulty unbeholfen durch die Blumen stakste. »Wir melden uns bei Ihnen, Mr. McNulty«, fügte er hinzu. Der Mann nickte hastig und war fort.

Aidan drückte die Tür hinter ihm zu. »Ich hätte gerne gewusst, um was für Freunde es sich gehandelt hat.«

»Und ich hätte gerne gewusst, ob einer davon ihr dies hier zugesteckt hat.« Murphy hielt das Foto von der erhängten Frau hoch. »Autoerotische Asphyxie?«

Aidan verzog das Gesicht. »Frag mich nicht. So etwas ist mir noch nicht begegnet.«

»Mir schon«, sagte Murphy, während er sich in Richtung Schlafzimmer bewegte. »Und wenn es schiefgeht, geht es richtig schief. Schau mal nach, ob du ein Foto von Adams findest, damit wir wenigstens wissen, wie sie aussah. Ich schaue mich mal dort drin um.«

Aidan hörte, wie Murphy im Schlafzimmer Schubladen öffnete, während er ihre Brieftasche durchsuchte und den Führerschein fand. Das ernste Gesicht, das ihm entgegenstarrte, weckte in ihm ein Mitleid, das ihm nicht willkommen war. Diese Frau wirkte bodenständig. Sehr korrekt. Beherrscht.

Nun wurde sie ins Leichenschauhaus gefahren, nachdem sie zweiundzwanzig Stockwerke tief gesprungen war. Warum hatte sie es getan? Was war im letzten Monat geschehen, dass sie ihre Miete nicht mehr gezahlt und geglaubt hatte, Selbstmord sei die einzige Lösung? Aber das war ja immer das Problem mit Selbstmördern, dachte er bitter. Sie blieben nicht lange genug am Leben, um denen, die sie liebten, die Chance zu geben, Antworten auf diese Frage zu erhalten. »Sie war vierunddreißig, Murphy. Sie hat Kontaktlinsen getragen und war Organspenderin.«

Murphy erschien in der Schlafzimmertür, plüschbezogene Handschellen in der einen und eine kleine Lederpeitsche in der anderen Hand. »Und sie hatte ein paar niedliche Vorlieben. In der Decke ist ein Flaschenzug befestigt. Sieht aus, als hätte sie sich dann und wann ein bisschen hängen lassen.«

Aidan blinzelte, als er die Utensilien in Murphys Händen betrachtete und versuchte, sie mit der ernsten Frau auf dem Führerschein in Einklang zu bringen. »Man sollte es nicht glauben, wenn man sie sieht.«

»So einfach ist es nie. Was hat sie in ihrer Handtasche?«

Rasch durchsuchte Aidan die kleine Tasche. »Vier Kreditkarten, ein Handy, verschiedene Lippenstifte und einen Schlüsselbund.« Er hielt ihn hoch. »Honda, Wohnung, und noch einen kleinen Schlüssel.«

»Zu einem Banksafe?«

Aidan legte den Schlüsselbund in eine Tüte, während Murphy dasselbe mit den Handschellen und der Peitsche tat. »Vielleicht. Hast du Bankauszüge in der Post gesehen?«

Murphy ging zurück zu dem Tischchen und durchsuchte den Stapel. »Sie hat keinen der Briefe aufgemacht. Hier ist einer von der Bank. Wir können ja … Nanu?« Murphy sah finster auf einen Umschlag in seiner Hand. »Den hier hat sie aufgemacht. Keine Briefmarke, kein Absender.« Er holte ein Foto aus dem Umschlag und betrachtete es grimmig. »Wieder eine tote Frau. Die hier liegt im Sarg.« Er reichte es Aidan. »Schau mal auf ihre Hände.«

Ein Prickeln lief Aidan den Rücken herab. »Sie hält eine Lilie. Und sie sieht aus wie die, die am Galgen gebaumelt hat.« Er nahm sich einige Briefe von dem Stapel und sortierte sie. Innerhalb weniger Minuten hatten sie zehn solcher Fotos gefunden, alle ähnlich grausig. Alle von derselben Frau. Alle verstörend. Kein einziger dieser Briefe war mit einem Namen oder einem Absender versehen. »Da hat jemand mit Cynthias Verstand herumgespielt.«

Murphy nahm ein gerahmtes Foto von Adams’ Schreibtisch. Ein junges Mädchen, dem die Haare in die Augen hingen, blickte ihm entgegen. »Das ist die Frau. Adams hat sie also gekannt.« Er holte das Bild aus dem Rahmen. »Leider kein Name hinten drauf.«

»Sie ist jünger als hier auf dem Foto. Vielleicht sechzehn? Sieht aus wie ein Schulfoto. Meine Schwester Rachel hat Fotos von sich, die vor einem ähnlichen Hintergrund gemacht worden sind.« Aidan bückte sich und holte eine längliche Schachtel unter dem Tisch hervor, die genau die richtige Größe für ein Dutzend Rosen hatte. Aber irgendwie bezweifelte er, dass sie Blumen darin finden würden.

»Mach auf«, sagte Murphy gepresst.

Vorsichtig hob Aidan den Deckel. »Mist.« Ein Strick, der zu einer Schlinge gebunden war, lag auf einem Bett aus weißem Papier. Ein kleiner, goldener Anhänger war daran befestigt. »›Komm zu mir. Finde Frieden‹«, las er. Er sah auf und begegnete Murphys Blick. »Lass uns die Spurensicherung raufholen.«

Murphy rief sie per Handy, dann seufzte er, als er sein Telefon wieder in die Tasche schob. »Ich fürchte, Tess muss uns morgen eine Menge Fragen beantworten.«

Aidan presste die Kiefer zusammen. »Da hast du wohl recht.«

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2

Sonntag, 12. März, 10.30 Uhr

Joanna Carmichael sah zu, wie ihre Fotos eingehend gemustert, wie der Text, den sie heute Morgen geschrieben und immer wieder bearbeitet hatte, konzentriert gelesen wurde. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hob der Chefredakteur des ChicagoBulletin den Kopf.

»Wo haben Sie die her?«, fragte Reese Schmidt und deutete auf die Fotos.

»Richtige Zeit, richtiger Ort.« Joanna zuckte die Achseln. Karma, dachte sie, war sich aber sicher, dass Reese diese Erklärung nicht zu würdigen gewusst hätte. »Das Opfer wohnte in meinem Wohnhaus. Ich war fast zu Hause, als sie sprang. Ich hörte einen Schrei und lief mit drei anderen Leuten los. Zwei Jugendliche haben sie springen sehen.« Sie zeigte auf das erste Bild, das eine blutende, zerschmetterte Frau und zwei Jugendliche zeigte, deren Entsetzen durch den Schwarz-Weiß-Kontrast stark hervorgehoben wurde. »Da habe ich einfach draufgehalten.«

Er sah sie skeptisch an. »Vor den Cops?«

»Die waren noch gar nicht da«, erwiderte sie ruhig. »Und als sie kamen, knippste ich weiter, allerdings weniger auffällig.«

»Sie haben keinen Blitz verwendet?«

»Meine Kamera ist gut. Ich brauchte keinen.« Sie zog eine Braue hoch. »Ich ziehe es vor, mir meine Fotos nicht abnehmen zu lassen.«

Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ich verstehe. Und was ist mit der Story?«

»Die habe ich geschrieben.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht. Woher haben Sie die Informationen? ›Laut einer anonymen Quelle hat die Polizei Beweise gefunden, dass das Opfer dazu getrieben wurde, sich aus dem zweiundzwanzigsten Stock zu stürzen.‹ Wer ist diese anonyme Quelle?«

Als sie keine Antwort gab, musterte Schmidt sie kritisch. »Sie haben also keine Quelle. Entweder haben Sie sich das aus den Fingern gesogen oder Sie haben die Cops belauscht. Also?«

Joanna sog frustriert die Wangen ein. »Das Zweite.«

»Dachte ich mir.« Er setzte sich auf seinen Stuhl und verschränkte die Finger. »Wenn Sie mir jemanden von der Spurensicherung besorgen, irgendjemanden, den ich zur Bestätigung kontaktieren kann, bringe ich die Story.«

Ja! Die Worte, auf die sie seit zwei Jahren wartete. »Wo?«

Sein Grinsen war leicht spöttisch. »Werden Sie nicht größenwahnsinnig, Miss … Carmichael, richtig? Besorgen Sie mir eine Aussage, die einer Überprüfung standhält, und wir reden weiter.«

Das war nur fair, dachte sie. Nicht ideal, aber fair. Einen Sekundenbruchteil überlegte sie, den anderen Trumpf, den sie besaß – ihren Vater – aus dem Ärmel zu ziehen, überlegte es sich aber anders. Das wäre weder Schmidt noch ihr selbst gegenüber fair. Also begann sie, ihre Fotos zusammenzusammeln und zog die Stirn in Falten, als er seine Hand auf das erste, das mit den beiden Teenagern, legte.

»Ich habe keine Lust, wegen falscher Informationen verklagt zu werden«, sagte er glatt. »Aber diese Fotos kann ich dennoch verwenden. Sie lügen nicht.«

Joanna knirschte innerlich mit den Zähnen. »Ich auch nicht. Ich komme wieder.« Und dann war sie mit strammem Schritt unterwegs zur Polizeistation. Sie hatte keine Ahnung, wie sie an eine Bestätigung kommen sollte, aber es würde ihr gelingen.

Das Schicksal hatte ihr sozusagen eine heiße Story vor die Füße geworfen, nun würde sie aus dem Geschenk das Beste machen.

Sonntag, 12. März, 12.30 Uhr

Aidan verabscheute die Räume der Gerichtsmedizin. Selbst an einem guten Tag konnte der Geruch ihm den Magen umdrehen. Und heute schien kein besonders guter Tag zu werden. Jedenfalls für niemanden, der mit der Sache zu tun hatte.

Er trat ein und blieb direkt hinter der Tür stehen. Sein Blick fiel auf die Gestalt auf dem Untersuchungstisch. Für Cynthia Adams hatte der Tag definitiv schlecht begonnen. Falls sie wirklich Selbstmord begangen hatte, dann hatte sie dabei Unterstützung gehabt. So viel stand inzwischen fest. Jemand hatte diese Frau systematisch mit Fotos und kleinen »Gaben« gequält. Und immer wieder tauchte der Name »Melanie« auf. Murphy vermutete, dass es sich um die Frau im Sarg handelte, und Aidan war mehr als geneigt, ihm zuzustimmen.

Die Gerichtsmedizinerin hatte ihn nicht hineinkommen hören; sie war in die Betrachtung von Cynthias Händen vertieft. Zum Glück hatte sie die Leiche mit einem Tuch bedeckt. Er räusperte sich, und Julia VanderBeck sah auf. Sie trug eine Schutzbrille. Er konnte nicht verstehen, wie sie den Geruch aushielt – zumal sie sehr offensichtlich schwanger war. Seine Achtung vor Julia stieg noch ein wenig. »Du hast angerufen?«, fragte er, und sie lächelte leicht.

»Habe ich. Wo ist Murphy?«

»Er hört den Anrufbeantworter des Opfers ab und sieht sich die Überwachungsbänder aus dem Eingangsbereich ihres Hauses an.« Die Dankbarkeit des Hausmeisters McNulty hatte sich offenbar nicht darauf erstreckt, sämtliche Kameras in dem Gebäude zu sabotieren. »Er versucht herauszufinden, wer die ganzen Lilien angeschleppt hat.«

Julia nickte knapp. »Erinnere mich noch einmal an die Lilien, bevor du gehst«, sagte sie, »aber zuerst willst du sicher den toxikologischen Bericht.«

»Ja. Was war es?« Aidan nahm das Klemmbrett, das sie ihm über die Leiche hinweg reichte. Sie hatten siebzehn verschiedene rezeptpflichtige Medikamente in der Wohnung des Opfers gefunden. Vier hatte Dr. Tess Ciccotelli verschrieben. Die übrigen dreizehn stammten von anderen Ärzten und waren teilweise über fünf Jahre alt.

Julia streckte sich und presste dabei die Hände auf ihre Lendenwirbel. »Ihr habt Glück, dass ich Murphy noch etwas schulde. Ich wäre nicht für jeden mitten in der Nacht hergekommen.« Sie atmete tief aus und ließ sich langsam auf einen Hocker neben dem Tisch nieder. »In ihrem Urin war nichts von all den Mitteln nachzuweisen. Das Medikament, das ihr zuletzt verschrieben wurde, von Ciccotelli übrigens, war Xanax. Gegen Angstzustände und Depressionen. Das hätte ich eigentlich finden müssen. Tatsächlich aber fand ich PCP. In hoher Konzentration.«

Aidan zog die Stirn in Falten. »Sie kann süchtig gewesen sein.«

Sie hievte sich von dem Hocker hoch. »Komm mal her. Ich will dir was zeigen.«

Sie führte ihn aus der Halle und ins Labor. Hier war der Geruch nicht ganz so schlimm. Aidan atmete erleichtert ein und ignorierte ihr Grinsen. »Und? Was gibt’s?«

Sie gab ein paar Kapseln aus zwei verschiedenen Flaschen auf ein weißes Blatt Papier. Eine der Flaschen erkannte Aidan aus Adams’ Wohnung wieder. Die andere Flasche trug das Etikett einer Krankenhausapotheke. »Links Xanax aus dem Krankenhaus, rechts die Kapseln, die ihr von Adams’ Nachttisch mitgenommen habt.«

Aidan betrachtete sie prüfend. »Die sehen absolut gleich aus.«

»Nicht wahr? Jemand hat die Kapseln geleert und sie mit PCP gefüllt.«

Aidan begegnete ihrem Blick. »Dieser Jemand hat sich verdammt viel Mühe gemacht.«

»Dieser Jemand wollte, dass sie durchdreht und manipulierbar wird.«

Aidan dachte an die Fotos und die Schlinge in dem Geschenkkarton. Die geladene Pistole, die sie in einer weiteren Geschenkschachtel im Schrank gefunden hatten. An die Trittleiter auf dem Balkon, die eine Woche zuvor noch nicht dort gewesen war. An die Lilien. »Mist.«

»Treffend ausgedrückt«, sagte Julia. »Komm noch mal zurück in den Untersuchungsraum. Ich will dir etwas anderes zeigen.« Er folgte ihr und sah zu, wie sie Adams’ Arm anhob. Tiefe, vertikale Narben verunstalteten ihr Handgelenk.

»Sie hat schon einmal versucht, sich umzubringen«, murmelte er.

»Mindestens einmal.«

»Wir haben eine geladene Waffe und eine fertige Schlinge in ihrer Wohnung gefunden. An beiden hingen goldene Anhänger mit der Aufschrift ›Komm zu mir‹.«

Julia seufzte. »Da hat jemand wirklich alles darangesetzt, dass sie sich das Leben nimmt.«

»So sieht es wohl aus. Aber du hast gesagt, ich soll dich an die Lilien erinnern.«

»Ach ja. Ich habe Pollen in ihrer Nase gefunden.«

»Eine Blume lag unter ihrem Kopfkissen.«

»Okay, das ergibt Sinn. Denn ich habe an den Händen keine Pollen gefunden.«

»Vielleicht hat sie sie gewaschen.«

»Möglich ist es, aber bei den Blumenmassen, die in der Wohnung verstreut gewesen sind, ist es unwahrscheinlich, dass sie nicht wenigstens Reste unter den Fingernägeln gehabt hätte, wenn sie sie selbst verteilt hätte. Vor allen Dingen bei den Nägeln.«

Aidan betrachtete die langen, rot lackierten Nägel. »Sie hat die Lilien also nicht angefasst.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Das heißt, jemand anderes hat sie angeschleppt.« Sein Handy klingelte, und er zog es aus der Tasche.

Es war Murphy, und er klang … wütend. »Aidan, wo bist du?«

»Im Leichenschauhaus. Was ist los?«

»Latent hat mir die Auswertung der Fingerabdrücke gebracht, die die Spurensicherung in Adams’ Wohnung genommen hat.«

Aidan wartete, aber Murphy schwieg. »Und? Was hat Latent gefunden?«

»Komm einfach hoch«, fauchte Murphy. »Sofort, verdammt noch mal.«

Sonntag, 12. März, 12.30 Uhr

Tess betrachtete ihr Bild im Spiegel neben der Eingangstür. Ein guter Concealer war wirklich Gold wert; die dunklen Ringe unter ihren Augen waren so gut wie unsichtbar. Es war der zweite Sonntag im Monat und Zeit für den Brunch mit Freunden im Blue Lemon Bistro. Nachdem sie den größten Teil der Nacht Cynthia Adams’ Akte durchgesehen und nur kurz und unruhig geschlafen hatte, war sie versucht, ihre Freunde anzurufen und sich zu entschuldigen. Aber sie widerstand. Der Verlust einer Patientin durfte ihr Leben nicht durcheinanderbringen. Sie wusste das inzwischen. Es war Jons Standardspruch, und er war Chirurg und hatte schon Patienten auf dem OP-Tisch verloren. Zum Glück nicht allzu oft.

Um dem Schicksal die Stirn zu bieten, hatte sie sich heute Morgen extra hübsch gemacht. Sie hatte sich besondere Mühe mit ihrem Haar gegeben, ihr Make-up sorgfältiger aufgetragen und sogar das Preisschild von der roten Lederjacke entfernt, die sie sich für eine besondere Gelegenheit hatte aufheben wollen. Amy würde sich an ihrem Kaffee verschlucken, wenn sie sie sah, dachte Tess. Sie würde sie anflehen, die Jacke ausleihen zu dürfen, und wie immer würde Tess nachgeben. Und wie eine kleine, lästige, wenn auch liebenswerte Schwester, die Tess nie gehabt hatte, würde Amy die Jacke behalten, bis Tess irgendwann in einer Razzia in ihrem Schrank einfallen und all ihre Sachen zurückholen würde. So war es schon immer gewesen. Seit Amy vor zwanzig Jahren bei den Ciccotellis eingezogen war.

Tess schloss die Augen. Allein der Gedanke an ihre Familie tat weh, besonders an den Sonntagen. Sie würden sich nun alle um den großen Tisch versammeln, dort im alten Haus ihrer Familie im Süden Philadelphias. Es würde laut und turbulent und wundervoll sein, und alle Stühle – bis auf ihren – wären besetzt. In der alten Tradition, den Toten zu gedenken, würde ihr Platz leer bleiben. Denn in den Augen ihres Vaters war sie tot.

An den meisten Tagen konnte sie den Schmerz darüber in Schach halten. Heute aber war es schlimmer denn je, vielleicht weil sie sich die halbe Nacht gewahr gewesen war, wie einsam Cynthia Adams gelebt hatte. Sie hatte keine Familie gehabt, niemanden, dem sie wichtig war. Niemanden, der sie jetzt vermissen konnte. Und es hatte Tess daran erinnert, dass sie auch keine Familie hatte … mit Ausnahme ihres Bruders Vito, der sich gegen ihren Vater aufgelehnt hatte. Aber Vito war so weit weg. In Philadelphia. Und darüber hinaus war, genau wie bei Cynthia, niemand da, dem sie wichtig war, denn Phillip, zur Hölle mit ihm, hatte es vorgezogen, zweigleisig zu fahren.