Niederländische Malerei -  - E-Book

Niederländische Malerei E-Book

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Beschreibung

Dieses brillant bebilderte Kunstbuch präsentiert das GOLDENE JAHRHUNDERT DER NIEDERLÄNDSICHEN MALEREI – jener blühenden und unvergleichbaren Zeit der flämischen und holländischen Kunst, die den Zeitraum von 1390 bis 1720 umfasst. In diesen drei Jahrhunderten wuchs in den Niederlanden eine unvergleichbare Vielzahl malerischer Talente heran, bei der die breite, gleichmäßig hohe Qualität ihrer Bilder ebenso erstaunt wie die herausragende Gipfelleistung der Großmeister – eines Jan und Pieter Breughel, Jan van Eyck, Hieronymus Bosch oder Rembrandt, Rubens und Vermeer, um nur einige hervorzuheben.

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Seitenzahl: 428

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Diese Ausgabe entstand unter Mitarbeit von:

Gerd Bauer

Peter Eikemeier

Claus Grimm

Ernst Wolfgang Huber

Ulla Krempel

Gottlieb Leinz

Gerd Unverfehrt

IMPRESSUM

©Digitale Neuausgabe 2020, by Serges Medien, Solingen

©Originalausgabe by Koniglijke Smeets Offset, Weert, NL und Media Serges BV., Weert NL

©Für Werke von bildenden Künstlern, angeschlossen bei der CISAC-Organisation ist die Verwertung der Urheberrechte geregelt mit Beeldrecht Amsterdam, Niederlande

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form und ohne Genehmigung des Verlages kopiert, verwendet oder veröffentlicht werden.

Die Verwendung des Inhalts oder Teilen davon auf digitalen Plattformen oder in sozialen Medien ist ausdrücklich untersagt.

Realisierung der Digitalausgabe:

Zeilenwert GmbH., 07407 Rudolstadt und Ingenieurbüro Müller, 76228 Karlsruhe“

Coverabbildung:

Jan Steen (1625 – 1679), Niederländischer Maler

Selbstbildnis als Lauterist, 3. Viertel 17. Jhd., Öl auf Leinwand, 55,5 x 44,0 cm, Madrid, Thyssen-Bornemisza Museum

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung: Die große Zeit der niederländischen Malerei

Frühe Tafelbildmaler auf südniederländischem Boden (1390-1460)

Nordniederländische Malerei im 15. Jahrhundert

Ausklang des Jahrhunderts – Gent und Brügge (Peter Eikemeier)

Hieronymus Bosch (Gerd Bauer)

Lokale Entwicklungen im 16. Jahrhundert (Ulla Krempel †, Peter Eikemeier)

Porträtmalerei

Pieter Bruegel (Gerd Unverfehrt)

Die flämische Landschaftsmalerei (Ulla Krempel †)

Manierismus und Caravaggismus in Haarlem und Utrecht (Gottlieb Leinz)

Frans Hals (Gottlieb Leinz)

Peter Paul Rubens

Flämische Meister im Umkreis von Rubens

Rembrandt und seine Wirkung

Holländische Landschaftsmalerei (Claus Grimm)

Genremalerei (Ernst Wolfgang Huber)

Jan Vermeer van Delft (Ernst Wolfgang Huber)

Stilleben

Kurzbiographien

Stichwortverzeichnis

TABLET-ART DIGITAL EDITION

Einleitung: Die große Zeit der niederländischen Malerei

Niederländisch als Begriff ist missverständlich, weil an zwei verschieden große Territorien gedacht werden kann. Die Niederlande als Königreich seit 1831 bilden nur einen Teil jenes Raumes zwischen Nordsee im Norden und Westen, Frankreich im Süden und Deutschland im Osten, der seit dem Mittelalter Niederlande („terra inferior") genannt wurde. Dieses umfänglichere Gebiet, etwa dem der heutigen Beneluxstaaten gleich, doch im ganzen immer noch fünfzehnmal kleiner als Ägypten, hat zwischen 1390 und 1720 – der hier vorgestellten Zeitspanne – eine derartige Fülle von bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten, -gruppen und -schulen der Malerei hervorgebracht, dass nachträgliche große Zusammenfassungen in einem Band eine Seltenheit geblieben sind. Wie lassen sich auch solche Namen wie Jan van Eyck, Hans Memling, Hieronymus Bosch, Pieter Bruegel, Frans Hals, Peter Paul Rubens, Anthonius van Dyck, Rembrandt van Rijn und Jan Vermeer van Delft in einem Atemzug präsentieren und deuten? – und wie solche Stilbegriffe wie spätmittelalterlich, manieristisch und barock vereinigen? Die Autoren und Herausgeber von Darstellungen zur Geschichte der niederländischen Malerei haben sich so geholfen, dass sie meist nur einen Abschnitt aus dem Strom der Entwicklung herausgelöst und in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt haben. Dabei haben sich gegenüber der Kontinuität lebendig ablaufender Kunstgeschichte bestimmte Schwerpunkte und Gewichtsverlagerungen ergeben. Das 15. Jahrhundert ist ein solches Großdetail. Von einem einzelnen Forscher (M. J. Friedländer) mit nicht weniger als 14 Bänden gewürdigt, wurde es in der deutschsprachigen Literatur mit dem Sammelnamen „Altniederländische Malerei“ versehen. Das 17. Jahrhundert erscheint auch immer wieder als Ausschnitt; doch wurde es wegen der Vielfalt der künstlerischen Erscheinungen und des sich zu dieser Zeit teilenden Landes oft als flämische und holländische Malerei getrennt behandelt. Das hat zu Verwirrungen geführt, weil nicht jeder das gleiche meint, wenn er ein Gemälde für flämisch, holländisch, niederländisch oder belgisch hält. Die Problematik der Begriffe wurde noch vergrößert, weil man zum Beispiel mit flämisch und holländisch künstlerische Unterscheidungskriterien und konfessionelle Verschiedenheiten charakterisierte. Die allgemein verständliche Benutzung liegt im vereinfachten politisch-geographischen Gebrauch der Begriffe. Einen belgischen Maler gibt es, grob gesprochen, erst seit Gründung des Staates Belgien, also seit 1830 (was nicht verdecken darf, dass schon zu Cäsars Zeiten die Belger als Volk bekannt sind), einen niederländischen Maler unter Einschluss des belgischen Gebietes folglich bis 1830 und danach nur noch für das heutige Terrain der Niederlande, einen flämischen und einen holländischen durch die gesamte Zeit. Die Begriffe flämisch und holländisch weisen zunächst einmal auf die Herkunft, auf die niederländischen Provinzen Flandern und Holland, die, wie Mecklenburg und Sachsen in Deutschland, unabhängig von politischen Veränderungen bestehen. Weil Flandern und Holland mit den Städten Antwerpen und Amsterdam aber zeitweilig für die Geschichte der geteilten Niederlande dominante Bedeutung erlangten, kam es seit dem 17. Jahrhundert zu den Globalbezeichnungen ‚flämisch' (Flandern) für die südlichen und ‚holländisch‘ (Holland) für die nördlichen Niederlande. So konnte beispielsweise ein Künstler, der aus einer der nichtholländischen Nordprovinzen stammt, etwa aus Groningen oder Geldern, auch Holländer genannt werden und ein Flame namentlich für den gesamten Südteil stehen. Die Frage wäre berechtigt, warum nach 1648, dem Datum der endgültigen politischen Spaltung der Niederlande, hier noch „niederländisch“ für beide Landesteile gebraucht wird. Eine politische Rechtfertigung gibt es dafür nicht, aber, wie noch später auszuführen sein wird, eine kulturelle. Die Verbundenheit der Künstler untereinander, ihr Wechsel von einem Landesteil in den andern, der Zusammenhang bei größeren Aufgaben während des langen Befreiungskampfes und danach lässt sich vielfach belegen, so dass es sinnvoll erscheint, mit „niederländischer Kunst“ auch noch nach 1648 die gesamte Kulturszene zu benennen.

Das 15. und 17. Jahrhundert niederländischer Malerei sind als „Goldene Jahrhunderte“ in die Geschichte der europäischen Kunst eingegangen. Vordringliches Interesse an diesen Glanzperioden hat zur Vernachlässigung des 16. Jahrhunderts geführt, das eine Zeit der Übergänge und der Fremdeinflüsse war, eine Zeit, in der sich die Niederländer besonders mit der italienischen Kunst auseinandersetzten. Wieweit sie solchen Einflüssen unterlagen, ist verschieden beurteilt worden. Dass die nationalen Kräfte autark und wenig anfällig blieben, wie es Leo van Puyvelde eindrücklich beschreibt, dürfte kaum zutreffen.

Indem in der vorliegenden Darstellung die um 1390 aufblühende Tafelmalerei lediglich bis 1720 verfolgt wird, ist nun auch hier scheinbar keine Gesamtentwicklung veranschaulicht. Die Begrenzung hat ihre Gründe im spürbaren Verfall dessen, was nach 1700 in der Kunst überhaupt noch gemeinsam niederländisch ist und den zusammenhaltenden Begriff verdient. Zwar endigt die bildende Kunst in dem geteilten Lande um 1720 nicht, aber sie zerfließt von da an in Strömungen der Dekadenz und in vordergründigen Modebekenntnissen. Es folgen Ödstrecken, die zu lang sind, als dass sich über sie hinweg der Bogen bis zu Vincent van Gogh in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts oder Piet Mondrian im 20. Jahrhundert schlagen ließe. Was im 18. Jahrhundert im niederländischen Raum auf dem Feld der Malerei geschaffen wurde, das sollte weniger als Abschluss des 17., denn als Vorbereitung des 19. Jahrhunderts verstanden werden, wo in der Tat zwei neue Nationalkulturen auf den Plan traten, wo wirklich Niederlande und Belgien Begriffe für zwei disparate Eigenleistungen werden und wo deshalb die Gesamtumschreibung „niederländisch“ spätestens hinfällig wird. – Umgekehrt erscheint es wenig sinnvoll, wenn eine Geschichte der niederländischen Malerei von den gegenwärtigen Grenzen des gleichnamigen Staates ausgeht und diese auf frühere Zeiten überträgt, in denen sie nicht bestanden. Von einer ‚Niederländischen Malerei‘ also zu schreiben, die die letzten 500 Jahre umgreift, wie Onno ter Kuile es in seinem 1976 erschienenen Buch tut, aber Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, Peter Paul Rubens und andere Niederländer von Rang zu übergehen, weil sie nicht auf dem heutigen Territorium der Niederlande lebten, ist genauso falsch, wie es die Aufzeichnung einer deutschen Literaturgeschichte wäre, die aus bundesrepublikanischer Sicht Goethe ausklammerte, weil er hauptsächlich in Weimar und damit nicht auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik Deutschland gewirkt hat.

Die im vorliegenden Band mit 236 Farbabbildungen vor Augen geführten 330 Jahre niederländischer Malerei würden wohl kaum mit so eindrucksvollen Leistungen aufwarten können, wenn sie nicht von einer dramatisch gedrängten Geschichte begleitet gewesen wären. Dass künstlerische Äußerungen das politische und gesellschaftliche Geschehen widerspiegeln, ist keine Entdeckung unserer Tage oder einer bestimmten Ideologie des 19. Jahrhunderts. Seit alters wusste man, dass Bilder zurückerzählen von den persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen und politischen Verhältnissen, die absichtsvoll und unbewusst in sie eindrangen und ihren Hintergrund bestimmen. Was von diesem Hintergrund greifbar wird, das hängt weitgehend von dem Beobachtungsvermögen des Betrachters ab. Allerdings, er muss vorbereitet sein. Er kann sich nicht allein auf sein gutes Sehen und seine Spontaneindrücke verlassen, sein Wissen muss mit dem des Künstlers korrespondieren, er muss ein Gespür für die bewegenden Kräfte und die geheimen Sehnsüchte jener zurückliegenden Zeit entwickeln. Es ist nicht leicht, immer eine solche Voraussetzung zu erfüllen. Allzuoft müssen Kombinationsgabe und Assoziationsbereitschaft eingesetzt werden, um ein Bild in seiner vergangenen Wirklichkeit zu verstehen und es in die unsere zu projizieren.

Wenn man z. B. bei dem Bild des Geertgen tot Sint Jans (→ Bild 33) verweilt und den in Nachdenken versunkenen Heiligen betrachtet – was fällt einem ein, wenn man vom Künstler, seiner christlichen Überzeugungswelt und der Tradition des Themas nichts weiß? Man könnte das Ablesbare beschreiben und alles, was sich dem Anblick bietet, getreu der Reihe nach aufzählen. Dass der Heilige im Vordergrund einer grünenden Umgebung sitzt, dass er als Heiliger durch Strahlen um sein Haupt kenntlich gemacht ist, die auch das Lamm bezeichnenderweise zeigt, dass er über dem braunen Gewand einen riesigen blauen Umhang trägt und dass die Situation im ganzen, aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts gesehen, recht unwirklich wirkt. Was aber weiter? – Handelt es sich um ein Phantasieprodukt eines frühen Holländers? Oder ist eine konkrete Aussage gemeint, die auf einen speziellen Auftrag zurückgeht? Fragen, zu denen vorläufig (vielleicht auch künftig) nur begrenzte Antworten möglich sind, weil die Nahtstelle zwischen Kunstwerk und Leben vergessen ist. Geertgen aus Haarlem, der das Gemälde im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts schuf, gehörte dem Konvent des Johanniter-Ordens an. Beim Thema handelt es sich in Übereinstimmung zur Bildtradition und der biblischen Überlieferung um den heiligen Johannes den Täufer, der als Vorläufer Christi auf Christus als „das Lamm, das der Welt Sünde trägt“, hinweist (Joh 1,29 b). Der Heilige und das Lamm im Gemälde sind damit gedeutet. Auch ist wahrscheinlich gemacht, dass das Thema einem Künstler wie Geertgen, der der gleichnamigen Kongregation angehörte, nahegestanden haben muss. Was man gern darüber hinaus wissen möchte – warum Johannes und das Lamm nebeneinandergestellt und eigentlich nicht aufeinander bezogen sind (wie in einem vergleichbaren Bilde Boschs in Madrid), worüber der Heilige meditiert –, findet in dem Bild selbst keine verlässliche Antwort. Traditionen des genannten Ordens wären zu befragen, unter anderem, wie in diesen Kreisen über den Satz des Täufers nachgedacht wurde: „Er (Christus) muss wachsen, ich aber abnehmen“ (Joh 3,30). Es wäre zu prüfen, ob im Bilde Andachtspraktiken der Johanniter angesprochen sind oder ob Vorstellungsgut, wie das der zu dieser Zeit in den Niederlanden weitverbreiteten und der Bibel gleich geachteten „Imitatio Christi“ (Nachfolge Christi), enthalten ist. In dieser „Imitatio“, deren Autor wahrscheinlich Thomas von Kempen (etwa 1380-1471) war, stehen ganze Passagen, die sich mit der Stimmung des Bildes berühren. Wenn man zum Beispiel den Satz darin liest: „O wie heilsam, wie angenehm und süß ist es, in Einsamkeit zu sitzen und zu schweigen und mit Gott zu reden“, dann fühlt man sich mit dem stillen Ausdruck des Gemäldes verbunden, ohne freilich deshalb behaupten zu können, Geertgen sei von solchen oder ähnlichen Texten ausgegangen.

Bei einer anderen Beobachtung hat es die Interpretation leichter. Nach der Bibel war Johannes der Täufer nicht von fruchtbarem Land umgeben und hatte keinen kostbaren Umhang, sondern sein Ort war die Wüste, seine Kleidung ein Kamelhaarmantel mit ledernem Gürtel und seine Nahrung wilder Honig und Heuschrecken (Mk 1,4.6). Der Widerspruch, dass ursprünglich ärmliche Umstände im Bilde festlich ausgeschmückt erscheinen, steht nicht allein, er durchzieht die gesamte Kunst dieser Zeit. Die urchristliche Armut, wie sie die Heilige Schrift mitteilt, wurde in Anlehnung an die Heiligenlegenden des Spätmittelalters in strahlenden Reichtum verkehrt. Im Zuge solcher äußerlichen Verherrlichungen nimmt es nicht wunder, dass ein Thema wie die im dürftigen Tierstall stattfindende Geburt Christi auf den Darstellungen in den Schutz feierlicher Architektur verlegt wird und ihr reichgekleidete Zeugen beiwohnen (→ Bild 43, → Bild 68).

Zuletzt bleibt immer die Frage nach dem Auftraggeber, und ihre Klärung kann Aufschluss über alle anderen Fragen bringen. Vielleicht jedoch gab es für diese Johannesdarstellung gar keinen Auftrag, und das Bild war Geertgens eigenstes Werk. Demgegenüber ist grundsätzlich festzuhalten, dass bis in das Barockzeitalter hinein auftragslose Kunst selten ist, eine Kunst also, in der der Maler frei malt, was er möchte, wenn auch Ausnahmen nicht übersehen werden dürfen. Wieweit sich allerdings in den hier betrachteten Zeiträumen das Verhältnis Auftraggeber – Künstler etwa analog dem Hegelschen dialektischen Umkehrungsprozess von „Herr und Knecht“ (Phänomenologie des Geistes, 1807) auch verändert hat, müsste einmal gesondert anhand der niederländischen Gesellschaftsgeschichte behandelt werden.

Die Ergebnisse des Nachfragens bleiben bescheiden, und doch erhellen sie – zusammengeschaut mit dem großen geschichtlichen Ablauf – die jeweilige Bilddeutung. Zu Hilfe kommt, dass gerade die niederländische Malerei ob ihrer Faszination über lange Zeiten der Kunstbetrachtung im Brennpunkt kritischer Würdigung gestanden hat. Genauso verhält es sich mit der politischen Geschichte des Landes, bei deren ausführlicher Beschreibung schon Friedrich Schiller keine Sorge empfand, dass sie für den Leser wegen mangelnder Spannung zur „Geduldsprobe“ würde. Seine „Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ von 1788 hat die Aufmerksamkeit für die historischen Vorgänge wachgehalten. Die Menschheit hat nach Holland geblickt, weil sich in den Ergebnissen eines 80jährigen Befreiungskampfes (1568-1648) Freiheit und Humanismus in einer Weise verwirklichten, die noch heute der Traum vieler Völker ist.

Am Ende des 14. und am Anfang des 15. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt, da dieses Buch einsetzt, sah die niederländische Welt allerdings anders aus. Von den gewaltigen Anstößen, die einmal von Erasmus von Rotterdam, dem berühmten Humanisten, Hugo Grotius, dem Verkünder des Völkerrechts, René Descartes und Baruch Spinoza, den großen Philosophen, und von Antoni van Leeuwenhoeck, dem Begründer der Mikrobiologie, ausgehen sollten, ahnte man noch nichts. – Die Niederlande waren ein zersplittertes Gebilde von Grafschaften (Hennegau, Namur, Geldern, Holland, Seeland), Herzogtümern (Brabant, Limburg) und geistlichen Territorien (Lüttich, Utrecht, Cambrai). In ihrer Aufgliederung bildeten sie den Spielball der großen politischen Mächte. Flandern und Artois hatten sich, an Frankreich gebunden, schnell entwickelt. 1384 gerieten sie unter die Herrschaft von Burgund. Die burgundischen Herzöge waren zum Schicksal der sich mehr und mehr verselbständigenden Provinzen geworden. Sie bewirkten durch geschickte Erwerbungen niederländischer Teilgebiete allmählich die Loslösung vom Heiligen Römischen Reich (Namur 1429, Brabant-Limburg 1430, Holland, Seeland und Hennegau 1433). Ihre Zusammenfassungspolitik begründete bei den westlichen Völkern ein „gesamtniederländisches Bewusstsein“. Auch als durch Heirat des späteren Kaisers Maximilian I.. mit Maria von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen, 1477 ein Großteil Burgunds an das Haus Habsburg fiel, behaupteten sich die Tendenzen zur Verselbständigung gegenüber dem Reich. Maximilian schloss 1512 den Burgundischen Kreis um die meisten Provinzen, denen Karl V. nacheinander noch Friesland, Utrecht, Overijssel, Groningen, Drente und Geldern hinzufügen konnte. Damit war im wesentlichen der 17 Provinzen zählende Gesamtkomplex der Niederlande entstanden, der, zu Karls V. Zeiten mit Sonderrechten versehen, bald zu hoher wirtschaftlicher und kultureller Blüte kommen sollte. Als Karls Sohn Philipp II. von Spanien 1555 das Erbe der Herrschaft über die Niederlande antrat, entstanden Reibungen und Krisen, die in die hartnäckig und zäh geführten Befreiungskämpfe mündeten. Bevor der Blick darauf gelenkt wird, soll nach den wirtschaftlichen und kulturellen Bewegungen während dieses ersten Abschnitts politischer Geschichte gefragt werden.

Für unseren Zusammenhang gibt es darüber kaum ein beziehungsvolleres Werk als Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ (erste niederländische Ausgabe 1919). Huizingas ungewöhnliche Sensibilität für geistesgeschichtliche Zusammenhänge und ihre bildhafte, durchsichtige Aufklärung haben den 1945 verstorbenen Autor weithin berühmt gemacht. Wenn man weiß, dass sein Buch aus dem Bedürfnis entstand, „die Kunst der Brüder van Eyck und derer, die ihnen gefolgt waren, besser zu verstehen und sie im Zusammenhang mit dem Leben ihrer Zeit zu erfassen“ (Vorrede zur ersten deutschen Auflage 1924), wird man seine Ausführungen im Hinblick auf die hier unternommene große Bilddemonstration mit Gewinn zu Rate ziehen.

Die burgundischen Herzöge waren prachtliebende und verschwenderisch lebende Fürsten. Zu ihrer extravaganten Hofhaltung gehörten die Künstler, die im weitesten Sinne – nicht nur als Maler von Miniaturen und Gemälden, sondern als Dekorateure von Schlössern, Festen, Turnieren und Schiffen – für sie arbeiteten. Philipp der Kühne, Johann der Unerschrockene, Philipp der Gute und Karl der Kühne wie auch der Herzog Johann von Berry vergeudeten ihre Mittel in einem unvergleichlichen Mäzenatentum, so dass sich die hervorragendsten Künstler der Zeit um sie scharten: Jean Malouel, Melchior Broederlam, Claus Sluter, die Brüder Limburg, die Brüder van Eyck und andere. Auf ihren häufigen Reisen führten die Herzöge ihre Kunstschätze mit, umfangreiche Sammlungen von Schmuck, Büchern, Bildern und Teppichen. Zeitweilig übertraf ihr Einfluss den der französischen Könige und wurde nicht zuletzt durch ihren Kunstbesitz überlegen repräsentiert. In ihrem Gefolge befanden sich denn auch neben vortrefflichen Kanzlern – unter ihnen Nikolas Rolin (→ Bild 6), der Auftraggeber von Rogier van der Weydens „Jüngstem Gericht“ (→ Bild 18) – die von ihnen geachteten und ausgezeichneten Künstler, deren Ansehen beständig wuchs. In ihren Gemälden scheint wider, was ihnen die höfische Welt in der Blüte des vergehenden Rittertums vermittelte. Andererseits muss die Künstler das gewonnene Selbstgefühl, entzündet an globalen Strömungen in Europa und der Kunstbegeisterung ihrer Auftraggeber, beflügelt haben, viele Neuerungen einzubringen. In ihre traditionell christlich gebundene Thematik fließt die Entdeckung der Landschaft des franco-flämischen Raumes ein. Ihr Naturalismus nimmt „wahre“ Züge an. Eine Schneelandschaft, wie sie die Brüder Limburg schufen (→ Bild 3), hat erst 150 Jahre später Pieter Bruegel überzeugend zu gestalten gewusst (→ Bild 94). Zugleich weisen die im Bogenfeld des Limburg-Bildes erkennbaren astronomischen und Tierkreis-Zeichen auf das erwachte Interesse an der Erforschung der Wirklichkeit von Himmel und Erde. Es mischten sich Altes und Neues, und alle Mittel – auch die der Maltechnik – weiteten sich in Richtung auf den allgemeinen Durchbruch zur Neuen Zeit. Während in Italien gleichzeitig im Einklang mit der Renaissance Schritte auf die Erkundung der inneren Gesetze der Welt und des Menschen getan wurden, befassten sich – vereinfacht gesagt – die frühen Niederländer stärker mit ihrer äußeren Erscheinung.

Die Konzentration der künstlerischen Kräfte lag zunächst im Süden, in Burgund selbst. Auch nordniederländische Künstler, wie der aus Haarlem stammende Bildhauer Claus Sluter, zogen in die Hauptstadt Dijon. Im Süden wurden im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts die wirtschaftlich erfolgreichen flandrischen und brabantischen Städte Gent, Brügge, Antwerpen, Brüssel und ebenso Lille zu Brennpunkten des kulturellen Geschehens. Im Unterschied zu den mehr agrarischen Bedingungen in Burgund bildete sich hier – besonders dank der Tucherzeugung und beträchtlichen Handelserfolgen – ein bürgerliches Großunternehmertum heraus. Demgegenüber blieben die holländischen und seeländischen Städte Dordrecht, Leiden, Haarlem, Amsterdam und Middelburg zurück. Allerdings kündigte sich auch in ihnen durch Handel in kleinerem Umfang (Heringsfischerei) und nach und nach entstehende Industrie (Schiffbau, Weberei, Brauerei) ein nicht zu unterschätzender Aufstieg an. Im Verlaufe des 15. Jahrhunderts freilich hat er nur wenige Künstler zum Zuzug bewogen; eher wanderten die einheimischen, wie Dirk Bouts, weiter nach Flandern ab. Obgleich die Gesellschaftsstände im Bewusstsein der Zeit ihre alte Hierarchie wahrten und der Adel seinen ersten Platz behielt, hatte der sich bereits festigende Kapitalismus soziologische Veränderungen zur Folge. Das wirkte sich für die Künstler darin aus, dass nun eine neue Schicht die Aufträge vergab, das wohlhabende Bürgertum mit seinen Handelsherren, Bankiers und Kaufleuten.

Während das Schrifttum in den Fragen der Verflechtung der bildenden Kunst mit den politisch-wirtschaftlichen Verhältnissen Aufschlüsse vermittelt, erscheint in der Literatur ein anderer Berührungskomplex von Kunst und Leben wenig geklärt: das Verhältnis sowohl der Volksfrömmigkeit allgemein als auch speziell christlicher Lehrmeinungen zur Kunst. Das Problem kann nur angedeutet werden. Seit dem Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts breitete sich in der niederländischen Bevölkerung eine religiöse Erneuerungsbewegung aus, die sogenannte „devotio moderna“, die von dem Flamen Jan van Ruysbrock († 1381) und dem seit 1379 im Bistum Utrecht wirkenden Holländer Geert Groote getragen wurde. Sie zielte auf Vertiefung und Verinnerlichung des religiösen Lebens und erreichte dies durch intensiv praktizierte Seelsorge und erbauliche Schriften. Die Bewegung als ein selbständiger Teil der europäischen Mystik umgriff Geistliche und Laien gleichermaßen und formierte sich in den „Brüdern und Schwestern vom gemeinsamen Leben“ und in der Kongregation der Augustiner-Chorherren zu Windesheim bei Zwolle. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts kamen starke pädagogische Bestrebungen hinzu, die eine erstaunliche Resonanz im Volk fanden. Mit der Bewegung verbanden sich in der Folgezeit so bedeutende Namen wie Thomas von Kempen, Dionysius der Kartäuser und Jan Brugman. Ganze Generationen sind von der Devotio moderna beeinflusst worden, unter ihnen Nicolaus von Kues und Erasmus von Rotterdam. Zweifellos wurden auch die niederländischen Künstler des 15. Jahrhunderts von der großen Zeitströmung ergriffen. Doch wie sich das in ihren Werken niedergeschlagen hat, ob verwandte Grundstimmungen, ähnlich der des Bildes von Geertgen (→ Bild 33), von ihr geprägt sind, das ist noch weithin offen. Im Hinblick auf einzelne Darstellungsmotive der Erbauungsliteratur, besonders der Heiligenlegenden, lassen sich konkrete Einflüsse konstatieren. Die Versenkung in die heiligen Vorbilder, in ihr ausgeschmücktes Leben wie das der Maria Magdalena (→ Bild 67, → Bild 79), das tiefe Verhältnis zu „passiven“ Themen, wie der Beweinung Christi oder des Schmerzensmannes – das spiegelt sich alles umfänglich in der Bildwelt wider.

Inzwischen bereitete sich ein radikaler Umbruch aller religiösen Standpunkte durch die Reformation vor. Martin Luthers Kritik an der katholischen Kirche drang schon um 1519 im Raum von Antwerpen in die Niederlande ein. In kurzer Aufeinanderfolge lösten hier Bewegungen einander ab, die sich in Deutschland und Frankreich über Jahrzehnte erstreckten. Kaum hatten die Unruhen begonnen, so begegnete ihnen Karl V. mit strikter Härte. 1523 starben zwei Augustinermönche als erste Ketzer auf dem Schafott zu Brüssel. In der Universität Löwen bildeten sich umgehend gegenreformatorische Kräfte; der mächtige Lütticher Fürst-Bischof Eberhard von der Marek (→ Bild 89) gesellte sich ihnen als Vorkämpfer zu. Die Verfolgung der Feinde des Papstes und das Verbot der Verbreitung ihrer aufrührenden Schriften durch Karl V. hinderte nicht den lawinenartigen Zuwachs der Freunde und das Entstehen neuer Strömungen. Neben lutherischen Anhängern fanden sich nun auch Zwinglianer und sehr bald auch Calvinisten, die besonders von Frankreich aus den Weg in die wallonischen Städte wählten. Seit 1530 trat das Täufertum in Erscheinung, eine der enthusiastischsten Bewegungen der folgenden Zeit. Diese in Detailfragen sich unterscheidenden Gruppen stimmten in der großen reformatorischen Zielsetzung überein und brachten damit die Einheit des alten Glaubens ins Wanken. Neben die religiösen Spannungen traten soziale Probleme in den wirtschaftlichen Ballungszentren Flanderns, wo es zu Differenzen zwischen Lohnarbeitern und Unternehmern gekommen war. Das Wirtschaftswachstum stand hier in der Mitte des Jahrhunderts im Zenit seiner Entwicklung. Norditalien war überboten; an den südlichen Niederlanden orientierte sich fortan die Welt, ihre Häfen waren die willkommenen Umschlagplätze. Aber steuerlicher Druck der spanischen Machthaber, die Kriegsverluste gegenüber England und Frankreich hinnehmen mussten, lähmte die Vitalität und verstärkte den Unmut. Die politischen Schwierigkeiten hatten ihre Ursache unter anderem in der unausgeglichenen Verfassung der 17 niederländischen Provinzen, deren sprachliche Barrieren (Friesisch, Flämisch, Niederdeutsch und Französisch) und ökonomische Disproportionen Reibungspunkte genug lieferten. Die einzelnen Territorien, jeweils mit einem Statthalter an der Spitze, unterstanden gemeinsam der Zentralverwaltung in Brüssel, dem Generalstatthalter. Daneben gab es drei beratende Gremien: Staatsrat, Geheimer Rat und Finanzrat und den Obersten Gerichtshof zu Mecheln. Die Abgeordneten stammten hauptsächlich aus dem hohen Adel, aus dem auch die Statthalter der Provinzen gewählt wurden.

Als Philipp II. von Spanien 1555 die Herrschaft über die Niederlande antrat, bemühte er sich, eine straffere politische Zentralisation, eine kirchliche Neugliederung, eine Vereinheitlichung und Beschneidung der altertümlichen Ständeprivilegien und eine Durchsetzung der zu lasch gehandhabten Religionsedikte zu bewirken. Seine Reformbestrebungen mussten in der ohnehin gärenden Situation auf den heftigsten Widerstand der Bevölkerung stoßen, zumal er unpersönlich, aus der Distanz von Spanien, regierte. Es konstituierte sich eine Opposition, die aus verschiedenen Schichten zusammengesetzt war und an sich unterschiedliche Interessenträger einte. In ihr leuchtete ein überprovinzielles Bewusstsein auf, das noch lange in die Befreiungskämpfe hinein Zusammenhalt schenkte. In der Opposition fanden sich Altkirchliche, die gegen die Neuorganisation ihrer Diözesen aufbegehrten. Reformierte, die unbarmherzigere Ketzeredikte und eine maßlose Inquisition befürchteten, der Adel und die Städte, die ihre althergebrachten Freiheiten geschmälert sahen, und das junge Bürgertum, das sich einem stärkeren finanziellen Druck ausgesetzt fühlte. Die sich im großen Freiheitskampf entladenden Konflikte sind immer wieder Thema von Werken der Literatur und Kunst geworden. Goethes „Egmont“, Schillers „Don Carlos“ (mit Pointierungen, die dem geschichtlichen Lauf nicht gänzlich entsprechen), samt der „Egmontouvertüre“ Beethovens und der „Don Carlos"-Oper Verdis wären hier ebenso zu nennen wie Colo Manns „Wallenstein“ von 1971 und andere Gegenwartswerke.

Die Anfänge des 80jährigen Krieges gegen Spanien lagen im Süden der Niederlande, wo sich zunächst die meisten Sympathien für die opferbereite Bewegung sammelten. Das erfolgreiche Ende, die Freiheit von der Fremdherrschaft, erreichten nur die sieben nördlichen Provinzen. Am Anfang der Kämpfe war Antwerpen eine Stadt mit europäischer Geltung, und alle entscheidenden wirtschaftlichen und künstlerischen Triebkräfte waren hier konzentriert. Rang und Ausstrahlung dieser Metropole verkörpern sich für die Kunst im Werk von Peter Paul Rubens. Als Malerfürst Antwerpens repräsentierte er universalen Geist. Dagegen hatten die nördlichen Niederlande am Ende des 16. und am Anfang des 17. Jahrhunderts bis auf die Provinzen Holland und Seeland wenig Bedeutung. Am Ende des Blutvergießens, als in Münster 1648 der Frieden besiegelt wurde, war Antwerpen nicht nur äußerlich zerstört, sondern auch wirtschaftlich ruiniert; – Amsterdam hingegen ward zum Blickpunkt der damaligen Welt, Holland zum Zentrum des Welthandels und einer unvergleichlich blühenden Kultur, deren Künstlernamen Hals, Rembrandt, Ruysdael und Vermeer bis heute ihre Strahlkraft bewahrt haben. Und wenn zu Beginn der hier beobachteten Zeit nordniederländische Maler geradezu mit Suggestivkraft vom Süden des Landes angezogen wurden, so hatte sich dieses Interesse nun gerade umgekehrt. Es lässt sich in der Rückschau gar nicht abschätzen, wieviel Holland im 17. Jahrhundert kulturell und wirtschaftlich den flämischen Flüchtlingen mit ihren reichen Erfahrungen dankt. Man braucht sich in diesem Zusammenhang nur das Kapitel über die Flämische und Holländische Landschaftsmalerei zu vergegenwärtigen.

Noch steht eine befriedigende Erklärung darüber aus, warum die neue Grenze so verlief, dass die südlichen Provinzen von den Früchten des langen Kampfes ausgeschlossen und weiter in spanischer Abhängigkeit blieben. Die meist ins Feld geführten religiösen und nationalen Argumente, nach denen der Calvinismus, die Aristokratie und das Bürgertum im Norden stärker waren, überzeugen allein nicht, viel zu lange blieben ja die südlichen Parteien ebenbürtig, wenn sie nicht sogar zeitweise überlegen waren. Neuerdings werden deshalb mehr geographisch-strategische Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt (P. Geyl). Dabei hält man die Grenze für ein Ergebnis natürlicher Bedingungen, begründet in den leichter zu verteidigenden Flussverläufen (Rhein, Maas, Waal und Lek). Sicher sind auch damit noch nicht alle Ursachen für die Grenzziehung benannt. Wer sich anstecken lässt von der brennenden Dramatik jener damaligen Ereignisse, die einzelnen Stationen des Unabhängigkeitskampfes noch einmal an sich vorbeiziehen lässt und hinter ihnen die historischen Verwicklungen sieht, wird die Bedenklichkeit einer auf einen Punkt geführten Deutung zugeben müssen. In unserem Zusammenhang kann nur an einige Phasen erinnert werden, an den Bildersturm erregt auffahrender Massen 1566, der die Altäre der Kirchen verheerte und der altniederländischen Malkunst unersetzliche Verluste zufügte, an das Zusammengehen des hohen Adels, der Grafen Egmont, Hoorn und des Prinzen Wilhelm von Oranien in den sechziger Jahren, den Adelskompromiss des niederen Adels, dessen 1566 überreichte Bittschrift, das zerstörerische Auftreten des von Philipp II. entsandten Herzogs von Alba 1567, die neue 10%ige Umsatzsteuer auf alle Waren, die grausamen Hinrichtungen der beiden Grafen durch Alba, die Flucht Wilhelms von Oranien nach Deutschland, die Übernahme der Führung des Aufstands von 1572 durch ihn und die folgenden jahrelangen Kämpfe, die von der eisernen, konsequent antispanischen Haltung Hollands und Seelands bestimmt wurden, schließlich an die Utrechter Union von 1579, die einen ersten Zusammenschluss jener sieben Nordprovinzen bedeutete, die später die Freiheit erlangten, an die Ermordung Wilhelms von Oranien 1584, den mit Unterstützung Englands fortgeführten Krieg und endlich den Waffenstillstand von 1609, der zwölf Jahre währte und im Grunde genommen bereits eine Anerkennung der neuen niederländischen Republik darstellte. Die Führung dieses jungen Staates lag beim Statthalter Moritz von Nassau, dem Sohn Wilhelms von Oranien, und bei dem Großpensionär von Holland, Oldenbarneveldt.

Wie nun aber haben die beständigen Kriege und die mit ihnen einhergehende Unruhe auf die Kunst gewirkt? Die altniederländische Malerei, wie sie hier kapitelweise von Melchior Broederlam über Geertgen tot Sint Jans, Hans Memling, Hugo van der Goes und Gerard David bis zu Hieronymus Bosch vor Augen steht, musste einen Bruch erfahren. Man würde ihn gern in dem Werk des zuletzt genannten Künstlers wegen seiner visionären „Weltbilder und Traumwerke“ (H. Holländer) erkennen, doch ist das aus zeitlichen und sachlichen Erwägungen unmöglich. Bosch starb bereits 1516, also noch vor Luthers Thesenanschlag in Wittenberg, und er gehörte überdies seit 1486/87 einer Bruderschaft an, deren Auffassungen schwerlich mit den revolutionären Veränderungen der Zukunft in Beziehung zu setzen sind. Das sich anschließende Kapitel allerdings, die lokalen Entwicklungen im 16. Jahrhundert, hinterließ deutliche Spuren im Werk der Künstler. Das Spektrum ist groß und darf im vereinfachenden Resümee als ‚Auseinandersetzung mit der italienischen Kunst‘ beschrieben werden. Der Humanismus wurde als umfassende Denkart für einzelne Künstler – so für Quentin Massys – zur bevorzugten Orientierung, und die Reformation konnte als Bekenntnissache Künstlerschicksale bis in die Biographie hinein prägen, wie es unter anderen Jan Massys erlebte, als er 1544 aus Glaubensgründen sein Land verlassen musste. In der Malerei bildet sich der Zeitenbruch in einem Stilbruch ab: herkömmliche Formen werden über Bord geworfen, Stil, Thematik und Ikonologie wandeln sich. Das Porträt wurde von nun an ebenso wie andere sich bildende Fachbereiche in der Malerei wie etwa die Landschaft Sache bestimmter „Malexperten“. Bei Pieter Bruegel, der wegen seiner auffallenden Eigenarten besondere Aufmerksamkeit verdient, schlägt das Pendel individueller Neuerungen gehörig aus. Fraglos spiegelt seine Kunst darin auch das vielschichtige 16. Jahrhundert wider, in dem das Kunstgeschehen, wie bereits geschildert, vor allem in Flandern sich entfaltete.

Gegen Ende dieses Jahrhunderts und am Anfang des 17. Jahrhunderts lässt sich die Verlagerung der künstlerischen Schwerpunkte nach Holland nicht mehr übersehen – man denke an die Utrechter Malschulen. Bezeichnenderweise kam es nun auch hier zu italienischen Einstrahlungen. Allerdings greifen die Holländer nicht mehr auf die italienische Renaissance zurück, die die Flamen des 16. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt ihrer Studien und zum Inhalt ihrer Italienfahrten gewählt hatten, sondern beziehen sich auf den derben Realismus des Zeitgenossen Caravaggio († 1610), der mit den religiösen Beschönigungen radikal brach. Der Utrechter Manierismus und Caravaggismus, von französischen und italienischen Vorbildern angeregt, hat den Weg zur holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts wesentlich bestimmt und damit in der Tat eine gewisse Lösung von den landeseigenen südlichen Kunsttraditionen bewirkt.

Der Trend zur Abwanderung flämischer Künstler in die befreiten Provinzen fand noch einmal einen Gegenpol im Auftreten von Peter Paul Rubens. Der Künstler mit seiner riesigen Werkstatt und seinem interessanten Umkreis erzeugte und nährte die flandrische Spätblüte einer großartigen Malerei. Das hängt, politisch gesehen. mit dem Waffenstillstand zusammen, der konsolidierenden Kräften in Antwerpen neue Möglichkeiten verschaffte. Die Gegenreformation erstarkte und nahm erheblichen Einfluss auf die Auftragsvergabe an die Künstler. Die vom Bildersturm leergefegten Gotteshäuser mussten wieder mit Kunstwerken geschmückt werden, um auch von dieser Seite her den Altgläubigen Vertrauen in ihre von Zweifeln erschütterte Religion zu schenken. Sosehr der kirchliche Auftrag darum dominierte – die Menge der Arbeiten von Rubens dankt ihm ihre Entstehung –, so wenig ist damit die Auftragssituation in den südlichen Niederlanden erschöpfend charakterisiert. Denn neben der Kirche waren Hof und Adel vermögende Mäzene. Großformatige Gemälde verherrlichten nicht nur die Heilstatsachen der Bibel, sondern heroisierten profangeschichtliche, mythologische und alltägliche Ereignisse. Die Künstler, die in den vorangegangenen Jahrhunderten im Auftragsdienst und im Dienst ihrer Bildideen bescheiden hinter dem Werk zurückgetreten waren, feierten sich jetzt in sicheren Posen eines geradezu fürstlichen Selbstbewusstseins. Ihre elementare Lebenskraft fand im sinnenfrohen Pathos des Barock die stärkste Entsprechung, und der Meister dieses Schaffens wurde mit unerreichter Souveränität Rubens. Mit seinem Tode (1640) erschlaffte der geistige Aufschwung schlagartig: Flanderns Beitrag für die niederländische Malerei war so gut wie abgeschlossen.

Dagegen kam es auf holländischer Seite seit Anfang des Jahrhunderts trotz 40jährigen Krieges zu einer unvergleichlichen Wirtschaftsblüte und zu einem nicht dagewesenen kulturellen Aufstieg. Berufsgenossenschaften (die Gilden) hatten ihre große Zeit, Handelsgenossenschaften wurden gegründet. Man mischte sich in den Mittelmeerverkehr der Spanier ein und begann einen schwungvollen Indienhandel. 1602 trat die mit Oldenbarneveldts Initiative entstandene „Vereinigte Niederländisch-Ostindische Kompagnie“ in Erscheinung, die in Kürze eine ungeheure Handelsmacht zur See entfaltete. Hollands erfolgreiche Kolonialpolitik fügte dem spanischen Weltreich und den portugiesischen Überseebesitzungen empfindliche Schläge zu. Die Ausweitung der Kolonialstellung, besonders in Ostindien und Indonesien, offenbarte eine Großmacht, die nun auch auf der europäischen Bühne ernst genommen werden musste. Im Innern entfaltete sich eine bürgerliche Gesellschaftsordnung mit starkem Mittelstand – die erste in dieser Art. Ihre Kaufmannschaft war vor allem Nutznießer der wirtschaftlichen Expansion. Das Finanzgewerbe mit Aktien und Spekulationen verschiedenster Art florierte. Der Kapitalzufluss konzentrierte sich vornehmlich auf Amsterdam, wo eigens eine Wechselbank gebaut wurde. Die Bevölkerung wuchs, und die Zahl ankommender Flüchtlinge, unter anderen portugiesische und spanische Juden, stieg beständig auf Grund der weitgehenden Toleranz in Religion und Politik. Konfessionell stellten die Niederlande im Norden sowohl vor als auch nach dem Friedensschluss von 1648 keine Einheit dar. Der Calvinismus behauptete nicht allein das Feld, wie das in nachträglicher Sicht oft unterstellt wird. Unter den vielen religiösen Gruppierungen ragten zeitweilig die als Schwärmer auftretenden Täuferscharen heraus, aber auch katholische Gemeinden bestanden immer noch fort. Im Calvinismus selbst kam es zu Spannungen zwischen gemäßigten und rigorosen Glaubensverfechtern (arminianischer Streit). Nach wiederholten Verschiebungen tagte 1618/19 darüber die Dordrechter Synode. Oldenbarneveldt als Verteidiger liberaler Auffassungen und Fürsprecher größerer Eingriffsmöglichkeiten des Staates in der Kirche wurde hingerichtet. Sein Parteigänger Hugo Grotius konnte nur durch Flucht einer lebenslangen Haft entkommen. Die Gefahr eines Risses im Calvinismus, der einer politischen Schwächung gleichgekommen wäre, war einigermaßen abgewendet, wenngleich mit Methoden, die schlecht zum Bild des neuen Staates passen.

Auf künstlerischem Terrain sind zu dieser Zeit die ‚Deiche gebrochen‘. Mit dem Elan einer jungen Schöpferkraft belebte sich von Grund auf die Gesamtszene der Kunst in den nördlichen Niederlanden. Der Rückzug kirchlicher Aufträge, nicht zuletzt bedingt durch die (Gottes-)Bildfeindlichkeit der Reformierten und die im umgekehrten Maße dazu wachsende Kunstbegeisterung des erstarkten und reich gewordenen Bürgertums, eröffnete der Kunst Möglichkeiten in nicht gekannter Vielfalt. Zwar hatte der Übergang vom großformatigen Altarbild zum kleinen Kabinettstück bürgerlicher Prägung längst begonnen – Jan Bruegels d.Ä. miniaturenhafte Landschaften entsprachen schon der Wunschliste vermögender flämischer Privatkäufer –, doch nun erst setzte sich die Entwicklung in Holland durch und wurde allgemein. Auch die zunehmende Aufgliederung der Malerei in einzelne Fachsparten wie Porträt, Landschaft, Genre und Stilleben war bereits im 16. Jahrhundert in Flandern weit gediehen, jetzt aber schritt sie erst recht fort. Die Künstler standen einer nicht zu sättigenden Käuferschaft gegenüber. Die Zahlen der holländischen Meister und ihrer Werke lassen sich im 17. Jahrhundert gar nicht mehr addieren-wie Pilze schössen allerorten neue Werkstätten aus dem Boden. Ungehemmte Leidenschaft für alle Augenerlebnisse brach sich mit frischem Selbstgefühl und lichter Grundstimmung die Bahn. Der Markt ertrank geradezu in Kunstwerken, die in rauen Mengen produziert wurden, so dass sich am Ende die Situation umkehrte: von den Tausenden von Künstlern mussten nun sogar einige – darunter so namhafte wie Rembrandt, Steen und Vermeer – durch Nebenbeschäftigungen ihr Brot verdienen. Das Faszinierendste aber an der vielgefeierten Themenbreite und der riesigen Quantität von Gemälden ist ihre fast durchgehend hohe Qualität. Mit den maltechnischen Erfahrungen vergangener Jahrhunderte und dem in den Niederlanden tief verwurzelten Bedürfnis glaubhafter Naturwiedergabe verbanden sich eine Kunst der Bildgestaltung, die nunmehr in augentäuschend die Wirklichkeit treffenden Darstellungen Ausdruck fand. Solch liebevolle, engagierte Beschreibung des alltäglichen holländischen Lebens bis hinunter in die schier „unwesentlichen“ Dinge hatte es noch nicht in diesem Umfang gegeben. Wenn Vermeer zum Beispiel eine Frau beim Milcheingießen malt oder die Stillebenmeister einem abgefallenen Blütenblatt stundenlanges Betrachten schenken (→ Bild 221 und → Bild 235), dann handelt es sich dabei gewiss nicht um gerade sehr aufregende Themen. Doch ist das nur die eine Dimension der bildnerischen Fähigkeiten. Das Nebeneinander von Ereignissen, wie sie etwa in der seelischen Spannweite Rembrandtscher Werke, in der fesselnden Physiognomie Halsscher Porträts, der ausgewogenen Farben- und Formenkompositionen Vermeers, der dramatisch gestimmten, poetischen Landschaften Ruysdaels Wirklichkeit geworden sind – das sucht in dieser Ballung seinesgleichen in der europäischen Kunst.

So steil der Aufstieg von Hollands Kunst im 17. Jahrhundert war und so überwältigend ihr Beitrag auf die Nachwelt wirkt, so schnell verblühte sie von den sechziger Jahren an. Zeitlich fiel das zusammen mit dem Schwinden der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und den Misserfolgen zu Lande und zu Wasser gegenüber den zwei in ihrer Bedeutung wachsenden Nationen Frankreich und England. Über die Wende zum 18. Jahrhundert behaupten sich nur noch einige glanzvolle Namen. Die Malerei schrumpfte aber auch unter diesen Künstlern, wie Jan Huysum zeigt, zur raffinierten Routinearbeit, und ein ausgeklügelter Perfektionismus überdeckte mehr und mehr einen leer gewordenen Inhalt. Modesympathien und vordergründige Gefälligkeitsposen nehmen überhand; sie machen vergessen, was einmal die Niederlande an Meisterwerken der Welt zu geben vermochten.

Am Schluss stellt sich die Frage, was im 17. Jahrhundert Holland mit Flandern noch verband, dass der Name „niederländisch“ noch im umgreifenden Sinn zu rechtfertigen ist. Neben der Verwurzelung in verwandten und gleichen Traditionen muss an den Fortbestand alter Überlieferungen gedacht werden. Wie viele der gemeinhin für ‚protestantisch‘ gehaltenen Künstler in Holland noch katholisch waren – Rembrandts unmittelbare Vorläufer beispielsweise –, erscheint bei näherer Kenntnis erstaunlich. Und wie viele Maler sind von einem Teil der Niederlande in den andern übergesiedelt! Manche wechselten, wie Adriaen Brouwer, mehrmals, andere behielten, obwohl sie in Antwerpen zum reformierten Glauben konvertierten, die Gunst flämisch-katholischer Auftraggeber, wie Jacob Jordaens, und schließlich gab es auch holländische Meister, die, Jan de Heem gleich, von Holland nach Flandern gingen. Die Spaltung der Niederlande ist in den Begriffen damaliger Denk- und Empfindungsweise nicht so existent, wie das der rückwärts gewandten Betrachtung lange erschienen ist. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war noch weit über die Zeit der politischen Teilung hinaus elementar und selbstverständlich vorhanden. Der Sekretär des Statthalters von Holland, Constantijn Huygens, nennt holländische und flämische Künstler in einem Atemzug, ohne ihre Herkunft auch nur andeutungsweise zu differenzieren, und Maler beider Landesteile erhielten gemeinsam Aufträge vom holländischen Hof. Die große Zeit der niederländischen Malerei lässt sich folglich sehr wohl bis ans Ende des 17. Jahrhunderts so verfolgen, dass nördliche und südliche Provinzen bei aller Betonung ihrer charakteristischen Eigenarten etwas Gemeinsames repräsentieren: die hohe, die unvergleichliche Zeit der niederländischen Kunst.

Frühe Tafelbildmaler auf südniederländischem Boden (1390-1460)

Wenn der Grad geglückter Übersetzung sichtbarer Wirklichkeit ins Bild ein Maßstab für die Beurteilung wäre, so würde Melchior Broederlams Dijoner Tafel (→ Bild 1) vom Ende des 14. Jahrhunderts mit der „Darbringung des Christkinds im Tempel“ (Lk 2,22-35) und der „Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten“ (Mt 2,13-15) kein positives Beispiel abgeben. Die übergroßen Figuren im Tempel, die Unverhältnismäßigkeit der Proportionen, das perspektivisch misslungene Götzendenkmal im Hintergrund, kühne Auf- und Untersichten am gleichen Objekt – das alles wirkt reichlich unrealistisch.

Auch die folgenden Abbildungen dieses Buches würden im Hinblick auf Wirklichkeitstreue schlecht abschneiden: Die Monatsdarstellungen der Brüder Limburg genauso wie die Werke Jan van Eycks, Robert Campins und Rogier van der Weydens. Erst beim Weiter- und Durchblättern der ‚Niederländischen Malerei‘ erweist sich, dass in diesem Punkte eine Entwicklung stattgefunden hat, in der die Kunst in zunehmendem Maße der sichtbaren Wirklichkeit nähergerückt ist.

Spätestens begreift man das im Anschauen der holländischen Landschaften des 17. Jahrhunderts, in Vermeers Ansicht von Delft beispielsweise (→ Bild 219). Sie laden förmlich zum Betreten ein, und sie vermitteln fühlbar, wie nah Luft, Land und Wasser sind. Doch steht auch Broederlam selbst inmitten einer Entwicklung. (Mit ihm wird hier nur deshalb begonnen, weil er für uns der erste namentlich greifbare niederländische Tafelbildmaler ist.) Vergleicht man seine Darstellung mit Illustrationen von Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts, so müssen ihm zunächst abgesprochene „realistische“ Tendenzen teilweise zugestanden werden. Dennoch, sein Abstand zu den holländischen Landschaften des 17. Jahrhunderts bleibt groß. Sind diese naturwahren Landschaften aber deshalb „wirklicher“ als Broederlams frühe „Darbringung des Christkindes“?- Das hängt von unserem Wirklichkeitsverständnis ab. „Wirklich“ ist ja nicht nur das Anfassbare, das tatsächlich Sichtbare, sondern viel mehr. „Wirklich“ ist vor allem, wenn wir geschichtlich fragen, zu jeder Zeit etwas anderes. Nicht lange vor Broederlam konnte noch Gott für das „Allerrealste“, für die größte Wirklichkeit („ens realissimum") gehalten werden und die menschliche Existenz für weit davon entfernt. Und zu Broederlams Zeiten beugten sich vor dem Altar, zu dessen Werktagsseite die Tafel (→ Bild 1) zusammen mit einer weiteren erhaltenen Tafel von seiner Hand gehörte, die Knie seines Auftraggebers, des burgundischen Herzogs Philipp des Kühnen. Und genauso versahen vor diesem Werk jene Kartäuser ihren täglichen Gottesdienst, in deren Kirche zu Champmol (vor Dijon) der Altar stand. Im Angesicht der Bilder betete man und verband mit den Darstellungen sehr reale Glaubenshoffnungen. Solchen Sinn hatten sie hauptsächlich zu erfüllen. Der Künstler diente „nur“ dieser Funktion und verschwand namenlos hinter seinem Werk. Allein durch erhaltene Auftragsdokumente ist Broederlams Autorschaft gesichert; erst Jan van Eyck signierte seine Gemälde.

Die eingangs angestellte Beobachtung über den Wirklichkeitsbezug erhält demnach einen anderen Horizont, wenn wir uns damalige Denkweisen vor Augen stellen. Noch wurden die Heiligen, wie im Mittelalter, ihrer Bedeutung gemäß übergroß im Bilde dargestellt. Sie, deren anbetungswürdige Realität der menschlichen Welt weit überlegen ist, mussten diese schrankenlose Dominanz auch bildlich verkörpern. Noch lange lebte im 15. Jahrhundert diese Anschauung fort. Besonders augenfällig wird sie in Jan van Eycks „Madonna in der Kirche“ (→ Bild 5). Weit über die Dimensionen der gotischen Innenarchitektur reichend, steht Maria mit dem Christkind im Vordergrund, selbst Tempel und Gotteshaus bedeutend, weil der Sohn Gottes Wohnung in ihrem Leibe genommen hatte. Auch auf den Seitentafeln des Portinarialtares von Hugo van der Goes (→ Bild 45) erscheinen die Namenspatrone der Stifter des Werks, die Heiligen Antonius, Thomas, Margareta und Magdalena über die Maßen groß gegenüber der Familie des Tommaso Portinari. – Trotzdem stehen diese Werke an der Schwelle zu einer neuen Zeit in der bildenden Kunst, indem sie auf den mittelalterlichen Goldgrund als feierliche Folie für Zeit- und Ortlosigkeit verzichten und die Landschaft zur Raumgestaltung gewinnen.

1 Melchior Broederlam, Darbringung im Tempel und Flucht nach Ägypten. Rechter Flügel des Altars der Kartause Champmol, 1393-99. Tafelbild, 162 X 130 cm. Dijon, Musée des Beaux-Arts.

2 Die Brüder von Limburg, Der Monat Juni, aus dem Stundenbuch „Les Très Riches Heures“ des Herzogs von Berry, f. 6 v, 1413-16. Miniatur auf Pergament, 22 X 13,5 cm. Chantilly, Musée Condé.

3 Die Brüder von Limburg, Der Monat Februar, aus dem Stundenbuch „Les Très Riches Heures“ des Herzogs von Berry, f. 2 v, 1413-16. Miniatur auf Pergament, 22 X 13,5 cm. Chantilly, Musée Condé.

4 Hubert van Eyck / Jan van Eyck, Die drei Marien am Grabe Christi. Tafelbild, 72 X 89 cm. Rotterdam, Museum Boymans-van Beuningen.

Ein weiterer Umstand löst für die Bilder vom Anfang des 15. Jahrhunderts immer wieder Begeisterung und Bewunderung aus: ihre Farbenpracht. Nach einem halben Jahrtausend leuchten die Farben in unverminderter Frische (→ Bild 6, → Bild 7). Eine vollständige wissenschaftliche Aufklärung der sensationellen maltechnischen Triumphe ist noch nicht gelungen, vor allem sind Fragen hinsichtlich der angewandten Bindemittel offengeblieben. Erwiesen ist, dass die Öltechnik nicht von van Eyck erfunden wurde, wie fälschlich der italienische Künstler und Kunstbiograph des 16. Jahrhunderts, Giorgio Vasari, glaubte; sicher ist aber, dass sie van Eyck zu einer kaum wieder erreichten Blüte führte. Die unglaubliche Leuchtkraft und frappante Durchsichtigkeit wurde unter anderem mit zarten, folgerichtigen Öllasuren erreicht, die mit dünnen, kristallinen Farbschichten wechseln (Mischtechnik). Das Licht dringt auf diese Weise in feinsten Brechungen bis zum Malgrund, der hell angelegt ist (glatt wie Elfenbein). Dort wird es reflektiert und durchgeht dabei noch einmal die Vielfalt der Malschichten. Dass die Darstellungen durchsonnt sein können und die Künstler zu sensibelsten Stimmungsnuancen fähig werden, wie herbe, frostgraue Februaratmosphäre oder warm empfundene Heuerntenstimmung im Juni (→ Bild 2, → Bild 3) – im Falle dieser Monatsdarstellungen der Brüder Limburg handelt es sich um die viel sparsamere Technik der Buchmalerei –, das alles ist neu und in diesem Ausmaß noch nie dagewesen.

5 Jan van Eyck, Madonna in der Kirche, um 1426. Öl auf Holz, 31 X 14 cm. Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie.

Hinzu kommt eine überraschende Detailfreudigkeit. Wegen der meist kleinen Bildformate, die eine Folge der voraus- und parallelgehenden Miniaturmalerei sind, führt das zu erstaunlichen Resultaten, wie es der Landschaftsdurchblick auf der Darstellung „Madonna des Kanzlers Rolin“ (→ Bild 6) oder die einzelnen Pflanzen auf der Mitteltafel des Genter Altars, ebenfalls von Jan van Eyck (→ Bild 7), verdeutlichen. Vom gleichen Künstler bewahrt die Dresdener Gemäldegalerie ein Reisealtärchen mit „Madonna und dem Christkind in der Kirche“ von 1437, dessen Mitteltafel ein geringeres Format als diese Buchseite hat (28 X 22 cm). Bis in die winzigsten Einzelheiten, bis auf das Haar ist von van Eyck alles beobachtet und mit hingebungsvoller Geduld und Liebe, doch nicht ohne Temperament gemalt worden. Man muss die Lupe zur Hand nehmen (was im Museum begreiflicherweise auf Widerspruch der dort Angestellten stößt), um die Kunst eines jeden Millimeters erkennen und genießen zu können, und dennoch entsteht bei mehr Abstand ein ganzer, ein geschlossener Eindruck.

Dabei ist nichts zufällig. Und das, was zunächst den Anschein geschickten Arrangements weckt, was man für ausgleichende Kompositionsabsicht halten könnte, wie die einzelnen Gegenstände im Zimmer des Hochzeitspaares Arnolfini (→ Bild 10), jene Holzschuhe, der Hund, die brennende Kerze im Leuchter, der Spiegel im Hintergrund – erklärt sich als wohlüberlegte Zutat. Hinter den alltäglich anmutenden Dingen verbirgt sich ein fester Bedeutungssinn. Sie weisen über sich hinaus und sollen klar deutbare Beziehungen kundtun. Es sind Symbole. Manche ihrer Bedeutungen haben sich im Bewusstsein bis heute erhalten, wie die Brautkerze oder der Hinweis auf eheliche Treue durch Anwesenheit des Hundes. Andere sind in Vergessenheit geraten und lassen sich nur noch durch Rekonstruktion damaliger Auffassungen erklären. So erinnern die abgestellten hölzernen Schuhe an den heiligen Ort des Geschehens, wie ihn einst Mose durch Gottes Wort gewahrte (Ex 3,5), und es versinnbildlicht der in der Mittelachse des Gemäldes befindliche Spiegel mit zehn Passionsszenen auf dem Rahmen in Anlehnung an die mittelalterliche Mariensymbolik die Jungfräulichkeit der Braut (speculum sine macula). Darüber hinaus hat hier der konvex gekrümmte Spiegel auch vordergründige Funktion: er zeigt am Ende des zum Betrachter aufgeschlossenen Raumes die beiden eintretenden Trauzeugen, von denen der eine für van Eyck selbst gehalten wird, weil das die darüber sichtbare Inschrift bezeugt: „Johann van Eyck war hier“ („Johannes de Eyck fuit hic"). Eine Fülle von ehelichen Motiven also, von denen das Brautbett am eindeutigsten spricht, begleitet den ins Ernste gehobenen Vorgang der kanonisch gültigen Trauungszeremonie: Das Paar hat die Hände ineinandergelegt, der Bräutigam erhebt seine Rechte zum Treueschwur. Kaum je ist wieder ein Bild gemalt worden, das soviel Innehalten im Moment einer großen, alles erfüllenden Feierlichkeit schenkt, und es ist das erste, auf dem zwei Ganzfiguren porträthaft in dieser Rolle erfasst sind.

6 Jan van Eyck, Die Madonna des Kanzlers Nicolas Rolin, um 1435. Öl auf Holz, 66 X 62 cm. Paris, Musée National du Louvre.

7 Hubert van Eyck/ Jan van Eyck, Genter Altar, 1425-32, Mittelbild: Anbetung des Lammes. Holz, geschlossen: 350 X 223 cm, geöffnet: 350 X 461 cm, Gent, S. Bavo.

7a Hubert van Eyck/ Jan van Eyck, Genter Altar, oberer Teil: der Herr zwischen Maria und Johannes dem Täufer. Gent, S. Bavo.

Die Neigung für bedeutungsstarke Motive konnte so weit gehen, dass ein Bild im ganzen zum Symbol wurde. Die erwähnte „Madonna in der Kirche“ van Eycks ist Beispiel dafür (→ Bild 5). Wir erkannten Maria bereits als Tempel Gottes. Alle Bilddetails deuten auf sie hin (Herzog). In ihrem Mantelsaum stand ein Vers aus der Weisheit Salomonis: „Sie gehet einher herrlicher, denn die Sonne und alle Sterne; und gegen das Licht gerechnet, gehet sie weit vor“ (7,29). Auf dem verlorengegangenen Rahmen war ursprünglich zu lesen: „Du bist die Blume unter den Blumen. – Diese Mutter ist die Tochter; dieser Vater ist geboren. Wer hat solches je gehört? Gott als Mensch geboren“ (nach einem mittelalterlichen Geburtshymnus). Hinter dem Lettner sieht man ein Standbild der Muttergottes, das auf Maria als Altar Christi hinweist. Marienszenen finden sich auch in den Wimpergen der Lettnerarkaden. Ja sogar die vom Licht durchdrungenen Fenster sind Symbol: Wie das Licht durchs Glas dringt, ohne es zu zerbrechen, so wurde Maria schwanger, ohne von einem Mann berührt worden zu sein.

Die Interpretationen könnten fortgesetzt werden, denn alles hat hier und in ähnlichen Bildern Bedeutung. Aber nichts drängt sich deshalb vor und zerteilt die Konzentration des Betrachters, sondern alles erscheint in fein ausgewogener Hierarchie. Darin wie in der koloristischen Gesamtstimmung erweist sich die künstlerische Meisterschaft.

Der Symbolreichtum war durch das Mittelalter vorgegeben. Traditionsbewusst schöpften die Künstler noch bis ins 16. Jahrhundert daraus. Aus den ins Niederländische übertragenen christlichen Legenden und aus Passionsspielen des 15. Jahrhunderts kamen weitere Motive. Trotz der Verwurzelung der Künstler in den geistigen Traditionen stellen sie die darauf abzielenden, reizvoll hintergründigen Anspielungen in einen Rahmen, in dem sich die genannten Neuerungen mehr und mehr Bahn brechen. – Diese Übergangsperiode, in der die Künstler des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts stehen, überschriftsmäßig auf eine Formel zu bringen, bereitet Schwierigkeiten: „Herbst des Mittelalters“ (J. Huizinga) oder „Frühling der Neuzeit“? In der Zusammenfassung großer Kunstepochen, „Propyläen Kunstgeschichte“, wurde der Doppelbegriff gewählt: „Spätmittelalter und beginnende Neuzeit“ (J. Bialostocki), der die Zwischenstellung hervorhebt. Eine positive Charakterisierung der Eigenleistung dieser fundamentalen Zeit ist damit nicht gegeben. Bei näherem Nachdenken wird deutlich, wie problematisch Globalbegriffe sind und wie schwer entscheidbar die Frage nach dem ‚Anfang‘ eines aus dem Fluss der Geschichte nachträglich herausgeschnittenen Abschnittes ist.

8 Adam. Detail der Außenseite des Genter Altars.

9 Eva. Detail der Außenseite des Genter Altars.

10 ]an van Eyck, Hochzeit des Giovanni Arnolfini mit Giovanna Cenami, 1434. Öl auf Holz, 81,8 X 59,7 cm. London,NationalGallery.

11 Jan van Eyck, Mann mit rotem Turban, 1433. Öl auf Holz, 25,7 X 19 cm. London, National Gallery.

Die meisten Veröffentlichungen über altniederländische Malerei beginnen mit Jan van Eyck und gehen von dessen Hauptwerk, dem Genter Altar mit der Anbetung des Lammes von 1432, aus (Ausschnitte des insgesamt 24 ausgegrenzte Szenen umfassenden Werkes: → Bild 7 - → Bild 9). Einen Anfang in der niederländischen Tafelbildmalerei bildet das Werk aber nicht, eher bezeichnet es einen früh fallenden Höhepunkt, wodurch alle nachfolgende Kunst überstrahlt wird. Millionen von Menschen sind zu dem weltberühmten Altar gepilgert, der heute noch an seinem ursprünglichen Ort, in der St. Baafs Kirche zu Gent steht (früher St. Johannes). Neben einer Reihe erforschter Daten und Hintergründe – das Stifterehepaar, der Kirchenvorsteher und Stadtrat Judocus Vijd und seine Frau Elisabeth Borluut, sind mit Quellen belegt – überwiegen die Rätsel. Schon die Inschrift Jan van Eycks, in der er seinen Bruder Hubert († 1426) als „den größten aller Maler“ bezeichnet und sich selbst nur als „Zweiten in der Kunst“, hat ganze Bücher mit fragwürdigen Deutungen über die möglichen jeweiligen künstlerischen Anteile der Brüder gefüllt. In Ermangelung gesicherter Werke Hubert van Eycks hat man dann im Rückschlussverfahren jene Bilder mit seinem Namen in Verbindung gebracht, wie die „Drei Frauen am leeren Grabe Christi“ (Mt 28,1-7 mit Mk 16,1-8; → Bild 4), die in Einzelheiten noch nicht den Grad späterer Vollkommenheit offenbaren. Das bleiben Hypothesen. – Vor allem aber wird die inhaltliche Gesamtkonzeption des Genter Altars unterschiedlich interpretiert. Zum Beispiel: Weisen alle Aspekte des vielgliedrigen Ganzen auf ein gemeinsames Aussageziel, oder sind einzelne theologische Gedankengänge nebeneinander gestellt? In der unteren Etage der Mitteltafel (→ Bild 7