Niedertracht - Jörg Maurer - E-Book
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Jörg Maurer

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Beschreibung

Hier trägt das Böse Tracht: Der dritte Alpenkrimi mit Kommissar Jennerwein In der Gipfelwand hoch über einem idyllischen alpenländischen Kurort findet die Bergwacht eine Leiche. Wie kam der Mann ohne Kletterausrüstung überhaupt dort hin? Kommissar Jennerwein ermittelt mit seinem Team zwischen Höhenangst und Almrausch, während sich die Einheimischen in düsteren Vorhersagen über weitere Opfer ergehen. Was hat derweil die merkwürdige Mückenplage in Gipfelnähe zu bedeuten, warum besitzt ein alter Imker auf einmal viel Geld, und wieso hilft ein Mafioso, ein Kind aus Bergnot zu retten? Jennerwein hat einen steilen Weg vor sich…

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Jörg Maurer

Niedertracht

Alpenkrimi

FISCHER E-Books

Inhalt

Basislager1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253AprèsAnhang 1Anhang 2

Basislager

»Zu wem soll ich andauernd hinübergeglotzt haben?«

»Da fragst du noch. Zu der Dunkelhaarigen mit den Spaghettiträgern, zwei Tische weiter.«

»Wer, ich?«

»Wer sonst! Alle paar Sekunden hast du einen Grund gefunden, dich umzudrehen. Einmal hast du die Speisetafel an der Wand studiert, dann hast du nach dem Ober gerufen, am Ende hast du nachgesehen, woher es so zieht.«

»Ich habe mich ja extra so hingesetzt, dass ich den restlichen Raum im Rücken hatte.«

»Und warum?«

»Weil ich schon wusste, wie du reagierst.«

»Ah! Du hast sie also doch gesehen.«

»Ja logisch habe ich sie gesehen. Ich musste doch an ihr vorbei, als ich reinkam.«

»Dann hast du dich also extra mit dem Rücken zu ihr gesetzt, weil du sie sonst dauernd angeglotzt hättest!«

»Nein, weil ich dir gegenüber sitzen wollte.«

»Jetzt bin ich auch noch schuld! Wenn du wirklich kein Interesse an ihr gehabt hättest, dann hättest du dich ganz locker neben mich gesetzt, ab und zu in ihre Richtung gesehen und sie nicht angeglotzt!«

»Wie glotzt man denn jemanden nicht an?«

»Jetzt reicht’s mir aber. Du drehst mir jedes Wort im Mund herum!«

 

Beim letzten Satz war sie laut geworden. Er hatte den Klang ihrer Stimme noch stundenlang im Ohr gehabt, selbst als er schon im Zug saß. Er war mit dem Taxi zum Hauptbahnhof gefahren, hatte eine Fahrkarte gekauft und war in einen Zug gestiegen, der ihn Richtung Süden, Richtung Sonne bringen sollte. Ein Glück, dass er selbstständig war, sein kleiner Einmannbetrieb würde auch ein paar Tage ohne ihn auskommen. Niemand würde ihn vermissen. Er konnte sich den Luxus leisten, alles spontan hinzuwerfen und ein paar Tage Auszeit zu nehmen.

 

»Wenn du wieder so anfängst«, hatte er gesagt, »dann brauchen wir ja gar nicht mehr weiterzureden.«

»Typisch, ganz typisch! Sobald es Schwierigkeiten gibt –«

Er war aufgestanden und zur Tür gegangen.

»Ja, hau nur ab, verschwinde!«, hatte sie ihm quer durchs Lokal nachgerufen. »Und lass dich nie wieder bei mir blicken!«

 

In der Höhe von Bordesholm wurde der Nachhall ihres Streits leiser, nach Neumünster war sein Zorn schon halbwegs verraucht, kurz vor Fulda musste er schon darüber schmunzeln. In München konnte er sich gar nicht mehr so richtig an den Grund für die Auseinandersetzung erinnern. Es war eben einer ihrer zyklisch auftretenden Eifersuchtsanfälle gewesen. Als er die Berge des Voralpenlandes durch das Zugfenster sah, stieg er aus und beschloss, eine Nacht in diesem Kurort mit dem sperrigen Doppelnamen zu verbringen, um am nächsten Tag weiterzureisen. Oder vielleicht zurückzufahren. Er betrat eine Pension, schrieb sich unter falschem Namen und falscher Adresse ein, das fand er prickelnd. Er checkte am nächsten Morgen wieder aus, Auf Wiedersehen, Herr Zimmermann, sagte die Wirtin freundlich. Wie, Zimmermann? Ach so, ja natürlich. Jetzt fühlte er sich wie ein verwegener Globetrotter. Er schlenderte noch ein Weilchen im Kurort herum, denn der nächste Zug in den Süden fuhr erst in ein paar Stunden. Herrlich klares Wetter herrschte in diesem Talkessel, und die Berge standen da wie junge Hunde, die spielen wollten. Im Modegeschäft Berndanner & Söhne kaufte er sich eine völlig überteuerte, aber feste Wetterjacke und fuhr mit der Seilbahn hoch auf einen der Berge. Hupfleitenjoch, den Namen fand er lustig. Aber was zum Teufel war eigentlich ein Spaghettiträger? Als er oben bei der Bergstation angekommen war, spazierte er, den Schildern folgend, zu einem Aussichtspunkt. Die Luft war merklich dünner hier in dieser Höhe, das war ungewohnt für ihn, er atmete schwerer. Die Sonne stach auf ihn ein, und der Föhn streckte schon seine knochigen Finger nach ihm aus. Etwas benommen setzte er sich auf einen der großen Steine.

»Hallo, ist Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch, ich bin bloß ein bisschen zu lange in der Sonne gewesen.«

»Kommen Sie mit mir, da drüben gibt es eine bequeme Bank. Da sitzt meine Frau, die hat Sonnencreme dabei. Sie müssen unbedingt etwas trinken. Das hilft am besten bei Sonnenstich. Kommen Sie.«

Er stand auf und ging mit dem Fremden mit. Sie stolperten über ein kleines Geröllfeld.

»Sind Sie das erste Mal hier in den Bergen?«

Zunächst stützte ihn der großgewachsene Fremde noch, als der Weg wieder ebener wurde, ließ er locker.

»Ich glaube, dort drüben ist meine Frau.«

Das Plateau brach ab, kalter Wind pfiff ihm ins Gesicht. Er sah weit und breit keine Frau. Er sah überhaupt keinen Menschen mehr, der hilfsbereite Fremde war hinter ihm geblieben. Er blickte sich um. Eine Faust kam auf ihn zugeflogen. Der Schlag war schnell, hart und humorlos.

»Kennen Sie diesen Mann? Hat er hier bei Ihnen eine Fahrkarte gekauft?«

Gleich nachdem er das Lokal verlassen hatte, bereute sie es schon wieder, ihren Freund so angeschrien zu haben. Doch sie hatte ihren Stolz, sie wartete auf seinen Anruf. Als er sich am Abend des nächsten Tages immer noch nicht gemeldet hatte, begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie fragte bei seinen Freunden, niemand wusste, wo er war. Er ging nicht ans Telefon. Die Polizei konnte ihr auch nicht helfen. Ist so etwas schon öfter vorgekommen? Aber sicher, schon ein paar Mal. Ja, dann! Ja, dann? – Was soll das heißen? Der Fall wurde aufgenommen und zu den Akten gelegt. Am Morgen des nächsten Tages beschloss sie, zu handeln und Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Er war ein Fluchttyp, ein Pferdemensch, er war Problemen schon immer gerne aus dem Weg gegangen. Da er kein Auto besaß und nicht gerne flog, hielt sie es für am wahrscheinlichsten, dass er in einen Zug gestiegen und irgendwohin gefahren war. Irgendwohin. Er war einer von denen, die irgendwohin fahren.

»Kennen Sie diesen Mann?«

Nein, warum, wer ist das, kenne ich nicht. Endlich betrachtete ein Schalterbeamter das Foto genauer:

»Ja, der hat hier eine Fahrkarte gekauft. An den erinnere ich mich gut. Der war dermaßen unfreundlich, er hat mir das Geld auf den Tresen geknallt – ich habe sofort auf einen Beziehungsstreit getippt. Man lernt die Menschen kennen in meinem Beruf! Geschichten könnte ich Ihnen da erzählen! Aus seinen Augen sprühten direkt die Funken, so wütend war er. Seine Freundin muss ihn bis zur Weißglut geärgert haben. Ist ja eigentlich immer dasselbe –«

»Wissen Sie, wohin er gefahren ist?«

»Er wollte nach Messina, ich habe ihm eine gute Verbindung herausgesucht. Der Zug wäre am nächsten Morgen losgefahren, mit nur viermal umsteigen – das ist doch eine Spitzenleistung der Deutschen Bundesbahn! Er aber wollte unbedingt den nächstmöglichen Zug nach Messina. Gut, sage ich, der braucht halt dann über sechsunddreißig Stunden, man muss zehnmal umsteigen – aber bitte, der Kunde ist König, auch wenn es ein zorniger König ist.«

 

Nach Messina also. Wieso ausgerechnet dorthin? Sie ließ sich die genaue Verbindung mit allen Zwischenstopps ausdrucken. Sie konnte sich vorstellen, dass sein Zorn in der Höhe von Flintbek, spätestens aber in Bordesholm schon halbwegs verraucht war. Sie nahm den nächsten Zug nach Bordesholm und durchkämmte den ganzen Bahnhofsbereich. Den Taxistand, die Imbissbude und den Blumenladen (wer weiß!), die Fahrkartenschalter.

»Kennen Sie diesen Mann?«

Nein, nie gesehen, kenn ich nicht, wer soll das sein. Vielleicht war ja sein Zorn in Bordesholm oder Einfeld noch nicht verflogen, vielleicht glühte er auch noch in Neumünster oder am Ende bis nach Hamburg. Wie weit reichte die eigensinnige Rage eines temperamentvollen Mannes? Vielleicht sogar bis Würzburg? Sie begann noch einmal von vorn.

1

jädi-ü-ho jodi-ü-hö

jädi-ü-hö hollaradi ri-hö

Jodler aus dem Werdenfelser Land

Die beiden Wanderer bogen um die Kurve und blieben stehen. Sie waren jetzt auf zweieinhalbtausend Meter Höhe, die Luft war merklich kühler als unten im Kurort, wo die Touristen schon in kurzen Hosen von Eisdiele zu Eisdiele schlenderten. Hier oben wurden die beiden Wanderer von bösen Winden attackiert. In der Ferne bäumten sich zwei unförmige Gebirgskegel mit windschiefen, gezackten Gipfeln auf: links die Gatterlköpfe, rechts die Plattspitzen.

»Was sind denn das für Berge?«, fragte der eine der Wanderer.

»Links, das ist der Brunntalstein, rechts der Blassenkopf«, entgegnete der andere.

»Ist das rechts nicht eher das Schroffkogeleck?«

»Das Schroffkogeleck auf keinen Fall.«

»Es muss das Schroffkogeleck sein. Der Blassenkopf ist doch ganz woanders.«

Der Blassenkopf lag wirklich ganz woanders. Der Brunntalstein und das Schroffkogeleck aber auch.

 

Die beiden Wanderer sahen sich um. Notgedrungen mussten sie den Weg räumen. Kopfschüttelnd machten sie Platz für ein eiliges Trio, zwei Männer und eine Frau, die durch das Karstgelände marschierten, als wäre es ein Polizeieinsatz.

»Idioten«, sagte der eine der Wanderer.

Es war ein Polizeieinsatz. Drei Mitglieder der Mordkommission IV, nämlich Hauptkommissar Hubertus Jennerwein, die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß und der Polizeiobermeister Johann Ostler, waren, wie die vielen Touristen auch, mit der Gondel auf den Zugspitzgipfel, dann mit der Gletscherseilbahn aufs Platt gefahren, den Rest der Strecke mussten sie zu Fuß gehen. Sie waren von der Bergwacht alarmiert worden.

»Da stimmt was net!«, hatte der Bergwachtler gesagt.

»Es ist wirklich ein ungewöhnlicher Fundort«, schrie Polizeiobermeister Ostler gegen den jaulenden Wind an, der jetzt aufkam. Kommissar Jennerwein sprang auf einen unförmigen, riesigen Stein, er bot Maria Schmalfuß die Hand. Hier auf dem Zugspitzplatt taten sich rechts und links schon einmal Spalten mit zehn, zwanzig Meter Tiefe auf. Es war Ende Juni, und nur noch einzelne schmutzige Schneerestchen waren von dem einst prächtigen Gletscher übrig geblieben. Das karstige Gelände war jedoch ausgesprochen belebt, immer wieder mussten ihnen Wanderer verschiedenster Leistungsstufen den Weg frei machen: Jogger, Gletscherforscher, Nordic Walker, Wandernadelsammler, Geocacher und andere Schatzsucher, Hardcore-Trekker mit unbezahlbarer Bergausrüstung und Japaner in Halbschühchen spritzten links und rechts weg. Manche schimpften, dass man selbst hier oben auf dem Schneeferner keine Ruhe hätte vor den neureichen Rabauken, die sich unten im Tal eine Zweitwohnung gekauft hatten und sich hier oben mit riesigen Walkie-Talkies wichtigmachten.

 

»Hier war früher alles meterhoch mit Eis bedeckt«, rief Ostler und sprang zum nächsten Stein.

»Wie eigentlich ganz Bayern«, schrie Jennerwein zurück. Der Scherz wurde ihm von einem Windstoß weggerissen, der aus dem Tschechischen herübergekommen war, einem czesky vzduch.

»Es gibt viele Geschichten rund um die Zugspitze, vor allem um das Zugspitzplatt. Wenn der Hölleisen jetzt hier wäre«, fuhr Ostler fort, »dann würde er gleich eine passende Anekdote dazu erzählen.«

Franz Hölleisen war wie Johann Ostler ebenfalls Polizeiobermeister im Kurort. Er kannte jeden Grashalm, seine Familie war seit dem Mittelalter hier ansässig. Sein Vater war Gendarm in der Gemeinde gewesen, sein Großvater ebenfalls. Und der Enkel hatte immer mit einem Sack voller Schnurren und Schmarren aus dem Polizei- und Bergsteigerleben aufzuwarten. Er musste gleich eintreffen, er war sicherlich schon mit ähnlich strammem Schritt nach oben unterwegs. Der Wind ließ etwas nach, man musste immerhin nicht mehr schreien.

 

»Die Bergwacht hat uns angerufen«, sagte Ostler in die relative Stille hinein. »Sie haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass eine seltsame Gestalt in einer Felsnische kauert.«

»Ein anonymer Hinweis?«, fragte Jennerwein verwundert.

»Der mysteriöse Zeuge wollte weder seine Personalien noch seinen Standort angeben, die Position des Opfers hat er dafür umso genauer geschildert: Leblose Person im oberen Teil der Wand der Schneefernerscharte. Unterhalb der Gratrippe, die vom Zugspitzeck südwestlich abgeht. Ein Felssporn, der das Kar auf seiner Nordseite begrenzt. Etwa sechzig Meter unterhalb des Aussichtspunkts – etwas von der Art. Richtig professionell, wie ein Pilot, sogar auf englisch. Wie einer, der sich am Berg auskennt.«

»Sehr ungewöhnlich«, murmelte Maria. »Ein Retter ist doch normalerweise stolz darauf, jemandem geholfen zu haben. Er nennt als Erstes seinen Namen. Äußerst merkwürdig.«

 

Sie hatten eine Anhöhe erreicht, die bis auf ein paar Flechten ganz und gar vegetationslos war und die mit ihren Rundhöckern, Dolinen und Schratten an eine Mondlandschaft erinnerte. Es pfiff dort aus allen Himmelsrichtungen. Es hatte den Anschein, als ob sie sich hier träfen, die europäischen Winde, zu einer Ratssitzung der Turbulenzen: der beständige Blascht vom Bodensee, der temperamentvolle Vent de la vallée du Buëch aus dem Französischen, der heiße Traubenkocher aus Nordtirol, der quirlige Jinovec aus der Slowakei – die Ritter der Thermodynamik, die hier die weitere Vorgehensweise besprachen. Die Ermittler kletterten jetzt einen Steilhang hinauf. Ostler war diese berglerische Fortbewegungsart augenscheinlich gewohnt, Maria und Jennerwein atmeten schwer, beide trieben wenig Sport. Maria ging einmal in der Woche in die Halle, zum Psychologen-Volleyball (Systemische gegen Psychoanalytiker), Jennerwein hatte schon alles Mögliche angefangen, von Tai-Chi bis Waldlauf, er hatte seine Sportart noch nicht gefunden.

»Gell, da schnaufen sie, die Damen und Herren Flachlandkriminaler!«, unkte Ostler. »Aber es ist nicht mehr weit.«

 

In seiner Eigenschaft als Polizeibergführer war Ostler sozusagen Fachvorgesetzter der beiden, er fühlte sich verantwortlich für deren Wohlergehen bei solch einer Tour, deshalb lief er voraus, gab den Schritt vor und blickte nur ab und zu zurück, um sie zu beobachten. Setzte ihnen die dünner werdende Höhenluft zu? Sprangen sie allzu kühn über Stock und Stein? Kündigten sich schon erste Anzeichen von Wadenkrämpfen an?

»Frau Doktor, lassen Sie sich Zeit! Wollen Sie den Steinböcken Konkurrenz machen?«

Frau Doktor hatte jetzt kein Lungenbläschen mehr frei zu einer frechen Entgegnung. Jennerwein lächelte schweratmend.

 

Nach der Steigung kamen sie auf eine kleine Hochebene, auf ein holpriges Plateau mit dünnen Flechten, das nach ein paar Metern mit einem eisernen Geländer abschloss. Dahinter ahnte man es schon, das Nichts. Man roch es auch, und man hörte es, am Seufzen und Raunen der Winde, die allen Mut zusammennahmen, bevor sie sich hinabstürzten ins Ehrwalder Tal. Die gemeldete leblose Person, derentwegen sie heraufgefahren und dann eine halbe Stunde weitergegangen waren, musste hier unter dem Geländer in der Steilwand hängen.

»Ist Hansjochen Becker mit seinen Spurensicherern noch da?«, fragte Jennerwein.

»Nein«, entgegnete Ostler, »die haben ihre Apparaturen schon eingepackt und sind mit dem Hubschrauber davongeflogen.«

»In welcher Höhe befinden wir uns hier?«, fragte Maria mit belegter Stimme. Jennerwein sah zu ihr hin, sie war blass. Die Höhenluft?

»Wir befinden uns an der Schneefernerscharte, auf zweitausendsiebenhundertzehn Meter Höhe«, antwortete Ostler mit einem Anflug von Lokalstolz, und der Wind biss ihm immer wieder ein paar Silben aus den Wörtern heraus. »Der Weg hierher ist ein Dackelspaziergang, aber dort hinter dem Geländer geht es steil hinunter. So nah liegen die Extreme bei uns im Werdenfelser Land beieinander. Seniorenerholung und Hochgebirgskletterei, nur ein paar Meter voneinander entfernt.«

Die beiden Männer näherten sich vorsichtig den begrenzenden Vierkanteisenstangen, die Psychologin blieb wie angewurzelt stehen, sie bekam einen gehetzten Blick und setzte sich auf einen Stein. Jennerwein und Ostler beugten sich über die eiserne Brüstung und blickten in den Abgrund.

»Toller Ausblick, wie?«, sagte Ostler. Unter ihnen breitete sich die Urlandschaft aus wie ein Buch mit prächtiger, aber unleserlicher Schrift. Es war keine senkrecht abfallende Steilwand, die sich da auftat, aber die spitzwinklige Neigung, mit der es hinunterging ins Habsburgische, machte den Abgrund eigentlich noch deutlicher. Jennerwein schnipste ein Steinchen in die Tiefe, als kleinen Gruß an Sir Isaac Newton – den mit der Lockenperücke und der Gravitation. Wenn man den Blick hob, konnte man in der Ferne ein junigrünes Tal sehen, Felder sprenkelten die Landschaft, und dahinter türmten sich die österreichischen Alpen auf.

 

»Ein gigantischer Ausblick«, sagte Jennerwein. »Da fällt mir eine Dozentin ein, die in einer Kriminaler-Fortbildung zum Thema Todesursachen etwas Interessantes gesagt hat. Meine Damen und Herren, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, den perfekten Mord zu begehen. Dazu müssen Sie Ihre Ehehälfte lediglich zu einer Bergtour überreden. Bitte nicht zu fest schubsen – wegen der Hämatome. Alle anderen Morde klären wir Kriminalisten über kurz oder lang auf. Wahre Worte! Wir sollten sie uns immer vor Augen halten.«

Er warf ein zweites Steinchen hinunter, diesmal nur so. Ostler drehte sich um und klopfte sich den Schmutz von der Hose.

»Frau Doktor«, sagte er, »was ist mit Ihnen, gehts Ihnen nicht gut?«

»Doch, natürlich, ich verschnaufe mich nur ein wenig«, sagte diese in einiger Entfernung. »Was ist eigentlich mit dieser Absperrung? Die ist doch wohl viel zu leicht zu überwinden. Ist hier denn noch nie etwas passiert?«

Ostler zögerte ein bisschen, bevor er weitersprach. Jennerwein musste lächeln. Er bemerkte so ein Zögern sofort. Das waren diese Sekunden bei einem Verhör, bei denen der andere fieberhaft überlegt, ob er ein bestimmtes Detail ansprechen soll oder nicht. War da etwas Persönliches im Spiel? Hatte Polizeiobermeister Ostler ein Geheimnis?

»Es gab in den Achtzigerjahren einmal Gerüchte um pubertierende Jugendliche«, fuhr dieser zögerlich fort. »Unten im Tal wurde erzählt, dass Liebespaare hier oben besondere Mutproben veranstaltet hätten.«

Maria war interessiert ein paar Schritte nähergekommen. Pubertierende Jugendliche, Liebespaare, Mutproben – die Kerngebiete der Psychologie. Manche waren allerdings der Meinung, dass sie sich damit auch schon wieder erschöpfte.

»Und was waren das für Mutproben?«, fragte sie.

»Die Jugendlichen trugen ein Brett auf den Berg«, fuhr Ostler fort. »Das Brett wurde oben so platziert, dass es mit der einen Hälfte auf dem Boden lag, mit der anderen über den Abgrund ragte. Der Bursch stellte sich auf das Brett, das Mädchen ging vorsichtig an ihm vorbei, bis zum freistehenden Ende. Jetzt wurden luftige, aber umso ernsthaftere Liebesschwüre getauscht, dann ging das Mädchen wieder zurück – und man wechselte die Plätze.« Ostler wies auf eine kleine erhöhte Fläche neben dem Absperrgeländer. »Dort ist eine wunderbare Stelle für das Scharteln, wie das genannt wurde. Es geht knappe tausend Meter hinunter, aber wenn man sich wirklich liebt – was bedeuten dann schon Zahlen?«

Maria Schmalfuß war kreidebleich geworden. Sie griff sich an den Hals und hustete. Sie musste sich schon wieder setzen.

 

»Wurde der Tod des Opfers schon festgestellt?«, fragte Jennerwein.

»Ja«, sagte Ostler. »Die Bergwachtler sind nach dem mysteriösen Anruf gleich mit einem Hubschrauber ausgerückt und haben sich abgeseilt. Es war nicht schwer, den Tod festzustellen, denn die Leiche war schon mumifiziert. Dann haben sie mich in meiner Eigenschaft als Polizeibergführer verständigt.«

»Wie lange hängt die leblose Person schon in der Wand?«, fragte Jennerwein.

»Wahrscheinlich ein paar Wochen, aber hängen ist der falsche Ausdruck. Es ist eine kleine Felsnische, fast eine Guffel, in der sie liegt, die leblose Person. Eigentlich sogar bequem sitzt, wenn man das so sagen darf. Die Nische befindet sich etwa sechzig Meter unter uns.«

»Die Bergwacht hat nichts angerührt?«

»Natürlich nicht! Die haben uns sofort angerufen.«

»Todesursache?«

»Auf den ersten Blick würde ich sagen: verdursten, verhungern, so etwas in der Art.«

 

Es musste jetzt zwei oder drei Uhr nachmittags sein, denn man hörte die Glocken einer Ehrwalder Kirche von unten im Tal, ganz von ferne und ganz undeutlich. Jennerwein fragte sich, ob das immer noch echte, kostbare Glocken waren. Vielleicht hat mancher katholische Sprengel seine bronzenen und kupfernen Schätze schon verscherbelt und lässt das Gedröhne von einer gesubwooferten Hi-Fi-Anlage kommen. DING-DONG in Niederbayern, KRAWUMM-KRABOIING von Notre-Dame. WRRRONG! WRRRONG! im Voralpenland. TU FELIX AUSTRIA in Österreich, wenn das möglich ist.

»Wie kommt es eigentlich«, fragte Maria, die sich wieder etwas gefasst hatte, »dass die Leiche wochenlang unentdeckt geblieben ist?«

»Das kommt bei uns schon mal vor«, entgegnete Ostler. »Bergsteiger stürzen in Felsspalten, die Wetterverhältnisse sind schlecht, der Hubschrauber kann deshalb nicht fliegen, mit Hunden kann man in diesem Gelände nicht suchen – da gibt es viele Gründe. In unserem Fall kommt noch etwas dazu. Die besondere Lage dieser Felsspalte. Sie ist etwas schräg in die Wand eingelassen.«

»Wann wird die Leiche geborgen?«, fragte Jennerwein.

»Wenn wir sie freigegeben haben.«

»Ich möchte sie mir vorher noch persönlich anschauen«, sagte Jennerwein. »Kann ich mich abseilen?«

Ostler hatte auf diese Frage wohl gewartet.

»Natürlich. Die Bergwacht hat uns ihre Seilwinde zur Verfügung gestellt. Mit der lassen wir Sie die sechzig Meter hinunter. Hier ist ein Sitzgurt. Wissen Sie, wie so etwas funktioniert?«

Jennerwein wusste es. Er war schon ein paar Mal mit dem Allgäuer Hauptkommissar Ludwig Stengele, dem zweiten leidenschaftlichen Kletterer und Bergspezialisten im Team, in der Wand gehangen.

»Dann ein gutes Gelingen, Chef.«

 

Der Leiter der Mordkommission IV brauchte keine fünf Minuten, um sich in ein seil- und karabinerbehangenes Etwas zu verwandeln. Maria schaute entsetzt aus sicheren zehn Metern Entfernung hin, und ab und zu durchfuhr sie ein frostiges Schütteln, als würden sie die kompliziert aussehenden Abseilgurte allein schon in den Abgrund ziehen.

»Wissen Sie, was Sie da tun, Hubertus?«

»Keine Angst, Frau Doktor. Dieser Klettergurt würde sogar einen Kleinwagen halten. Die Wahrscheinlichkeit, hier abzustürzen, ist gleich null.«

Ja, du mit deinem logozentrischen Ansatz, dachte Maria. Darum geht es gar nicht. Es geht nicht um Chancen und Statistiken und die puren Höhenmeter und die Dicke des Stahlseils. Es geht um die nackte Angst. Jennerwein ahnte die Gedanken Marias, er ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen, er prüfte alles nochmals genau nach: Gurtzeug richtig angelegt? Sicherheitsschlaufen gegengeschlauft? Karabiner zugeschraubt? Knoten korrekt? Selbstsicherungsschlinge vorbereitet?

»Sind Sie bereit, Chef?«, fragte Ostler, während er ebenfalls nochmals alles nachprüfte.

»Alles klar. So eine Gelegenheit bekommt man nicht oft.«

»Gute sechzig Meter geht es nach unten. Wenn Sie wieder hoch wollen –«

»Dann klettere ich rauf wie Spider-Man, oder ich mache mich über Funk bemerkbar.«

Ostler nahm den Kommissar auf Zug, zuerst berührten Jennerweins Füße noch den Fels, dann schwebte er zwischen Himmel und Erde. Der Vergleich ist mehr als abgegriffen, aber einen besseren gibt es nicht für das Gefühl, das man hat, wenn einen lediglich ein bleistiftdickes Stahlseilchen von einem Sturz in den sicheren Tod abhält. Das ist nicht zu beschreiben, das ist in dürren Worten nicht auszudrücken. Es gibt keine wörtliche Entsprechung, es gibt kein Bild, so etwas darzustellen[1].

Jennerwein glitt hinunter. Die Bergwacht hatte die Stelle mit einem gelben Fähnchen markiert, wohl um dem Hubschrauber die nötige Orientierung zu geben.

»Alles in Ordnung?«, hörte Jennerwein Ostler durch das Funkgerät rufen. Er bestätigte und wurde von Ostler langsam hinuntergelassen, bis er schließlich zu der kleinen Felsnische kam, die einen überraschenden Anblick bot. Erst sah er nur die graue Hose, die im Wind flatterte. Dem anonymen Zeugen, der sich gemeldet hatte, war zu wünschen, dass er nur die flatternde und knatternde Hose gesehen hatte, denn der Körper, der in der Hose steckte, erinnerte kaum mehr an einen Menschen. Er war vollständig mumifiziert. Lederartig und fast nicht mehr als solche erkennbar ragten die Gliedmaßen aus den Kleidungsstücken, die lippenlosen Kieferknochen klappten auf und zu, denn der Wind bewegte den Kopf leicht. Die freiliegenden Zähne vermittelten den Eindruck eines fröhlichen Lachens.

 

Gerade in dem Augenblick, als Jennerwein das Opfer näher betrachten wollte, vernahm er wieder den Klang der Kirchenglocken aus dem Tal, diesmal etwas deutlicher. Das passt ja genau, dachte er. Wenn man jetzt abergläubisch wäre, müsste man drei Vaterunser beten und sich sofort wieder hinaufziehen lassen. DINGDONG SCHNARRTÄNG. Der kalte Wind, der den Kopf der Leiche bewegte, der Oberammergauer Wuisler, ließ nicht nach, der Unbekannte nickte stärker. KLONGKLING. Dann schwiegen die Glocken, und Jennerwein machte sich an die Untersuchung der Leiche.

2

ä-üi ? ä-ü-jo !!!

Mittenwalder Jodler, der sogenannte »Almschroa«

Sechs Wochen zuvor, um die Eisheiligen herum, an der Nahtstelle zwischen Spätfrühling und Frühsommer, hing der Bergführer Johnny Winterholler durchaus lebendig in einer glitschigen Steilwand. Es hatte gerade geregnet, geblitzt und gedonnert, es war schweinekalt in dieser gottverlassenen Höhe, trotzdem kletterte er wohlgemut dahin. Er stellte sich auf einen kleinen Felsvorsprung, drehte sich um und sah ins Loisachtal hinunter. Nach einiger Zeit kam die Sonne wieder heraus, wie so oft in den Alpen ging es Schlag auf Schlag mit den Wetterumschwüngen. Winterholler reckte sich, und sein Hemd rutschte hoch. Dabei traten seine Bauchmuskeln so ansehnlich hervor, dass der amerikanischen Generalswitwe Mary-Lou Templeton, die sich auf der Sonnenterrasse des Restaurants Alpspitze auf dem Osterfelder Kopf die Torten und Windbeutel dutzendweise gab, fast das Armeefernglas aus der Hand fiel.

»What a battery of sixpacks!«, stöhnte sie angesichts der Bauchmuskeln und stach mit der Gabel ins Cremige.

 

Johnny Winterholler war in der letzten Zeit eigentlich nur in Wänden geklettert, die vom Tal aus sichtbar waren. Das war ihm aufgefallen. Heute hing er in einer Wand, die für ihn nicht weiter schwierig war, er war ein geübter Kletterer, in allen Lagen zu Hause, und in richtig lebensgefährliche Situationen war er noch nicht oft gekommen. Er hatte die Königsspitze in den Ortleralpen gepackt und das Walliser Weisshorn, und er hatte schon einiges erlebt, was man seinen Freunden und Bergkameraden erzählen konnte: Seilanrisse an scharfen Kalksteinkanten mit halbwegs glimpflichem Ausgang, Wadenkrämpfe in unrechten Momenten, plötzlich auftretende Lustanfälle, sich hinunterzustürzen, Begegnungen mit Gott in allzu großer Höhe, Angebote des Teufels, den Pakt zu unterzeichnen – und, und, und. Doch Johnny Winterholler hatte nicht viele Freunde, denen er seine Abenteuer erzählen konnte. Wortkarg war er, er hatte lediglich gelernt, mit dem Berg zu sprechen, Winterholler war ein homo alpinus. Er war ein mittelgroßer, geschmeidiger Mann mit kurz geschnittenen Haaren und einem zerfurchten, wettergegerbten Gesicht, das ein heruntergefallener Granitbrocken mit einem ehrenvollen Schmiss gezeichnet hatte. Mitte dreißig war er erst, aber ein Viertel seines rechten Ohres fehlte ihm schon, das wiederum hatte ihm eine heimtückische rätoromanische Eisbrockenlawine in der Silvretta abgerissen, als kleine Warnung, sich dem Piz Buin sorgsamer zu nähern und ihn beim Beklettern nicht mit diversen oberbayrischen Schimpfworten zu belegen. Der Berg ruft nicht nur, er hört auch.

 

Johnny Winterholler kletterte heute nicht nur zu seinem Vergnügen, er hatte einen Job zu erledigen, einen seltsamen Job sicherlich, vielleicht sogar einen nicht ganz koscheren, er wusste es nicht so genau – aber er brauchte das Geld. Denn so meisterlich er sich hier oben am Berg anstellte, so geschickt er sämtliche vertikalen Schwierigkeitsgrade durchkraxelte, so erfolglos war er unten im Tal bei den horizontalen Wegschleifen des alltäglichen Lebens. Er hatte nichts gelernt außer Bergsteigen, und wenn man nicht gerade Reinhold Messner oder Luis Trenker hieß, konnte man davon nicht leben. Und er hatte riesige Schulden angehäuft. Also hatte er diesen sonderbaren Job angenommen. Biologische Forschungen, hatte es geheißen. Geheime, komplizierte, für einen Laien schwer zu erklärende Forschungen, alpin-zoologische Experimente. Barzahlung, hatte es weiterhin geheißen, zwar nichts Illegales, keine Angst, alles im Rahmen der Gesetze, aber Barzahlung auf den Küchentisch, nach jeder Tour. Das war Johnny Winterholler gerade recht gekommen, so eine Barzahlung auf den Küchentisch.

 

»Sie sind Bergsteiger. Man hat Sie uns empfohlen«, hatte der drahtige Mann mit den scheinbar ziellos von Punkt zu Punkt springenden Augen gesagt, der eines Tages zu ihm gekommen war. »Wir hätten da einen gut bezahlten Job für Sie.«

»Wer ist wir?«

»Das macht den Job so gut bezahlt, dass das wir im Hintergrund bleibt.«

»Ich mache nichts Illegales.«

»Ich versichere Ihnen, dass es nichts Illegales ist. Sie müssen weder Waffen über die grüne Grenze nach Österreich schmuggeln noch Spenderherzen aus amerikanischen Touristenbrüsten reißen.«

»Und was müsste ich tun, wenn ich den Job annehme?«, fragte Winterholler.

»Wandern und Klettern.«

»Wie bitte? Sonst nichts?«

»Sonst nichts. Sie klettern in den nächsten Wochen ein paar Routen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden ab. Wir geben die Routen vor. Sie reden mit niemandem drüber. Wenn Sie heimkommen, liegen die Lappen auf diesem Küchentisch.«

Der Fremde, bei dem der österreichische Akzent gewaltig durchblitzte, klopfte mit der Hand auf den billigen Plastiktisch, der in Winterhollers Küche stand.

»Und ich sage es Ihnen gleich: Wenn Sie in der Gegend herumplaudern, was Sie seit Neuestem für einen Job haben, liegt nichts mehr da.«

»Und ich muss nur klettern? Was soll das für einen Sinn –«

Der Fremde zog die Augenbrauen hoch.

»Ich verstehe. Was bekomme ich pro Tour?«

Der Fremde nannte einen Betrag. Johnny Winterholler schluckte. Das war ein Betrag, bei dem seine Schulden schmelzen würden wie Gletschereis. Das war ein Betrag, mit dem er sich seinen Lebenstraum erfüllen könnte, nämlich den, an einer Extremtour im Himalaya teilzunehmen. Johnny Winterholler konnte einfach nicht ablehnen. Seitdem blieb die Hintertür seines kleinen Holzhäuschens unverschlossen.

 

Er hatte den Mann seitdem nicht wiedergesehen. Die erste Tour war ein Spaziergang auf den Kramer gewesen, eine lächerlich leichte Tour, so etwas wie der Schäferzug für den Schachspieler. Oder Rühreier für den Sternekoch. Der Schwierigkeitsgrad hatte sich von Auftrag zu Auftrag gesteigert, jetzt hing er schon zum zehnten Mal in einer Wand. Der Himalaya rückte näher. Immer, wenn er heimgekommen war, hatte Geld auf dem Küchentisch gelegen, schönes dickes, farbiges Geld, das er nicht an irgendwelche Finanzämter, Banken oder gar Wucherer abgeben musste. Ja, auch bei Letzteren hatte er Schulden. Denn sein Vertrauen in einen freundlichen, rasierwassergetränkten Bankberater war grenzenlos gewesen, er hatte dessen eingelernten Sprüchen Glauben geschenkt, aber die Sache ging schief, sein Geld war plötzlich weg gewesen. Der Banker wurde lediglich versetzt (er war jetzt Berater bei einer EU-Kommission), Winterholler wurde aber immer tiefer in den Schuldenstrudel gezogen. Dunkelbrillige Inkasso-Gorillas hatten bei ihm schon vor der Tür gestanden. Am Berg wäre er ihnen ausgekommen, den Gorillas. Aber in der Ebene schien Johnny Winterholler hilflos. Jetzt befand er sich aber in einer ganz anderen Position. Gerade letzte Woche hatte er im Baumarkt ein kleines Tresörchen gekauft, dazu eine Tüte Schnellmörtel, und damit war er losgeklettert. Irgendwo musste der Schotter hin, unterm Kopfkissen war ihm zu unsicher, in die Schweiz war ihm zu weit. (Und in der Schweiz hätte es sicher auch wieder einen freundlichen, rasierwassergetränkten Berater mit eingelernten Sprüchen gegeben.) Auf den Bergen wohnt die Freiheit, auf den Bergen ist es schön, und so hatte er in zwölfhundert Meter Höhe an einer diskreten, uneinsehbaren Stelle des Wettersteingebirges eine kleine Dependance mit ein paar Tausend Euro aufgemacht, eine kleine Schatulle, gesichert durch eine todsichere Zahlenkombination, dem Zugriff der Kredithaie entzogen, es sei denn, die Kredithaie waren Kletterer jenseits des V. Schwierigkeitsgrades – und wussten zufällig den Geburtstag von Luis Trenker.

 

Dann brach der Platzregen los, urplötzlich veränderte sich das Wetter von einer Sekunde auf die andere. Faustgroße Regentropfen knüppelten auf ihn ein und nahmen ihm die Sicht. Die Steilwand war klatschnass, das Seil schwer zu greifen, die Tritte unsicher. Bei diesem Wettersturz hatte Johnny Winterholler keinen Blick mehr für die umliegenden Schönheiten der Natur. Gut, dass dort in zwanzig oder dreißig Meter Entfernung eine kleine Mulde sichtbar wurde, eine kleine Spalte, ein kleiner Rastplatz für den müden Kämpfer. Dort konnte er warten, bis der Guss vorüber war. Johnny Winterholler hatte von seinem Auftraggeber keinerlei Vorgaben bekommen, in welcher Zeit er seine Touren zu gehen hatte. Auf den Zetteln, die auf dem Küchentisch hinterlegt wurden, waren immer nur die Eckdaten zu lesen gewesen. An seinem Geburtstag Ende April war zum Beispiel folgende Tour gefordert worden:

Ziel: Bernadeinkopf

Aufstieg über Kreuzeck, Durchstieg der Bernadeinwand,

Nordwandsteig der Alpspitze,

Abstieg über den Aschengrat

Beginn der Tour 5.30 Uhr

Wichtig: Anweisung einprägen, Zettel vernichten!

Er hielt es für wichtiger, die Zettel allesamt aufzuheben. Er hatte einen kleinen Schnellhefter gekauft, hatte die Zettel mit Einmalhandschuhen angefasst und sie ebenfalls in den hochalpinen Wetterstein-Tresor gelegt. Johnny Winterholler war nicht blöd. Sein Auftraggeber war jedoch auch nicht blöd. Der Mann mit den scheinbar ziellos von Punkt zu Punkt springenden Augen hatte die Zettel ebenfalls nicht angefasst. Sie waren die fingerabdruckslosesten Zettel der Welt.

 

Jetzt blitzte und donnerte es auch noch heftig. Die Kletteranweisung für den heutigen Tag war sonderbar gewesen. Er sollte zur vorgegebenen Zeit in diese Wand klettern und dann seine Route frei wählen, er hatte keine weiteren Vorgaben erhalten. Nun war er bei der Felsnische angekommen. Er schlug Haken in den Fels und baute sich einen sicheren Standplatz, dann holte er den Regenschutz aus seinem Rucksack und machte es sich gemütlich. Bald zog er seine alte Mundharmonika heraus und spielte La Montanara. Die verbeulte Hohner hatte einen Sturz von dreihundert Metern hinter sich, und das hohe Fis funktionierte nicht mehr. Aber seine Lieder brauchten das hohe Fis nicht. Er spielte keine Beethovensonaten, er spielte ♫ Bergvagabunden sind wir … ♫ Wenn wir erklimmen … ♫ Wohl ist die Welt so groß und weit … Und immer wieder La Montanara. Es dämmerte langsam, der Regen ließ nach. Johnny Winterholler richtete sich darauf ein, in der Wand zu übernachten. Er biwakierte gerne. Er genoss die Tatsache, dass niemand wusste, wo er war. Die Müdigkeit überkam ihn plötzlich und dringend. Eine Mücke setzte sich auf seinen Handrücken. Er schlug nach der Mücke. Seltsam. Eine Mücke in dieser Höhe? Und bei Regen? Folge der Klimaerwärmung? ♫ Wenn wir erklimmen schwindelnde Höhen, Bergvagabunden sind wir … Er schlief ein.

3

chö-di chodi chö-di cho-di ch ch

Schweizer Jodler

»Allmächt, was ist denn da vorn los! Das ist ja ein Riesenauflauf. Das einsame Gipfelglück habe ich mir anders vorgestellt!«

»Vielleicht ist es eine holländische Reisegruppe, wegen der orangefarbenen Jacken.«

»Nein, das sind die Signaljacken von der Bergwacht. Da muss was passiert sein. – Hallo, Herr Nachbar, wissen Sie, was da vorn los ist? Oder gehts da immer so zu, an der Schneefernerscharte?«

»Vorher haben sie einen hinuntergelassen. Der war aber nicht von der Bergwacht. Ich glaube, das war der Pfarrer.«

»Warum der Pfarrer?«

»Der hat so eine violette Stola getragen. Und dann hat er ein Fläschli in der Hand gehabt, das wird das Ölfläschli für die Letzte Ölung gwea xi.«

»gwea xi?«

»Gewesen sein.«

»Ach so, verstehe. Sie kommen aus der Schweiz.«

»Aus Winterthur.«

»Aber was tun Sie denn hier? Sie haben doch selber Berge.«

»Die Schweiz ist klein, die Berge hat man schnell durch. Und hier erlebt man noch was – eine Letzte Berg-Ölung zum Beispiel.«

»Was ist eigentlich, wenn der Pfarrer nicht schwindelfrei ist?«

»Dann wird er das Letzte Öl so runterträufeln.«

»Das gilt auch?«

»Am Berg schon. Am Berg gilt alles.«

 

Natürlich war dieser luftige Tatort vor der Öffentlichkeit nicht zu verbergen. Die Schaulustigen hatten den Hubschrauberlärm gehört, sie hatten die buntgekleideten Bergwachtler gesehen, die sich in die Wand abseilten, sie hatten die ameisenfleißigen Spurensicherer miterlebt, die mit Polizeihubschraubern auf dem Gletscherplateau landeten und in ihren schneeweißen Overalls herausquollen. Zu einer Invasion der Zugspitze fehlten eigentlich nur noch die unerschrockenen Fallschirmspringer der US Army und eine Militärkapelle, die The Star-Spangled Banner spielte, vielleicht noch Bruce Willis, der als braver Lieutenant Keith W. Sneider die Stars & Stripes auf dem Zugspitzkopf befestigte. Aber auch so war es spektakulär – das Ereignis hatte sich bis ins Tal herumgesprochen, und die Gondeln brachten im Halbstundentakt weitere Schaulustige herauf. Selten genug, so ein Real-Event hautnah miterleben zu können. Über den oder die, die da im Fels gefangen waren, war man allerdings auf Spekulationen angewiesen. Von zwei hängengebliebenen Extremsportlern war da die Rede, auch von einer Gruppe japanischer Kamikaze-Pauschaltouristen, die den Abstieg in Badelatschen gewagt hätten. Die Polizeiabsperrungen erlaubten kein Nähertreten. Was aber ganz sicher feststand, war, dass ein katholischer Geistlicher mit reich bestickter Stola und purpurnem Ölfläschchen hinuntergelassen worden war, vermutlich ein Priester mit höheren Weihen. Vielleicht sogar ein Bischof. Doch das Ölfläschchen war ein Funkgerät, und die reich bestickte liturgische Stola war der violette Baumwollschal Kommissar Jennerweins mit dem Aufdruck Keine Macht den Drogen. Diesen Schal hatte er bei der letzten Weihnachtsfeier der Mordkommission IV bei der Tombola gewonnen.

 

Der Kommissar stützte sich vorsichtig an der Kante der Felsnische auf und besah sich zunächst die Innenwände der grausigen Grotte. An diesen war auf den ersten Blick nichts zu erkennen, was zu kriminologischen Spekulationen Anlass gab. Keine Schriften, keine Zeichen, keine Spuren. Der Leichnam selbst war ein hundertprozentiger Fall für die Gerichtsmedizin. Der Kommissar stieß sich leicht von der Wand ab und betrachtete das Gesamtbild. Der Tote war vollständig bekleidet, allerdings trug er keine Strümpfe und Schuhe. Die nackten mumifizierten Füße ragten dürr und schwärzlich aus der Hose hervor. Er trug einen Anorak mit Kapuze, unter dem halb aufgezogenen Reißverschluss konnte man einen dicken Pullover erkennen. Jennerwein überlegte, was ihm an dieser Kleidung seltsam vorkam. Er stieß sich noch etwas mehr von der Wand ab, er schwebte jetzt frei. Dann fiel es ihm auf. Der Tote war grau in grau gekleidet, und das lag nicht an witterungsbedingten Einflüssen, der das Gewand wochen-, vielleicht monatelang ausgesetzt war. Normalerweise, dachte Jennerwein, tragen die Bergsteiger doch knallbunte Klamotten, nicht einmal aus modischen Gründen, sondern um sich im Falle des Falles besser bemerkbar machen zu können. Dieser Tote trug kein Warngelb, kein Alarmrot, er trug Tarngrau. War da etwas Militärisches im Spiel? Jennerwein konnte auch kein Seil oder andere Bergausrüstungsgegenstände bei dem Toten erkennen. War er einer dieser waghalsigen Solo-Freeclimber gewesen, der ohne Kletterzeug und Sicherung hier liegengeblieben war? Oder war ihm alles hinuntergefallen in die Tiefe? Hatte er es hinuntergeworfen? Warum aber hatte er sich nicht bemerkbar gemacht? Soviel Jennerwein wusste, waren die heutigen Bergsteiger doch mit allen möglichen Kommunikationsmitteln ausgerüstet. Abgesehen von Mobiltelefonen und Signalpistolen gab es doch hundert andere Dinge, um in Bergnot auf sich aufmerksam zu machen. Und wie musste er um sein Leben geschrien haben! Jennerwein blickte nach oben. Da ging es sechzig Meter hinauf, pausenlos brandeten Winde an die Felswand, wahrscheinlich schaffte es ein Hilferuf keine zwanzig Meter. Jennerwein zog sich einen Handschuh über und drehte die Leiche etwas zur Seite. Sie war federleicht. Unter dem Körper kam ein Rucksack zum Vorschein. Auch dieser halbgefüllte Rucksack war nicht grellbunt, wie es die heutigen Rucksäcke sind, er war ebenso altmodisch gräulichgrau wie die Kleidung. Jennerwein ließ die Leiche behutsam auf den Rucksack zurückgleiten. Er gab Ostler Bescheid, dass er wieder hochgezogen werden wollte.

 

»Hallo Chef!«, rief Nicole Schwattke, die Recklinghäuser Austauschkommissarin, als der Kommissar oben angelangt war und sich aus der Halterung löste. Nicole Schwattke war das jüngste Mitglied im Team Jennerweins, und sie hatte sich als echte Bereicherung erwiesen.

»Grüß Sie, Nicole«, entgegnete Jennerwein, »wie schmeckt Ihnen die Bergluft?«

»Sehr gut, und ich möchte mir die Stelle in der Wand ebenfalls ansehen.«

Maria Schmalfuß, die sich noch immer in ehrfurchtsvollem Abstand von der Felskante aufhielt, blickte skeptisch. Doch Jennerwein nickte.

»Achten Sie auf die Lage, die Kleidung –«

»Auf alles eben.«

Kriminalkommissarin Nicole Schwattke war mit ihren fünfundzwanzig Jahren nicht nur die Jüngste, sondern auch die Flachländischste im Team. Recklinghausen lag genau fünfundachtzig Meter über dem Meeresspiegel, die höchsten Erhebungen waren die Jungs vom örtlichen Basketballclub. Nur Holland war noch flacher. Nicole ließ sich von Ostler fachmännisch einbinden und anseilen, dann schwebte sie hinunter. Sie blieb zwanzig Minuten lang. Als sie wieder hochkam, hatte die sonst so coole Nicole rote Bäckchen und leuchtende Augen, wie ein Kind beim Anblick der neuen Turbowasserrutsche im Freibad.

»Wow! Ein Super-Tatort, das muss ich schon sagen. Der Anblick der Leiche war gruselig, aber das Abseilen – erste Sahne.«

»Sie klettern ja gar nicht so schlecht!«, sagte Ostler anerkennend.

»Ich bin ja auch schon zwei, drei Mal geklettert. Natürlich noch nie in einer Naturwand, aber im Klettergarten. In Datteln bei Recklinghausen habe ich bei der VHS einen alpinen Grundkurs mitgemacht – Basislehrgang mit anschließendem Kletterführerschein.«

Polizeiobermeister Johann Ostler schüttelte den Kopf. Datteln.

 

»Ich muss mir das nochmals genau auf den Fotos der Spurensicherung ansehen«, sagte Nicole, als sie wieder frei von allen Karabinern und Schlingen war. »Eines kann ich aber jetzt schon sagen: Irgendetwas stimmt da nicht. Irgendetwas ist sonderbar.«

»Zum Beispiel?«, fragte Maria.

»Die merkwürdige Bergkleidung. Das ist selbst mir als Flachlandtirolerin aufgefallen. Sieht man mal von den Schwarzweißfilmen aus den Fünfzigerjahren ab, habe ich noch keinen solchen unauffälligen, fast getarnten Bergsteiger gesehen. Heutzutage ist doch alles bunt. Der Anorak, den der trägt, war vor hundert Jahren modern.«

»Vielleicht liegt er schon so lange da?«, warf Maria ein.

Ostlers Telefon klingelte.

»Die Bergwacht lässt fragen, ob sie die Leiche jetzt bergen und in die Gerichtsmedizin bringen können. Sie könnten mit dem Hubschrauber in einer halben Stunde hier sein.«

»Ja, sie sollen losfliegen«, sagte Jennerwein. »Überflüssig zu erwähnen, dass sie mit äußerster Sorgfalt vorgehen sollen.«

»Ja, klar.«

»Und sie sollen den Körper möglichst in der sitzenden Haltung lassen, in der er sich jetzt befindet.«

»Selbstverständlich.«

»Besonders interessiert mich der Rucksack. Kein Stückchen darf daraus verloren gehen.«

Ostler holte eine Thermosflasche mit Eistee aus seinem Rucksack, und das fast vollständige Team der Mordkommission IV schlürfte gierig aus den Pappbechern. Sie sahen sich um. Dort, in Richtung Reintal, bot sich ein eigenartig unwirkliches Bild. Ein riesiger Menschenauflauf hatte sich in einiger Entfernung hinter dem Polizeiabsperrband gebildet. Dutzende von Fotoapparaten blitzten los, und Jennerwein hob freundlich den Becher.

 

»Schau dir den an! Das ist doch nie und nimmer ein Pfarrer. Der sieht doch aus wie – Ich weiß nicht, an wen mich der erinnert.«

»Der ist von der Polizei, von dem habe ich ein Bild in der Zeitung gesehen.«

»Der schaut aber gar nicht so aus, als ob er bei der Polizei wäre.«

»Die schauen heutzutage alle nimmer so aus.«

»Aber was ist das! Da hinten kommt schon wieder ein Hubschrauber.«

»Tatsächlich. Siehst du die Filmkamera, die da vorne an die Kufe montiert ist? Vielleicht war das alles gar nicht echt, vielleicht wird da was gedreht.«

»Ja, das kann sein. Bergfilme sind groß im Kommen. Jetzt weiß ich, an wen mich der erinnert. An diesen Engländer – diesen Schauspieler – Hugh Grant.«

»Du meinst, der Hugh Grant macht in einem Film mit, der auf der Zugspitze spielt?«

 

Die Menge der Gaffer und Erlebnistouristen teilte sich, und zwei weitere Polizisten erschienen. Polizeiobermeister Franz Hölleisen, der zweite ortskundige Polizist, und Hauptkommissar Ludwig Stengele, der versprengte Allgäuer aus Mindelheim. Stengele war ein großer, unförmiger Klotz, der sich allerdings jetzt erstaunlich geschmeidig, fast katzenhaft im Gelände bewegte.

»Ich habe extra meinen Kurzurlaub unterbrochen«, sagte er statt einer Begrüßung. »Aber ich will mir die Stelle einmal ansehen.«

»Gut«, sagte Jennerwein, »aber wir müssen erst warten, bis der Hubschrauber mit der Bergung fertig ist.«

Ludwig Stengele warf einen quietschgelben Rucksack vor sich hin und öffnete ihn mit flinken Fingern. Er hatte natürlich seinen eigenen Sitzgurt, seine eigenen Karabiner, sein eigenes Bergzeug dabei. Er verwandelte sich innerhalb von Minuten vom hölzernen Schreibtischbeamten, der er zu sein schien (und der er manchmal auch war), zum steinbockgleichen Bergmenschen. Er war eindeutig der beste Bergsteiger im Team. Stengele ließ sich die Linie, die von der kleinen Höhle senkrecht nach oben führte, genau zeigen, und an dem Punkt wurde er hinuntergelassen. Schon nach dem ersten Meter besah er sich die Wand genauer, er tastete sie mit seinen Händen ab, er zog dazu die Handschuhe aus. Mehr als einmal riss er ein kleines Bröckchen Stein aus der Wand, praktizierte es in ein Plastiktütchen und steckte es in die Hosentasche. So untersuchte er die ganze Wand aufs Genaueste. Er brauchte fast eine Stunde, bis er an der Felsspalte war, aus der die Bergwacht die Leiche inzwischen geborgen hatte. Vorsichtig stützte er sich ab, noch vorsichtiger als Jennerwein und Nicole vorher, dann schwang er sich hinein. Er setzte sich langsam in die leere Höhle, in die Position, in der der Kletterer in der altmodischen Bergkleidung schon ein paar Wochen gelegen hatte. Stengele schaute nach oben, an die kleine Decke der Höhle. Dort entdeckte er etwas äußerst Merkwürdiges.

4

I woke up this morning with a awful aching head

I woke up this morning with a awful aching head

My new man had left me, just a room and a empty bed

Jodler von Bessie Smith, Chattanooga, 1928

Der Putzi trainierte hart und verbissen. Bis zum Sommer musste er es draufhaben, bis zum Mai, spätestens bis zum Juni, bis zum Beginn seines großen Vorhabens musste er alle Griffe und Kniffe aus dem Effeff beherrschen, das gehörte zu seinem Plan.

 

Es war Frühjahr, und in den Gärten des Loisachtales blühten bereits die ersten Blumen. In einem besonders gut gepflegten Rasen schossen Krokusse und Hyazinthen hoch, in den Beeten rund ums Haus reckten sich Osterglocken und Narzissen der Sonne entgegen, und der Putzi, wie er überall genannt wurde, übte vom Balkon des zweiten Stockes aus das Abseilen. Es war der Balkon hinter dem Haus, und große Tannenbäume verhinderten, dass jemand seine ungeschickten Versuche beobachten konnte. Verdammte Knoten, verdammte Schlingen, fluchte der Putzi leise. Aber es half nichts, das hatte er sich fest vorgenommen, und er wollte es durchziehen. Er hatte eine alte Kletterausrüstung auf dem Speicher gefunden, mit der vermutlich noch sein Vater selig auf die Berge gestiegen war. Für den Putzi kam kein Klettergarten für Anfänger und erst recht keine schicke Kletterschule mit Prosecco-Bar in Frage, er übte an dem Findling hinterm Haus – oder eben das abseiling, wie die Amerikaner es nannten, vom Balkon. Vielleicht würde er es der Mutter irgendwann einmal sagen, aber jetzt war noch nicht der rechte Zeitpunkt dazu. Der Putzi klinkte das Seil am Dachsparren ein, sprang auf die Balkonbrüstung, balancierte ein wenig, ging dann in die Hocke und blieb auf dem schmalen Balken sitzen. Er blickte hinunter auf die Blumenrabatten, die seine Mutter im Garten angelegt hatte. Er verspürte plötzlich große Lust, mitten hinein zu springen in das ausgeklügelte Arrangement aus Forsythiensträuchern, Stiefmütterchen und Steinbrech, er würde vielleicht sogar weich landen in den einladenden Polstern aus Phlox und Gedenkemein, zumindest unverletzt. Oder zumindest nicht schwer verletzt. Doch nun wandte er den Blick ab und stieg wieder auf die Innenseite des Balkons. Er schnallte den Rucksack um, den er mit zwanzig Kilo Steinen beladen hatte, dann stieg er erneut auf die Brüstung, balancierte und ging abermals in die Hocke. Morgen würde er statt der zwanzig Kilo dreißig oder gleich vierzig nehmen. Jetzt glitt er langsam am Seil hinunter, direkt auf die Primeln zu.

 

Anders als Hauptkommissar Ludwig Stengele oder gar der Bergführer Johnny Winterholler war der Putzi ein eher durchschnittlich begabter Kletterer. Er war zwar von kräftiger Statur, er hatte auch die Zähigkeit und Verbissenheit, die man bei dieser vertikalen Fortbewegungsart braucht, aber der Putzi war einfach nicht wendig genug, ihm mangelte es an der gewissen montanen Eleganz. Er hatte nichts von der katzen-, gemsen- und insektenhaften Körperbeherrschung, die den ganz großen Kletterer, den alpinen Mozart ausmacht. Das wusste er auch selbst, umso mehr arbeitete er an seiner Technik. Der Putzi wohnte zusammen mit seiner Mutter in einem gepflegten Haus, das am südlichen Rande des Kurorts lag. Nach vorne zur Straße hinaus ging der kleine Laden, den er zusammen mit seiner Mutter führte. Oft stand sie im Laden, wenn er hinten heimlich das advanced abseiling übte. Was er nicht wusste: Seine Mutter hatte ihn schon mehr als ein Mal bei diesen Kletterübungen beobachtet.

 

»Ein bisserl Auslauf muss ich ihm doch lassen, dem Buben«, sagte die Mutter zu ihrer Lieblingskundin, der Jasmin Siebenrock, die zwar nie etwas kaufte, aber immer die allerneuesten Neuigkeiten aus dem Ort wusste.

»Ein bisserl Auslauf ist gut«, entgegnete die Siebenrockin. »Sich tagelang irgendwo in der Weltgeschichte rumtreiben und auch über Nacht nicht heimkommen – das gäbe es bei meinem Buben nicht.«

Ja, so siehst du aus, dachte sich die Mutter vom Putzi, und was ist aus deinem Buben geworden? Ein Pfennigfuchser ist er, ein Finanzbeamter im mittleren Dienst, was soll denn das für ein Beruf sein!

»Du verwöhnst ihn jedenfalls viel zu sehr, den Buben«, legte die Siebenrockin nach.

 

Jetzt stellt man sich unter dem Putzi vielleicht einen zehn- oder sechzehn-, vielleicht gerade noch zwanzigjährigen Burschen vor, aber der Putzi war geschlagene einunddreißig, ein ausgewachsenes Mannsbild war er, mit einem kleinen Hang zum Fettleibigen. Er hatte etwas Stattliches und Kindliches zugleich, und genau so eine Kombination schafft Vertrauen. Er war beliebt und bekannt im Kurort. Ein herzensguter Mensch wäre er, hieß es, aber ein wenig getuschelt wurde natürlich auch. Der spinnt doch ein bisserl, meinten einige hinter vorgehaltener Hand. Und wenn man genau hinschaute, hatte der Putzi tatsächlich manchmal einen wundersamen Blick, fahrige Bewegungen, einen sonderbar unrunden und ferngesteuerten Gang. Manche meinten, der Föhn habe ihm sein Gemüt durcheinandergewirbelt, andere glaubten, er wäre einmal irgendwo heruntergefallen beim Klettern, er hätte sich den Kopf angeschlagen und deshalb dürfe man da nicht so sein.

»Aber manchmal könnte ich aus der Haut fahren«, sagte die Mutter vom Putzi. »Er packt seinen Rucksack, geht in aller Früh fort, der Bazi. Und kommt dann tagelang nicht mehr heim, der hundshäuterne Falott, der wetterwendische.«

»Aber so eine Wanderlust, so ein Aufunddavon ist doch grade für uns Werdenfelser nichts Ungewöhnliches.« Da hatte die Jasmin Siebenrock recht. Der Drang ins Grüne war geradezu eine Spezialität des einheimischen Kurortbewohners. So wie es den Hamburger hinaus aufs Meer zieht und den Norweger vermutlich in die Fjorde, schwört der Alpenländler auf die Vereinigung mit der Vegetation. »Da kommen halt die alten alplerischen Gene heraus. Warum regst du dich denn da so auf? Das vergeht schon wieder.«

»Ich frage mich auch, wo der dann eigentlich übernachtet!«

Die Siebenrock Jasmin kicherte.

»Ja, merkst du das denn nicht?«

»Was soll ich nicht merken?«

»Eine Freundin wird er halt haben, dein Putzi.«

»Was, eine Freundin? Der hat doch keine Freundin. Das würde ich doch merken.«

»Das merkst du eben nicht als Mutter. Alles merkst du, aber das merkst du nicht.«

 

Der Putzi hatte aber gar keine Freundin. Er hatte auch kein besonderes Interesse an der Natur. Der Putzi hatte ein dunkles Geheimnis.

5

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.

Jodler aus der Gegend von Prag

Johnny Winterholler hatte eine angenehme Nacht in der Wand verbracht. Eine wunderbare Nacht war es, mit einem Traum von der achten Gewinnstufe bei Wer wird Millionär? Was ist ein Prusikknoten? Ist das a) eine Gewebeverdickung, b) eine Verkehrsinsel, c) eine Bergsteigerseilschlinge oder d) ein Engpass bei der Aktienversorgung?

 

Johnny Winterholler reckte sich in seinem Outdoor-Schlafsack und öffnete die Augen. Das Werdenfelser Tal erschien ihm skizzenhaft, wie der flüchtige Entwurf des Teufels für eine besonders komfortable Hölle. Seinen Schlafsack, eine Spezialkonstruktion, hatte er freischwebend an zwei Haken in der Wand aufgehängt, seinen Rucksack und seine Schuhe hatte er in die kleine Felsspalte gestellt, die ihm gestern Schutz vor dem Regen geboten hatte.

Immer wieder genoss er das Gefühl, beim Erwachen nicht ganz genau zu wissen, wo er sich befand. Im Niemandsland zwischen Schlaf und Bewusstsein schlingerte er wild und orientierungslos herum. Eben noch hatte er geglaubt, sich in seinem Bett zu Hause zu befinden, jetzt wachte Johnny Winterholler in einer Steilwand des Wettersteingebirges auf, und am Leben hielten ihn zwei winzige eingeschlagene Stahlstifte. Ein kaltes Eislüftchen, das von Tirol herübergekommen war, hatte ihn geweckt. Er reckte sich ein wenig. Die Sonne war längst aufgegangen. Als er sich langsam aus dem Schlafsack schälte, hing die Generalswitwe Mary-Lou Templeton schon wieder an seinem Körper, sie hatte sich unten in der Bäckerei Krusti mit ein paar Buttercremeschnitten light eingedeckt, jetzt saß sie in der ersten Gondel nach oben und fuhr den stattlichen Johnny Winterholler mit dem Armeefernglas ab.

»Good morning, Mr. Beefcake!«, rief sie ihm zu und biss in die watteweiche Schnitte.

 

Johnny Winterholler hingegen war ein Frühstücksmuffel. Zu dieser Tageszeit und in dieser Höhe brachte er keinen Bissen hinunter. Er spielte ein paar Töne auf der Mundharmonika. ♫ Oh schöne Gipfeleinsamkeit … spielte er, ♫ Mein Glück liegt nicht im Tal … und ♫ Mich juckt’s in den Bergschuhen … – was man halt ohne hohes Fis so alles spielen kann. Dann öffnete er den Rucksack und holte seine Morgenlektüre heraus, ein Lexikon des Allgemeinwissens, die Enzyklopädie aller nur möglichen Quizfragen, den Baedeker des kleinsten gemeinsamen Nenners. Selbstverständlich trug er nicht den Riesenschinken mit sich, er hatte die Seiten 353 bis 359 herausgerissen und studierte sie nun. Johnny Winterhollers ganz großer Traum war es, bei einer TV-Quizshow teilzunehmen, bis zur höchsten Stufe zu kommen und vor einem Millionenpublikum abzuräumen. Achte Gewinnstufe. Wer war Lorenzo de Tonti (1602–1684)? Der Erfinder der a) Kirchenorgel, b) Rentenversicherung, c) Pizza oder d) Integralrechnung?

 

Johnny Winterholler prägte sich ein paar Fragen und deren Lösungen ein, dann packte er sein Zeug zusammen und bereitete sich auf das Weiterklettern vor. Als er die Ärmel hochgekrempelt hatte, setzte sich erneut ein kleines Insekt auf seinen nackten Unterarm. Was, schon wieder eine Mücke? Und so früh schon? In dieser Höhe und zu dieser Tageszeit hatte er noch nie eine Mücke gesehen. Er fragte sich, was dieses Tierchen hier, fernab von jeglicher Vegetation trieb. Mücken in dieser Höhe und um diese Zeit, unglaublich. Das Insekt blieb auf seiner Haut sitzen, wie um sich auszuruhen. Er betrachtete es genauer. Diese Art hatte er noch nie gesehen. Auf den ersten Blick war es eine gewöhnliche Fenstermücke, mit zwei großen, schildähnlichen Flügeln. Aber irgendetwas war an diesem Insekt anders. Als er es noch näher betrachten wollte, pumpte es sich auf und flog weg. Johnny Winterholler kletterte weiter. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Mücke beträgt a) einen Tag, b) eine Woche, c) einen Monat oder d) einen Sommer. Nachdem er ein paar Meter geklettert war, fiel ihm ein, dass er seine lederne Mundharmonikahülle in der Nische hatte liegen lassen. Er kletterte nochmals hinunter.

6

Digitaler Jodler

Dun ge dun ge dung dung dung dung !