Niels Klims unterirdische Reise - (Nicolai Klimii iter subterraneum) - Ludvig Holberg - E-Book

Niels Klims unterirdische Reise - (Nicolai Klimii iter subterraneum) E-Book

Ludvig Holberg

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Beschreibung

Der junge Norweger Niels Klim kehrt nach beendetem Studium in seine Heimatstadt Bergen zurück. Bei einem Ausflug außerhalb der Stadt fällt er durch ein tiefes Loch im Fels ins Erdinnere und landet dort auf einem Planeten namens Nazar. Hier trifft er auf verschiedene seltsame Völker und Reiche, steigt vom Boten zum kriegerischen König auf und durchlebt so manche Gefahr. Ludvig Holbergs Werk, 1741 erstmals auf Latein erschienen, ist ein früher Klassiker der Phantastik und ähnelt in Sprachwitz und phantasievoller Handlung Jonathan Swifts satirischem Roman Gullivers Reisen von 1726. Edgar Allan Poe erwähnte den Roman in seinem "Untergang des Hauses Usher", Mary Shelley las ihn, während sie Frankenstein schrieb.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Niels Klims unterirdische Reise: Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Nachrede Peer Jochum Klims

Niels Klims unterirdische Reise

Erstes Kapitel.

Meine Hinabfahrt in die Tiefen der Erde.

NACH wohl überstandenem Examen bei der philosophischen sowohl als bei der theologischen Fakultät zu Kopenhagen machte ich mich 17481 mit rühmlich lautenden Zeugnissen versehen, zu Schiff auf den Rückweg nach meiner Vaterstadt Bergen, Es ging mir wie vielen andern Studenten, die von dem Stapelort der Wissenschaften und Künste gemeiniglich ohne Fettfedern wieder heimkehren. Der Wind war uns so günstig, daß wir nach einer sechstägigen Fahrt glücklich in den Hafen zu Bergen einliefen. So war ich denn meiner Geburtsstadt wieder geschenkt, reich an Kenntnissen, herzlich arm aber an Barschaft. Einer meiner nächsten Anverwandten gab mir mit dem willigsten Herzen Wohnung und Tisch. Ein halbes Jahr hatte ich bei ihm zugebracht, als der Gedanke: du zehrst auf anderer Kosten, ißt Gnadenbrot, sich mir so oft aufdrang, daß ich es bei meinem Oheim nicht länger aushalten konnte, so ungeheuchelt freundschaftlich auch er und sein ganzes Haus mich behandelte. Ich warf mich in die drückendste der Sklavereien, um einer weit leichteren, im Grunde bloß imaginären, zu entgehen. Für das spärlichste Zeisigfutter und für fast nicht mehr als Großknechtslohn übernahm ich die Zucht verschiedener hochadligen Puter und Gänschen aus der Nachbarschaft. Ich erntete – was bei solchem Boden den Arbeitern gemeiniglich wird – höllenartige Neckereien von den Untergebenen, bei denen kein Unterricht anschlug, und von den Älteren Vorwürfe ohne Maß und Ziel und den schnödesten Undank.

Sieben Jahre meines Lebens hatte ich in diesem Stande verschleudert, wogegen der Stand des Galeerensklaven golden Freiheit ist, als ich den Entschluß faßte, mit den paar zusammengekargter Batzen mir und meiner Lieblingswissenschaft, der Naturkunde, eine Zeitlang zu leben. Ich durch-strich Tal, Auen und Hügel in meinem Vaterland, um wo irgend möglich neue Entdeckungen zu machen. Kein Fels war so steil, den ich nicht erklommen, keine Höhle so tief und grauenvoll, in die ich mich nicht gewagt hätte, um zu erforschen, ob sich daselbst nichts befände, das der näheren Untersuchung des Physikers würdig wäre. So große Männer mir auch schon vorgearbeitet hatten, so glaub’ ich dennoch eine reiche Nachlese halten zu können.

Am merkwürdigsten unter allen war mir eine Höhle auf dem Gipfel eines Bergs, den die Eingebornen Floejen nennen. Eine große, jähe Kluft führte in dieselbe; milde Luftstöße drangen aus diesem Schlund hervor, der sich bald zu öffnen bald zu verschließen schien.

Den Gelehrten in Bergen, hauptsächlich dem berühmten Konrektor der dasigen Schule, dem Magister Eversen, einem vorzüglichen Astronomen und Physiker, dünkte diese Erscheinung gar wohl wert, mit philosophischem Auge beleuchtet zu werden. Dies selbst zu tun, daran verhinderte ihn sein hohes Alter; deshalb spornte er oft seine Landsleute an, die Beschaffenheit dieser Höhle genau zu untersuchen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil sie periodisch wie ein Mensch, der aus bekommener Brust Atem schöpft, die in sich gesogene Luft wieder von sich blies.

Sowohl durch die Ermahnungen dieser Männer als durch eigenen Drang angetrieben, nahm ich mir vor, in diese Höhle hinabzusteigen, und teilte mein Vorhaben einigen Freunden mit. Aber es fand nichts weniger als ihren Beifall, sie nannten es ein törichtes, tolldreistes Projekt. Doch sie konnten meinen heftigen Trieb durch ihre Ermahnungen nicht ersticken; was ihn hätte dämpfen sollen, war für meine Begierde nur neue Flamme. Außer meinem brennenden Durst, Naturmerkwürdigkeiten zu erforschen, der mich keine Gefahr scheuen machte, schürte auch die betrübte Verfassung meiner Finanzen meine Entdeckungslust an. Mein bißchen Geld war nun gänzlich erschöpft, und es fiel mir zu hart und lästig, wieder von neuem auf anderer Kosten zu leben. Alle Aussichten, in meinem Vaterland emporzukommen, oder etwas zu verdienen, waren mir versperrt, ich sah mich auf immer zum Bettelstab verdammt, wofern ich mich nicht durch ein kühnes Unternehmen auszeichnete. Ich bestärkte mich also in meinem Vorsatz, und traf alle zu dieser Expedition nötigen Anstalten.

An einem Freitag bei hellem, heitern Himmel verließ ich mit dem frühesten Morgen die Stadt, um nach verrichtetem Geschäft noch bei Tage wieder nach Hause zurückzukehren, da ich nicht wissen konnte, was sich mit mir ereignen, daß ich wie ein zweiter Phaeton in die Tiefe hinabstürzen, lange in der Luft herumtreiben und endlich in eine andere Welt fallen würde, aus der ich erst nach fünfzehn Jahren Herumirrens wieder in meine Heimat und zu meinen Freunden gelangen sollte.

Ich unternahm diese Expedition im Jahre 1757 den sechsten Mai an eben dem Tage, wo, (wie ich bei meiner Rückkunft erfuhr) Friedrich der Einzige durch „Decius-Schwerin“ die blutige, höchst glorreiche Prager Schlacht gewann. Zu meiner Begleitung hatte ich vier Tagelöhner, die Taue und Haken trugen, deren ich zu meiner Höllenfahrt bedurfte. Wir nahmen den Weg grade nach Sandwyk, von wo man den Berg am bequemsten ersteigen konnte; wir arbeiteten uns auf dessen Gipfel, und gelangten an den Ort meiner Bestimmung.

Müde von dem beschwerlichen Weg setzen wir uns bei der Unglückshöhle nieder und fingen an zu frühstücken. Mit einemmal ergriff mich ein unglückweissagender Schauer. Ich wandte mich daher an meine Gefährten und fragte sie: Wer zuerst das Abenteuer bestehen wolle? Da ich keine Antwort erhielt, so erwachte das halb erloschene Feuer von neuem, ich ließ das Tau um mich binden und ganz zu meiner Reise gerüstet, empfahl ich meine Seele Gott. Bevor mich meine Gefährten in die Höhle hinabließen, gab ich ihnen die Instruktion: sie sollten mit den Strick so lange nachgeben, bis sie mich rufen hörten, sodann anhalten und wenn ich beim Rufen bliebe, mich plötzlich aus der Höhle heraufziehen. In der rechten Hand führte ich einen Karst2, um die mir etwa vorkommenden Hindernisse wegzuräumen und mich in der Mitte der Höhle zu erhalten.

Kaum war ich zehn oder zwölf Klaftern auf die Art hinabgefahren, als der Strick zerriß. Dies Unglück nahm ich aus dem nachtönenden Geschrei und Geheul der Tagelöhner ab, das aber bald verhallte, denn ich stürzte mit außerordentlicher Geschwindigkeit hinab.

Ungefähr eine Viertelstunde lang, wenn ich in meiner heftigen Betäubung anders richtig gerechnet habe, hatte ich mich in dichter Finsternis und beständiger Nacht befunden, als mir ein schwaches Licht entgegendämmerte, und bald darauf erblickte ich einen hellen und heiteren Himmel. Ich Tor glaubte daher, der Rückprall der unterirdischen Luft oder die Gewalt eines konträren Windes habe mich zurückgeschleudert oder die Höhle habe mich beim Fortstoßen ihres Atems wieder auf die Erde ausgespien.

Aber weder die Sonne noch der Himmel noch die übrigen Gestirne, die ich gewahrte, kamen mir bekannt vor; sie schienen mir viel kleiner zu sein als die unsrigen. Ich glaubte daher, entweder dies ganze neue Himmelsgebäude existiere nur in meinem Gehirn und sei eine Geburt des Schwindels, oder ich sei plötzlich verschieden und werde nun in die Wohnungen der Seligen geführt. Da ich aber einen Blick auf mich warf, und meine Waffe, den Karst und einen langen Schweif von Tau hinter mir herschleifend gewahr ward, lachte ich selbst über die letztere Meinung. Ich wußte zu gut, daß man weder eines Stricks noch eines Karstes bedürfe, um in das Paradies zu gelangen, noch daß den Himmelsbewohnern mein Aufzug gefallen könnte, womit ich den Olymp wie die Titanen mit Gewalt erobern und die himmlischen Mächte daraus vertreiben zu wollen schien.

Endlich, wie ich ernstere Betrachtungen anstellte, schloß ich, ich wäre in den unterirdischen Himmel versetzt und diejenigen hätten Recht, welche die Erde hohl annehmen und der Meinung sind, daß im Innern derselben eine Erdkugel enthalten sei, kleiner wie die unsrige, auch ein anderer Himmel mit einer kleineren Sonne und verhältnismäßigen Gestirnen und Planeten. Der Ausgang bewies mir, daß ich ins Schwarze getroffen hatte.

Die heftige Bewegung, mit der ich niederwärts geführt wurde, hatte schon lange gedauert, als ich bemerkte, daß sie sich allmählich verminderte, je näher ich einem Planeten oder himmlischen Körper kam, der mir zuerst bei meiner Hinabfahrt aufstieß. Dieser Planet wurde unvermerkt so groß, daß ich endlich durch die dichtere Atmosphäre, womit er umgeben war, ohne alle Schwierigkeit, Berge, Täler und Seen unterscheiden konnte.

Gleich einem Vogel, der an des Meeres Gestad um

Klippen voll Fische, nah am Wasserspiegel umherfliegt,

Eben so war zwischen Erd’ und Himmel auch mein Flug.3

Ich ward nun gewahr, daß ich nicht nur in dem Äther daherschwämme, sondern auch, daß meine Fahrt, die bisher senkrecht gegangen war, zirkelförmig zu werden begann. Alle meine Haare sträubten sich vor der Besorgnis empor, ich möchte in einen Planeten oder in den Trabanten des nächsten Planeten verwandelt und in einem ewigen Wirbel umhergedreht werden. Da ich aber erwog, daß durch diese Verwandlung meiner Würde kein Abbruch geschähe, und daß der Trabant eines himmlischen Körpers mit einem hungerleiderschen Kandidaten der Theologie wenigstens al pari stände, so schöpft ich wieder neuen Mut. Obendrein fühlte ich in der reinen wohltätigen Himmelsluft weder Hunger noch Durst. Doch, als ich mich besann, daß ich ein Bolken4 bei mir hätte, so holte ich es aus meiner Tasche hervor, um einen Versuch zu machen, ob es in meiner jetzigen Verfassung meinem Gaumen behagen würde. Da ich aber schon beim ersten Bissen merkte, daß mir vor aller irdischen Speise ekelte, so warf ich den Bolken als etwas Unnützes fort.

Aber o Wunder! Das weggeworfene Brötchen blieb nicht nur im Äther schweben, sondern fing auch an einen kleineren Zirkel um mich zu beschreiben. Dadurch erhielt ich einen Aufschluß über die wahren Gesetze der Bewegung, nach welchen alle Körper, wenn sie ins Gleichgewicht kommen, sich zirkelförmig drehen.

Dies war denn Ursach, daß ich, der ich noch vor kurzem über mich, als über ein Spielding des Glücks geweint hatte, vor Stolz emporzuschwellen begann; ich war in meinen Augen nicht mehr ein bloßer kahler Planet, sondern hatte auf ewige Zeiten einen Trabanten um mich, so daß ich gewissermaßen unter die größeren Gestirne oder die Planeten der ersten Ordnung gerechnet werden konnte. Ja der Hochmut – ich muß nur meine ganze Schwäche bekennen – bemeisterte sich meiner so sehr, daß wenn auch alle Bürgermeister und der ganze hochedle Magistrat aus Bergen oder der Bischof mit der gesamten Klerisei mir begegnet wären, ich sie nur über die Achsel würde angesehen, als Staub und Spreu geachtet und sie weder eines Grußes noch des Salutierens mit meinem Karst gewürdigt haben.

Fast drei ganze Tage blieb ich in dem Zustand. Da ich ohne Unterlaß um den Planeten herum bewegt wurde, der mir an nächsten lag, so war ich imstande, die Nächte und die Tage zu unterscheiden, denn ich sah die unterirdische Sonne auf- und untergehen und sich aus meinen Gesichtskreis verlieren, obschon ich keine solchen Nächte wie bei uns wahrnahm. Das Firmament blieb nach Sonnenuntergang überall hell und purpurfarben, und glich fast dem Mondlicht; ich hielt es daher für die innerste Oberfläche oder Hemisphäre von der unterirdischen Erdkugel, die ihr Licht von der Sonne im Mittelpunkt dieses Weltsystems bekam.

Diese Hypothese machte ich mir, da ich in der Himmelskunde kein völliger Fremdling war. In meiner glücklichen Lage dünkte ich mich jetzt den Göttern fast gleich und betrachtete mich als ein neues Gestirn, das mit seinem Trabanten, von den Herscheln und Boden des nächsten Planeten in das Verzeichnis der Sterne würde eingetragen werden, als ein geflügeltes grauses Ungetüm erschien, das mir bald zur Rechten, bald zur Linken, bald über dem Kopf, bald im Nacken schwebte.

Anfänglich hielt ich es für eins von den zwölf Himmelszeichen hienieden und dann stieg sogleich der Wunsch in mir auf, daß es doch die Jungfrau sein möchte, von der ich mir unter allen den zwölf Zeichen des Himmels allein in meiner Einsamkeit einige Hilfe und Trost versprechen konnte. Da ich aber den Körper näherkommen sah, so fand ich, daß es ein ungeheuer großer und scheußlicher Greif war. Ich ward darob von so heftigem Schreck befallen und vergaß meiner und der Planetenwürde, zu der ich neulich erhöht war, dermaßen, daß ich vor Herzensangst meine akademischen Zeugnisse hervorlangte. Ich hatte sie zufällig bei mir und wollte meinen auf mich losgehenden Gegner überführen, daß ich mein akademisches Examen wohl überstanden habe, nicht nur Kandidat, sondern sogar Bakkalaureus sei, und daß ich folglich durch die Exceptio Fori jeden Fremden, der mich unbefugterweise angriffe, aus dem Felde schlagen könnte. Wie der erste Schreck sich etwas gelegt hatte, und ich wieder zu mir kam, mußte ich über meine Torheit herzlich lachen.

Es war zweifelhaft, in welcher Absicht dieser Greif mich begleitete, ob als Feind oder als Freund, oder aber, was noch wahrscheinlicher war, ob er bloß durch die Neuheit dieses Schauspiels angezogen, mir näher kam, um seine Augen daran zu weiden. Denn der Anblick eines menschlichen Körpers, der mit einem Karst in seiner Rechten und einem langen Tau wie einem Schweif hinter sich her in der Luft herumgetrieben wurde, war ein Phänomen, das sogar jedes vernunftlose Tier herbeiziehen mußte. Die ungewöhnliche Figur, die ich damals vorstellte, hatte, wie ich nachher erfuhr, den Einwohnern des Planeten, den ich umschwebte, Stoff zu mancherlei Gesprächen und Mutmaßungen gegeben. Die Euler und Lamberts daselbst hielten mich für einen Kometen und das Ende Tau für dessen Schweif. Andere, die treulich dem Ammen- und Großmütterglauben anhingen, schlossen aus diesem ungewöhnlichen Meteor, es stehe ihnen irgendein großes Unglück bevor, Pest, Hunger oder ein andere große Landplage, die dadurch verkündigt werde. Andere waren noch weiter gegangen, und hatten meinen Körper, so wie er ihnen aus der Ferne vorgekommen war, ganz akkurat abgemalt; auf die Art war ich schon beschrieben, ausgemessen, abgemalt und in Kupfer gestochen, bevor ich diesen Planeten erreicht hatte. Dies alles hörte ich nicht ohne Wohlbehagen und es nötigte mir ein Lächeln ab, als ich es hinterher erfuhr, wie ich auf diese Erdkugel gekommen war und die Sprache der Unterirdischen erlernt hatte.

Man muß bemerken, daß es einige schnell entstehende Gestirne gibt, welche die Unterirdischen Sciscissen nennen, das will sagen, haarige. Nach ihrer Beschreibung haben sie auf dem Scheitel starr emporstehende blutfarbene Haare, vornüber aber fallen sie wie ein langer Bart. Man hält sie daher, wie auf unserer Erde, für Wunderzeichen.

Doch wieder zu meiner Geschichte! Der Greif war mir so nahe gekommen, daß er mir mit seinen Flügeln lästig fiel. Er begann mir endlich mit scharfem Schnabel in die Beine zu picken, und daraus sah ich denn sehr deutlich, was für Gesinnungen er gegen den neuen Ankömmling hege. Ich ging daher mit gewaffneter Hand auf ihn los, ergriff meinen Karst mit beiden Händen und tat der Verwegenheit meines Feindes Einhalt.

Ich nötigte ihn öfter sich nach der Flucht umzusehen. Da er noch immer mich zu attackieren fortfuhr, so versetzte ich ihm, nach einigen Fehlstreichen, einen so heftigen Hieb zwischen den beiden Flügeln auf den Rücken, daß ich meinen Karst nicht wieder herausziehen konnte. Der verwundete Vogel stürzte mit gewaltigem Zetergeschrei auf den Planeten hinab. Ich aber, meiner Gestirnschaft und meiner neuen Würde bereits überdrüssig, da ich – wie dies bei so hohen Posten gemeiniglich der Fall ist, – mancherlei Unannehmlichkeiten und Gefahren ausgesetzt war,

ward nach des Greifen Willkür weiter gerissen.

Blindlings stürzt ich jäh durch die Luft hinunter zur Erde,

Wie wenn ein Stern vom heitern Himmel hernieder sich senkt.5

Auf die Art ward meine bisherige kreisförmige Bewegung wieder in eine senkrechte verwandelt.

So wurde ich mit heftigem Ungestüm durch die immer dickere und pfeifende Luft eine Zeitlang fortgerissen, endlich tat ich mit dem Vogel zugleich einen leichten Fall ohne den geringsten Schaden zu nehmen, mein Träger aber starb bald darauf an seiner Wunde.

Es war Nacht, als ich auf dem Planeten anlangte. Dies konnte ich aus der Abwesenheit der Sonne, nicht aber aus der Finsternis schließen; denn es war noch so hell, daß ich mein akademisches Zeugnis ganz genau lesen konnte. Dies nächtliche Licht entsteht aus dem Firmament oder der inneren Erdrinde, die ein ebenso helles Licht verbreitet, als bei uns der Mond; sieht man daher bloß auf das Licht, so sind hier die Nächte wenig von den Tagen verschieden, außer daß sie wegen Abwesenheit der Sonne etwas kälter sind.

1 In der Originalausgabe ist es das Jahr 1664.

2 Eine Hacke.

3 Vergil, Aeneis, IV.

4 So werden in Bergen ovale oder viel mehr längliche kleine Brote genannt. Anm. d. A.

5 Ovid, Metamorphosen, II.

Zweites Kapitel.

Meine Ankunft auf dem Planeten Nazar.

SO hatte ich denn meine Luftfahrt geendet und war gesund und unbeschädigt auf dem Planeten angekommen (denn der Ungestüm, mit welchem der Greif anfänglich herabstürzte, hatte mit seinen Kräften zugleich abgenommen). Ich lag eine geraume Zeit unbeweglich auf dem Boden und wartete, was mir mit rückkehrendem Tage Neues begegnen würde. Nun bemerkte ich, daß sich meine alten Schwachheiten wieder einstellten, und daß ich sowohl Schlaf als Speise bedürfte und es fing mich herzlich anzureuen, daß ich mein Brot so unbesonnen weggeworfen hatte. Da mancherlei Besorgnisse meinen Geist quälten, so befiel mich endlich ein tiefer Schlaf.

Mancherlei seltsame Bilder umschwebten mich jetzt. Mir deuchte, ich wäre nach Norwegen zurückgekehrt und erzählte meinen Landsleuten was mir begegnet war. Endlich kam mir’s vor, als befände ich mich in der Kirche in Berlin (einer meiner Untergebenen hatte mit mir einen Verwandten im Mecklenburgischen besucht und von da einen Abstecher nach dieser Stadt und nach Potsdam gemacht). Ich hörte dort, so schien es mir, den heiligen, doch wohlgemästeter Kantor — in Kühnaus jüngstem Gericht mit andächtig verdrehten Augen und weit aufgerissenem Munde die Basarie herplärren, die von ihm gesungen, immer eben die Wirkung auf meine Ohren getan hat, als ein Gericht angegangener Fische auf meine Nase.

Da ich nun gleich darauf aufwachte, glaube ich wirklich, daß dieser Mann mich aus meinem Schlaf geblökt habe. Als ich aber nicht weit von mir einen Ochsen gewahrte, mutmaßte ich, daß dieser der Störer meiner Ruhe gewesen sein müsse. Furchtsam sah ich nun rings um mich und erblickte, da die Sonne eben aufstieg, fruchtbare Gefilde und grüne Auen, auch Bäume, aber zu meinem Erstaunen waren sie beweglich, obgleich die Luft so still war, daß nicht die leichteste Feder von ihrem Ort bewegt werden konnte.

Wie ich den brüllenden Ochsen grade auf mich loskommen sah, sah ich mich zitternd und bebend nach der Flucht um; in dieser Angst erblicke ich nicht weit von mir einen Baum, und versuchte hinaufzusteigen, als sich eine zarte und kreischende Stimme hören ließ, wie die Stimme eines aufgebrachten Frauenzimmers zu sein pflegt. Bald darauf bekam ich mit der verwandten Hand eine so derbe Ohrfeige, daß ich davon ganz betäubt zur Erde niederstürzte. Von diesem Schlag war ich wie vom Blitz gerührt und starb beinahe vor Schrecken, als ich rings um mich ein Gemurmel und Geräusch hörte, wie wohl auf Marktplätzen oder Kaufmannsbörsen zu sein pflegt, wenn beide sehr voll sind. Ich öffnete die Augen, und erblickte um mich her einen ganzen belebten Wald. Die Aue war über und über mit Bäumen und Bäumchen bedeckt, wo vor kurzem mit genauer Not sechs oder sieben zu sehen gewesen waren.

Kaum kann ich beschreiben, wie drehend mein Gehirn durch all dies wurde und wie sehr diese zaubermäßigen Erscheinungen mich erschütterten. Bald dachte ich, ich träumte mit wachenden Augen; bald, ich würde von Gespenstert geäfft und von bösen Geistern verfolgt; bald fielen mir noch ungereimtere Dinge ein. Doch ich hatte nicht Zeit, diese Mechanismen und ihre Triebfedern auszuforschen, denn gleich darauf kam ein anderer Baum herbeigeeilt und senkte einen Zweig nieder, an dessen äußerstem Ende sechs Knospen oder ebenso viele Finger befindlich waren. Damit hob er mich von der Erde auf und trug mich, trotz meinem mächtigen Geschrei fort. Eine unzählbare Menge Bäume von verschiedener Gattung und Größe folgte ihm murmelnd.

Die Töne, die ich auffing, waren artikuliert, mir aber ganz fremd, so daß ich davon nichts behalten konnte, als die Worte Pikel Emi, weil diese oft wiederholt wurden. Nach der Zeit habe ich in Erfahrung gebracht, daß diese Worte einen Affen von ungewöhnlicher Gestalt bezeichnen; denn sie schlossen aus meiner Gestalt und Tracht; ich wäre ein Affe, obgleich von einer andern Art wie die ihrer Erdkugel. Andere hielten mich für einen Bewohner des Firmaments, der auf einem Vogel durch die Luft hierher getragen sei, was nach den Zeugnissen ihrer Jahrbücher sich wohl ehemals ereignet hatte.

Dies alles wurde mir aber erst nach Verlauf einiger Monate bekannt, nachdem ich die unterirdische Sprache erlernt hatte. Denn vor der Hand war ich so verstört und in Angst, daß ich meiner selbst vergessen hatte und gar nicht begreifen konnte, was ich von lebendigen und sprechenden Bäumen und von dieser Prozession denken sollte, die mit langsamen und feierlichen Schritten einherzog.

Sowohl das laute Reden als das Gemurmel, das überall ertönte, verriet gewissermaßen Zorn und Unwillen. Die Ursache, weshalb sie ihn gefaßt hatten, war so unerheblich eben nicht; denn der Baum, den ich bei meiner Flucht vor dem Stier besteigen wollte, war die Fran des Oberrichters aus der nächsten Stadt. Der Rang der beleidigten Person hatte mein Verbrechen erschwert, weil der Anschein vorhanden war, daß ich nicht bloß ein gemeines Philisterweib, sondern eine Dame vom vornehmsten Stande habe öffentlich schänden wollen; ein Schauspiel, das in den Augen einer so ehrbaren und schamhaften Nation ebenso abscheulich sein mußte, als es ihnen ungewöhnlich war.

Endlich langten wir in der Stadt an, wohin ich als Gefangener geführt wurde. Sie hatte nicht nur prächtige Gebäude, sondern auch schöne Plätze, alle symmetrisch und geschmackvoll angelegt. Die Häuser waren so hoch und ansehnlich, daß sie Türmen glichen. Alle Straßen und Gassen wimmelten von Bäumen, die umherspazierten. Sie grüßten sich, wenn sie einander begegneten, dadurch, daß sie einige Äste herunterbogen; je mehr Zweige sie herabsenkten, desto mehrere Beweise von Achtung und Ehrerbietung legten sie an den Tag.

Als ich über einen öffentlichen Platz geführt wurde, kam aus einem sehr ansehnlichen Haus ein majestätischer Eichbaum gegangen. Sogleich traten die andern Bäume zurück und senkten fast alle ihre Zweige. Ich schloß daraus, dies müßte ein Mann von Stande sein. Kurz nachher erfuhr ich, es sei der Oberrichter dieser Stadt, eben der, an dessen Frau ich mich hatte vergreifen wollen.

Bald darauf ward ich oben hinauf in das Haus dieser Magistratsperson geschleppt und die Tür gleich hinter meinem Rücken dicht und fest verriegelt. Von dem Augenblick an hielt ich mich für einen Kandidaten des Zuchthauses. Drei als Wächter vor meine Tür gestellte Bäume, deren jeder sechs Zweige und in jedem Zweig ein Beil hatte, vermehrten meine Furcht nicht wenig.

Ich bemerkte, daß jeder Baum ebensoviele Arme als Zweige und so viele Finger als Knospen habe, ferner, daß oben auf den Stämmen Köpfe standen, die den menschlichen nicht unähnlich sahen, und daß sie statt der Wurzeln zwei Füße hatten, die aber sehr kurz waren und den Schildkrötengang der Bewohner dieses Planeten verursachten. Mithin wäre es mir, wenn ich nicht Fesseln getragen hätte, leicht gewesen, ihren Händen zu entwischen, da ich wegen meiner größeren Schnellfüßigkeit, gegen sie betrachtet, mehr flog als ging.

Um mich kurz zu fassen: ich sah nunmehr ganz deutlich, daß diese Bäume Bewohner dieses Planeten und mit Vernunft begabte Wesen waren und bewunderte die Mannigfaltigkeit, welche die Natur bei Bildung der lebendigen Geschöpfe beobachtet. Diese vernünftigen Bäume glichen den unsrigen nicht an Größe, die meisten hatten kaum mehr als die gewöhnliche Mannslänge, andere waren viel kleiner, nur so hoch wie Stauden; und diese hielt ich für Kinder,

In was für Labyrinthe von Gedanken mich dieser seltsame Anblick stürzte, was für sehnsuchtsvolle Wünsche nach dem geliebten Vaterlande in mir aufstiegen, läßt sich nicht beschreiben. Zwar kamen mir diese Bäume gesellig vor, da sie mit Sprachvermögen und einer Art von Vernunft begabt waren, so daß man sie gewissermaßen unter die vernünftigen Geschöpfe rechnen konnte, aber ich zweifelte doch, daß sie mit den Menschen eine Vergleichung aushielten, und ich konnte mich gar nicht überreden, daß Gerechtigkeit, Milde und andere moralische Tugenden bei ihnen anzutreffen wären.

Bei dieser quälenden Schar von Gedanken fühlte ich mein Innerstes erschüttert und Tränen stürzten über meine Wangen herab. Wie ich meinem Schmerz so altweibisch nachhing, traten meine Leibwächter, die ich ihrer Beile wegen für Häscher hielt, ins Zimmer. Sie holten mich ab, gingen vor mir her und führten mich durch die Stadt in ein ansehnliches Haus, das mitten auf dem Markte lag. Mir kam es jetzt vor, als wäre ich zur Diktatorwürde gelangt und habe mehr Ansehen als ein römischer Konsul, denn den begleiteten nur zwölf Beile, mich aber achtzehn.

An der Türe des Hauses, in das ich geführt wurde, war die Gerechtigkeit in Gestalt eines Baumes ausgehauen, welcher die Waage mit einem Zweige hielt. Sie hatte ein jungfräuliches Gesicht, ihr Auge war lebhaft, ihre Miene nicht stolz, nicht zürnend, sondern es leuchtete eine würdevolle Schwermut daraus hervor. Dies Bildnis gab mir deutlich zu erkennen, daß hier das Rathaus sein müsse.

Ich wurde in den Anhörungssaal geführt, dessen Boden mit Marmorplatten belegt war. Auf einem goldenen erhöhten Sessel befand sich ein sehr stattlicher Baum und zu jeder Seite saßen gar zierlich sechs Justizräte auf niedrigeren Stühlen.

Der Präsident war ein Palmbaum von mittlerer Statur, zeichnete sich aber von den übrigen Magistratspersonen durch die Mannigfaltigkeit seiner Blätter aus, die verschiedentlich koloriert waren, Auf beiden Seiten standen vierundzwanzig Stadtknechte, jeder mit sechs Beilen bewaffnet. Das war für mich ein entsetzliches Schauspiel, denn ich schloß daraus, daß dies Volk blutdürstig sein müsse.

Wie ich in den Saal trat, standen alle Ratsherren auf und streckten ihre Äste gen Himmel. Nach dieser religiösen Handlung setzen sie sich wieder. Darauf führte man mich vor die Gerichtsschranken, zwischen zwei Bäume, deren Stämme mit Schaffellen bewickelt waren. Ich hielt sie für Advokaten und das waren sie auch wirklich.

Bevor diese Männer zu plädieren anfingen, wurde das Haupt des Präsidenten mit einigen schwarzen Decken umhüllt. Bald nachher hielt der Kläger eine kurze Rede, die er dreimal wiederholte. Mein Verteidiger antwortete ihm ebenso kurz. Nach diesen beiden Reden erfolgte eine allgemeine Pause von einer halben Stunde. Darauf wurden dem Präsidenten die Decken abgenommen, er stand auf, streckte die Zweige gen Himmel und sagte mit vielem Anstand einige Worte, worin mir meine Sentenz zu liegen schien. Sodann wurde ich augenblicklich wieder in meinen alten Kerker zurückgeführt. Ich glaubte, man würde mich hier nicht lange unter Klausur behalten, sondern bald durch den Henker den Raben zum leckeren Mahl auftischen lassen.

Wie ich mich allein befand, überdachte ich alles, was mir im Gerichtssaal begegnet war, und lachte über die Narrheit dieses Volks. Es kam mir mehr vor, als hätten sie eher ein Possenspiel aufgeführt denn Gerechtigkeit gehandhabt; alles, was ich dort gesehen hatte, ihre Gesten, ihr Anzug, ihre Art rechtlich zu verfahren, schien mir einer Burleske angemessener, als dem ernsten Gang der Themis. Ich pries die Glückseligkeit unserer Erde und die Überlegenheit der europäischen Nationen vor allen andern. Allein wiewohl ich die Stupidität dieses unterirdischen Volks tadelte, so sah ich mich doch zu dem Geständnis genötigt, daß sie sich von den beseelten unvernünftigen Geschöpfen unterschieden. Denn die Eleganz, die in dieser Stadt herrschte, die Symmetrie der Gebäude und andere Umstände gaben klar zu erkennen, daß es diesen Bäumen nicht an Verstand und Geschicklichkeit in Künsten, hauptsächlich in der Mechanik, fehle. Aber das glaubte ich, mache auch die ganze Summe ihrer Kenntnisse aus.

Während dieses stillen Selbstgesprächs trat ein Baum mit einem Schnepper in der Hand zu mir herein. Er machte mir die Brust und beide Arme bloß, sodann schlug er gar behend die Medianader. Nachdem seines Bedünkens Blut genug gelaufen war, verband er mir den Arm wieder mit gleicher Geschicklichkeit. Wie er dies getan hatte, untersuchte er gar sorgfältig das Blut, wunderte sich mächtiglich und ging stillschweigend fort.

Dies alles bestätigte mich noch mehr in meiner einmal gefaßten Meinung, daß dies Volk stupid sei. Sobald ich aber mit der unterirdischen Sprache vertraut geworden war, verwandelte sich meine Verachtung in Bewunderung. Man erklärte mir das Verfahren vor Gericht, über das ich so leichtsinnig geurteilt hatte. Meiner Gestalt nach hatte man mich für einen Bewohner des Firmaments gehalten und geglaubt, ich habe ein sittsames Frauenzimmer von erstem Rang schänden wollen. Wegen dieses Verbrechens war ich vor Gericht gezogen worden. Der eine Advokat hatte meine Schuld vergrößert und auf die Strafe gedrungen, die mir den Gesetzen nach gebührte, der andere hatte zwar mich nicht von der Strafe frei machen wollen, wohl aber zu Aufschub geraten, bis klar sei, woher und wer ich wäre, ob ein vernunftloses Tier oder ein mit Vernunft begabtes.

Das Emporstrecken der Zweige gen Himmel, erfuhr ich sodann, sei eine gewöhnliche religiöse Handlung, bevor eine Rechtssache abgemacht würde. Die Advokaten waren deshalb in Schafsfelle gewickelt, damit sie bei Führung der Prozesse der Ehrlichkeit eingedenk blieben. Die hiesigen Advokaten sind auch wirklich insgesamt wackere und biedere Leute; ein deutlicher Beweis, daß es in einem wohlregierten Staate redliche und wackere Anwälte geben kann. Die Gesetze sind nämlich so streng gegen alle Pflichtverletzungen, daß der gewandteste Rechtsverdreher kein Mäntelchen dafür ausfündig zu machen imstande ist. Treulosigkeit, Verleumdung, Tolldreistigkeit samt allem Betrug und arger List sind aus diesem Lande gebannt.

Die gerichtlichen Reden wurden deshalb dreimal wiederholt, weil diese Nation – und das unterscheidet sie von den anderen Bewohnern dieser Erdkugel – ungemein langsam faßt, denn nur wenige konnten verstehen, was sie flüchtig lasen, oder begreifen, was sie nur einmal hörten. Wer eine Sache gleich begriff, dem traute man gar keine Urteilskraft zu, und dergleichen Leute wurden selten zu hohen und wichtigen Ämtern befördert. Die Erfahrung hatte sie belehrt, daß der Staat sich immer übel befand, wenn leichtfassende Köpfe oder große Genies dessen Zügel lenkten, daß die langsamen Köpfe aber, die aus Verachtung dumm genannt werden, den Karren immer wieder aus dem Morast hoben, in den ihn jene gezogen hatten. So paradox mir alles dies beim ersten Blick schien, so kam es mir doch nicht ganz ungereimt vor, wie ich es näher, reifer erwog.

Meine größte Verwunderung aber erregte die Geschichte des Präsidenten. Er war eine Jungfrau, aus dieser Stadt gebürtig, und vom Fürsten zum Kaki oder Stadtpräsidenten ernannt worden. Denn bei diesem Volk wird bei der Verteilung der Ämter nicht aufs Geschlecht, sondern auf Verdienste Rücksicht genommen.

Damit man aber über die Fähigkeiten und Seelenkräfte eines jeden gehörig urteilen könne, so sind Seminarien angelegt worden, deren Aufseher oder Direktoren Karatten genannt werden. (Dies Wort bezeichnet eigentlich Prüfer, Untersucher). Ihr Geschäft besteht darin, die Fortschritte und Talente, besonders aber den Charakter eines jeden genau zu erforschen und den Fürsten jährlich Listen von denen einzureichen, die zu öffentlichen Ämtern tauglich sind und worin sie dem Vaterland vorzüglich nützlich sein können. Erhält der Fürst dies Verzeichnis, so befiehlt er immer die Namen der Kandidaten in ein Buch zu tragen, damit er sie nicht vergißt, sondern beständig diejenigen vor Augen hat, womit er die erledigten Stellen besetzen kann.

Die vorerwähnte Jungfrau hatte vor vier Jahren von den Karatten ein glänzendes Zeugnis erhalten und war deshalb vom Fürsten zum Präsidenten des Rats dieser Stadt angesetzt worden, in der sie geboren war. Über diesen Gebrauch halten die Potuaner stets aufs heiligste; denn sie glauben, wer an einem Ort geboren und erzogen sei, müsse ihn auch am besten kennen. Palmka (so hieß dies Mädchen) hatte ihrem Posten drei Jahre hindurch mit dem größten Ruhm vorgestanden und wurde für den klügsten Baum im ganzen Fürstentum gehalten. Sie war nämlich von so langsamen Begriffen, daß sie eine Sache mit Müh’ und Not einsah, wenn ihr dieselbe nicht drei-, viermal wiederholt wurde. Was sie aber einmal begriffen hatten, das übersah sie ganz. Sie entschied die schwierigsten Fälle mit so vieler Urteilskraft, daß ihre Aussprüche für Orakel gehalten wurden. So haarscharf sonderte sie wahr von falsch, Recht von Unrecht, wenn letzteres etwa durch eine Lücke im Gesetz huschen wollte.

Während ihrer ganzen Präsidentenschaft hatte sie keinen Urteilsspruch gefällt, der nicht vom Obertribunal zu Potu bestätigt und mit vielen Lobsprüchen beehrt worden wäre. Hieraus nahm ich ab, daß diese Einrichtung zu Gunsten des schwächeren Geschlechts, die ich beim ersten Anblick verworfen hatte, bei näherer Prüfung nicht so tadelhaft sei. Wenn, dachte ich bei mir, die Frau des Stadtdirektors H. in Br. den Posten ihres Mannes verwaltete; wenn die Tochter des Advokaten — in K. ein Mädchen voller Beredsamkeit und den ausgezeichnetsten Talenten statt ihres blödsinnigen Vaters die Prozesse führte: so würde wahrlich die Justiz dabei gar nicht leiden. Ich überdachte ferner, daß in manchen europäischen Gerichtsstuben die Urteilssprüche zu rasch gegeben, gleichsam aus dem Ärmel geschüttelt werden, und daß man sie daher auf der Kapelle nicht probehaltig finden würde.

Aber ich muß die übrige Verfahrungsart gegen mich noch vollends aufklären. Zuerst zum Aderlaß. Wenn jemand eines Verbrechens überführt wird, so verurteilt man ihn nicht zum Staupenschlag, zur Verstümmlung seiner Glieder oder zur Enthauptung, sondern zum Aderlaß. Daraus ermißt man dann, ob er sein Verbrechen aus Bosheit oder aus fehlerhafter Beschaffenheit der Säfte begangen habe und ob er durch diese Operation zu verbessern sei. Die Richter nehmen also hierbei mehr auf Besserung als auf Züchtigung Rücksicht. Allein diese Operation war gewissermaßen auch Strafe. Denn es gereichte eben nicht zur Ehre, wenn ein Aderlaß auf richterlichen Befehl vollzogen wurde. Beging man nochmals einen solchen Fehltritt, so wurde man von der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen und nach dem Firmament hin verwiesen, wo man ohne Unterschied alles aufzunehmen pflegte. Doch von diesem Exil und dessen Beschaffenheit bald ein Näheres. Daß der Wundarzt, der mir die Ader geöffnet, beim Anblick meines Bluts gestutzt hatte, kam daher, weil den Bewohnern dieser Erdkugel statt des Bluts ein flüssiger weißer Saft durch die Adern rinnt, nach dessen mehr oder minder weißer Farbe man mehr oder weniger verehrt wird.

Dies alles erfuhr ich, wie ich die unterirdische Sprache erlernt hatte, und nun begann ich ein milderes Urteil über diese Nation zu fällen, von der ich vorher so verächtlich dachte. Für so stupid und töricht ich auch anfänglich diese Bäume gehalten hatte, so bemerkte ich doch bald, daß sie nicht alles moralischen Gefühls beraubt waren, und daß folglich mein Leben nicht in Gefahr sei. In dieser Hoffnung wurde ich bestätigt, als ich sah, daß man mir zweimal täglich Nahrung brachte. Die Speise bestand gemeiniglich in Obst, Kräutern und Hülsenfrüchten, das Getränk war ein klarer, sehr süßer und wohlschmeckender Saft.

Der Oberrichter, in dessen Gewahrsam ich mich befand, ließ dem Fürsten des Landes, dessen Hoflager nicht weit von dieser Stadt war, melden: durch einen Zufall sei ein Geschöpf in seine Hände gefallen, das zwar Vernunft, aber eine ganz außerordentliche Gestalt habe. Dieser ungewöhnliche Vorfall reizte die Neugier des Fürsten so sehr, daß er Befehl erteilte, mich in der Landessprache zu unterrichten und dann an seinen Hof zu schicken.

Mir wurde nunmehr ein Lehrmeister zugegeben, durch dessen Unterweisung ich in einem halben Jahr solche Fortschritte machte, daß ich mit den Einwohnern dieses Landes ziemlich geläufig sprechen konnte. Nachdem ich nun die Kinderschuhe des Abc-Schützen in dieser Sprache abgelegt hatte, kam vom Hofe neuer Befehl an, ferner für meinen Unterricht zu sorgen, und mich in das Seminarium der Stadt aufzunehmen, damit die Karatten oder Examinationsräte die Kräfte meines Genies prüfen und bestimmen möchten, wozu ich die meisten Anlagen zu haben schiene.

Diese Befehle wurden mit der größten Pünktlichkeit befolgt. So lange ich mich in dieser Geistesmanege befand, wurde für meinen Körper nicht weniger als für meinen Geist gesorgt, und besonders suchte man es dahin zu bringen, daß ich so viel Ähnlichkeit mit einem Baum als nur immer möglich bekäme. Zu dem Ende wurden mir auch einige falsche Zweige angekünstelt.

Während dieser Zeit unterhielt mich mein Wirt, wenn ich des Abends aus dem Seminar zurückkam, mit mancherlei Diskursen. Er hörte mich sehr gern das erzählen, was mir auf meiner unterirdischen Reise begegnet war; am meisten erstaunte er über die Beschreibung unserer Erde und des ihn umgebenden, mit unzähligen Gestirnen bedeckten unermeßlichen Himmels. Dies alles hörte er mit der größten Aufmerksamkeit an; wie ich ihm aber sagte: die Bäume auf unserer Erde wären unbeseelt, unbeweglich und durch ihre Wurzeln im Boden befestigt, so überzog eine leichte Röte seine Wangen, aber völlige Indignation malte sich in seinem Gesicht, als ich versicherte, unsere Bäume würden gefällt und dann zum Heizen unserer Wohnungen und zum Kochen unserer Speise gebraucht.

Nachdem er ernsthaft darüber nachgedacht hatte, schwand sein Zorn allmählich, er streckte fünf Zweige (so viel hatte er) gen Himmel und bewunderte die Gerichte des Schöpfers, dessen Wege so unerforschlich sind, und hörte meiner Erzählung fernerhin mit Aufmerksamkeit zu. Seine Frau hatte bisher sorgfältig meine Gegenwart vermieden, da sie aber nun erfahren hatte, daß die Ursache, weshalb ich war vor Gericht geführt worden, nicht die wahre sei, und daß ich durch die Gestalt eines Baums, die wir in unserer Erde zu besteigen pflegen, getäuscht worden wäre, so söhnte sie sich wieder mit mir aus und ließ allen Verdacht gegen mich fahren. Um aber die kaum zugeheilte Wunde nicht von neuem aufzureißen, ließ ich mich nur im Beisein ihres Mannes oder auf dessen Befehl mit ihr ins Gespräch ein.

Drittes Kapitel.

Beschreibung der Stadt Keba.

WÄHREND meines gymnasiastischen Kurses führte mich mein Wirt in der Stadt umher, um mir die größten Merkwürdigkeiten darin zu zeigen. Bei diesen Wanderungen wurde uns kein Hindernis in den Weg gelegt und, worüber ich mich am meisten wunderte, die Einwohner liefen nicht zusammen, wenn sie mich erblickten. Wie ganz anders auf unserer Erde, wo bei jeder nur etwas ungewöhnlichen Erscheinung Menschen zu Hunderten herbeiströmen, um ihre neugierigen Augen zu weiden. Aber die Bewohner dieses Planeten werden nicht durch Neuheit, sondern bloß durch solide Gegenstände angezogen.

Die Stadt, worin ich mich befand, hieß Keba, und war unter den Städten des Fürstentums Potu die zweite am Rang. Ihre Einwohner sind so gravitätisch und verständig, daß man in jedem Bürger einen Justizrat zu erblicken glaubt. Das Alter steht hier im höchsten Ansehen; größerer Huldigungen, tiefer Achtungsbeweise genießt es nirgends, dem leichtesten Wink sogar wird die pünktlichste Folge geleistet.

Ich wunderte mich, daß ein so gesetztes und vernünftiges Volk an Komödien und allerhand Schauspielen Vergnügen fand; mir schien dies gar nicht zu seinem würdevollen Ernst zu passen. Als dies mein Wirt wahrnahm, sagte er zu mir: „In unserm ganzen Fürstentum wechselt Posse mit Ernst, mischen wir eine Dosis jovialisches Wesen unter unsere saturninische Säure. Wir haben in dem Betreff, so wie in jedem andern, vortreffliche Einrichtungen; die Obrigkeit gestattet unschuldige Vergnügungen, weil man dafürhält, daß die Seele dadurch wieder Spannkraft erlange und fähiger werde, beschwerliche Arbeiten auszuhalten, daß das durch alles schwarze Gewölk aus der Seele getrieben und aller Hang zur Schwermut verbannt werde, woraus so vielerlei Unruhen, Aufstände und mancherlei verderbliche Plan entstehen. Daher verbinden die Potuaner Spiel und Scherz mit ernsten Beschäftigungen, und zwar so, daß erstere nie in Ausgelassenheit, letztere nie in Grillenfängerei ausarten.“

Unter ihre Schauspiele und Ergötzlichkeiten rechneten sie auch – was mich nicht wenig verdroß – das Disputieren. Zu gewissen Zeiten des Jahres tat man Wetten, setzte den Überwindern gewisse Preise aus, und dann ließ man die Disputatoren gleich römischen Fechtern aufeinander losgehen, wobei es fast ebenso zuging, wie bei unseren Hahnengefechten oder Tierhatzen. Die Reichen pflegten hier Disputatoren aufzufüttern wie wir Jagdhunde, und sie in der Disputierkunst oder Dialektik abrichten zu lassen, damit sie zu den Wortgefechten, die jährlich angestellt wurden, fein tauglich und behender Zunge würden. Ein gewisser begüterter Teilnehmer namens Enoki hatte binnen drei Jahren auf die Art, durch die Siege eines Disputators, den er zu dem Ende auffütterte, ein großes Vermögen, nämlich viertausend Rikatus, erworben. Mehr wie einmal hatten die Leute, die aus dergleichen Worthatzen Gewinn ziehen, ihm große Summen für dies animal disputax geboten; er zog aber jährlich zu viel von ihm, als daß er diesen Schatz hätte weggeben sollen.

Diese Person, die eine gar wundersam behende Zunge hatte, baute bald auf, bald riß sie nieder, machte Schwarz zu Weiß, hatte alle Augenblicke eine dialektische Falle oder einen logischen Fußangel in Breitschaft, wußte jedem Opponenten durch Distinguieren, Subsummieren und Limitieren geschickt auszuweichen und ihn nach Belieben zum Stillschweigen zu bringen.

Ich hatte diesen Schauspielen einigemale mit kummervollem Herzen beigewohnt. Denn es schien mir die ärgste Entheiligung, diese erhabenen Geistesübungen, die unseren Gymnasien und Akademien zur Zierde zu gereichen pflegen, zu Volksschauspielen herabwürdigen. Und ich konnte mich der Tränen nicht enthalten, da ich mich besann, daß ich dreimal mit dem stärksten Beifall öffentlich disputiert und die größte Ehre dadurch erworben hatte.

Nicht sowohl diese Disputationen selbst als die Art, wie sie gehalten wurden, erregte meinen äußersten Unwillen. Denn man hatte Leute gedungen, die, wenn sie wahrnahmen, daß die Hitze der Disputierenden nachließ, ihnen mit spitzen Instrumenten in die Seiten stoßen mußten, damit sie wieder in Wärme kämen und ihre Kräfte wieder erwachen möchten. Diese Rippenkitzler nannte man Kabolkos. Ich übergehe manches andere, das ich zu erzählen mich schäme und das mir bei einem so kultivierten Volk sehr verwerflich vorkam.

Außer diesen Disputatoren, welche die Unterirdischen aus Scherz Maskabos oder Haderkatzen nennen, gab es noch andere Gefechte zwischen vierfüßigen Tieren, wilden sowohl als zahmen, zumal unter Raubvögeln, wofür die Zuschauer ein gewisses Geld erlegten.

Ich fragte meinen Wirt, wie das zuginge, daß eine mit so vieler Urteilskraft begabte Nation so edle Übungen des Geistes, wodurch derselbe geschärft, Fertigkeit im Sprechen erworben und die Wahrheit an den Tag gefördert würde, zu den öffentlichen Schauspielen des Volks herabsetzte.

In barbarischen Jahrhunderten, erwiderte er, standen diese Kämpfe in ziemlich großem Ansehen, da uns aber die tägliche Erfahrung belehrt hat, daß durch diese Dispute die Wahrheit nur erstickt, die Jugend naseweiser gemacht, allerhand Unruhen erzeugt und dem gründlichen Studieren Fesseln angelegt werden, so hat man sie von den Akademien weg und ins Theater gewiesen, und der Ausgang hat gelehrt, daß die Studierenden sich durch stilles Betragen, fleißiges Lesen und eifriges Nachdenken weit eher zur Magisterwürde fähig machen. So scheinbar diese Antwort auch klang, so befriedigte sie mich doch nicht.

In dieser Stadt befand sich eine Akademie, wo die freien Künste und Wissenschaften mit Anstand und dem würdevollsten Ernst gelehrt wurden. Mein Wirt nahm mich an einem feierlichen Tage, da ein Madik oder ein Doktor der Philosophie kreirt wurde, mit in den akademischen Hörsaal.

Die Promotion ging ohne alle Zeremonie vor sich, außer daß der Kandidat über ein physisches Problem mit vieler Kenntnis und Zierlichkeit dissertierte. Hierauf trug ihn der Prorektor der Akademie in das Verzeichnis derer, die berechtigt sind, öffentlich zu dozieren. Mein Wirt fragte mich nach unserer Zurückkunft, wie mir die Zeremonie gefallen habe? Herzlich kahl und nüchtern, versetze ich. Sodann erzählte ich ihm ausführlich, wie bei uns Magister und Doktoren kreiert würden, und daß sie vorher eine Disputation hielten.

Wirt (mit gerunzelter Stirn.): „Worüber werden denn eure Disputationen gehalten, und worin weichen sie denn von den unsrigen eigentlich ab?“

Ich: „Gemeiniglich über gar gelehrte und kuriose Dinge, hauptsächlich über die Sitten, Trachten, Sprachen und dergleichen zweier alten Völker, die in Europa ehedem am meisten geblüht haben. Ich selbst habe drei Tage lang über die Pantoffeln dieser beiden Völker mit vieler Gelehrsamkeit disputiert.“

Mein Zuhörer brach hierüber in ein solches Gelächter aus, daß das ganze Haus davon dröhnte. Hierzu kam seine Frau gelaufen und war neugierig genug, sich nach der Ursache zu erkundigen. Allein der Zorn hatte sich meiner dergestalt bemeistert, daß ich sie keiner Antwort würdigte, denn es schien mir höchst unbillig, daß so ernsthafte Dinge mit Lachen und Spott aufgenommen wurden. Der Mann sagte ihr endlich, wovon die Rede war, und sie brach in kein kleines Gelächter aus.

Das Ding ward allgemein bekannt und gab zu manchen lustigen Einfällen Anlaß. Auf die Frau eines gewissen Ratsherrn, eine sehr lachfertige Dame, machte diese Erzählung einen solchen Eindruck, daß sie fast vor Lachen barst. Da sie nicht lange darauf an einem Fieber starb, glaubte man, sie habe durch das unmäßige Lachen ihre Lungen zu sehr erweitert und sich dadurch den Tod zugezogen. Doch war dies nicht ganz gewiß ausgemacht, indes munkelte man doch so. Sie war übrigens eine Dame von vortrefflichem Charakter und eine wohlanstellige und angreifige Hausmutter, weil sie – was bei ihrem Geschlecht selten ist – sieben Zweige hatte. Alle rechtlichen Personen trugen großes Leid über ihren Tod, so wie eben diese Klasse bei meinem Aufenthalt in Berlin über den Hintritt der Generalin von Forkade, die wegen ihrer häuslichen Tugenden und wegen der vielen Kinder, die sie dem Staate geschenkt hatte, dem Monarchen und dem Publikum gleich achtungswürdig war.

Sie wurde bei stiller Nacht, in den Kleidern, worin man sie tot gefunden hatte, außerhalb der Mauern der Stadt, in die Erde gesenkt. Beerdigungen in der Stadt sind durch die Gesetze untersagt, weil die Potuaner besorgen, die Luft möchte durch die Ausdünstungen der toten Leichname angesteckt werden. Auch das große Trauergefolge und der viele Pomp bei den Bestattungen der Leichen ist verboten, weil sie doch bald ein Schmaus der Würmer werden. Diese Verordnungen insgesamt dünken mir ganz weise. Doch Trauer- und Leichenreden werden bei dieser Nation gehalten, allein dies sind nur Ermahnungen rechtschaffen zu leben, und das Bild der Sterblichkeit wird den Zuhörern darin vor die Augen gerückt. Auf Magistrats Befehl sind Censoren dabei befindlich, die acht haben müssen, ob der Verstorbene von dem Redner zu sehr gelobt, oder heruntergesetzt wird. Der Redner ist karg mit Lobsprüchen, weil derjenige, welcher den Toten über die Gebühr gelobt hat, in Strafe verfällt.

Nicht lange nachher sollte ich einer solchen Trauerrede beiwohnen. Ich erkundigte mich bei meinem Wirt, wer denn der verstorbene Held, wie man ihn nannte, gewesen sei? „Ein Bauer“, antwortete er mir, „den der Tod auf der Reise nach der Stadt übereilte.“ Jetzt lachte ich die Unterirdischen ebenso derb aus, wie sie mich neulich, und vergalt ihnen die Flut von Spöttereien, die sie über die Europäer ergossen hatten, gar reichlich. „Warum“, sagte ich, „werden die Ochsen und Stiere, die beständigen Gefährten und Gehilfen der Bauern, nicht auch vom Katheder herab gelobt? Sie geben ebenso viel Stoff zu einer Rede wie jene, da sie eben die Arbeit verrichten?“

Mein Wirt gebot mir mit Lachen einzuhalten, und belehrte mich, daß der Stand der Ackerleute hierzulande wegen des edlen Geschäfts, das sie treiben, der angesehenste sei, und daß keine Volksklasse bei ihnen höher geschätzt werde. Jeder rechtschaffene Bauer und wackere Hausvater wird deshalb der Ernährer und Gönner der Städter genannt. Daher werden auch die Ackerleute, wenn sie mit Herbstes Anfange oder im Palmenmond mit einem ungeheuren Wagen, mit Früchten beladen, nach der Stadt kommen, vor den Toren vom Magistrat mit Klang und Sang bewillkommt und gleichsam in Triumph in die Stadt geführt.

Ich erstaunte bei dieser Erzählung, indem ich mir das Schicksal unserer Landleute dabei dachte, die in der schnödesten Dienstbarkeit schmachten und deren Beschäftigungen wir gegen andere, die bloß zum Kitzel unserer Sinnlichkeit dienen, für schmutzig und unanständig halten. Ziehen wir nicht Köche, Frisöre, Galanteriekrämer, Kastraten, Seiltänzer und solches Gesindel ihnen weit vor?

Dies entdeckte ich nicht lange darauf meinem Wirt, bat ihn aber zugleich um die strengste Verschwiegenheit, weil ich besorgte, die Unterirdischen möchten, wenn sie dies erführen, die widrigsten Urteile über das menschliche Geschlecht fällen. Er sagte mir meine Bitte zu und führte mich dann in den Hörsaal, wo die Leichenrede gehalten werden sollte.

Nie habe ich etwas gründlicheres, der Wahrheit angemesseneres und von allem Schein der Schmeichelei entfernteres gehört, als diese Trauerrede, die meines Bedünkens allen dergleichen Reden hätte zum Muster dienen sollen. Zuerst stellte der Redner die Tugenden des Verstorbenen auf, dann zählte er alle dessen Fehler und Gebrechen her, und ermahnte die Zuhörer, sich vor den letzteren zu hüten. Unter den Schriftstellern dieses Fachs auf unserer Erde kommt niemand ihn so nahe, als der edle biedere Guibert, Friedrichs einziger würdiger Leichenredner.

Auf unserem Rückweg aus dem Hörsaal stießen wir auf einen Missetäter, den drei Mann Wache begleiteten. Er war vor kurzem zu der Armstrafe (so nennen sie den Aderlaß) auf richterlichen Befehl verurteilt worden, und wurde jetzt in das Stadtlazarett geführt. Ich erkundigte mich nach der Ursache dieser Bestrafung, und erfuhr, daß er öffentlich über die Eigenschaften und das Wesen Gottes disputiert habe, und dies sei hierzulande verboten. Dergleichen Grübeleien werden für so unbesonnen und töricht gehalten, daß sie einem wohlorganisierten Gehirn nie einfallen könnten. Daher pflegt man solchen Sophisten als Wahnsinnigen die Ader schlagen und sie dann so lange ins Zuchthaus zu sperren, bis sie wieder vernünftig werden.

Hm! sagte ich jetzt bei mir, was würde man mit unseren Theologen hier anfangen, die wir täglich über die Natur und die Eigenschaften des höchsten Wesens, über die Natur der Geister und andere dergleichen mysteriöse Gegenstände hadern sehen? Und was mit unsern Metaphysikern, die sich mit spekulativen Studien brüsten, weit über den Pöbel erhaben, ja sogar Gott gleich glauben? Statt der Doktorhüte, womit man sie auf unserm Erdball schmückt, würden sie sich den Weg in die Stadtgefängnisse bahnen oder Kandidaten des Siechhauses werden.

Dies und noch manches, was mir ebenso paradox vorkam, erfuhr ich während meiner Gymnasiastenschaft. Endlich war die Zeit da, wo ich nach landesherrlichem Befehl mit einem Zeugnis versehen aus der Schule entlassen und nach dem Hof geschickt werden sollte. Ich erwartete die größten Lobsprüche, denn ich verließ mich teils auf meine Fähigkeiten, da ich die unterirdische Sprache über alle Erwartung schnell erlernt hatte, teils rechnete ich auf die Gewogenheit meines Wirts und die Rechtschaffenheit der Richter. Endlich gab man mir das Testimonium, das ich vor Freude zitternd eröffnete, begierig mein Lob zu lesen und daraus mein künftiges Schicksal abzumessen. Aber Zorn und Verzweiflung ergriff mich, wie ich diese Schrift las. Sie war folgenden Inhalts:

„Treugehorsam Eurer Durchlaucht gnädigstem Befehle entlassen wir hiermit das in unserem Gymnasium sorglich unterwiesene und kürzlich aus einer anderen Welt zu uns verschlagene Tier, so sich Mensch nennt. Nachdem wir pflichtschuldigstermaßen sein Genie, und Sitten gehörig geprüft, untersucht und beleuchtet, fanden wir es zwar sehr gelehrig und von äußerst schnellem Fassungsvermögen, aber zugleich von so schiefer Urteilskraft, daß es wegen seines allzu voreiligen Verstandes kaum unter die vernünftigen Geschöpfe gerechnet, viel minder zu irgendeinem beträchtlichen Amt gebraucht werden kann. Maßen er aber uns alle an Schnelligkeit der Füße übertrifft, als gesinnen wir unmaßgeblich, daß er das Amt eines Hofboten stattlich werde verwalten können. Gegeben auf der Pflanzschule von Keba im Dornstrauch Monate von

Ew. Durchlaucht untertänigsten Knechten, Nehec. Jochtan, Rapasi. Chilac.

Mit tränenvollen Augen ging ich zu meinem Wirt und bat ihn flehentlich, durch seine Vermittlung mir ein milderes Zeugnis von den Karatten auszuwirken und ihnen zugleich mein akademisches Testimonium zu zeigen, worin ich ein sehr fähiger und unbescholtener Jüngling genannt wurde. Aber er antwortete mir: auf unserm Erdball möchte dies Zeugnis wohl seinen Wert haben, weil man daselbst vielleicht mehr Rücksicht auf den Schatten als auf den Körper, auf die Rinde als auf das Mark nähme, hier aber, wo man immer auf den Grund ginge, könne jenes Zeugnis von gar keinem Gewicht sein. Er ermahnte mich sodann, mein Schicksal mit Geduld zu ertragen, da das einmal ausgestellte Zeugnis nicht für ungültig erklärt noch geändert werden könne. Denn hierzulande gäbe es kein größeres Verbrechen, als jemanden unverdient lobpreisen,

Um aber doch Balsam in die Wunde zu gießen, suchte er allerlei Trostgründe hervor und sagte unter andern: Deine Wünsche sind in der Tat töricht. Auf einer niedrigen Stufe und im Mittelstande hast du nichts zu befürchten. Je höher aber das Glück jemanden emporhebt, je tiefer pflegt ihn bekanntlich der Neid zu stürzen. Weißt du nicht, daß der Dichter singt:

Gräßlicher hallt der Sturz erhabner Türme

Häufiger fährt der Blitz auf wolkennahe Alpengebirge.6

Und ein anderer:

Dem Reichtum, bleicher Sorgen Kinde,

Schleicht stets die bleiche Sorge nach:

Sie braust, wie ungestüme Winde,

Durch Euer innerstes Gemach.

Der sanfte Schlummer flieht Paläste,

Und schwebet um den kühlen Bach,

Und liebt das Lispeln junger Weste.

Was aber das Zeugnis der Karatten anlangt, so dient das zum Beweis, daß sie die hellsehendsten und biedersten Richter sind, die sich weder durch Geschenke noch durch Drohungen bewegen lassen, nur einen Fingerbreit von der Wahrheit abzuweichen. Daher kann auch in diesem Falle gar kein Argwohn stattfinden.

Zuletzt rückte mein Wirt mit dem offenherzigen Geständnis heraus: er habe schon längst meine Verstandesschwäche bemerkt, und aus meinem überstarken Gedächtnis und meiner zu schnellen Fassungskraft gleich geurteilt, daß mit mir nichts anzufangen, und daß ich wegen meiner geringen Urteilskraft zu keiner wichtigen Bedienung tüchtig sei. Aus meinen Beschreibungen von den europäischen Völkerschaften, habe er wahrgenommen, ich sei

Im Vaterland der Toren

Bei dicker träger Luft geboren.

Übrigens ergoß er sich in einen Strom von Freundschaftsversicherungen und riet mir wohlmeinend, mich ohne Verzug zur Reise anzuschicken.

Ich folgte dem Rat dieses sehr klugen Mannes, zumal da die Notwendigkeit es forderte und es mir zu verwegen schien, mich dem Befehl des Fürsten zu widersetzen.