Niemalswelt - Marisha Pessl - E-Book
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Marisha Pessl

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Beschreibung

Tödliche Wahl – der neue Roman der New-York-Times-Bestsellerautorin Marisha Pessl! Ein packender Genre-Mix aus Psycho-Thriller, Coming-of-Age und Mystery. Seit Jims ungeklärtem Tod hat Bee keinen ihrer Freunde mehr gesprochen. Als sich die fünf ein Jahr später in einem noblen Wochenendhaus an der Küste wiedertreffen, entgehen sie nachts nur knapp einem Autounfall. Unter Schock und vom Regen durchnässt kehren sie ins Haus zurück. Doch dann klopft ein geheimnisvoller Unbekannter an die Tür und eröffnet ihnen das Unfassbare: Der Unfall ist wirklich passiert und es gibt nur einen Überlebenden. Die Freunde sind in einer Zeitschleife zwischen Tod und Leben gefangen, in der sie dieselben elf Stunden immer wieder durchlaufen – bis sie sich geeinigt haben, wer von ihnen überlebt. Der Schlüssel zur Entscheidung scheint Jims Tod zu sein – in ihrer Verzweiflung beginnen die Freunde nachzuforschen, was wirklich mit ihm passiert ist, in jener Nacht, in der er in den Steinbruch stürzte. Und langsam wird klar, dass sie alle etwas zu verbergen haben … Ein echter Page-Turner, der einen nicht mehr loslässt! »Aufregend, unvorhersehbar und nervenzehrend.« School Library Journal »Eine gelungene Mischung aus dunkler Mystery und völlig abgefahrenem Thriller mit echtem Wow-Effekt.« Buchkultur

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Marisha Pessl: Niemalswelt

Seit Jims ungeklärtem Tod hat Bee keinen ihrer Freunde mehr gesprochen. Als sich die fünf ein Jahr später in einem noblen Wochenendhaus an der Küste wiedertreffen, entgehen sie nachts nur knapp einem Autounfall. Unter Schock und vom Regen durchnässt kehren sie ins Haus zurück. Doch dann klopft ein geheimnisvoller Unbekannter an die Tür und eröffnet ihnen das Unfassbare: Der Unfall ist wirklich passiert und es gibt nur einen Überlebenden. Die Freunde sind in einer Zeitschleife zwischen Tod und Leben gefangen, in der sie dieselben elf Stunden immer wieder durchlaufen – bis sie sich geeinigt haben, wer von ihnen überlebt. Der Schlüssel zur Entscheidung scheint Jims Tod zu sein – in ihrer Verzweiflung beginnen die Freunde nachzuforschen, was wirklich mit ihm passiert ist, in jener Nacht, in der er in den Steinbruch stürzte. Und langsam wird klar, dass sie alle etwas zu verbergen haben …

Ein echter Page-Turner, der einen nicht mehr loslässt!

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Für David

 

Manchmal gibt es keine Antwort,

manchmal findest du Liebe,

manchmal hat die Dunkelheit Zähne,

manchmal verbirgt sie Tauben.

Während du dem gewundenen Pfad des Lebens folgst,

ist eine Sache gewiss:

Du wirst sprachlos sein.

Und dann? Frag jemanden, der sich auskennt.

           J. C. Gossamer Madwick,

           Das dunkle Haus an der Anderswokurve

ERSTER TEIL

1

Ich hatte seit über einem Jahr nicht mehr mit Whitley Lansing – oder sonst irgendeinem von ihnen – gesprochen.

Als nach meiner letzten Klausur die SMS von ihr kam, erschien es mir unausweichlich, wie ein Komet, der über den Nachthimmel fliegt, wie ein Zeichen des Schicksals.

Hi, Bee. Verdammt lang her – wie gehts dir? Wie war dein erstes Jahr am College? Super? Scheiße?

Du fehlst uns.

Warum ich mich melde: Die Gang trifft sich an meinem Geburtstag in Wincroft. Linda ist dann auf Mallorca & EZS Burt heiratet in St. Bart’s, zum dritten Mal (eine vegane Yogini). Wir haben das Haus also für uns. Wie früher.

Bist du dabei, Bumblebee? Wie wärs?

Carpe noctem.

Nutze die Nacht.

Sie war die Einzige, die ich kannte, die jeden musterte wie ein Dior-Model in Leder und mit Latein um sich warf, als wäre es ihre Muttersprache.

»Wie war die Klausur?«, fragte Mom, als sie mich abholte.

»Ich hab Sokrates mit Plato verwechselt und bin nicht rechtzeitig fertig geworden«, antwortete ich, während ich den Sicherheitsgurt festzurrte.

»Du warst bestimmt klasse.« Sie lächelte und sah mich aufmerksam an. »Gibts noch irgendwas zu erledigen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Dad und ich hatten mein Zimmer im Wohnheim schon leer geräumt. Meine Bücher hatte ich zum Studentenwerk zurückgebracht, um die dreißig Prozent Rabatt fürs nächste Jahr zu bekommen. Ich hatte das Zimmer mit einem Mädchen namens Casey aus New Haven geteilt, die jedes Wochenende nach Hause gefahren war, um sich mit ihrem Freund zu treffen. Ich hatte sie seit der Einführungswoche kaum gesehen.

Der Abschluss meines ersten Jahrs am Emerson College war mit dem gleichgültigen Schweigen vorbeigegangen, mit dem man auch den Räumungsverkauf in einer Mini-Mall zur Kenntnis nimmt.

»Da braut sich was zusammen«, hätte Jim gesagt.

........

Ich hatte keine Pläne für den Sommer, außer bei meinen Eltern im Captain’s Crow auszuhelfen.

Das Captain’s Crow ist das Hafencafé meiner Eltern in Watch Hill, der kleinen Küstenstadt, in der ich aufgewachsen bin.

Watch Hill, Rhode Island. Anzahl der Einwohner: Jeder kennt jeden.

Mein Urgroßvater Burn Hartley eröffnete das Café 1885, als Watch Hill kaum mehr als eine Ansammlung karger Häuser war, in denen Walfängerkapitäne ihre meeresmüden Beine ausstreckten und ihre Kinder zum ersten Mal auf den Arm nahmen, bevor sie sich wieder in die unbekannten Weiten des Atlantiks aufmachten. Über dem Eingang hängt eine gerahmte Bleistiftzeichnung von Burn, und sein Gesicht hat den wilden Blick eines genialen, früh verstorbenen Schriftstellers oder eines Entdeckungsreisenden, der in der Arktis verschollen ist. Tatsächlich jedoch konnte er kaum lesen, umgab sich lieber mit vertrauten Gesichtern als mit fremden und zog das Festland der See vor. Sein ganzes Leben lang tat er nichts anderes, als unser kleines Café zu führen und das Rezept für die weltbeste Muschelsuppe zu perfektionieren.

Den ganzen Sommer lang verkaufte ich Eiskugeln an gebräunte Teenager in Flipflops und pastellfarbenen Sweatshirts. Sie kamen in großen, flirrenden Gruppen wie Fischschwärme. Ich bereitete Hamburger und überbackene Thunfischsandwiches zu, Krautsalat und Milchshakes. Ich fegte den Sand vom schwarz-weiß gefliesten Boden. Ich verteilte Papierservietten, Ketchuppäckchen, Salztütchen, Über-21-Armbänder, Pappbecher und Tiefseefischer-Ausflugsbroschüren. Ich legte vergessene Handys an die Kasse, damit sie leicht zu finden waren, wenn der von Panik erfasste Besitzer hereingestürmt kam: »Ich hab mein Handy … Oh, danke, das ist ja nett von dir!« Ich sammelte die eingerissenen blauen Tickets von dem uralten Karussell ein, das ein paar Meter weiter am Strand stand und statt mit Pferden mit Meerjungfrauen bestückt war. Wenn Watch Hill überhaupt für irgendwas berühmt ist, dann dafür, dass Eleanor Roosevelt dort auf einer rothaarigen Meerjungfrau mit Damensattel fotografiert wurde. (Der ganze Ort lästerte darüber, wie missmutig sie auf dem Foto aussah, halb begraben unter den Massen ihrer Rüschenröcke.)

Ich wischte die Grillsoße von den Mülleimern und die Strandgut-Kleckse von den Tischen (Süßes Strandgut war die Lieblingseissorte aller Kinder, eine Mischung aus Keksbröseln, Walnüssen, Kuchenteig und Schokostückchen). Ich putzte die Fenster und Arbeitsflächen und Türklinken. Ich schrubbte die Salzkruste von den Muscheln und polierte jede einzelne wie ein Juwelier seine Lieblingssmaragde. Meist stand ich um fünf Uhr morgens auf und ging mit meinem Dad runter zu den Fischerbooten, um für den Tag einzukaufen. Ich inspizierte Krebse und Flundern, Austern und Barsch und strich mit der Hand über die rudernden Beine und Scheren, pockigen Schalen und schillernden Bäuche. Ich komponierte Songtexte für den Soundtrack zu einem erfundenen Film namens Lola Andersons Highway-Überfall, kritzelte Wörter, Reime, Gesichter und Hände auf Papierservietten und Speisekarten und warf sie weg, bevor irgendjemand sie sah. Ich ging zu einer Trauergruppe für Jugendliche im North Stonington Community Center. Außer mir gab es nur einen anderen Teilnehmer, ein schweigsamer Junge namens Turks, dessen Vater an ALS gestorben war. Nach den ersten zwei Sitzungen kam er nicht mehr, sodass ich ganz allein mit der Psychologin dasaß, einer zappeligen Frau namens Deb, die Hosenanzüge trug und immer einen dicken Wälzer mit dem Titel Trauerarbeit für Jugendliche dabeihatte.

»›Das Ziel dieser Übung ist, das Positive der verlorenen Beziehung hervorzuheben‹«, las sie aus Kapitel sieben vor und reichte mir ein Arbeitsblatt für einen Abschiedsbrief. »›Schreib darauf einen Brief an den Menschen, den du verloren hast, in dem du schöne Erinnerungen, Hoffnungen und eventuell noch offene Fragen festhältst.‹«

Sie knallte mir einen angekauten Kuli, auf dem TABEEGO ISLAND RESORTS stand, auf den Tisch und ging hinaus. Ich hörte, wie sie draußen im Flur mit jemandem namens Barry telefonierte und ihn wütend fragte, wieso er letzte Nacht nicht nach Hause gekommen war.

Ich malte einen kreischenden Falken auf den Abschiedsbrief und schrieb daneben den Songtext zu einem erfundenen japanischen Anime über einen vergessenen Gedanken mit dem Titel Verschollen in einem Kopf.

Dann verdrückte ich mich über die Feuertreppe und ging nie wieder hin.

Ich brachte Sleepy Sam (einem schlaksigen, dauermüden Teenager aus England, der seinen amerikanischen Dad besuchte) bei, wie man frittierte Venusmuscheln und das perfekte überbackene Käsesandwich machte. Grill auf mittlere Stufe, Butter, vier Minuten von jeder Seite, sechs Scheiben Vermont Sharp Cheddar, zwei Fontina. Zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli lud er mich zu einer Party bei dem Freund eines Freundes ein. Zu seiner Überraschung kam ich tatsächlich. Ich stand mit einem lauwarmen Bier neben einer Lampe, hörte einem Gespräch über Gitarrenunterricht und Zach Galifianakis zu und wartete auf den richtigen Moment, um mich zu verdrücken.

»Das da drüben ist übrigens Bee«, sagte Sleepy Sam. »Sie kann tatsächlich sprechen, ich schwörs.«

Ich erzählte niemandem von Whitleys SMS, obwohl ich sie ständig im Hinterkopf hatte.

........

Es war das nagelneue, viel zu ausgefallene Kleid, das ich gekauft, aber nie aus der Tüte genommen hatte. Ich hatte es einfach hinten in meinen Schrank gelegt, noch in Papier gewickelt und mit dem Preisschild dran, um es zurückzubringen.

Trotzdem gab es die vage Möglichkeit, dass ich den Mut finden würde, es doch noch anzuziehen.

Ich wusste ihr Geburtsdatum so genau wie mein eigenes: 30. August.

Dieses Jahr war es ein Freitag. Das Großereignis des Tages war ein streunender Hund, der über die Main Street stromerte. Er hatte keine Hundemarke und den gequälten Blick eines Kriegsgefangenen. Er war grau und zottelig und zuckte jedes Mal zusammen, wenn jemand versuchte, ihn zu streicheln. Als ein Auto hupte, floh er panisch zwischen die Mülltonnen hinter dem Captain’s Crow.

»Seht ihr den gelblichen Salzschlamm an seinen Hinterpfoten? Der stammt vom Westufer des Nickybogg Creek«, verkündete Officer Locke voll Begeisterung, weil es endlich mal ein Geheimnis zu lösen gab, sein erstes in diesem Jahr.

Der streunende Hund war den ganzen Tag das Hauptthema – was man mit ihm machen sollte, wo er herkam –, und erst viel später kam mir in den Sinn, wie merkwürdig es war, dass dieser Hund wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Ich fragte mich, ob es ein Zeichen war, eine Warnung, dass etwas Schreckliches passieren würde, dass ich nicht den viel gepriesenen, geheimnisumwobenen Seitenpfad nehmen sollte, sondern den breiten, ausgetretenen und gut beleuchteten, den ich kannte.

Doch da war es bereits zu spät. Die Sonne war untergegangen und Sleepy Sam war fort. Ich hatte die Stühle auf die Tische gestellt und den Müll rausgebracht. Und außerdem widersprach es der menschlichen Natur. Niemand hörte je auf solche Warnungen.

Meine Eltern nahmen an, dass ich wie jeden Freitag mit ihnen nach Westerly ins Dreamland Theater fahren würde, um eine von den klassischen Screwball-Kömodien zu sehen.

»Heute nicht, ich hab schon was anderes vor«, sagte ich.

Dad war begeistert. »Wirklich, Bee? Das ist großartig.«

»Ich fahre nach Wincroft.«

Beide schwiegen. Mom hatte gerade das Schild im Schaufenster auf »Geschlossen« gedreht. Sie wandte sich um und zog fröstelnd ihre Strickjacke fester um sich, dabei waren es draußen vierundzwanzig Grad.

»Wie lange weißt du das schon?«, fragte sie.

»Nicht lange. Ich passe auf mich auf. Und ich bin bis Mitternacht zurück. Sie feiern dort Whitleys Geburtstag. Ich glaube, es wäre gut, wenn ich sie mal wieder sehen würde.«

»Das ist eine lange Fahrt im Dunkeln«, sagte Dad.

Mom sah aus, als hätte man ihr gerade eröffnet, dass ich nur noch sechs Wochen zu leben hätte. Wenn sie wirklich außer Fassung ist, kaut sie manchmal auf einem imaginären Kaugummi herum. Das tat sie jetzt.

»Ein Teil des Trauerprozesses besteht darin, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen«, sagte ich.

»Darum geht es nicht. Ich –«

»Ist schon gut, Victoria.« Dad legte die Hand auf ihre Schulter.

»Aber Dr. Quentin hat gesagt, du sollst dich nicht in belastende Situationen begeben, die –«

»Wir waren uns doch einig, dass Dr. Quentin ein Idiot ist«, sagte ich.

»Dr. Quentin ist in der Tat ein Idiot«, bestätigte mein Vater mit bedauerndem Nicken. »Allein die Tatsache, dass er so heißt wie ein Gefängnis, hätte uns misstrauisch machen sollen.«

»Ihr wisst, dass ich es nicht mag, wenn ihr euch gegen mich verbündet«, sagte Mom.

In dem Moment rüttelte ein rotgesichtiger Wochenendausflügler, der im O’Malligan’s zu viele Biere getrunken hatte, an der Tür.

»Wir haben geschlossen«, fuhr meine Mutter ihn an.

........

So kam es, dass ich in Dads altem grünem Dodge-Pick-up mit dem kaputten Auspuff achtzig Kilometer die Küste von Rhode Island hinauffuhr.

Wincroft.

Der Name klang wie irgendwas aus einem windgepeitschten Roman voll mit Geistern und Wahnsinnigen. Das Haus war ein ausladendes Gebilde aus rotem Ziegelstein mit Türmchen, einem Park und krähenförmigen Wasserspeiern, das in den 1930er-Jahren von irgendeinem weißen Großwildjäger erbaut worden war, der wahrscheinlich Hemingway und Lawrence von Arabien zu seinen Freunden gezählt hatte. Da er ständig um die Welt gereist war, um schöne Tiere abzuknallen, war Wincroft, sein Wohnsitz an der Küste, sechzig Jahre lang kaum bewohnt gewesen. Als Whitleys schräger Ex-Zweit-Stiefvater Burt – von uns nur EZS Burt genannt – es in den 1980er-Jahren bei einer Zwangsversteigerung erstand, riss er die Inneneinrichtung heraus und ließ es in einem Stil neu herrichten, der laut Whitley aussah, »als hätte Madonna Cyndi Lauper vollgekotzt«.

Trotzdem konnte es passieren, dass man auf dem Dachboden die Schublade einer Kommode oder einen muffigen Überseekoffer öffnete und darin Fotos von Leuten fand, die Gewehre in der Hand hielten und Fuchsfelle oder irgendwelche merkwürdigen ausgestopften Tiere präsentierten – ein Frettchen, einen roten Frosch oder irgendwelche unbekannten Nager. Das verlieh jedem Besuch in Wincroft das geheimnisvolle Flair einer archäologischen Expedition, als würde überall um uns herum in den Fußböden, Wänden und Decken irgendeine untergegangene Zivilisation darauf warten, von uns entdeckt zu werden.

»Wir sind unser Krempel«, sagte Jim einmal, als er eine ausgestopfte Eidechse aus einem Schuhkarton zog.

Nachdem man die Schnellstraße verlassen hatte, wurde der Weg kurvig und schwindelerregend, als wollte er einen durchschütteln. Die Küste von Rhode Island – abgesehen vom Schickimicki-Teil bei Newport mit den steilen Klippen und den Prachtvillen, die selbstgefällig auf die kleinen Segelboote unten im Hafen hinunterschauten – war rau und vergammelt, lässig und sonnenverbrannt. Sie war wie ein alter, obdachloser Strandstreuner in einem verwaschenen T-Shirt, der sich nicht erinnern konnte, wo er letzte Nacht geschlafen hatte. Das Gras war hart und vertrocknet, die Straßen salzig und voller Risse, garniert mit verblichenen Schildern und kaputten Ampeln. Brücken erhoben sich mühsam aus den Marschen und sanken auf der anderen Seite erschöpft in sich zusammen.

Ich hatte noch ihre Handynummern, aber ich wollte nicht anrufen. Ich wusste nicht mal, ob sie da sein würden. Konnte ja sein, dass sie in den Wochen, die seither vergangen waren, ihre Pläne geändert hatten. Vielleicht würde auf mein Klopfen nicht Whitley öffnen, sondern ihr Ex-Zweit-Stiefvater Burt mit seinen zu langen grauen Locken, der vor einer Million Jahren einen oscarnominierten Song für einen tragischen Liebesfilm mit Ryan O’Neill geschrieben hatte. Vielleicht würden sie auch alle da sein. Vielleicht wollte ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sehen, wenn ich plötzlich da stand; einen Ausdruck, den sie nicht vorher einstudieren konnten.

Andererseits, da sie nicht wussten, dass ich kam, konnte ich immer noch umdrehen. Ich konnte zu meinen Eltern ins Dreamland Theater fahren, mir Sein Mädchen für besondere Fälle ansehen und hinterher im Shakedown frittierte Muscheln und Austern essen, dem Besitzer Artie Hallo sagen und so tun, als würde ich nicht hören, wie er Dad zuflüsterte, als ich zum Klo ging: »Bee sieht wirklich viel besser aus«, als wäre ich ein verletztes Rennpferd, dem sie den Gnadenschuss erspart hatten. Obwohl das nicht Arties Schuld war. Alle reagierten so, wenn sie erfuhren, was passiert war: Mein Freund Jim war letzten Sommer gestorben.

Der plötzliche Tod der Liebe deines Lebens ist nichts, was einem als Teenager passieren sollte. Aber wenn es schon sein musste, war es hilfreich, wenn es aus einem der drei nachvollziehbarsten Gründe für den Tod eines Heranwachsenden geschah, nämlich a) Autounfall, b) Krebs oder c) Selbstmord. Dann konnte einen nach erfolgter Auswahl der nächststehende Erwachsene sofort auf die passenden Filme (viele davon mit Timothy Hutton) und Ratgeber hinweisen, die einem halfen, damit klarzukommen.

Aber was, wenn der Grund für den Tod deines Freundes ungeklärt ist und du dastehst und in ein schwarzes Loch aus Schuldgefühlen und Ungewissheit starrst?

Dann gibt es keinen Film und keinen Ratgeber, der dir helfen kann.

Außer vielleicht Der Exorzist.

Wenn ich heute Abend nicht aufkreuzte, würden meine alten Freunde ihr Wochenende in Wincroft verbringen (oder auch nicht), und das wäre es dann. Damit würde ich dem alten Spielzeugsegelboot aus meiner Kindheit den letzten Schubser verpassen, der es endgültig hinaus in die Mitte des Sees treiben würde, weit weg vom Ufer, für immer außer Reichweite.

Dann würde ich nie herausfinden, was mit Jim passiert war.

Ich fuhr weiter.

Die gewundene Straße schien mich vorwärtszutreiben; vergilbte Buchen huschten vorbei; eine Brücke; der unvermittelte Blick auf einen Hafen, in dem sich große weiße Segelboote zusammendrängten wie eine Herde hungriger Einhörner; dann waren sie wieder verschwunden. Ich staunte, wie gut ich mich an den Weg erinnerte: bei der Tankstelle links, an der Elm Street rechts ab, dann wieder rechts, bei der lebensgefährlichen Stelle mit dem Stoppschild, heruntergekommene Trailer mit platten Reifen und Wäscheleinen im Garten. Dann lichteten sich die Bäume und gaben den Blick frei auf die wunderschönste Weite von Himmel und Meer, die in der Dämmerung immer orange und rosa leuchtete.

Und da war es. Das schmiedeeiserne Tor mit dem großen W.

Es stand offen. Das Licht brannte.

Ich bog in die Einfahrt und trat aufs Gas, dass die Eichenzweige vorbeiflogen wie Bänder, die sich aus einem Zopf lösten, und der Wind durch die offenen Fenster heulte. Noch eine Kurve und dann sah ich das Haus, die Fenster hell erleuchtet, ein Klotz aus rotem Ziegel und Schiefer, die Wasser speienden Krähen hockten für immer oben auf dem Dach.

Als ich vor dem Haus ankam, hätte ich beinahe laut gelacht: Vier Autos standen da, ordentlich nebeneinander aufgereiht. Ich erkannte nur Marthas Honda Accord mit dem Aufkleber ALLE THEORIE IST RELATIV. Aber mit etwas Nachdenken konnte ich die anderen drei ohne Weiteres ihren Besitzern zuordnen.

Ich hatte mich so verändert. Sie nicht, nach den Autos zu urteilen.

Ich warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel und erschrak: zerzauster Pferdeschwanz, aufgesprungene Lippen, glänzende Stirn. Ich sah aus, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen und als Letzte ins Ziel getaumelt. Ich wischte mir mit einem Stück Küchenkrepp, den mein Vater immer in der Tür aufbewahrte, über die Stirn, zwickte mich in die Wangen und strich die losen dunkelbraunen Haarsträhnen hinters Ohr. Dann lief ich die Steinstufen hinauf und betätigte den Türklopfer, einen Löwenkopf aus Messing.

Nichts geschah.

Ich drückte auf die Klingel wie eine Verrückte, einmal, zweimal, dreimal direkt hintereinander, denn ich wusste, wenn ich auch nur einen Moment zögerte, würde ich die Nerven verlieren. Ich würde zurück auf den Meeresboden sinken wie ein verlorener Stiefel, der sich in einer Hummerfalle verfangen hatte.

Die Tür ging auf.

Kipling stand da, mit einer kinnlangen pinkfarbenen Perücke, einem blauen Polohemd, Bermudashorts und Flipflops. Er war unglaublich braun gebrannt und kaute auf einem roten Cocktailquirl herum, der ihm allerdings aus dem Mund fiel, als er mich sah.

»Allmächtiger«, sagte er mit seinem Baumwollplantagensound.

2

Große Auftritte finden im wirklichen Leben nicht statt. Jedenfalls nicht so, wie man sie sich vorstellt.

Was man sich vorstellt, ist irgendwas zwischen einer kolumbianischen Telenovela (Kreischen, fassungslose Gesichter, verlaufene Wimperntusche) und einem oscarverdächtigen Meryl-Streep-Moment (witzige Dialoge, Umarmungen, alle kommen zusammen und singen).

Stattdessen wirds peinlich.

Mein plötzliches Auftauchen in Wincroft war ein schlecht gezielter Torpedo, explosiv, aber danebengegangen. Als wir da unter dem Kronleuchter in der Eingangshalle standen, ich in meinen abgeschnittenen Jeans, Turnschuhen und eiscremebekleckerten T-Shirt, sie frisch geduscht und in hippen Edelklamotten, kam ich mir vollkommen lächerlich vor. Ich hätte nicht kommen sollen.

Sie wollten zu einem ausverkauften Punkrock-Konzert im Able Seaman in Newport, der Strandkneipe, in der wir in unserem Abschlussjahr etliche Wochenenden verbracht hatten, mit gefälschten Ausweisen und Dauertickets. In dem Moment, als ich kam, wollten sie gerade gehen, sodass wir etwas ratlos herumstanden.

Kip umarmte mich als Erster. Dann musterte er mich höflich, als wäre er bei einer Ausstellung und ich das kleine, unspektakuläre Gemälde, über das der Museumsführer endlos schwafelte.

Dann kam Whitley auf mich zugelaufen.

»O mein Gott, Beatrice.« Sie gab mir zwei Luftküsse. »Du bist tatsächlich gekommen. Wow.«

Sie war noch atemberaubender, als ich sie in Erinnerung hatte: hochhackige Stiefel aus Jeansstoff, die bis zum Oberschenkel reichten, ein Oversized-Sweatshirt mit einem Mund aus aufgestickten Perlen, schwarze Minishorts mit Fransen und ein Parfüm, das nach Gardenien und Leder roch. Sie sah aus wie aus einem Modemagazin gestiegen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie mal meine Freundin gewesen war. Zahllose Nächte hatten wir an der Darrow-Harker School in Warwick, Rhode Island, heimlich auf dem Bett gesessen, das Gesicht voller Pickelcremepunkte und Wollsocken an den Füßen. Ich hatte ihr Sachen erzählt, die ich sonst niemandem erzählt hatte. Jetzt kam mir das vor wie eine Szene aus einem anderen Film.

»Wie geht es dir, Bee?«, fragte sie und drückte meine Hände.

»Gut.«

»Das ist ja eine tolle Überraschung. Ich meine, ich könnte … Ich … Ach, verdammt. Wir müssen noch die Sitzauflagen reinholen. Es soll ja regnen.«

Und damit lief sie los, dass ihre langen blonden Haare auf dem Rücken tanzten. »Kip hatte recht«, rief sie, während sie in der Küche verschwand. »Er hat gemeint, du würdest irgendwann einfach wiederauftauchen wie eine Totgesagte aus einem Film, aber wir dachten, er spinnt. Ich war sicher, du würdest lieber sterben, als irgendwen von uns wiederzusehen. Jetzt schulde ich ihm fünfzig Dollar –«

»Hundert«, warf Kip mit erhobenem Zeigefinger dazwischen. »Versuch nicht, mich runterzuhandeln. Bei Schulden zu schummeln ist eine deiner schlechtesten Eigenschaften, Lansing.«

»Was? Ach, warte mal. Wir müssen Gandalf sein Prozac geben, sonst pinkelt er überallhin.«

»Gandalf hat Depressionen«, erklärte Kip mir mit Wichtigtuermiene. »Außerdem leidet er an einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Er ist eine Dänische Dogge, denkt aber, er wäre ein Schoßhündchen.«

»Ich kenne Gandalf«, sagte ich schwach.

»Beatrice.«

Cannon kam barfuß die Treppe heruntergelaufen, ein Paar Puma-Sneakers in der Hand. Auf der vorletzten Stufe blieb er stehen und betrachtete mich mit einem warmen Lächeln.

»Ich fasse es nicht. Schwester Bee höchstpersönlich. Wie gehts Gott?«

»Sehr witzig.«

Auch er sah verändert aus. Er trug immer noch sein Markenzeichen, das graue Hacker-Hoodie, aber es war nicht mehr ausgebeult und mit Käsecrackerkrümeln übersät, nachdem er damit zwei Wochen hintereinander im eiskalten Computerkeller in Darrow gehockt hatte. Es war aus Kaschmir. Cannon war eine kleine Berühmtheit geworden, als er in der Zehnten einen Bug in Apples Betriebssystem OS X entdeckt hatte: Wenn man versehentlich eine bestimmte Tastenkombination drückte, hängte sich das System auf und auf dem Bildschirm erschien die surreale Winterszenerie des Apple-Hintergrundbildes »Blue Pond«. Er taufte den Bug Cannon’s Birdcage und landete damit auf der Startseite von zahllosen Computerblogs. Das Letzte, was ich von ihm gehört hatte, war, dass er in Stanford Informatik studierte.

Er sprang von den Stufen und umarmte mich. Er roch wie teures Parkett.

»Was macht das College? Wie gehts deinen Eltern? Haben sie immer noch das kleine Café?«

»Ja.«

Er musterte mich mit wachem, aber undurchdringlichem Blick. »Echt schön da.«

»Hallo, Bee«, rief eine ernste Stimme.

Ich drehte mich um. Martha blinzelte mich durch ihre dicke Brille Marke »Irrer Professor« an, die ihr den alles sehenden Teleobjektiv-Blick verlieh, für den sie berühmt war. Statt ihrer üblichen Baumwollhose und Bluse trug sie zerrissene schwarze Jeans und ein Oversized-T-Shirt mit dem Aufdruck TORSCHLUSSPANIK. Ihre dünnen braunen Haare waren neonblau gefärbt.

»Hi«, sagte ich.

»Verrückt, du hast dich gar nicht verändert.« Kips Lächeln war so winzig wie einer von den kleinen Knöpfen in der Polsterung eines edlen Sessels. »Hast du dich gefriertrocknen lassen? Das ist unfair, Kleine, ich hab nämlich Krähenfüße und Gicht.«

Whitley tauchte wieder auf. Sie schnappte sich ihre hautfarbene Chaneltasche und schob ihre pedikürten Füße in ein Paar Lanvin-Slipper.

»Du kommst doch mit, oder?«, fragte sie, ohne mich anzusehen. So richtig begeistert klang sie nicht.

»Also, eigentlich –«

»Klar kommst du mit«, sagte Cannon und legte den Arm um meine Schulter. »Ich organisiere dir eine Karte. Legal oder illegal. Irgendwie klappt das schon.«

»Laissez les bons temps rouler«, sagte Kip und erhob sein Glas.

Ein Schweigen so groß wie Texas breitete sich aus, während wir hinausgingen. Nur unsere Schritte in der Einfahrt und der Wind, der an den Bäumen zerrte, waren zu hören. Mein Herz pochte heftig und mein Gesicht glühte. Ich wollte nichts lieber als in mein Auto springen, mit hundert Sachen davonjagen und so tun, als wäre nichts von alldem geschehen.

»Sollen wir mit zwei Autos fahren?«, fragte Martha.

»Wir sind zu fünft«, sagte Whitley. »Wenn wir uns zusammenquetschen, passen wir in meins.«

»Versprichst du mir, dass du wenigstens einmal in den Rückspiegel schaust, Kleine?«, fragte Kip.

»Wahnsinnig komisch.«

Wir kletterten in ihr waldgrünes Jaguar-Cabrio. Mit ernster Miene – was bei ihr bedeutete, dass sie nervös war – drückte Whitley ein paar Knöpfe auf dem Armaturenbrett. Der Motor gab ein elegantes Räuspern von sich und das Verdeck öffnete sich mit leisem Summen. Dann schossen wir die Einfahrt hinunter. Whitley beschleunigte wie ein Rennfahrer, zog eine Furche durch den Rasen und bretterte durch die Rhododendren. Ich saß hinten zwischen Kip und Martha und versuchte mich nicht zu sehr an sie pressen zu lassen.

Kip warf seine pinkfarbene Perücke in die Luft.

»Ahhhh!«, rief er, den Kopf in den Nacken gelegt, während die Perücke hinter uns in der Einfahrt landete. »Nach langer Pause ist die Band wieder vereint! Lasst uns auf ewig zusammenbleiben! Lasst uns auf Welttournee gehen!«

Und was ist mit dem Leadsänger?, fragte ich mich.

Was ist mit Jim?

........

Die Vorgruppe spielte schon, als wir ankamen. Zum Reden war keine Zeit. Wir schoben uns durch das Gedränge. Während Whitley auf den Türsteher zusteuerte, ging Martha schon mal rein, um einen Tisch zu organisieren, und Cannon fragte ein paar Typen mit Bürstenschnitt und Bierfahne, ob sie noch eine Karte übrig hatten. Ich stand derweil nutzlos ans Geländer gequetscht und wartete.

»Geht einfach ohne mich rein!«, rief ich Kip zu, der plötzlich neben mir auftauchte.

»Kommt gar nicht infrage.« Er hakte sich bei mir ein. »Jetzt, wo wir dich wiedergefunden haben, lassen wir dich nie wieder gehen. Ich sauge mich an dir fest wie eine Entenmuschel. Finde dich damit ab, Kleine.«

Ich lachte. Es kam mir vor wie der Beginn des ersten richtigen Gesprächs an diesem Abend.

Kipling und ich hatten uns immer gut verstanden. Er war groß und schlaksig, mit rostroten Haaren und dem »Gesicht eines altmodischen Gentlemans«, wie er sich selbst beschrieb, und er war der witzigste Mensch, dem ich je begegnet war. Er war exzentrisch und seltsam, wie ein halb kaputter Talisman auf dem verstaubten Regal eines Antiquitätenladens, der eine erschütternde Vergangenheit erahnen ließ und Glück versprach. Außerdem war er schwul, obwohl er behauptete, er interessiere sich mehr für eine gut erzählte Geschichte als für Sex, und er sah in Darrow eher eine Art Country Club als eine Lehrinstitution. Eine Verabredung mit Kipling in der Bibliothek, um zusammen zu lernen, endete regelmäßig in einer Flut von Anekdoten und Anmerkungen über das Leben, seine Freunde und die zahlreichen bunten Charaktere aus seiner kleinen Heimatstadt Moss Bluff in Louisiana – so als säßen wir nicht in einem engen Kabuff, um für unsere Prüfungen zu büffeln, sondern entspannt mit einem Cocktail auf einer Veranda. Obwohl er ebenso reich war wie die anderen (»Geld aus einer eingegangenen Kaufhauskette«), hatte ihm seine Furcht einflößende Mutter, Momma Greer, eine »ziemlich miese Kindheit« beschert.

Niemand wusste Genaueres über Momma Greer, abgesehen von den Details, die Kipling manchmal ohne Vorwarnung wie eine Handvoll Konfetti in die Luft warf. Als Kleinkind hatte sie ihn tagelang in Zimmer 2 des Royal Sonata Motel eingesperrt (»im Erdgeschoss neben den Automaten, damit sie sich verdrücken konnte, ohne zu bezahlen«), mit nichts zu essen außer einer Packung Doppelkekse und Delta Burke als einziger Gesellschaft, die auf dem Shoppingkanal Modeschmuck anpries. Durch ihre Nachlässigkeit war Kipling mit fünf von einem Pitbull angegriffen worden, der in einem Garten angekettet war. Das Tier hatte ihm drei Finger der linken Hand abgebissen und einen »kleinen Haibiss« auf seinem Kinn hinterlassen – Entstellungen, die er stolz präsentierte wie einen Verwundetenorden.

»Nennt mich einfach Phantom der Oper«, sagte er oft und wedelte einem mit seiner verkrüppelten Hand vor dem Gesicht herum. Als das Gericht seiner Mutter schließlich das Sorgerecht entzogen hatte, war er zu einer gebrechlichen Tante gekommen, aber von dort war er immer wieder weggelaufen, zurück zu Momma Greer.

Soweit ich wusste, war sie inzwischen in einer psychiatrischen Klinik in Baton Rouge.

Ich wollte ihn gerade fragen, wie das letzte Jahr für ihn gewesen war, doch in dem Moment kam Whitley dazu, packte mich wortlos am Handgelenk, wie es so ihre Art war, und zog mich durch die Menge. Sie hatte irgendwie den Türsteher überredet, mich ohne Karte reinzulassen, und dann saßen wir alle an einem reservierten Tisch in der ersten Reihe und sahen einem Mädchen mit strähnigen Haaren zu, wie sie einen auf Kurt Cobain machte.

Es war seltsam. Der Drummer sah Jim total ähnlich. Ich wusste nicht, ob die anderen es auch bemerkt hatten, aber er sah aus, als wäre er Jims jüngerer Bruder – schokobraune Augen, Strubbelkopf und der wehmütige Blick eines verstoßenen Prinzen. Da es viel zu laut war, um sich zu unterhalten, schauten wir alle nur auf die Band, jeder im Sumpf seiner Gedanken versunken.

Vielleicht war ich die Einzige, die in der Luft hing. Vielleicht hatten die anderen alle ein tolles erstes Collegejahr hinter sich und das, was mit uns geschehen war, und sogar Jims Tod waren für sie nur so eine Art verblichenes, tausend Mal gewaschenes T-Shirt.

Damals in Darrow waren sie meine Familie gewesen. Sie waren die ersten richtigen Freunde, die ich je gehabt hatte, eine Handvoll Leute, die so lebendig und loyal waren, dass ich über mein Glück staunte wie ein Kind, das in eine große Dynastie hineingeboren worden war. Wir waren eine Clique, ein Geheimclub, um den uns alle anderen Schüler in Darrow beneideten, obwohl wir davon kaum etwas mitbekamen. Echte Freundschaft macht einen blind für die Außenwelt. Sie ist wie ein privilegiertes Land mit geschlossener Grenze, unfairer Vergabe von Greencards und einer reichen Kultur, die kein Fremder versteht. Von ihnen abgeschnitten, durch meine eigene Entscheidung für ein Jahr in Verbannung, fühlte ich mich entwurzelt und schäbig, reduziert auf ein ruheloses Dasein aus Koffern, möblierten Zimmern und Straßen, die ich nicht kannte.

Jims Tod war wie ein Erdbeben gewesen, das ganze Städte verschlang. Obwohl ich das vergangene Jahr in der Gewissheit verbracht hatte, dass meine Freunde mehr darüber wussten, als sie mir sagten, war mir auch klar gewesen, dass die Wahrheit mit jedem Tag, der verging, weiter in die Ferne rückte. Ich hatte Whitleys Postings auf Snapchat verfolgt und ab und zu hatte ich die vier dort zusammen gesehen. Sie wirkten so fröhlich und unbeschwert.

Als wäre nichts passiert.

Doch jetzt sah ich, dass sich die Dynamik zwischen ihnen verändert hatte.

Kip trommelte immer wieder mit seiner verkrüppelten Hand auf dem Tisch herum. Whitley sah dauernd auf ihr Handy. Martha schien ungewöhnlich schlechte Laune zu haben und kippte einen Schnaps nach dem anderen hinunter, ein Zeug namens »Der Untergang der General Grant«, das schmeckte wie Rohöl. Einmal ertappte ich sie dabei, wie sie mich mit leicht vorwurfsvoller Miene ansah. Ich lächelte ihr zu, doch sie wandte sich ab wie eine von diesen Urwaldpflanzen, die sich bei der geringsten Berührung zusammenziehen, und blickte danach stur in eine andere Richtung. Einmal, als Cannon sich zu Whitley beugte, um ihr etwas zu sagen, strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und ich fragte mich, ob die beiden wieder zusammen waren. Doch es schien mehr Gewohnheit zu sein.

Als die Vorgruppe fertig war, wollte ich nur noch weg. Ich wollte mir ein Taxi nach Wincroft nehmen, in den Pick-up von meinem Dad steigen, verschwinden und nie wieder zurückblicken. Was hatte ich denn erwartet – dass die Wahrheit einfach da sein würde, unübersehbar wie ein riesiges Unkraut zwischen Tulpen, das nur darauf wartete, dass ich es ausriss?

Doch ich blieb. Ich hörte mir die nächste Band an und die danach. Ich trank die Moscow Mules, die Whitley mir hinstellte. Ich ließ mich von Kipling vom Stuhl ziehen und tanzte Charleston und Foxtrott mit ihm, ließ mich von ihm unter den hüpfenden Papierlampions und den Postern von gesunkenen Schiffen gegen die Surfertypen, Elitestudenten und Biker wirbeln.

Nur noch ein bisschen, dachte ich, dann frage ich sie nach Jim.

Als die nächste Band zu Ende gespielt hatte, wollte Whitley zurück nach Wincroft, aber Cannon war verschwunden. Wie sich herausstellte, war er draußen hinter der Kneipe und half einem Mädchen, das zu viel getrunken hatte und vorm Notausgang umgekippt war.

»Unser edler Retter«, sagte Whitley.

Ans Geländer gelehnt sahen wir zu, wie Cannon mit der Effizienz eines Lobbyisten in Washington Freundinnen, Handtasche, Sandaletten und iPhone des Mädchens auftrieb. Er fand sogar ihre Haarspange und klipste ihr damit sanft die Haare aus dem Gesicht, damit sie nicht weiter daraufkotzte. Ihre Freundinnen, die genauso betrunken waren, starrten ihn staunend an.

»Bist du echt?«

»Hast du ’ne Freundin?«

»Wer bist du?«

Cannon strich sich durchs Haar. »Ich bin Batman.«

»Nicht schon wieder«, seufzte Whitley.

Cannon sah nicht gut aus. Er war schmächtig, mit straßenköterblonden Haaren und blassen, verwaschenen Gesichtszügen. Aber er hatte eine atomare Intensität, die jedes Mal Furcht und Schrecken verbreitete, wenn er sie auf die Welt losließ. Schnell wie ein stark aufgeladenes Ion und zielsicher wie ein Maschinengewehr hatte Cannon gleich in seiner ersten Woche Darrows Intranet gehackt, um dessen Sicherheitslücken aufzuzeigen (woraufhin er de facto zum Technikguru der Schule wurde). Er gestaltete den halb vergammelten Skulpturengarten und die Ringkampfhalle neu. Er war Klassensprecher und organisierte Demos, Marathons und Spendensammlungen für gefährdete Arten und Mädchenrechte. Cannon gab selbst zu, dass seine offene, gesellige Art und sein Aktivismus ein Ausgleich dafür waren, dass er früher ein pathologisch schüchterner Computerfreak gewesen war; er hatte Spielberg-Filme, Ray Kurzweil und Achtzigerjahre-Pop von The Cure geliebt und keine Freunde gehabt außer einer imaginären Fliege namens Pete, die in seinem Computer lebte. Er war adoptiert, aufgezogen von einer alleinstehenden Mutter, die Richterin am Superior Court in Kalifornien war. Wenn man ihn mit Whitley zusammen sah – die jeden von Darrows Country-Club-Jungs hätte haben können, mit Stammbaum und zweitem Vornamen wie Chesterton –, dachte man zuerst, die Prinzessin hätte sich versehentlich mit dem Knecht eingelassen, aber wenn man Cannon besser kennenlernte, erkannte man, dass die Rolle des Prinzen für ihn viel zu trivial war. Er war der König – oder zumindest wollte er es sein. Er war auf eine stille Weise der ehrgeizigste Mensch, der mir je begegnet war.

»Gibts sonst noch ein hilfloses Wesen in Not, das du retten musst?«, fragte Whitley, als Cannon zu uns zurückkam, nachdem er das Mädchen und ihre schwankenden Freundinnen in ein Taxi verfrachtet hatte.

Er breitete in ironischer Siegespose die Arme aus. »Der Barkeeper sieht aus, als würde er eine Erkältung kriegen. Aber nein. Meine Arbeit hier ist beendet.«

»Dem Himmel sei Dank, ich brauch nämlich meinen Schönheitsschlaf«, sagte Kip und gähnte.

Wir quetschten uns wieder in den Jaguar.

Dummerweise wollte das Verdeck nicht wieder hochgehen, obwohl Whitley zigmal auf die Knöpfe drückte. Es ließ sich auch nicht von Hand hochklappen.

Cannon erbot sich zu fahren, aber Whitley blieb stur. Es fing an zu schütten, und zwar so, dass mehr Regen in der Luft war als Luft. Die halbstündige Rückfahrt war eine Qual. Betrunken und frierend drückten wir uns auf dem Rücksitz aneinander. Irgendwann kotzte Martha auf ihre Füße, während wir zitternd unter EZS Burts gruseligem Trenchcoat kauerten, den Whitley im Kofferraum gefunden hatte. Von vorne rief Whitley, dass sie kaum noch was sehen könne. Als wir um die nächste Kurve rasten, stießen wir fast mit einem Abschleppwagen zusammen.

Der Fahrer hupte. Whitley riss das Steuer herum, die Reifen quietschten, und wir schrien alle auf, als der Wagen von der Straße abkam und holpernd im Graben landete. Kip schlug mit dem Kopf gegen den Sitz. Whitley stellte den Motor aus, fing an zu schluchzen und schrie Cannon an, das sei alles seine Schuld – bloß weil er mal wieder ein paar Mädchen beeindrucken musste, um sein mangelndes Selbstbewusstsein aufzupolieren, wären wir um ein Haar gestorben. Sie riss ihm die Baseballkappe vom Kopf und schleuderte sie in die Dunkelheit. Dann kletterte sie aus dem Auto, rief, sie würde schon alleine nach Hause kommen, und rannte in den Wald. Ich spürte, dass ihre Wut mit dem Regen und dem knapp vermiedenen Zusammenstoß zusammenhing, aber auch mit mir, weil ich einfach ohne Vorwarnung aufgetaucht war.

Cannon lief hinter ihr her. Ein paar Minuten später kam er mit ihr zurück. Sie weinte und hatte sein Hoodie an. Er manövrierte sie vorsichtig wie einen wilden Vogel mit gebrochenem Flügel auf den Beifahrersitz und flüsterte: »Alles wird gut, Shrieks.«

Es war dann Cannon, der uns nach Hause brachte.

........

Als wir fünf klatschnass und betrunken ins Haus taumelten, fühlte sich das Ganze zum ersten Mal normal an. Es war wie früher. Dem Himmel sei Dank für das kaputte Verdeck. Unsere Begegnung mit dem Tod brachte das Eis zum Schmelzen. Übermütig und zähneklappernd rissen wir uns die nassen Sachen vom Leib und warfen sie in einem Haufen auf den Boden, den Gandalf winselnd umkreiste. Whitley verschwand nach oben. Martha kroch auf allen vieren zum Kamin und stöhnte: »Ich spüre meine Beine nicht mehr.« Cannon ging hinunter in den Weinkeller und kam mit vier Flaschen Chivas Regal Royal Salute zurück. Er goss jedem von uns einen kräftigen Schluck in ein rosa Champagnerglas. Whitley kam zurück und warf einen Riesenhaufen weiße Bademäntel auf das Sofa wie einen Armvoll Leichen.

»Ich hab noch nie so eine Angst gehabt«, sagte sie kichernd.

Da klingelte es an der Tür.

Wir richteten uns alle auf und sahen uns verwundert an. Zählten im Stillen. Wir waren komplett.

»Hat jemand die Geisterjäger gerufen?«, nuschelte Martha.

»Ich gehe«, sagte Cannon. Er salutierte schwankend und ging hinaus in die Eingangshalle. Wir schwiegen und lauschten, doch das einzige Geräusch war das Trommeln des Regens auf dem Dach.

Kurz darauf kam er zurück.

»Es ist irgend so ein alter Knacker. Mindestens hundert Jahre alt.«

»Das ist Alastair Totters«, sagte Martha.

»Wer?«, fragte Cannon.

»Der fiese Zeitreisende aus Das dunkle Haus«, murmelte Martha.

»Nein, nein«, flüsterte Kip grinsend. »Das ist der sprichwörtliche Tattergreis mit Alzheimer, der aus seinem Altersheim abgehauen ist. Ohne seine Medikamente. Die verschwinden immer ohne ihre Medikamente.«

»Soll ich ihn auf einen Absacker hereinbitten?«, fragte Cannon mit schelmischem Zwinkern.

»Nein«, zischte Whitley. »So fangen Horrorfilme an.«

»Drittes Kapitel«, murmelte Martha.

»He«, sagte Cannon und zeigte mit dem Finger auf Wit. »Das ist aber nicht sehr nett. Ich bitte ihn jetzt herein –«

»NEIN!«

Dann liefen wir alle stolpernd und kichernd in die Halle, um uns den Typen selbst anzusehen. Wir drängten uns vor dem Guckloch, sodass wir mit den Köpfen zusammenstießen. Irgendwie war ich überzeugt, dass Cannon uns hochnahm, dass da draußen gar keiner war.

Doch da war jemand. Ein alter Mann.

Er war groß, mit dichtem, schlohweißem Haar. Sein Gesicht konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, aber er trug einen dunklen Anzug mit Krawatte. Er beugte sich lächelnd vor, als könnte er mich durch das Guckloch sehen.

Cannon öffnete die Tür mit einer Verbeugung.

»Guten Abend, Sir. Können wir Ihnen behilflich sein?«

Der Mann antwortete nicht sofort. Etwas an der Art, wie er uns der Reihe nach musterte, brachte mich auf den Gedanken, dass er uns von irgendwoher kannte.

»Guten Abend«, sagte er. Seine Stimme klang überraschend angenehm. »Gestattet ihr, dass ich eintrete?«

Keiner von uns antwortete, weil die Frage so anmaßend und merkwürdig war. Auf mich wirkte er nicht senil. Der Blick seiner tiefgrünen Augen, die im Schein der Außenlampe funkelten, war klar und wach.

»Ach, Sie sind bestimmt der Nachbar«, sagte Whitley und trat neben Cannon. »Wenn es um Burts Segelboot geht, die Andiamo, die vor Ihrem Anleger liegt, soll ich Ihnen sagen, dass er Probleme mit dem Anker hatte und sich nächste Woche darum kümmert, dass sie abgeschleppt wird.«

»Ich bin kein Nachbar.«

Wieder musterte er uns, diesmal abwartend.

»Es wäre wirklich am besten, wenn ich hereinkäme, um es euch zu erklären.«

»Sagen Sie uns hier, was Sie wollen«, erwiderte Cannon.

Der Mann nickte. Er wirkte nicht überrascht. Da fielen mir zwei bizarre Dinge auf.

Erstens: Er sah aus wie Mr Joshua, der Musikleiter von Darrow. Einen Moment lang glaubte mein betrunkener Verstand, es wäre Mr Joshua und ihm wäre in dem Jahr, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, etwas Schreckliches zugestoßen. Vielleicht hatte er eine Tragödie durchgemacht und war um fünfundzwanzig Jahre gealtert, das Haar ergraut, die Haut voller Falten. Doch es war nicht Mr Joshua. Mr Joshua war schmächtig und rosig und immer zum Lachen aufgelegt. Dieser Mann war knochig, mit einem Raubvogelgesicht, das sich gut auf einer ausländischen Münze oder einem Denkmal gemacht hätte. Es war eher so, als wäre er der Zwillingsbruder von Mr Joshua, als wären die beiden nach der Geburt getrennt worden und hätten vollkommen unterschiedliche Leben geführt – Mr Joshua ein fröhliches und dieser Mann ein leiderfülltes, das tiefe Spuren hinterlassen hatte.

Zweitens: Er hatte keinen Schirm bei sich und es stand kein fremdes Auto in der Einfahrt. Wie war er dann hierhergekommen, ohne auch nur einen Tropfen abzukriegen? Die Frage hing beunruhigend in der Luft wie ein diffuser Gasgeruch.

»Ihr seid alle tot«, sagte er.

3

»Oje. Bitte entschuldigt. Das ist so nicht richtig.«

Der alte Mann bedeckte seine Augen mit der Hand und schüttelte den Kopf. »Ich habe übertrieben. War zu sehr auf die dramatische Wirkung bedacht. Es tut mir leid. Wir fangen noch mal von vorne an, ja?«

Er räusperte sich lächelnd.

»Ihr seid alle beinahe tot. Festgehalten in einem Raum zwischen Leben und Tod. Für euch hat die Zeit einen Sprung bekommen, wie eine Schallplatte, und bildet jetzt eine geschlossene Potenzialitätsschleife, eine Art Wache in der sogenannten Niemalswelt.«

Nun wirkte er zufrieden. Er nickte und fuhr fort.

»Dieses Phänomen ist nichts, was nur euch betrifft. Solche Momente ereignen sich gleichzeitig in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überall auf der Welt und im ganzen bekannten und unbekannten, zerknüllten und entfalteten Universum. Die Zeit bewegt sich nicht in einer geraden Linie. Sie biegt sich und läuft durch Tunnel und über Brücken. Sie beschleunigt und verlangsamt sich. Manchmal entgleist sie sogar. Nun, wie auch immer. Im Moment existiert ihr innerhalb dieser Schleife, und dort werdet ihr bis auf Weiteres auch bleiben.«