Niemand - Godehard Stein - E-Book

Niemand E-Book

Godehard Stein

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Beschreibung

Was wäre, wenn du dir alles erlauben könntest und niemand würde dich dafür belangen? Was wäre, wenn du die absolute Freiheit hättest, die dir keiner nehmen kann? Was wäre, wenn du die perfekte Tarnung besäßest, dich verwandeln oder einfach unsichtbar machen könntest? Ein junger Mann besitzt diese grenzenlose Freiheit. Er kann tun und lassen, was er möchte - dank einer Gabe, die Segen und Fluch zugleich ist. Und obwohl er sich überall hin bewegen kann, sitzt er doch in Einzelhaft! Möchtest du in seine Haut schlüpfen?

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Seitenzahl: 293

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Don’t forget me, I can’t hide it

Come again, get me excited

Red Hot Chili Peppers

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Siebenunddreissig

Achtunddreissig

Neununddreissig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Nachwort

EINS

Es war einfach unglaublich, wie leicht die Sache mit dem Auto wieder einmal geklappt hatte. Für die Probefahrt mussten nur ein paar Papiere vorgelegt werden, die sich der gewinnend lächelnde Händler noch nicht einmal richtig ansah. Dabei waren die Fälschungen an Dilettantismus kaum zu überbieten. Die ursprünglichen Passbilder wurden einfach überklebt. Im alten Führerschein aus rosafarbenem Papier musste danach noch ein Stempel nachgemalt und der Personalausweis abschließend laminiert werden. Der Händler kopierte die Dokumente und reichte sie zurück, ohne dass ihm daran irgendetwas verdächtig vorkam, auch wenn der Besitzer der Dokumente offensichtlich längst der Scheckkartengeneration angehören musste. Schon wurden die Schlüssel für den schwarzen Audi ausgehändigt. Und das war inzwischen drei Wochen her.

Der junge Mann stand lässig an eine Zapfsäule gelehnt und wartete in aller Seelenruhe darauf, dass der große Tank gefüllt war. Wie gewöhnlich dauerte der Vorgang einige Minuten. Das leise Gurgeln im Tank hatte etwas Beruhigendes; dabei konnte man schon einmal die Gedanken schweifen lassen. Unter dem Wellblechdach der Tankstelle hingen zwei Kameras, zu denen der junge Mann lächelnd aufsah. Er trug wie immer eine Jeans, Turnschuhe, ein kariertes Hemd und eine Ray-Ban-Sonnenbrille – letztere nicht, um sich dahinter zu verbergen, sondern einfach, weil es Mittag an einem außerordentlich hellen Sommertag war. Wenn man ihn dort so stehen sah, fiel an ihm nichts Besonderes auf, nichts, was irgendwie bemerkenswert gewesen wäre. Er war ein Mittzwanziger von durchschnittlicher Größe1, mit dunkelblonden, kurzen Haaren und einem Drei-Tage-Bart – eben genau der Typ Mann, der neuerdings mit solchen nicht gerade billigen Limousinen herumfuhr. Außergewöhnliche Merkmale fehlten an ihm ebenso wie ein Hinweis darauf, dass dieser auf den ersten Blick recht liebenswerte Mensch durchaus zu kriminellen Handlungen fähig war.

Heute hatte der junge Mann dem Wagen zur Abwechslung einmal Kennzeichen aus dem Süden – Landkreis Reutlingen – verpasst. Er hatte sie am Vorabend zufällig auf einem Parkplatz gefunden, wo sie völlig unbeachtet an einem Lieferwagen herumhingen. Obwohl der Audi genau wie sein derzeitiger Fahrer augenscheinlich nicht eben außergewöhnlich war, schien es sinnvoll zu sein, die Nummernschilder regelmäßig auszutauschen – zumindest wenn man nicht ständig das Fahrzeug wechseln wollte. Natürlich galt es ohnehin, nicht unnötig aufzufallen, aber wie hieß es doch so schön: Unverhofft kommt oft. Damit es zu keiner weiteren vermeidbaren Konfrontation mit irgendwelchen Gesetzeshütern kommen konnte, war lediglich etwas Disziplin erforderlich.

An der Tankstelle herrschte kein besonders reger Betrieb. Ein ehemals weißer, nun jedoch von einer grauen Staubschicht überzogener Pritschenwagen einer Baufirma stand vor dem Eingang zum „Super Mini Markt“. Der Fahrer, ein untersetzter, verschwitzter Kerl in Arbeitshose und Feinrippunterhemd, mit sonnenverbrannter Haut und klebrigen schwarzen Locken, die dem Vokuhila-Trend der frühen Achtziger treu geblieben waren, kam gerade aus dem Eingang und trug – wen wundert’s? – ein Sechserpack Bier und eine Ausgabe des Boulevardblatts mit den vier großen Buchstaben zu seinem Fahrzeug. Offenbar hatte der Mann genauso wenig Angst vor seinem Chef wie vor Klischees.

Eine Zapfstelle weiter fuhr ein alter schwarzer VW Golf vor, dem schwungvoll eine junge Frau entstieg. Die hübsche Dunkelblonde lächelte zu dem jungen Mann herüber, bevor sie sich am Tankdeckel ihres Wagens zu schaffen machte. Ihre zartgelbe Bluse spannte dabei reizend über den sehr weiblichen Rundungen. Ein echter Hingucker! Leider kam ein zweiter Blickkontakt nicht mehr zustande, hätte vermutlich aber auch kaum etwas an der Situation geändert. Die junge Frau erweckte nicht den Eindruck, dass sie zu flüchtigen Flirts mit Wildfremden an der Tankstelle neigte. Und letztlich war der junge Mann für sie ohnehin nur irgendein Fremder, ein Niemand sozusagen.

Der Zapfhahn klickte und gab damit zu verstehen, dass die Wartezeit nun ein Ende hatte. Lässig zog der junge Mann ihn aus der Tanköffnung, hängte ihn ordnungsgemäß an die Säule, verschloss den Stutzen und stopfte dann die Einmalhandschuhe in den überquellenden Mülleimer. Dann ging er zur Fahrertür des Audis, sah sich lächelnd um, stieg ein und brauste davon. Wie schon so oft hatte niemand Verdacht geschöpft, dass er nicht im Traum daran dachte, zu bezahlen. So ging er schon recht lange vor und war offensichtlich sehr erfolgreich damit. Die fehlenden Liter schmerzten die Ölkonzerne nicht spürbar und auch die Tankstellenbetreiber würden höchst wahrscheinlich nicht verhungern. Ein schlechtes Gewissen plagte den jungen Mann ganz und gar nicht. Die letzten Skrupel hatte er schon vor Jahren abgelegt wie ein altes Jackett, denn schließlich holte er sich nur, was ihm zustand. Die Gesellschaft, die Welt, sogar das Leben an sich war ihm das auf jeden Fall schuldig.

Nach einigen Kilometern auf der Landstraße war klar, dass auch diesmal niemand zu einer wilden Verfolgungsjagd aufgebrochen war. Vermutlich konnte kein Mensch so schnell reagieren, wenn ein junger Mann nach dem Tankvorgang zur allgemeinen Verblüffung nicht ins Kassenhäuschen, sondern aufs Gaspedal trat. Doch war ein wenig Vorsicht immer ratsam. Allein deswegen wechselte er Fahrzeuge und auch deren Nummernschilder in unregelmäßigen Intervallen. Den silbergrauen Volvo XC60, den er zuvor gefahren hatte, ließ er, wenngleich mit ein wenig Wehmut, vor drei Wochen einfach auf einem Supermarktparkplatz stehen – und das ungeachtet der Höchstparkdauer von zwei Stunden, was an und für sich schon reichlich kriminell war. Anschließend betrat er das gegenüberliegende Audi-Autohaus.

An solche Wagen konnte man sich schon gewöhnen, dachte der junge Mann. Früher hatte er sich oft gefragt, wie man sich ein Fahrzeug dieser Klasse mit einem normalen Gehalt überhaupt leisten konnte. Die naheliegende Antwort hätte wahrscheinlich „gar nicht“ lauten müssen. Inzwischen wusste er aber nur zu gut, dass das sogar ganz ohne geregeltes Einkommen klappte. Manche junge Menschen, vornehmlich Geschlechtsgenossen, schienen ihre Karossen allein vom Taschengeld zu finanzieren, denn für eine anständige Karriere fehlten ihnen einfach einige Jahre und in den meisten Fällen wohl auch eine abgeschlossene Schulbildung. Auch der junge Mann war noch nicht besonders alt. Einen Abschluss hatte er aus ganz besonderen und sehr persönlichen Gründen nie zustande bringen können. Und doch war er alles andere als ungebildet. Seine Kompetenzen musste er nur eben auf autodidaktischem Weg erlangen2. Beruflich – wenn man das so nennen durfte – hatte sich der junge Mann schon länger auf den Nulltarif spezialisiert – und seine Karrierekurve verlief steil nach oben, wenn auch weit jenseits rechtlicher Grenzen und damit vermutlich alles andere als anständig. Vielleicht, dachte er manchmal, waren alle Besitzer solcher Limousinen irgendwie kriminell, jeder auf seine Weise.

Nicht, dass Kriminalität automatisch mit Luxus und Wohlstand einhergingen. Immer häufiger fiel dem jungen Mann auf, dass gerade die Menschen, die ein nicht eben billiges Fahrzeug steuerten, vermutlich ihren finanziellen Spielraum hemmungslos überreizt hatten. Wahrscheinlich rührte die monetäre Misere daher, dass sie auf absolut lässige Weise Verkehrsschilder ignorierten, um über Bußgelder letztlich doch noch ihren Dienst an der Gemeinschaft zu leisten. Daraus resultierend konnte man häufig genau diese Leute dabei beobachten, wie sie sich in langen Schlangen vor besonders günstigen Tankstellen einreihten, wo sie mitunter eine halbe Stunde lang warteten, um ein paar Cent zu sparen. Oder sie telefonierten wieder einmal mit dem Handy am Ohr, vermutlich weil das Geld für eine einfache Freisprecheinrichtung nicht mehr gereicht hatte. Der junge Mann fiel diesbezüglich wohl völlig aus der Reihe. Er hielt sich grundsätzlich peinlich genau an Geschwindigkeitsbegrenzungen, zum Einen um unnötigen Ärger zu vermeiden, zum Anderen aber auch, weil er es absolut niemals eilig hatte. Darüber hinaus besaß er, schon in Ermangelung eines Gesprächspartners, überhaupt kein Handy und die Benzinpreise waren ihm bei seiner speziellen Art zu Tanken weiß Gott herzlich egal.

Im Radio wurde gerade die Musik von einem durchgeknallten Moderator unterbrochen, der einen reichlich geschmacklosen Alzheimer-Witz von sich gab. Der junge Mann konnte darüber nicht mal ansatzweise schmunzeln. Er fragte sich, ob man für einen solchen Beruf eine spezielle Ausbildung brauchte: Keine journalistische, sondern eine, in der das Niveau mühsam, aber gezielt unter den niedrigsten Stand eines normalen Menschen gedreht wurde. Vielleicht, so dachte er, engagierten manche Sender aber auch gezielt solche Personen, die in einem standardmäßigen Intelligenztest sang- und klanglos durchgefallen wären. Im Vergleich zu dem Typen, der sich dort gerade offenbar als einziger Mensch im Sendebereich über seine Zote amüsierte, war der Bauarbeiter von vorhin ein geradezu bildungshungriger Leser und seine erworbene Lektüre ein sozialwissenschaftliches Fachjournal.

Endlich folgte im Radio ein neuer Titel, etwas Rockiges. Schlagartig besserte sich die Laune des jungen Mannes wieder und er bog ab auf die Autobahn – einfach, weil die Auffahrt zufällig gerade da war. Ein Ziel hatte er nicht, keinen Ort, an dem er zu irgendeiner bestimmten Zeit hätte sein müssen – und keinen, der dort auf ihn warten würde. Immerhin hatte dieser Umstand einen Vorteil: Der junge Mann war niemandem Rechenschaft schuldig für seine Taten. Keine bohrenden Fragen. Keine anklagenden Blicke. Keine Moralpredigten. Nicht einmal das bedeutungsschwangere Schweigen der Mutter. Das war echte Freiheit! Und doch viel mehr, als der junge Mann sich wünschte.

Im Rückspiegel blitzte eine Lichthupe mehrmals auf. Der junge Mann, gedankenversunken mit Tempo 120 auf der linken Spur unterwegs, schreckte plötzlich auf. Er wechselte die Spur und ließ den Drängler passieren. Dieser gestikulierte wild, als die Fahrzeuge auf gleicher Höhe waren, was dem jungen Mann jedoch nur ein flüchtiges, mitleidiges Lächeln entlockte. Dieser arme Mensch, der da mit seinem 7er BMW stark beschleunigte, schien es sehr eilig zu haben. Natürlich konnte es sein, dass er gerade ganz dringend zum tollsten Job der Welt kommen wollte. Vielleicht wartete auf ihn auch eine bezaubernde Frau. Möglicherweise war beides der Fall – es stand jedoch zu befürchten, dass es eher auf ein „weder noch“ hinauslief. Jedenfalls war die Eile ausgesprochen unvernünftig und völlig überflüssig, aber der junge Mann vertrat schon länger die Meinung, dass es kein intelligentes Leben auf der Überholspur gebe.

Nach einer guten Stunde Autobahnfahrt machte sich sein Magen bemerkbar und gab zweifelsfrei zu verstehen, dass die Essenszeit lange überfällig war. Das gutturale Knurren erinnerte fast an das eines ziemlich großen Raubtieres. Beinahe hätte ein geneigter Zuhörer meinen können, er befände sich gerade in einer realen Version des Jurassic Park. Wenn jetzt noch ringförmige Wellen im Kaffeebecher aufträten, stünde der T-Rex vermutlich bereits hinter der nächsten Ecke.

Davon gab es freilich auf Autobahnen keine – also, Ecken eben, und höchstwahrscheinlich genauso wenige baumhohe Raubsaurier. Der junge Mann nahm die nächste Ausfahrt im Irgendwo und entschied sich spontan dafür, heute einen Fastfood-Tag einzulegen. Mittlerweile hatte jedes Kaff eine Dönerbude, sogar solche Orte, in denen man sich bis vor kurzem mittels Trommeln verständigt hatte und wo ausländische Mitbürger so selten waren wie Einhörner – oder sogar noch seltener. Vielleicht wie Ehebrecherinnen in Teheran, dachte der junge Mann und rügte sich postwendend im Geiste selbst für diesen geschmacklosen Vergleich. Manchmal erschrak er sich vor seinen eigenen Gedanken, die vielleicht nur daher rührten, dass ihm von seinen Mitmenschen auch nicht gerade viel Mitgefühl entgegen gebracht worden war. Oder dieser unsägliche Radiomensch hatte es irgendwie geschafft, seinen Unfug durch den Äther auf ihn zu übertragen.

Nichtsdestotrotz hätte man sich eigentlich fragen müssen, woher die vielen Imbissbuden so plötzlich kamen. Aber darüber wunderte sich scheinbar niemand, genauso wenig wie über Champignons auf einer Schafweide. Immerhin zeichneten sich solche Läden meist durch gähnende Leere aus. Genau das Richtige für jemanden, der weder das Geld, noch die Absicht zum Bezahlen mitbrachte.

Aus den Lautsprechern drang ein Song, bei dem der junge Mann unwillkürlich schmunzeln musste. Sting‘s „Stolen Car“ passte so perfekt zur Situation, fast als ob eine Jukebox-Gottheit in der Sendeanstalt ein kleines Wunder gewirkt hätte. Das Barometer der guten Laune stieg noch weiter an, als hinter einer Kurve in nicht allzu großer Entfernung eine vertraute Leuchtreklame auftauchte, die für eine spontane Planänderung3 sorgte: Heute sollte es doch kein türkisches Fladenbrot geben, denn nun hatte der junge Mann wieder einmal richtig Lust auf einen schönen großen Hamburger. Den konnte er jetzt schon förmlich riechen und schmecken. Hin und wieder durfte man sich eben auch so etwas gönnen. Und das Leben wurde durch Spontaneität ja erst so richtig lebenswert.

Das Schnellrestaurant lag in einem Industriegebiet am Rand einer Kleinstadt, von welcher der junge Mann noch nie zuvor etwas gehört und die er dementsprechend mit Sicherheit noch nie zuvor besucht hatte. Obwohl er ganz schön herumgekommen war, gab es wohl noch viele solcher weißer Flecken auf seiner persönlichen Landkarte. Immerhin hatte dieses Nest eine „Burger King“-Filiale. Mittlerweile musste es Feierabendzeit sein und obwohl der Parkplatz gut ausgelastet war, bog der junge Mann zielstrebig ab.

1Etwa eins sechsundsiebzig, wenn man das überhaupt schätzen konnte.

2Womit nicht nur die Beschaffung von Kraftfahrzeugen gemeint war.

3Natürlich nicht bezogen auf den Fastfood-Tag – man gönnt sich ja sonst nichts!

ZWEI

„Daniel? Bist du das?“

Es war unschwer zu erkennen, dass die Mutter gereizt war. Da lag etwas unverhohlen Vorwurfsvolles in der Stimme, aber auch eine reichliche Portion kaum verborgener Aggressivität. Hätte man genau diese Frequenz herausfiltern, verstärken und reproduzieren können, wäre daraus sicher eine unheilstiftende Waffe geworden, eine Art akustischer Todesstrahl. Die armen Opfer hätten sich wahrscheinlich umgehend gegenseitig zerfleischt – ziemlich effektiv, aber gewiss auch eine unglaubliche Sauerei!

„Ja, Mama“, erwiderte der Junge, dem diese Worte gegolten hatten, kleinlaut. Er schien zusehends zu schrumpfen, sackte immer weiter zusammen – auch, weil er ganz genau wusste, warum seine Mutter aufgebracht war.

„Und woher kommt der junge Herr um diese Zeit?“ dröhnte es aus der Küche.

„Aus… äh… der Schule!“ Daniel erkannte die Vorzeichen eines aufziehenden Unwetters in Form einer einzigen gigantischen und tiefschwarzen Gewitterwolke, die vermutlich den restlichen Tag über seinem Kopf schweben würde. Schnell stopfte er sein Skateboard hinter einen Mantel an der Garderobe. Es galt, zügig alle Beweismittel zu vernichten, bevor…

„Erzähl mir keine Märchen“, brauste die Mutter auf und klapperte dabei demonstrativ lautstark mit dem Kochgeschirr. „Der Unterricht ist doch schon seit Stunden vorbei. Ich habe bereits einige der anderen Kinder auf der Straße gesehen! Wo bist du gewesen? Was hast du wieder angestellt? Hast du etwas gestohlen? Ich hoffe du hast nichts gestohlen. Oder etwa doch? Was war es? Süßigkeiten? Zigaretten? Ein… Auto?“

Daniel musste fast ein wenig schmunzeln. Seine Mutter hatte zwei ganz besondere Eigenschaften. Zum Einen war sie die einzige Person, die er kannte, bei der man einen kursiven Unterton tatsächlich wahrnehmen konnte. Zum Anderen neigte sie mit hartnäckiger Beständigkeit zur maßlosen Übertreibung4. Schließlich konnte der Junge mit etwas Glück gerade einmal über ein Lenkrad schauen, wenn es sich um ein ausgesprochen kleines Auto handelte und der Fahrersitz hoch genug eingestellt war. Aber die Pedale blieben dennoch wohl noch lange in unerreichbarer Ferne. Wie zum Geier sollte er also ein Auto klauen? Vielleicht gab es für diesen Tag doch noch etwas Hoffnung – aber ganz sicher war er sich nicht.

Mit stampfenden Schritten trat die Mutter aus der Küche in den Flur. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen, tiefe Furchen auf der Stirn, die Mundwinkel auf Talfahrt. Doch war da nicht ein Glitzern in den Augen? Huschte da nicht der Ansatz eines Lächelns durch die finstere Miene?

„Herrje, wie du wieder aussiehst!“ schimpfte die Mutter weiter. „Los, geh, wasch dir die Hände! Dein Vater kommt gleich nach Hause und wir wollen pünktlich essen. Nicht auszudenken, wenn er dich so sieht!“

Daniel richtete sich ruckartig auf – wie ein Soldat, der strammt steht, wenn sein Offizier ihm ordentlich die Leviten liest. Nur schwer konnte er den Drang unterdrücken, zu salutieren und ‚Jawoll, Herr General!‘ zu rufen, was womöglich eine gewisse Eskalation zur Folge gehabt hätte.

„Stell die Schuhe raus und mach nicht alles schmutzig!“

„Ja, Mama.“

„Bring deine Schulsachen in dein Zimmer, aber wirf sie nicht wieder einfach auf den Boden!“

„Ja, Mama.“

„Beeil dich und hilf mir dann den Tisch zu decken!“

„Ja, Mama.“

„Und jetzt dalli, dalli, bevor mir das Essen anbrennt“, rief die Mutter und wandte sich bereits wieder der Küche zu. In der Bewegung konnte Daniel noch erahnen, wie alles Düstere plötzlich aus ihrem Gesicht verschwand, als habe die Sonne sich mächtig ins Zeug gelegt und ein großes Loch in die Gewitterfront geschmolzen. Seine Mutter schien noch zu strahlen, als der Junge nur noch ihren Hinterkopf sah.

„Steh’ nicht rum“, rief die Mutter aus der Küche. Ihre Stimme trug das akustische Pendant eines Lächeln in sich. „Es gibt…“

Erst jetzt nahm Daniel den Duft wahr, der seiner Mutter aus der Küche gefolgt war.

„Spaghetti mit Würstchen5!“ brüllte er voller Freude.

Ohne Zweifel, seine Mutter hatte manchmal einen seltsamen Sinn für Humor, aber sie war trotzdem die tollste Mama auf der ganzen Welt!

4Was Daniel seiner Mutter im Übrigen bestimmt schon über eine Million Mal gesagt hatte.

5 Ja, die gab es schon lange vor der Big Bang Theory!

DREI

Die Fahrzeuge auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants standen nebeneinander aufgereiht. Sie hätten wahrlich kaum ungleicher sein können. In unmittelbarer Nachbarschaft zu einem riesigen rostroten Geländewagen (einem Dodge RAM – der Name war offensichtlich Programm) verlor sich ein türkisfarbener Nissan Micra, der wiederum von einer schwarzen Mercedes-Limousine flankiert wurde. Zwischen zwei geschmacklosen, schiebetürbestückten Familienkutschen leuchtete in aggressivem Grün ein älteres Ford-Modell, das von seinem wahrscheinlich jungen Besitzer mit großem Aufwand und sicherlich eher kleinem Vermögen aufgemotzt worden war. Nicht, dass eine halbe Tonne Kunststoff und etwas zusätzliches Blech ein Auto schneller machen würde, geschweige denn schöner. Trotzdem fühlte sich sein Fahrer hinter dem Lenkrad nun wohl wie ein Formel-Eins-Pilot und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch, wenn er an einer Ampel startete. Mit viel Glück war seine Einbildungskraft größer als die Enttäuschung, die sich zweifelsohne einstellen würde, wenn der Wagen eben nicht wie ein PS-Bolide davonbrauste.

Gegensätze ziehen sich an – eine Weisheit, die sich auch hier wieder einmal zu bewahrheiten schien. In einer der Parkbuchten, zwischen einem verbeulten Lieferwagen und einem – unglaublich, aber wahr – großen, grünen John-Deere-Traktor, blitzte ein Haufen Chrom auf: Eine wunderschöne Harley Davidson XL-1200-C. Sie beanspruchte den gesamten Einstellplatz, der sonst einem vierrädrigen Gefährt vorbehalten war. Ganz zu Recht, wie der junge Mann fand. Die anhand der verschiedenen Fahrzeige zu erwartende Mischung der Kundschaft des Restaurants ließ ihn innerlich jubeln. Ein wenig brenzlig konnten große Gruppen werden, die aufeinander achteten und mitunter schnell reagierten. Selbst eine Ansammlung der dümmsten Hooligans besaß so etwas wie kollektive Intelligenz, ein gemeinschaftliches Kurzzeitgedächtnis, ein hohes Maß an Loyalität und eine skurrile Art von Gerechtigkeitssinn, deren oberste Maxime ‚Erst schlagen, dann fragen‘ lautete. Damit hatte der junge Mann bereits mehrfach unangenehme Erfahrungen gemacht, weshalb er solche Situationen besser mied.

Hier und heute würde ihm so etwas jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht blühen. Forsch und gut gelaunt schritt er auf die rot umrahmte Eingangstür zu, durch die bereits der Duft des Essens wehte – und der eines köstlichen Amüsements.

Der Innenraum des Schnellrestaurants war einem typischen amerikanischen Diner nachempfunden. In kleinen Nischen, an festen Tischen mit marmorierten Resopalplatten, fanden sich leuchtend rote, mit einer Art Kunstleder bezogene Bänke. Hier und da stand ein einzelner Stuhl mit Chromgestell, dessen Sitzfläche und Rückenlehne aus dem gleichen Polstermaterial bestanden wie die seiner großen Verwandten. Die Wände waren in einem farblich genau abgestimmten Orangeton mit einer modernen Wischtechnik gestaltet. Auf weiße Flächen hatte man anscheinend bewusst verzichtet, denn nicht nur fettige Dämpfe, sondern auch die Ausdünstungen des Publikums hätten sie viel zu schnell in klebriges Gelb verwandelt. Über den einzelnen Nischen hingen Repliken alter Hollywood-Filmplakate, während in den Fenstern große Rahmen mit Eigenwerbung der Restaurantkette prangten. Sie waren so gestaltet, dass sie automatisch den Blick von allem weglockten, was sich außerhalb abspielte. Schade zwar, dass man so von dem wundervollen sommerlichen Spätnachmittagshimmel abgelenkt wurde, aber andererseits wollte sich gewiss niemand beim Essen einen Parkplatz anschauen.

In zwei Ecken des Restaurants hingen Flachbildschirme im XXL-Format. Auf beiden lief MTV in schrill bunten bis blendend grellen Bildern. Eine spindeldürre R’n’B-Diva wurde gerade von einem schwarzen Gangsterrapper abgelöst (der vermutlich ebenso viel Gangster war wie seine Vorfahren englische Quäker). Witzigerweise passte keiner der Videoclips zu der Musik, die aus den runden Deckenlautsprechern herab drang – der wild gestikulierende Sprechgesangskünstler, der sich mit schöner Regelmäßigkeit in den Schritt fasste, wäre sonst vermutlich zu vielen Gelegenheiten wegen seiner hohen und verdammt weiblichen Singstimme verhöhnt worden. Aber genau wie der blaue Himmel fiel auch das dem durchschnittlichen Kunden wohl kaum auf, während er in seinen Burger biss.

Im hinteren Teil des Lokals standen zwei Männer und eine Frau vor und ein verpickelter Jüngling in „Burger-King“-Uniform hinter dem Tresen. Letzterer spulte gerade seinen Standardtext ab, mit dem alle Kundenwünsche erfragt und möglichst viel eigentlich Unerwünschtes zusätzlich verkauft werden sollte6. Noch weiter im Hintergrund ragte ein Edelstahlgebilde auf, in dem die Burger aus der verdeckten Küche (falls man sie denn so nennen mochte) nach vorne rutschten.

Bis zur Verkaufstheke ging der junge Mann selten, denn dort wurde immer wieder Geld verlangt, welches er meist nicht besaß. Und im Grunde hatte er den Laden ja auch nur zum Essen aufgesucht, nicht zum Bezahlen. Verführerische Düfte wehten herüber. Der junge Mann ließ seinen Blick über die Tische schweifen und entdeckte das, wonach er gesucht hatte, auf einem roten Tablett, welches gerade von zwei lückenlos tätowierten und offensichtlich muskulösen Unterarmen abgestellt wurde. Zwei frisch verpackte, noch unangetastete Whopper fingen den hungrigen Blick ein und hielten ihn gefangen. Dass der rechtmäßige Besitzer der beiden Burger ausgerechnet der augenscheinliche Fahrer der Harley war, stellte für den jungen Mann mehr Herausforderung als Bedrohung dar. Der bullige Kerl mit dem abgerissenen T-Shirt und der mit Aufnähern übersäten Kutte, einer Kombination aus schwarzem Leder und blauem Jeansstoff, besaß Oberarme wie andere Menschen Oberschenkel – zumindest wie die Oberschenkel eines durchschnittlichen 15-jährigen. Genau genommen war „Durchschnitt“ in diesem Zusammenhang allerdings der falsche Ausdruck, wenn man dabei bedachte, dass die adipösen Vertreter der juvenilen Männlichkeit scheinbar bereits in buchstäblich erdrückender Überzahl waren. Angesichts dieser Tatsache fragte sich der junge Mann, wer wohl demnächst im Sportunterricht bei Mannschaftsspielen als letzter gewählt würde. Vielleicht mochte es der Knabe sein, dem es seine eigene Wampe absolut unmöglich machte, sich selbst die Schuhe zuzubinden.

Wie auch immer, die Muskelpakete des Harley-Fahrers, die fast den Anschein erweckten, als würden sich dicke Schlangen unter der stark gefärbten Haut winden, lieferten allen Grund zu der Annahme, dass dort, wo ihr Besitzer hinschlug, unter Garantie kein Gras mehr wachsen würde. Wer in die Reichweite dieser Pranken gelangte, musste mit ernsthaften kieferorthopädischen Problemen rechnen – oder noch Schlimmerem.

Auf dem massiven Oberkörper thronte beinahe nahtlos ein etwa kürbisgroßer, kahler Schädel. Vom Hals war kaum etwas zu sehen. Das traf auch auf das Gesicht zu: Eine beinahe pechschwarze Sonnenbrille lieferte sich mit einem gewaltigen, walrossartigen Schnauzbart einen erbitterten Wettkampf um die Dominanz in der ansonsten ziemlich vernarbten Visage. Alles in allem war der Harley-Fahrer, soweit man ihn von der Tischkante aufwärts beurteilen konnte, die absolute Erfüllung jedes nur denkbaren Vorurteils. Er war gewiss nicht der Typ, dem man gerne auf die Zehen stieg, vor allem, weil einem dann kaum genug Zeit für eine Entschuldigung bliebe. Andererseits sah der Kerl auch nicht wie jemand aus, mit dem man tiefschürfende Gespräche über Gott, die Welt oder gar philosophische Themen führen konnte. Die Intellektualität machte bekanntlich nur selten schwerwiegende Fehler bei der Wahl des Erscheinungsbilds. Es gab zwar viele Abstufungen zwischen Eloquenz und dem durchschnittlichen Nerd, aber hohe geistige Fähigkeiten bei Germanys Next Topmodel oder in einer Rockerbande anzutreffen war statistisch wenig aussichtsreich.

Insofern durfte man bei einem potentiellen Dialog mit dem vorhandenen Probanden kaum mehr als ein verächtliches Grunzen oder Schnaufen erwarten. Der Gesamteindruck der Gestalt prädestinierte den Biker für eine Rolle als Ork in einer weiteren Tolkien-Verfilmung. Niemanden konnte es verwundern, wenn er dazu noch die passende Duftnote verströmen würde. Vermutlich waren all dies mehr als gute Gründe dafür, warum der Kerl mutterseelenallein7 in der Nische saß.

Der Hauch von Gefahr steigerte den Reiz des Augenblicks gleich um ein Vielfaches. Der junge Mann schlenderte an einigen Tischen vorbei, ohne den Leuten daran großartige Beachtung zu schenken, und steuerte zielstrebig auf den Rocker zu. Dabei behielt er diesen ständig im Auge. Nicht, dass der Kerl jetzt plötzlich in seinEssen biss! Als die Nische schließlich erreicht war, setzte der Mittzwanziger sein unschuldigstes Lächeln auf, griff nach den beiden Whoppern und schlenderte mit seiner Beute genauso seelenruhig wieder in Richtung Ausgangstür.

‚Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig…‘ zählte der junge Mann in Gedanken und musste innerlich grinsen, weil selbst bei vierundzwanzig noch keine Reaktion hinter ihm zu hören war. Er stellte sich das verdutzte Gesicht des Tätowierten vor und malte sich aus, wie die Erkenntnis sich mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit eines Gletschers ihren Weg durch die schier grenzenlose Ödnis des Rockerhirns bahnte. Noch wenige Schritte trennten den jungen Mann vom Ausgang, als ein plastikartiges Scheppern und ein animalischer Brunftschrei zu erkennen gaben, dass die Überraschung nun doch ihren Effekt eingebüßt hatte. Er spürte die Blicke vieler Gäste auf sich gerichtet, während zugleich hinter ihm eine Eruption an Beschimpfungen ausbrach. Trotzdem behielt er Ruhe und Gelassenheit. Sein Pulsschlag war nicht einmal merklich erhöht. Die elektrische Tür öffnete sich mit einem leisen Summen. Ebenso schloss sie sich wieder, nachdem der junge Mann hindurch geschritten war. Die Geräusche des Wutausbruchs im Restaurant wurden schlagartig gedämpft. Es dauerte eine Weile, bestimmt drei oder vier Sekunden, bis sich die Tür erneut öffnete und ein hochroter Glatzkopf erschien, wie die Kühlerfigur eines Bulldozers. Der Biker war rasend vor Wut, in jedem Comic wären ihm Dampfwolken aus den Ohren gestoben. Mit seiner rechten Faust schlug er in die linke Handfläche, sein widerlicher Atem pfiff durch die zusammengepressten Zahnreihen.

„Wo ist dieser verdammte Bastard?“ brüllte er den jungen Mann an, der neben der Eingangstür am Rahmen lehnte und gerade in einen Burger beißen wollte.

„Da lang!“ deutete dieser mit ausgestrecktem, kariert hemdsärmeligem Arm an und beobachtete, wie der massige Rocker in eine seltsame Art Trab verfiel, bei dem der Boden erzitterte wie bei Godzillas Spaziergang durch New York City. Schon allein dieser Anblick an sich war schon ein komisches Highlight, aber der ersehnte Biss in die saftige Beute erfüllte den jungen Mann noch viel mehr mit höchstem Triumph.

6„Pommes? Was drauf?“ – Leider ließ sich im wahren Leben niemand dadurch provozieren.

7Das äußere Erscheinungsbild des Mannes legte nahe, dass sich vermutlich wirklich nicht einmal seine liebe Mutter neben ihn gesetzt hätte, aus Angst womöglich zwischen den Brötchenhälften zu landen.

VIER

„Daniel? Bist du das?“

Verdammt, dachte der Junge, das gibt wieder Ärger! Die Stimme seiner Mutter klang reichlich aggressiv und gereizt. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen ganz schlechten Tag. Und das ging nun schon seit einigen Wochen so.

„Ja, Mama“, erwiderte Daniel ein wenig kleinlaut.

Seine Mutter stürmte tornadoartig in den Flur und ebenso unaufhaltsam wie ein solcher Zyklon auf den Jungen zu. Dabei ruderte sie schon etwas seltsam mit den Armen, so dass Daniel sich ein Grinsen verkneifen musste. Zum Glück gelang es ihm, wenngleich mit einem Höchstmaß an Selbstkontrolle, denn auch nur eine Andeutung von Amüsement in seinem Mienenspiel wäre Öl auf das Wutfeuer seiner Mutter gewesen.

„Wo warst du so lange?“ polterte sie los. „Ich habe schon mit dem Essen gewartet und…“

Daniel fasste allen Mut zusammen und unterbrach sie mit einer Geste, die praktisch überall auf der Welt so viel wie ‚Halt! Stopp!‘ bedeutete.

„Mama, du weißt, dass ich heute Sport hatte!“ begann er mit leichter Empörung. „Und Papa sollte mich abholen. Aber er war nicht da. Hast du ihm nicht Bescheid gesagt?“

„Papa…“, wiederholte seine Mutter deutlich verunsichert. Die wütende Gewitterfront war beinahe gänzlich verflogen und hinterließ eine Frau, die wie der sprichwörtliche begossene Pudel da stand.

„Hast du das vergessen?“ setzte Daniel nach. Inzwischen war er es, der einen gewaltigen Anflug von Wut verspürte.

„Papa…“ sagte seine Mutter nochmals, beinahe schluchzend. In ihren Augenwinkeln bildeten sich kleine glitzernde Tröpfchen. Ihr Kinn sank auf die Brust, ihre Schultern hingen herab, als zöge die Last der Peinlichkeit zentnerschwer daran.

Daniels Ärger wich augenblicklich seinem Mitleid. Das ging erstaunlich schnell. Einerseits, weil dieser Wesenszug bei ihm glücklicherweise sehr stark ausgeprägt war, andererseits aber auch, weil er seit einigen Wochen schon eine gewisse Übung darin bekommen hatte. Etwas stimmte nicht mit seiner Mutter. Die Frau, die sonst so beherrscht und selbstsicher, so fürsorglich und organisiert gewesen war, wurde mit jedem Tag nachlässiger. Sie vergaß Selbstverständliches und begegnete dieser Tatsache, die sie selber schmerzlich wahrnahm, mit Verunsicherung und Wut. Der Zorn, den sie eigentlich gegen sich selbst richtete, traf aber leider auch ihre Mitmenschen. Immer öfter bekam Daniel etwas davon ab. Und auch sein Vater litt darunter – zumindest vermutete der Junge das. Ganz freiwillig machte Papa sicher nicht neuerdings Überstunden und lange Besuche bei alten Freunden, von denen er erstaunlicherweise zuvor noch niemals etwas erwähnt hatte. Insgeheim vermutete Daniel, dass diese Bekannten seines Vaters ihr Heim wohl an einem Tresen in irgendeiner schäbigen Spelunke hatten. Indizien dafür waren zum Beispiel Streichholzbriefchen, die gelegentlich mit Papas Hausschlüssel an der Garderobe landeten. Sie trugen Werbeaufdrucke von sogenannten Gaststätten, von denen Daniel noch niemals etwas gehört hatte. Lediglich eines hatte er einmal wieder erkannt: Das „Café Central“ war nur ein paar Straßen entfernt. Daniel erinnerte sich an die defekte Leuchtreklame. Das Café gehörte allerdings in eine Kategorie von Kaschemmen, die sein Vater zuvor höchstens eines abschätzigen Blickes gewürdigt hätte, denn dort trieb sich seiner Meinung nach höchst zwielichtiges Volk herum. Inzwischen schien er offensichtlich diese Ansicht über das besagte Etablissement geändert zu haben. Dieser Umstand untermauerte Daniels Auffassung, dass in seiner Familie etwas so gar nicht mehr stimmte.

Seine Mutter schluchzte herzerweichend. Ganz offensichtlich tat es ihr leid, den Jungen derart harsch angegangen zu sein. Mehr noch machte ihr allerdings wohl zu schaffen, dass sie zunehmend die Kontrolle verlor – ein Umstand, der mit ihrem Wesen eigentlich gar nicht vereinbar war.

„Ist nicht so schlimm, Mama“, sagte Daniel sanft und meinte es wirklich ernst, auch wenn dieser Satz eine Plattitüde par excellence war, die lediglich von einem ‚na, na…‘ an Belanglosigkeit hätte übertroffen werden können. Der Junge nahm seine Mutter in die Arme und drückte sie. Er hörte, wie ihr Herz pochte, als säße in ihrer Brust ein übermotivierter Paukenspieler von einem typischen Dorfschützenfest.

So blieben sie eine Weile stehen, bis sich die Mutter wieder etwas gefangen hatte. Daniel dachte indes darüber nach, wie sich wohl alles weiterentwickeln würde. Voller Sorge blickte er in die Zukunft. Die starrte ihrerseits mit einer vollen Ladung Ungewissheit zurück.

FÜNF

In lauen Sommernächten gab es kaum etwas Schöneres, als sich ein ruhiges Plätzchen zu suchen und im Freien zu schlafen. Ein Schlafsack war so ziemlich alles, was man dazu brauchte, wenn auch, bei besonders angenehmen Temperaturen, lediglich als Unterlage. Beim Einschlafen den Sternenhimmel zu betrachten, gehörte gewiss zu den treffendsten Assoziationen des Begriffs Freiheit. Die Ortswahl war natürlich außerordentlich wichtig, damit man nicht von Mücken oder anderem Viehzeug, einschließlich der Horden übermütiger, trinkfreudiger und paarungsbereiter Jugendlicher, belästigt wurde. Der junge Mann hatte diesbezüglich bereits einen gewissen Erfahrungsschatz angesammelt. Darum verriet ihm ein Blick auf die Karte der Gegend, dass hier zu viele stehende Gewässer und zu wenige Freizeitmöglichkeiten für unter Zwanzigjährige zu einer nervtötenden Mischung zusammenkamen. Diese besondere Situation erforderte folglich besondere Maßnahmen. Der junge Mann stand neben seinem vorübergehenden Fahrzeug vor einer bunten Informationstafel an einer der Ausfallstraßen der Stadt. Es war heute sein erster Besuch hier. Die Stadt war, wie viele Kleinstädte in vielen Gegenden vieler Länder, ein ziemlich provinzielles Nest, kaum größer als ein Dorf und so weit vom Status einer Metropole entfernt wie eine Currywurst von einem Chateaubriand8. Kein Wunder, dachte der junge Mann, dass gerade solche Städte Ausfallstraßen besaßen, denn einfallen wollte hier wirklich niemand.

Obwohl es Sommer war, obwohl das Wetter beständig herrlich zu sein schien und obwohl der junge Mann sich so etwas eigentlich für schlechtere Verhältnisse oder andere Jahreszeiten vorbehielt, entschied er sich, heute eine Hotelübernachtung in Anspruch zu nehmen. Dabei hätte es in großen Städten natürlich deutlich mehr Auswahl gegeben, aber auch in diesem Ort fanden sich wohl Angebote, die durchaus in Frage kamen. Er hielt nicht viel von kleineren Pensionen, denn zum Einen hasste er es, Menschen zu schaden, die vielleicht sogar auf die Einkünfte angewiesen waren (außer wenn es sich gar nicht vermeiden ließ), zum Anderen aber, und sogar vor allem, bestand dort häufig das Problem, die Übernachtung im Voraus bezahlen zu müssen, was zwar eindeutig im Interesse des Gastwirts, nicht jedoch im Interesse des jungen Mannes lag.

Selbst mit dem Begriff „Hotel“ musste man in einer Kleinstadt sehr kritisch umgehen. Höchstwahrscheinlich gab es in solchen Gegenden viele kinderreiche Familien, die nach dem Auszug des Nachwuchses die freien Räume der übergroßen Immobilie als Fremdenzimmer nutzen und sich mit einem besseren Titel als dem einer Pension schmücken wollten. Ganz besonders schlugen die Sensoren Alarm bei Begriffen wie „Landhotel“, denn sie deuteten häufig auf alte Fachwerkgemäuer, durchdringenden Mistgeruch und gellende Hahnenschreie zu nachtschlafender Zeit hin.

Der junge Mann las auf der Übersicht Namen wie „Pension Sonnenschein“ und „Hotel Zur Goldenen Gans“, was ihm ein kräftiges Gähnen entlockte, und zwar nicht aus Müdigkeit. Schade, dass Städtchen wie diese von den großen Hotelketten gemieden wurden. In einem Holiday Inn oder Best Western bereitete es wenig bis gar keine Probleme, für eine, manchmal sogar zwei oder drei Nächte unterzukommen. Auch hierin verfügte der junge Mann bereits über einschlägige Erfahrungen, samt einiger Souvenirs in seiner Reisetasche. Nun aber galt es, vor Ort eine Bleibe zu finden.

Sein Blick blieb bei der Werbung für das neue „City-Motel“ stehen. Der Name war eigentlich fast schon abschreckend genug; er war Euphemismus und Drohung zugleich. Diese Stadt wurde von den größenwahnsinnigen Betreibern des Hauses doch tatsächlich als „City“ bezeichnet, womit sie bei dem krampfhaften Versuch scheiterten, dem Projekt irgendwie einen hippen Klang zu verleihen. Motels dagegen waren nicht nur in amerikanischen Filmen meist billige, heruntergekommene Absteigen. Trotzdem erschien diese Adresse für den jungen Mann die beste Alternative in der näheren Umgebung zu sein. Immerhin bedeutete „neu“ in der Reklame etwas vergleichsweise Gutes, wenn man lediglich an den Zustand des Etablissements dachte. Außerdem ließ das Wort unweigerlich darauf schließen, dass dort wohl kaum alle Zimmer durch irgendwelche Stammgäste belegt sein würden.

Einer der wenigen Vorteile von Kleinstädten ist die überschaubare Entfernung von einem Ende zum anderen. Nach nur wenigen Minuten stand der junge Mann in der Lobby eines überraschend angenehm gestalteten, modernen, dreigeschossigen Neubaus. Der Boden war mit einem dezent gemusterten, dunkelblauen Teppich ausgelegt, der nicht gerade billig gewesen sein konnte. Zudem war der ganze Raum in ein angenehmes Licht getaucht, während sich draußen allmählich die Abenddämmerung ankündigte. Die gesamte Einrichtung war als ziemlich geschmackvoll und die junge Frau an der Rezeption als beinahe hübsch anzusehen. Insgesamt ließ der erste Eindruck des Hauses so etwas wie Hoffnung aufkeimen: Alles in allem handelte es sich wohl doch eher um ein Hotel. Ein Schimmer am Horizont in dieser umnachteten Stadt am Rande von Nirgendwo, dachte der junge Mann. Er entdeckte das Firmenemblem einer britischen Investorengruppe und kam zu dem Schluss, dass sich die Namensgebung dieses Etablissements als Paradebeispiel für den Begriff „understatement“ eignete.