Niemand hat die Absicht einen Tannenbaum zu errichten -  - E-Book

Niemand hat die Absicht einen Tannenbaum zu errichten E-Book

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Beschreibung

Weihnachten und Berlin, das passt einfach nicht zusammen: Hedonistische Partymetropole, Kodderschnauze und das besinnliche Fest der Liebe? Nein, das geht nicht. Und doch holt der Hauptstädter im November die Lichterketten aus dem Keller und schmückt seinen Balkon bis zur Unkenntlichkeit. Irgendwie geht es nämlich doch.Auch wenn in Berlin so recht niemand etwas mit dem Weihnachtsfest zu tun haben will, die Nordmanntannen sind am 24.12. trotzdem alle ausverkauft. Über dreißig Autorinnen und Autoren aus der Lesebühnenszene der Hauptstadt entführen in die geheime Welt der Original Berliner Weihnacht. Und nicht alles ist einfach so ausgedacht. Das Interview mit dem Weihnachtsmann vielleicht schon, aber nicht, was die Ureinwohner an den Festtagen machen, wenn die Zugezogenen heim nach Westdeutschland fahren. Oder die Geschichte, wo ... aber das wird nicht verraten. Schließlich ist Weihnachten das Fest der Überraschungen. Erst recht in Berlin, denn das ist für Überraschungen immer gut.

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Michael-André Werner, Volker Surmann (Hrsg.)

NIEMAND HAT DIE ABSICHTEINEN TANNENBAUM ZU ERRICHTEN

1. Auflage November 2013

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2013www.satyr-verlag.de

Cover: Paul Bokowski (Tannennadel-Textur: 123RF.com)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-Ausgabe

ISBN: 978-3-944035-24-6

Michael-André Werner/Volker Surmann: Vorwort

1. TEIL: NACH DEM FEST IST VOR DEM FEST. DIE VORWEIHNACHTSZEIT

Andreas Kampa: Advent

Nils Heinrich: Raschel, raschel

Mareike Barmeier: Nikolaus

Kirsten Fuchs: Neulich im Jobcenter

Holger Haak: Shopping mit Stil und Mütze

Uli Hannemann: Geschenkestress

Ivo Smolak: Frohes Fest für Neocons

Karsten Lampe: Weihnachtsmärkte, Hort des Bösen

Martin Betz: Assisi am Kottbusser Damm

Felix Jentsch: Wiedersehen im Advent

Hinark Husen: Bastelzeit

Sebastian Lehmann: Weihnachtsgeschenke für die Eltern

Andreas ›Spider‹ Krenzke: Die Geschenke sind eigentlich jedes Jahr das Schlimmste

Insa Kohler: Feiern mit Ken – Shave me baby, one more time

Sarah Hakenberg: Der Koffer

Michael-André Werner: Der Damaszener Christbaum

Volker Surmann: Festtagsvorbereitung

Paul Bokowski: In drei Zügen schachmatt

2. TEIL: DER BAUM IST GRUN, UND DAS FEST DAUERT DREI TAGE. DIE WËIHNACHTSZEIT

Manfred Maurenbrecher: Ladung Blautannen

Jochen Reinecke: Der Kühlschrank meiner Mutter

Micha Ebeling: Die Kinder schmücken mit Mutti den Baum

Martin ›Gotti‹ Gottschild: Geronimo, der Weihnachtsölf

Michael-André Werner: Letzte Weihnacht

Robert Rescue: Heiligabend in der Vorstadt

Heiko Werning: So feiern Zittys

Daniela Böhle: Fischpaprikasch

Chio Schuhmacher: Alle Jahre wieder

Jan Gympel: Der nette Nazi von nebenan

Thilo Bock: Weihnachten hoch drei

Georg Weisfeld: Weltkriegsweihnachten

Anselm Neft: Jesus auf dem Teufelsberg

3. TEIL: AUS! AUS!! ... AUUUS ... DAS FEST IST AUUUUUUUUUUUUUS! DIE NACHWEIHNACHTSZEIT

Lea Streisand: Weihnachten in der Heimat

Frank Sorge: Nadelbaum

Volker Surmann: iNacht

Die Autorinnen und Autoren

Die Berliner Lesebühnen

Was heißt hier eigentlich »Alle Jahre wieder ...«? In Berlin ist doch sowieso immer Weihnachten (wenn nicht gerade Fasching, Karneval der Kulturen oder CSD ist – oder irgendeine Fanmeile). Die kahlen Weihnachtsbäume liegen bis Ende Februar an den Straßen und in den Büschen der Parkanlagen. Die letzte blinkende Weihnachtsdeko verschwindet irgendwann Mitte März aus den Fenstern. Ein paar vergessene, lebensgroße Weihnachtsmannpuppen bleiben an Balkonen und Hausfassaden hängen, bis sie jemand bemerkt und reinholt oder sie von selbst abfaulen. Hinzu kommt der Winter. Der letzte war so lang, dass man im März noch rodeln konnte und im April der letzte Schnee fiel (und es wird nicht der letzte Schnee in diesem Jahr gewesen sein ...)

Dann kommt Ostern. Das Weihnachts-Sequel. The Jesus-Comeback. In unserer Kindheit gab es lediglich ein paar Schokoeier zum Verstecken und Wiederfinden. Mittlerweile ist es Brauch, sich auch zu Ostern gegenseitig reich zu beschenken. Und für die Kinder gibt es seit ein paar Jahren eine Art Oster-Adventskalender mit Türchen. So kommen wir locker bis Ende April.

Wenn man dann noch die Idee hat, ein Weihnachtsbuch zu machen, liest man ab Mai jeden Tag Weihnachtsgeschichten und schreibt selbst welche. Später – mitten im Hochsommer – trifft man sich, setzt sich zusammen in eine helle, sonnige Wohnung mit ein wenig Durchzug. Dann ist es vielleicht Anfang Juli. Draußen strebt die Tageshöchsttemperatur gegen zweiunddreißig Grad im Schatten. Drinnen sitzt man und überfliegt noch mal die vielen Geschichten. Es ist kuschelig warm, nicht weil ein knisterndes Feuer im Ofen brennt, sondern weil draußen, wie gesagt, die Tageshöchsttemperatur gegen fünfunddreißig Grad geht. Man selbst hat vielleicht ein paar Kerzen angezündet, und der Kollege hat gerade zwei Glas Glühwein gemacht. Ein Adventskranz war leider bei keinem der umliegenden Blumenfachgeschäfte zu bekommen gewesen, und die Spekulatius sind zwar ganz hübsch, aber nicht mehr ganz frisch. Es ist einem warm ums Herz, denn draußen strebt die Tageshöchsttemperatur – wie erwähnt – gegen achtunddreißig Grad, und der Glühwein tut ein Übriges. Außerdem ist es fast ein bisschen wie Bescherung: All die Freunde und Lesebühnenkollegen und auch die Kolleginnen haben uns Geschichten geschenkt. Na ja, nicht gerade geschenkt, eher geliehen. Na gut, geliehen hieße, man müsste sie zurückgeben. Also eher zur Verfügung gestellt. Jedenfalls ist es sehr schön und sehr weihnachtlich im Hochsommer. Hinter jedem Geschichtentürchen lauert eine Weihnachtsüberraschung.

Wenn dann alles gelesen und sortiert ist, muss noch mal ordentlich lektoriert und alles in Form gebracht werden, gesetzt, gelayoutet. Und dann, wenn das Buch endlich druckfertig ist, ist es Anfang September. Und in den Supermärkten tauchen die ersten Lebkuchen und Dominosteine auf. Die Vorweihnachtszeit beginnt. Spätestens dann sollte man darüber nachdenken, was man seinen Lieben schenken kann (wir wissen es natürlich, wir schenken dieses Jahr wieder Bücher).

Nun ist das Jahr fast um. Ein Jahr voller Weihnachten. Ein fast Böll’sches Jahr. In unserer Kindheit lief die Verfilmung von Bölls »Nicht nur zur Weihnachtszeit« im Fernsehen und in unserer Erinnerung kam dieser Film dann jedes Jahr zu Weihnachten, wie später Drei Nüsse für Aschenbrödel oder Stirb langsam. Bei Böll zwingt eine geistig verwirrte alte Frau ihre Familie, Abend für Abend Weihnachten zu feiern.

So ging es uns in diesem Jahr auch ein bisschen.

Ein fröhliches Ho! Ho! Ho! Euch allen.

Die HerausgeberBerlin, August 2013

1. Dezember

Icke:

Dingdong!

Meier:

Ja?

Icke:

Na, das ist ja jetzt nicht so dolle.

Meier:

Wie? Was wollen Sie denn?

Icke:

Wenn ich Ihnen sage, was ich will, ist es doch keine Überraschung mehr.

Meier:

Ich verstehe Sie nicht.

Icke:

Und ich verstehe Sie nicht. Ich meine, für Ihr Aussehen können Sie ja nichts, aber Sie hätten sich doch wenigstens ’ne ordentliche Hose anziehen können.

Meier:

Das ist doch meine Sache, was ich zu Hause anziehe.

Icke:

Das ist ja ’ne tolle Einstellung. Können Sie sich vielleicht vorstellen, wie enttäuschend das ist, wenn das erste Türchen aufgeht, und jemand wie Sie steht vor einem?

Meier:

Was reden Sie da überhaupt?

Icke:

Sie sind wohl nicht von hier.

Meier:

Ich wohne hier.

Icke:

Ja, schon, aber nicht schon immer, oder? Ich meine, Sie haben doch – wie sagt man ... – Migrationshintergrund.

Meier:

Ich komme aus Bayreuth.

Icke:

Das heißt aber Beirut.

Meier:

Nein, das heißt Bayreuth.

Icke:

Nein, das heißt Beirut.

Meier:

ICH BIN FRANKE.

Icke:

Ach so. Bei uns sagt man aber Franzose.

Meier:

Nein, ich bin Deutscher, Herrgottnochmal.

Icke:

Deutscher? Hmm. Dann hätten Sie sich doch wenigstens rasieren können.

Meier:

Müssen jetzt alle Deutschen rasiert sein, oder wie?

Icke:

Das nicht. Aber es ist doch der erste Dezember, und da macht man in Deutschland das erste Türchen auf.

Meier:

Sie meinen, am Adventskalender.

Icke:

Ja, das ist doch nur was für kleine Kinder. Erwachsene machen natürlich richtige Türen auf. Und Sie wohnen nun mal hinter der ersten Tür.

Meier:

Ach so! Das wusste ich nicht.

Icke:

Aaah! Sehen Sie, so schnell kann ein Missverständnis geschehen. Jetzt begreifen Sie sicher auch, warum ich so enttäuscht war, als ausgerechnet Sie hinter meinem ersten Türchen standen. Ich meine, wenn man das erste Türchen öffnet, erwartet man schließlich was Schönes und nicht irgendeinen Typen mit Jogginghose, Stoppelbart und Alkoholfahne.

Meier:

Hmm. Und was machen wir jetzt?

Icke:

Tja, haben Sie vielleicht ’ne Frau da?

Meier:

Prinzipiell schon. Aber die sieht auch nicht gut aus.

Icke:

Kann die vielleicht tanzen oder singen oder was Leckeres kochen?

Meier:

Keins von den dreien.

Icke:

Sie haben’s aber auch nicht leicht.

Meier:

Wem sagen Sie das!

Icke:

Das macht mich jetzt richtig traurig, dabei habe ich mich so auf das erste Türchen gefreut.

Meier:

Tut mir wirklich leid ... Wollen Sie vielleicht ’nen Schnaps haben?

Icke:

Was habense denn da?

Meier:

Korn.

Icke:

Ja. Gerne.

Meier:

Sehen Sie! Da haben wir ja doch noch was gefunden.

Icke:

Wie ist denn Ihr Nachbar so? Bei dem bin ich morgen.

Meier:

Das ist eigentlich ein ganz Netter.

Icke:

Ah! Verraten Sie nicht zu viel! Es soll ja ne Überraschung sein. Wollen Sie vielleicht mitkommen?

Meier:

Ja, gerne.

Icke:

Gut. Dann sehen wir uns also morgen früh bei Ihrem Nachbarn.

Meier:

Aufs zweite Türchen! Prost!

Icke:

Prost!

4. Dezember

Meier:

Dingdong!

Icke:

Ja?

Meier:

Das ist jetzt aber ’ne Enttäuschung!

Icke:

Wieso?

Meier:

Na, Sehen Sie sich doch mal an! Ich öffne das vierte Türchen, und sehe auf einmal Sie.

Icke:

Ach du Scheiße! Ist heute der Vierte? Das habe ich total verpennt.

Meier:

Ja, das sehe ich. Sie sind ja noch nicht mal gekämmt.

Icke:

Das tut mir wirklich leid. Ich bin noch total verkatert vom dritten Türchen gestern.

Meier:

Advent ist nicht jedermanns Sache!

Icke:

Das kann ich Ihnen flüstern! Irgendwie hab ich den Advent früher besser vertragen. Ich mach drei Kreuze, wenn endlich Weihnachten ist. Wollen Sie ’nen Kaffee? Ich brauche jetzt erst mal einen.

Meier:

Das ist jetzt aber noch nicht der Türcheninhalt ...

Icke:

Nein, nein. Ich muss erst mal in die Gänge kommen. Treten Sie ein!

Meier:

Danke. Aber ich hab nicht lange Zeit.

Icke:

Wie fanden Sie den Kiffer am 2. Dezember?

Meier:

Ich rauche ja nicht.

Icke:

Ach. Was haben Sie denn da gekriegt?

Meier:

»House of New Orleans« auf ’ner schlecht gestimmten Gitarre.

Icke:

Mmm. Dasselbe wollte ich auch spielen.

Meier:

Nein! Das muss ich nicht noch mal haben.

Icke:

Was machen wir denn da?

Meier:

Haben Sie ’ne Frau da?

Icke:

Nein.

Meier:

Am Fünften soll ja ’ne junge Studentin drin sein.

Icke:

Ah! Nicht zu viel verraten. Es soll doch ’ne Überraschung sein.

Meier:

Irgendeine Studentin ist ja immer dabei.

Icke:

Ja. Aber tendenziell zu viele Hartz-4-Existenzen.

Meier:

Kleinfamilien sind auch schlimm.

Icke:

Ja, furchtbar. Die Gören immer mit ihren blöden Gedichten. »Ich weiß nicht, wie’s weiter geht – Heul, heul.«

Meier:

Kennen Sie die Kleine vom letzten Jahr, 15. Türchen?

Icke:

Ich erinnere mich dunkel.

Meier:

Die hat am 15. September Geburtstag.

Icke:

Ja und?

Meier:

Neun Monate nach dem 15. Dezember.

Icke:

Ahh! – Weiß man, wer der Vater ist?

Meier:

Das kann im Grunde jeder sein. Aber man munkelt, hinterm 7. Türchen kriegt die Mutter jedes Jahr Kostgeld.

Icke:

Der Kuchen im 21. Türchen soll ja verstorben sein.

Meier:

Alt genug war sie ja. Und die Massage im 22. Türchen ist pleite gegangen.

Icke:

Nein! Das war immer das Beste.

Meier:

Da ist wohl jetzt ein Nagelstudio drin.

Icke:

Was soll ich denn im Nagelstudio?

Meier:

Man kann es sich nicht aussuchen. So, ich muss gehen. Was haben Sie für mich?

Icke:

Sie können sich mal den van Gogh angucken.

Meier:

Ist der echt?

Icke:

Nein. Nur ein Poster aus’m Baumarkt.

Meier:

Ah ja. Schön.

Icke:

Gut, dann bis nächstes Jahr.

Meier:

Wiederseh’n.

Icke:

Wiederseh’n.

Als Kind und auch als Jugendlicher vermochte ich freudige Erregung noch ganz anders zu dosieren, als es mir heute manchmal möglich ist. Richtig lang, ausdauernd und genießerisch freuen konnte ich mich. Ich meine ein Gefühl der Freude, das sich, sacht aber sicher, verteilt über einen kompletten Tag immer weiter aufbaut, bis es sich schließlich wie ein schönes Gewitter entlädt.

In dem Land, das früher »drüben« hieß, stellte sich diese Steigerungsfreude oft in der Vorweihnachtszeit ein. Sie deutete sich mit einem Paketzettel an, der in den Briefkasten raschelte, steigerte sich mit dem Gang zum Paketpostamt, erhöhte sich während des dortigen Anstehens in der Warteschlange, zuckte kurz am Ausgabeschalter beim ersten Anblick der geheimnisvollen Postsendung, verfestigte sich, während man das kostbare Frachtgut nach Hause trug, und kulminierte endlich nach weiteren Zwischenstufen am Abend in diesem einen Moment, wenn die gesamte Familie um die geöffnete Schatzkiste herumstand und staunte.

Aber der Reihe nach: Im Briefkasten lag ein Paketzettel, ausgestellt von der Deutschen Post der DDR. Unsere Westverwandten väterlicherseits beschickten uns zu Weihnachten regelmäßig mit großen, prall gefüllten Paketen. Da auch andere Ostfamilien von ihren Westverwandten Pakete erhielten, türmten sich in den Paketpostämtern der DDR alljährlich zu Weihnachten riesengroße Kartonberge auf, denen die schwächlichen DDR-Paketboten kraftlos gegenüberstanden. Diese unübersichtliche Masse an Warensendungen konnten die heillos überforderten Postmännlein unmöglich ausliefern, also ließ man die Empfänger antanzen, damit sie ihr Zeug selber abholten. Das sparte der Post Sprit und Zeit. Selbst schuld, wer Verwandtschaft beim Klassenfeind hatte!

Die riesigen Pakete enthielten schöne, warme, westliche Gaben: Kaffee, Schokolade und Apfelsinen, die manchmal sogar einzeln in Wachspapier eingeschlagen waren!

Über die Schokolade freuten wir uns, obwohl wir die rätselhaften Markennamen darauf noch nie in der Westfernsehwerbung gesehen hatten. Das da war keine Milka-, keine Alpia- und erst recht keine Kinder-Schokolade. Wir hatten keine Ahnung, was die Aufschrift »Hergestellt für ALDI, Mühlheim an der Ruhr« bedeutete – aber egal, es war Westschokolade.

Hinzu kam, und das war zumindest für mich weniger schön, dass die westlichen Hilfspakete Pullover, T-Shirts und sonstige gebrauchte Textilien enthielten, in die die Kinder unserer Verwandten aus dem Westen mehrfach hintereinander rein- und wieder rausgewachsen waren – so oft, dass die Altklamotten teilweise noch warm waren. Meist rochen sie auch ganz unerträglich nach Mottenpulver. Es galt zwar als cool, in Westklamotten über den Schulhof zu stolzieren, aber doch nicht mit hundertfach getragenen, ausgeleierten Arme-Leute-Jeans, die gegen den Wind nach Mottentod rochen!

Wir wussten aus dem Staatsbürgerkundeunterricht, aus dem Geschichtsunterricht, aus den Nachrichten der Aktuellen Kamera und aus der Tagespresse, dass in der BRD viele Menschen arbeitslos waren. Diese Kapitalismusopfer vermutete man jedoch nicht in der eigenen Westverwandtschaft – ein viel zu abstrakter Gedanke. Westverwandte hatten vermögend zu sein. Sie hatten jährlich in Länder zu reisen, die man als DDR-Bürger nicht bereisen durfte. Und das waren fast alle Länder. Wer arbeitslose Westverwandte hatte, der erntete unter seinen DDR-Mitbürgern keinen Trost und null Zuspruch, sondern zu Recht Hohn und Spott!

»Was, deine Westtante ist eine Arbeitslose? Wohnt die unter der Brücke? Ist die ein Junkie? Hat die AIDS?! Wenn die euch ein Weihnachtspaket schickt, seid ihr doch hinterher alle krank! Hier, guck mal, mein neuer Matchbox-Autotransporter. Mit Garage! Guck mal, wie der glänzt. Willste ein Stück Milka, hahaha? War ein Scherz, kriegste nicht, ist meine!«

Ganz oben im Paket musste ein Blatt Papier liegen, auf dem der gesamte Paket-Inhalt präzise und gut leserlich aufzulisten war. Fehlte der Zettel, ging das Paket zurück an den Absender.

Die Staatssicherheit verfügte in jedem Postamt über eigene Arbeitsbereiche, wo in Ruhe und mit größter Sorgfalt jede noch so kleine Postsendung aus der BRD befummelt, ausgepackt und durchgelesen wurde. Es soll vorgekommen sein, dass in einzelnen Westpaketen nur noch leer gefressene Nutella-Gläser steckten, im Orangensaft fehlte das Fruchtfleisch und vom Toffifee waren nur noch die Nüsse übrig – abgelutscht und angeknabbert, einige noch ganz feucht.

Arschlecken mit Postgeheimnis! Offiziell gab es das zwar, aber: Gesetze sind nun mal dazu da, gebrochen zu werden. Zumindest von Staatsseite. Alles, was wir zu Hause aus dem Paket holten, war vorher schon mehrfach draußen gewesen. Was wieder ins Paket gelangte, durften wir dann behalten.

Da, ein Camembert! Was das wohl bedeutet, dieses »homogenisiert« und »ultrahocherhitzt«? Wie der wohl schmeckt? Hier, eine schwere Konservendose – »Frühstücksfleisch«, aha! Fleisch zum Frühstück – ein Frühstück nur aus Fleisch, interessant, was die im Westen so zum Frühstück essen! Die sich den ganzen Tag schon steigernde Vorfreude war wieder mal berechtigt gewesen. Jetzt, mit den tollen Lebensmittelspenden, sollten endlich bessere Zeiten anbrechen.

Die zukünftigen Mahlzeiten, sprich Abendbrot und Frühstück, würden gekrönt werden durch den Genuss köstlicher Westdelikatessen, welche in der Speisekammer darauf warteten, endlich schnabuliert zu werden. Hoffte ich. Meist lag das Zeug aber so lange in der Speisekammer, bis das Haltbarkeitsdatum gnadenlos überschritten war. Unsere Eltern bestanden nämlich darauf, mit dem Verzehr noch zu warten, bis »es« sich lohnt – was auch immer sie mit »es« meinten. Hungersnot? Atomkrieg? Zusammenbruch der DDR? Aus Angst vor den Russen wurden die Leckereien aus der freien Welt jedenfalls nicht gehortet – die Russen waren ja schon lange da.

Einige der Lebensmittel aus den Westpaketen fanden wir lange nach dem Zusammenbruch der DDR in der Speisekammer wieder. Sicherheitshalber packten wir das vergammelte Zeug gar nicht erst aus. Der Kram wanderte sofort in den Müll. Pah! Dreckszeug! Wir können uns das jetzt selber leisten, und besser sogar!

Eines der letzten Westpakete vor der Wende kam dann eines Jahres exakt an einem 24. Dezember an. Wir holten es von der Post ab. Es war merkwürdig leicht, so leicht, dass es fast zu schweben schien. Mussten wir Kinder vorm Auspacken der anderen Pakete immer verschwinden, bis Mutter die wertvollen und für die Bescherung am heiligen Abend bestimmten Gaben aus dem Westland in Sicherheit gebracht hatte, so durften wir diesmal am Paket bleiben. Es war Heiligabend! Falls in diesem Paket Geschenke sein sollten, dann gab es die halt schon jetzt, am frühen Nachmittag. Mutter öffnete also den Pappkasten, blickte rein und erstarrte. Die mehrstufige Freudenrakete, heute besonders schnell in die Höhe geflogen, verreckte kurz vorm Ziel. Im Paket lag ein Grabkranz. Zugestellt an Heiligabend! Bestimmt für das Grab meiner Oma väterlicherseits, die schon seit zehn Jahren tot war.

Ein doofer Grabkranz! Darum war das Paket so leicht gewesen. Darum hatten unsere Verwandten, im Gegensatz zu sonst, dieses Paket nicht in einem Brief angekündigt. Die Stasi hatte es gar nicht erst geöffnet – diese hinterhältigen Klauschweine hatten rechtzeitig den traurigen, trockenen Tannenduft gewittert und uns diesen Moment der Enttäuschung schon im Vorfeld aus vollstem Herzen gegönnt. Das Grabpaket, wahrscheinlich eine Reaktion auf unsere jährliche Post in den Westen (Weihnachtsstollen aus undefinierbaren Zutaten) war tatsächlich das letzte Westpaket, an das ich mich erinnern kann.

Solch eine riesige Enttäuschung zu Weihnachten gönne ich nicht mal meinem ärgsten Klassenfeind.

An der S-Bahn-Station Prenzlauer Allee steht ein Weihnachtsmann und versucht, Abos der Berliner Zeitung an den Mann zu bringen. Sein Bart sieht richtig scheiße aus, wie selbst gemacht. Aber ohne Liebe. Der Bart sieht aus, als ob er versucht hätte, ihn aus einer halben Packung Watte und Klebstoff zusammenzubasteln. Aber er hätte eine ganze Packung Watte nehmen sollen, denke ich. Der Bart ist nämlich ausgeleiert. Und rauchen sollte der Weihnachtsmann besser nicht. Der Bart ist nicht nur ausgeleiert, sondern rund um den Mund auch nikotingelb.

»Berliner Zeitung«, nuschelt der Weihnachtsmann durch seinen hässlichen Bart, als ich vorbeilaufe. »Die Zeitung nehme ich gern«, sage ich. »Aber ohne Abo.«

»Na, ausnahmsweise, weil heute Nikolaus ist«, erwidert der Weihnachtsmann mürrisch und fängt schrecklich an zu husten.

»Stellt dir eigentlich die Berliner Zeitung den Bart?«, frage ich, dankbar für die Zeitung ohne das übliche Abo-Gelaber. Der Weihnachtsmann schüttelt den Kopf.

»Oder hast du ihn selbst gemacht?«, füge ich interessiert hinzu. Das Husten ist inzwischen in ein verschleimtes Röcheln übergegangen. Er war nett zu mir, denke ich, deshalb bin ich jetzt nett zu ihm und sage einfach die Wahrheit über seinen Bart: »Du hättest besser eine ganze Packung Watte nehmen sollen«, meine ich.

»Der Bart ist echt«, antwortet der Weihnachtsmann.

Ich hasse saisonale Verkleidung, besonders wenn sie ohne Liebe gemacht ist. An der Supermarktkasse heute Morgen saß ein junger Mann, der sich wahrscheinlich als Rudolph verkleiden wollte. Aber es hat nicht funktioniert. Das Einzige, was er dafür getan hat, war, sich ein Plüschgeweih aufzusetzen. Er hatte nicht einmal seine Nase rot angemalt. Deshalb habe ich sein Geweih auch keines Blickes gewürdigt. Obwohl er versucht hat, wie ein Rentier zu gucken, glaube ich.

Während ich in die S-Bahn einsteige, wähle ich die Nummer meines Freundes. Nach fünfmaligem Läuten hebt er ab.

»Hallo«, sage ich.

»Hallo«, antwortet er.

»Total gut, dass du anrufst, ich wollte mir gerade einen runterholen«, sagt er.

»Ach so«, sage ich. Oh Gott, wie peinlich, denke ich.

»Ach so«, sage ich noch einmal ganz schnell und hoffe, dass er die Peinlichkeit nicht bemerkt. Sonst denkt er am Ende, ich wäre verklemmt.

»Ach so«, meint er, und ich bin sicher, dass er es gemerkt hat.

»Na, wie wär’s?«, fragt er.

»Oh nein«, denke ich. Das ist der Moment, vor dem ich mich gefürchtet habe. Der Moment, in dem ich von meinem Freund zum Telefonsex aufgefordert werde. Bis jetzt ist mir das zum Glück noch nie passiert.

Jetzt ist es so weit. Mein Freund und ich sind noch nicht lange zusammen. Ungefähr sechs Wochen, und auf gar keinen Fall möchte ich mir die Blöße geben, dass mir das unangenehm sein könnte.

»Äh, wie meinst du das?«, frage ich.

»Na ja«, sagt er. »Vielleicht können wir das gemeinsam machen.«

»He he«, sage ich.

»Keine Lust?«, fragt er, und ich weiß, wenn ich Nein sage, ist er enttäuscht und vielleicht wird das nichts mehr mit uns, und das wäre schade, denke ich. Vielleicht wird das aber auch nichts mit uns, wenn wir es machen, sagt eine innere Stimme. Ich entscheide mich, nicht auf die innere Stimme zu hören, und sage: »Klar ... große Lust.«

»Ich auch«, sagt er mit verführerischer Stimme.

»He he«, sage ich.

»Na, ich bin schon nackt«, sagt er. »Und geil.«

In dem Moment wird mir klar, dass ich in der S42 Richtung Südkreuz sitze. Neben mir ein Mann mittleren Alters mit Alkoholfahne und vor mir zwei Teenager, die ihre Köpfe über ihren Handys zusammenstecken.

»Äh, ich hab noch alles an«, sage ich.

»Klar«, sagt er, »aber das kann man ändern. Was hättest du an, wenn du jetzt bei mir zu Hause wärst?«

»Äh, Unterhose«, sage ich. Der Mann mit Alkoholfahne schaut mich mit rot geränderten Augen an.

»Das kannst du besser«, sagt mein Freund.

»Rote Unterhose?«, meine ich.

Der Mann mit Alkoholfahne neben mir hebt eine Augenbraue und schaut mich etwas interessierter an. Ich lächle gequält. Gerade habe ich mir eine saisonale Verkleidung ausgesucht, auch ohne Liebe.

»Also gut«, sagt mein Freund. »Rote Unterhose. Ich streiche mir über meine nackte, haarlose Brust«, sagt er.

»Ich auch«, sage ich.

»Ach, das kannst du besser«, sagt er.

»Ich sitze in der S-Bahn«, erwidere ich.

»Na und«, sagt er. »Weiß doch keiner, wovon du sprichst. Außerdem ist das geil, mit Zuhörern und so.«

»Okay«, sage ich. »Ich werde ganz heiß«, fahre ich fort und fange furchtbar an zu schwitzen. Die beiden Teenager kichern.

»Ich küsse dich überall«, sage ich, von plötzlichem Mut gepackt. Der Mann mit Alkoholfahne rückt etwas näher an mich heran, und ich sehe, dass er ein sehr dreckiges Ohr hat.

»Ah, wohin küsst du mich?«, fragt mein Freund.

»Deine haarlose Brust?«, sage ich.

»Okay?«, meint mein Freund.

»Auf der Innenseite deiner Oberschenkel?«, frage ich.

»Hm, das ist schon besser«, sagt er.

»Igitt«, sagt einer der Teenager und steht auf. Der Mann mit Alkoholfahne hat kein dreckiges Ohr, sondern er scheint eine Entzündung zu haben. Irgendetwas sickert aus dem Ohr heraus. Mir wird ein bisschen übel.

»Und, wirst du schon feucht?«, fragt mein Freund.

»Na ja«, sage ich und schaue auf das Ohr des Mannes mit der Alkoholfahne neben mir. »Ja.«

»Und ich beiße dir deine rote Unterhose mit den Zähnen auf«, flüstert mein Freund wollüstig in den Telefonhörer.

Oh Gott, ist das peinlich, denke ich. Der Mann mit dem entzündeten Ohr tut mir leid, und ich nicke ihm zu.

»Hm hm«, sage ich.