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Der atemberaubende Abschluss und Höhepunkt der »Grenzland«-Trilogie – die Thrillersensation aus Dänemark! Die Vergangenheit holt Mads Lindstrøm ein, als er in seinem Gartenhäuschen ein Projektil findet, das mit einem Mord von 1998 in Birkelev im Zusammenhang steht. Damals wurde ein Heimleiter brutal getötet, Mads' Vater überführte den Täter. Jetzt, 23 Jahre später, taucht die Leiche einer älteren deutschen Frau unweit von Birkelev auf. Einziger Anhaltspunkt ist ein halber Fingerabdruck, der dem verurteilten Mörder von damals gehört. Gemeinsam mit dem deutschen Kommissar Thomas Beckmann sucht Mads nach Verbindungen zu dem alten Fall. Doch je tiefer sie graben, desto mehr Geheimnisse und Lügen kommen ans Licht. Lügen, die zur Wahrheit wurden und nun tödlich sind ... Nach »Niemand hört dich« und »Niemand sieht dich« der persönlichste und dunkelste Fall für Mads Lindstrøm »Ein packender Thriller voll dunkler Überraschungen.« dagens.dk Wer Jens Hendrik Jensen, Stieg Larsson und Arne Dahl mag, wird Karen Inge Nielsen lieben!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
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Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob
© Karen Inge Nielsen 2023
Titel der dänischen Originalausgabe: »Bloodoffer«, Dreamlitt, Aarhus, Dänemark, 2023
© Piper Verlag GmbH, München 2025
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Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
27. August 1998
Birkelev
JULI
2. Juli
Haderslev
2. Juli
Vonsbæk
3. Juli
Toftlund
3. Juli
Toftlund
4. Juli
Haderslev
4. Juli
Haderslev
4. Juli
Toftlund
4. Juli
Skærbæk
5. Juli
Esbjerg
5. Juli
Odense
6. Juli
Haderslev
6. Juli
Haderslev
6. Juli
Haderslev
6. Juli
Haderslev
7. Juli
Kosel
7. Juli
Weseby
7. Juli
Weseby
8. Juli
Haderslev
8. Juli
Haderslev
9. Juli
Haderslev
9. Juli
Odense
9. Juli
Autobahn Fünen
9. Juli
Toftlund
10. Juli
Toftlund
10. Juli
Haderslev
10. Juli
Haderslev
10. Juli
Haderslev
11. Juli
Haderslev
11. Juli
Birkelev
11. Juli
Birkelev
11. Juli
Birkelev
11. Juli
Odense
11. Juli
Toftlund
12. Juli
Toftlund
12. Juli
Flensburg
12. Juli
Flensburg
12. Juli
E45 Richtung Norden
12. Juli
Toftlund
13. Juli
Haderslev
13. Juli
Haderslev
13. Juli
Vojens
13. Juli
Toftlund
14. Juli
Birkelev
14. Juli
Birkelev
14. Juli
Haderslev
14. Juli
Haderslev
14. Juli
Toftlund
15. Juli
Haderslev
15. Juli
Haderslev
15. Juli
Toftlund
15. Juli
Toftlund
15. Juli
Toftlund
16. Juli
Toftlund
16. Juli
Toftlund
16. Juli
Odense
16. Juli
Vonsbæk
17. Juli
Flensburg
17. Juli
Niehuus
17. Juli
Niehuus
17. Juli
Flensburg
17. Juli
Flensburg
17. Juli
Flensburg
17. Juli
Flensburg
17. Juli
Kiel
17. Juli
Kiel
17. Juli
Kiel
17. Juli
Birkelev
17. Juli
Odense
18. Juli
Toftlund
18. Juli
Haderslev
18. Juli
Haderslev
18. Juli
Toftlund
18. Juli
Toftlund
18. Juli
Birkelev
18. Juli
Birkelev
18. Juli
Birkelev
18. Juli
Birkelev
19. Juli
Birkelev
19. Juli
Birkelev
19. Juli
Birkelev
19. Juli
Birkelev
19. Juli
Birkelev
22. Juli
Esbjerg
5. August
Toftlund
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Kjersti Fosheim
Erst, wenn uns das Licht nicht mehr blendet, erkennen wir, dass der Schatten der Vergangenheit unser eigener ist.
Ein Zucken ging durch Hans Peter Jessens Körper. Sein Kopf pochte, und die Umgebung kam ihm so neblig vor, als befände er sich in einer Parallelwelt. Muffiger Geschmack mischte sich mit dem Geruch von Holz, rohem Beton und Schmieröl. Der Druck auf seinen Mundwinkeln war unangenehm, und er versuchte zu schlucken, bevor er die staubige Luft erneut tief in seine Lungen zog. Er drehte den Kopf und schnitt eine Grimasse. Langsam wurde ihm klar, wo er sich befand. Sein halb nackter Körper hing in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel über den Brennholzscheiten, die er selbst vor ein paar Tagen in den Schuppen geworfen hatte. Er stellte die Füße auf den Boden. Seine Schultern schmerzten, und er biss fest auf den Knebel in seinem Mund, während er sich aufzurichten versuchte.
Durch den Nebel tauchten Fragmente von Bildern vor seinem inneren Auge auf. Unscharf und verwaschen. Wie eine ferne Erinnerung, die nicht zum Vorschein kommen wollte. Wieder und wieder versuchte er, sich ins Gedächtnis zu rufen, was geschehen war, doch vergeblich. Er rang nach Atem, als seine Füße auf dem Boden wegrutschten und er erneut auf den Brennholzhaufen fiel. Der trockene Lappen in seinem Mund schmeckte metallisch nach Blut.
Mühsam drehte er sich um, bis ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr und er einen Schrei ausstieß, der jedoch vom Knebel erstickt wurde. Seine Muskeln verkrampften sich, und sein Gesicht sank auf das Holz, während er fieberhaft zu atmen versuchte. Sterne blitzten vor den Augen auf, und für einen Moment wusste er nicht, ob das die Schmerzen waren oder Staubkörner, die im Morgenlicht tanzten, das durch die schmutzigen Scheiben in den Schuppen fiel. Ein paar Sekunden ließ er den Kopf auf dem Holz liegen und konzentrierte sich auf die Schmerzen. Mit den Augen suchte er die Umgebung ab. Das diffuse Morgenlicht fiel auf die kurze Werkbank und den Hauklotz mit der Spaltaxt. Sein Blick wanderte weiter, doch der hintere Teil des Schuppens lag noch im Dunkeln, sodass er nichts erkennen konnte.
Er nahm all seine Kraft zusammen, hob noch einmal den Kopf und versuchte, sich nach hinten zu drücken, aber der Schmerz an den Handgelenken hielt ihn davon ab. Sein Blick flackerte zwischen dem Seil und der Umgebung hin und her, ehe er die Hände mit aller Kraft zu sich riss. Die groben Fasern schnitten sich in seine Haut, und das Knirschen des rostigen Metallrings in der Wand machte ihm seine Lage vollends bewusst. Für den Bruchteil einer Sekunde überkam ihn Panik, dann kochte die Wut in ihm hoch. Das Adrenalin pulsierte durch die Adern, während er mit einem erstickten Brüllen erneut an dem Seil riss. Blut sickerte in die Fasern, aber er zerrte unbeeindruckt weiter, wobei sich der kunstvolle Knoten an dem alten Eisenring nur immer weiter festzog.
Keuchend sackte er in sich zusammen. In der vornübergebeugten Stellung brannte der untere Rücken, und er spürte, wie mit jedem Atemzug ein schneidender Schmerz vom Kiefer bis hinauf in den Kopf zog und ihm den Blick verschleierte. Noch einmal versuchte er, sich zu befreien, aber vergebens. Die scharfen Kanten der Holzscheite scheuerten seine Haut bis aufs Blut auf. Mit einem Mal blitzten ihm kurze Erinnerungsbilder aus den Minuten vor dem Kampf durch den Kopf. Die frische Morgenluft. Die dicke Schicht aus Fichtennadeln, die seine Schritte zwischen den Bäumen gedämpft hatten, und das plötzliche Auffliegen der Vögel. Er hatte eine Sekunde innegehalten. In Gedanken sah er den Schatten, der hinter ihn getreten war, und spürte den Schmerz und das Knacken seines Kiefers, bevor alles schwarz geworden war.
Er atmete tief durch. Die Fragmente, die langsam ein Bild ergaben, ließen das Blut in seinen Ohren pochen. Da hörte er ein leises Geräusch hinter sich. Fieberhaft blickte er nach rechts und links, doch sein ganzer Körper erstarrte, als ein Riemen auf sein Gesäß klatschte und ein Inferno aus Schmerzen auslöste. Er rang nach Atem, und die Beine gaben unter ihm nach. Die Füße rutschten nach hinten, und die rauen Kanten der Holzscheite bohrten sich in seine Schenkel und seinen Bauch. Vergeblich versuchte er, Halt zu finden, aber die Hose, die an seinen Füßen hing, hinderte ihn daran, die Beine zu bewegen. Die Gestalt hinter ihm hob erneut ihren Arm, dann schnellte der Riemen wieder auf ihn zu. Ihm wurde schwarz vor Augen, als der Schlag ihn traf. Alles begann, sich zu drehen, und wie in Zeitlupe hörte er seinen eigenen erstickten Schrei durch den Kopf hallen.
»Du. Verdienst. Es. Nicht. Zu. Leben.« Jedes Wort wurde mit einem Schlag auf seinen Rücken und sein Gesäß begleitet. Die Haut platzte auf, Blut quoll aus den Wunden und sickerte an seinen blassen Schenkeln nach unten.
Er versuchte, etwas zu sagen, doch der Knebel erstickte jedes Wort.
»Halt den Mund!«
Wieder und wieder klatschte der Riemen auf seine Haut, und er verstummte, sodass für einen Moment nur der keuchende Atem hinter ihm zu hören war. Dann wurden seine Beine plötzlich so weit auseinandergetreten, wie die Hose es zuließ. Er versuchte noch einmal zu schreien, doch die Laute blieben in seiner Kehle stecken, während sein Anus mit einer solchen Kraft penetriert wurde, dass der Schmerz wie ein elektrischer Stromstoß durch seinen Körper schoss. Urin und Blut rannen über die Beine in seine Hose, während er die Hände krampfhaft zu Fäusten ballte, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.
»Was soll das denn?«, zischte die Stimme hinter ihm. »Machst du dir jetzt auch noch in die Hose?«
Die Finsternis hüllte Hans Peter Jessen vollends ein, als der raue Holzkeil ein zweites Mal tief in seinen Anus gerammt wurde und mit seinen Splittern die Haut aufriss. Gleich darauf verlor er vollends die Kontrolle über seinen Körper. Die Beine trugen ihn nicht mehr, und sein Gewicht wurde nur noch vom Seil gehalten, mit dem seine Hände an den Metallring gefesselt waren.
»Wie jämmerlich!«, zischte es hinter ihm.
Dann traf ihn ein Faustschlag an der linken Seite. Das trockene Knacken der gebrochenen Rippe hallte seltsam laut durch die Dunkelheit, die ihn umgab, und ließ ihn erneut nach Luft schnappen.
»Ein kleines, fettes Arschloch bist du. Sonst nichts. Verstanden?«
Der heisere, erregte Atem hinter ihm drang wie ein Zischen an sein Ohr. Er versuchte zu schlucken, aber sein Hals schnürte sich zu. Die Angst hämmerte durch seine Adern, und beim Gestank seiner eigenen Exkremente wurde ihm übel.
Mit aller Macht riss er die Augen auf und drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig, um die Reflexion des Morgenlichts auf der blanken Messerklinge zu sehen. Wie in einem Film liefen die Szenen, die er selbst erschaffen hatte, über seine Netzhaut, dann bohrte die Klinge sich in seinen Rücken. Der Schrei, der durch seinen Kopf hallte, fühlte sich nicht wie sein eigener an. Dann verstummte das allumfassende Gefühl der Macht, das normalerweise einer Penetration folgte, die berauschende Demütigung kam nicht, und am Ende war da nur noch der Schmerz, der nicht sein eigener sein sollte. Er versuchte, den Mund zu öffnen, aber der Knebel schnitt sich dadurch nur noch tiefer in seine Mundwinkel. Ein gurgelnder Laut begleitete seine Atemzüge, als er ein letztes Mal vergeblich zu schreien versuchte. Hellrotes Blut sickerte in den Knebel, dann wurde das Messer erneut in seinen Körper gerammt, sein Gesicht sackte auf das Brennholz, und alles wurde schwarz.
»So.« Per Teglgård legte den Ausdruck des Gerichtsurteils zur Seite und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. »Sechzehn Jahre. Mehr konnten wir kaum erwarten.«
Er griff nach der Wasserflasche, die vor ihm auf dem Tisch stand. Einen Moment lang betrachtete er die Kondenstropfen, die an der kalten Flasche herabliefen, dann schraubte er den Deckel ab, legte die Flasche an die Lippen und sah nach draußen auf den Hof. Schwüle Hitze drang durch das offene Fenster des Personalraums, und von draußen waren die Geräusche der Stadt zu hören.
»Der Bylderup-Fall ist ein Beispiel für die perfekte Zusammenarbeit mit der deutschen Polizei«, fuhr er fort und wischte sich mit dem Handrücken diskret den Mund ab, bevor er Mads Lindstrøm, der ganz hinten an der Wand lehnte, anerkennend zunickte. »In unserer Gegend müssen wir uns immer vor Augen halten, dass ein Fall sich auch über die Grenze hinweg erstrecken kann.«
Mads entfuhr ein leises Schnauben. Er kratzte sich an der Schläfe und sah zu Sarah Jonsen hinüber, die vor ihm am Tisch saß. Sie hatte ihre langen roten Locken in einem lockeren Knoten zusammengefasst, aus dem sich eine Strähne gelöst hatte. Schweiß glänzte in ihrem Nacken, und ein Rest Sonnenbrand war auf ihrer hellen Sommersprossenhaut zu erahnen, als sie ihre Bluse zurechtzupfte, ohne den Blick von Per Teglgård zu nehmen.
»Wenn ihr sonst nichts mehr habt, sollten wir für heute Schluss machen«, fuhr Per fort und schob seine Papiere zusammen. »Danke für euren Einsatz. Das war wirklich verdammt gute Arbeit.«
Mads stieß sich von der Wand ab, blieb aber stehen. Vor ihm stand Sarah Jonsen auf. Ihre Wangen waren von der Wärme gerötet, und sie warf ihm ein Lächeln zu, während sie nach ihrer Tasche griff. »Und du? Kommst du mit ins Buchs?«
»Bin ein bisschen knapp mit der Zeit«, antwortete Mads und ließ den Blick durch den Raum wandern. Dann drehte er seine Wasserflasche auf und trank sie leer. Das dünne Plastik knackte, als er sie auf den Tisch stellte.
»Ach, komm schon.« Sarah legte den Kopf etwas zur Seite. »Sechzehn Jahre. Das müssen wir doch feiern.«
Mads atmete mit einem leichten Seufzen aus. Unten vor dem Fenster gaben einige Autofahrer Gas, dann war das Quietschen von Reifen zu hören. Während sich das Motorengeräusch entfernte, stieg der Geruch von Abgas und Gummi mit der flirrenden Hitze zu ihnen herauf.
»Heute nicht«, antwortete Mads und warf ihr ein bedauerndes Lächeln zu.
»Sicher?« Sie fixierte ihn eine Weile mit den Augen, dann schob sie den Stuhl nach hinten und schulterte ihre Tasche.
»Ich muss mir noch was angucken.« Er sah auf seine Uhr. Die Besprechung hatte schon länger gedauert als erwartet.
»Kann das nicht warten?«
Er schüttelte den Kopf. »Leider nein.«
»Aber nächstes Mal kommst du mit, oder?«, fragte Sarah und ging zur Tür.
»Ja.«
Sarah lachte. »Du weißt schon, dass das nicht sonderlich überzeugend klingt?«
»Jetzt hör aber auf.« Mads folgte ihr zur Tür. Vom Flur waren fröhliche Stimmen zu hören, und er sah ihr nach, als sie sich zu den anderen gesellte, die das Dezernat verließen. »Sarah?« Er hob die Hand, zögerte dann aber.
»Ja?« Sie drehte sich noch einmal um und sah ihn an. In ihrem Rücken fiel die Glastür der Abteilung hinter ihren Kollegen ins Schloss und ließ eine plötzliche Stille aufkommen.
»Vielleicht kann ich später vorbeikommen?« Er steckte die Hand in die Tasche und lehnte sich an den Türrahmen.
»Na klar, bis dann.« Sie strahlte ihn an und verschwand mit einem Winken durch die Tür.
Er blieb stehen, bis das Geräusch ihrer schnellen Schritte hinter der sich schließenden Glastür verstummt war.
»Gratuliere, Mads!« Dezernatsleiter Per Teglgård klopfte ihm auf die Schulter. »Der Fall hat viel Aufmerksamkeit geweckt. Die Medien loben uns für unsere großartige Arbeit. Nach dem Fährmannfall kommt uns das natürlich sehr entgegen.«
»Ich dachte, du hättest was gegen Verstrickungen über die Grenze hinweg«, antwortete Mads und trat einen Schritt nach hinten.
»Ich weiß, dass ich dich gebeten habe, dich aus den deutschen Fällen rauszuhalten, aber können wir das jetzt mal gut sein lassen?«, fragte Per. »Wir sind am Ziel, und nur das zählt.«
»Da magst du recht haben«, antwortete Mads und ging zu seinem Büro. Die schwüle Wärme schien sich auf den schmalen Flur des Dezernats zu konzentrieren.
»Ich dachte, du würdest mit ins Buchs kommen«, sagte Per Teglgård hinter ihm. »Ich gebe eine Runde aus.«
»Danke, aber ich muss mir erst noch etwas ansehen«, antwortete Mads und legte die Hand auf die Türklinke des Büros, das er sich mit Torben Laugesen teilte.
»Na, dann vielleicht bis später.«
Mads blieb stehen und blickte seinem Chef hinterher, der seine leichte Sommerjacke vom Haken nahm und über den Arm legte. Als er durch die Glastür nach draußen ging, gelangte ein wenig kühlere Zugluft in den Flur und strich angenehm über Mads’ Haut. Er atmete tief durch und öffnete die Bürotür.
»Was? Du bist noch hier?« Torben Laugesen hob den Kopf und starrte Mads an. »Bist du nicht mit den anderen feiern gegangen?«
»Ich muss mir noch was angucken.« Während Mads sich setzte, warf er einen Blick auf den Karton, der auf Laugesens Schreibtisch stand. Ein paar Mappen, einige lose Dokumente und ein altes Foto von ein paar Kindern ragten oben heraus. Mads schaltete den PC ein und sah aus dem Augenwinkel, wie Laugesen einige Ordner aus dem Regal nahm und sie beiläufig durchblätterte, ehe er sie in einen durchsichtigen Müllbeutel stopfte. »Dann kriegst du jetzt einen Schattenplatz, oder?«
»Was?« Torben Laugesen hielt in der Bewegung inne und sah ihn missbilligend an.
»Ich meine das Büro«, sagte Mads. »Aalunds Büro liegt immer im Schatten.«
»Ja und?« Laugesen ließ den Müllbeutel fallen, der in sich zusammenfiel. Dann nahm er den Pappkarton und klemmte ihn sich unter den Arm. Ein paar Sekunden lang starrte er Mads an, dann riss er das Schild mit ihren beiden Namen von der Tür. »Das kann dir doch wohl egal sein.«
»Ja, natürlich«, antwortete Mads und zuckte mit den Achseln. »Ich wusste nur nicht, dass du sein Büro haben wolltest.«
»Du musst ja nicht alles wissen«, sagte Torben, warf das Namensschild in den Mülleimer und verließ das Büro.
Mads schloss die Augen. Draußen auf dem Flur waren Laugesens Schritte zu hören, bis weiter hinten eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde und sich Stille über das Dezernat legte. Mads entließ die Luft aus den Lungen, ehe er aufstand und das Fenster weit öffnete. Ein paar kleine Wolken trieben über den klaren blauen Nachmittagshimmel, und ein Hauch von Kühle schwappte ins Büro. Mads ließ sich wieder auf seinen Bürostuhl fallen und sah hinüber auf die von schwarzbraunen Kaffeeflecken übersäte Schreibtischplatte seines Kollegen. Seufzend beugte er sich vor und öffnete eine Schublade. Sein Blick ruhte kurz auf der kleinen weißen Schachtel, ehe er wie auf Autopilot ein paar Nahrungsergänzungspillen aus dem Blister drückte und schluckte. Dann stand er auf und griff nach seiner Sporttasche.
Mads sah nach oben, während die Tür des Polizeireviers hinter ihm ins Schloss fiel. Der Himmel war inzwischen etwas dunkler geworden und verlieh dem späten Sommerabend etwas Versöhnliches. Er fuhr sich durch die feuchten Haare, als er über den Platz ging, die Autotür öffnete, die Tasche auf den Beifahrersitz warf und sich hinter das Steuer setzte. Einen Moment lang blieb sein Blick an dem weißen Umschlag unter der Sonnenbrille auf der Mittelkonsole hängen. Dann ließ er den Motor an.
*
Mads bremste und sah kurz in den Seitenspiegel, dann blinkte er und bog nach links ab. Hinter einer niedrigen Steinmauer erhob sich die gedrungene Kirche von Vonsbæk. Er warf schnell einen Blick aufs Navi und fuhr durch ein kleines Waldstück. Wenig später öffnete sich der Blick auf den Haderslev-Fjord, wo sich der letzte Rest des Abendrots im ruhigen Wasser spiegelte.
Er riss sich von dem Anblick los. Hinter der nächsten Kurve erschien das kleine Haus mit den weiß getünchten Mauern, die unter den dunklen Kronen der Kastanien förmlich leuchteten. Zarte Stockrosen rahmten die Fenster ein, durch die gedämpftes Licht nach draußen fiel. Als er auf die Einfahrt abbog, knirschte der Kies unter den Reifen und ergänzte die idyllische Szenerie mit der passenden Geräuschkulisse. Einen Augenblick blieb er still im Wagen sitzen, dann schnallte er sich ab und stieg aus. Vom Fjord kam eine kühle Brise, die nach Salzwasser und Wald roch. Er legte den Kopf in den Nacken und ließ sich von der Stille einhüllen. Dann sah er zum Haus hinüber. Auf der Treppe rekelte sich eine Katze, die beim Klang seiner Schritte durch die angelehnte Tür nach drinnen verschwand.
»Hallo.«
Eine Frau war vor die Tür getreten. In ihren Augen lag ein Lächeln, als sie auf die Treppe trat und ihn fragend ansah.
»Mads Lindstrøm«, antwortete Mads und zog seinen Ausweis aus der Tasche. »Ist Sarah zu Hause?«
»Ah, ein Kollege.« Die Frau warf einen Blick auf die Katze, die um ihre Beine strich. »Ja, sie ist im Bad. Komm mit rein.« Sie öffnete die Tür und trat zur Seite, während die Katze über die Mauer in Richtung Bäume verschwand. »Setz dich einfach ins Wohnzimmer.«
»Danke.«
Er sah sich um. Bunte Gemälde schmückten die sandfarbenen Wände, und ein ganzer Wald von Grünpflanzen wucherte auf den Fensterbrettern. Es roch nach Holzboden, Seife und Lavendel. Er sah durch die Sprossenfenster zum Fjord hinaus, der die ruhige Stimmung vollendete, die über dem Haus lag.
»Mads?«
Er drehte sich um. Sarah war in der Türöffnung zum Vorschein gekommen. Sie trocknete sich mit einem Handtuch die Haare ab und trat auf ihn zu.
»Wo warst du denn?«
»Die Zeit ist mal wieder viel zu schnell vergangen«, sagte Mads. »Ich bin tatsächlich noch am Buchs vorbeigefahren, aber ihr wart schon weg, also habe ich mir gedacht, dass ich dich vielleicht hier antreffe.«
»Ja?« Sie zog die Brauen zusammen. Ein verwunderter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als wartete sie auf eine Fortsetzung, die nicht kam. Sie legte das Handtuch weg und warf einen Blick in Richtung Küche. »Kann ich dir was anbieten?«
»Nein danke, alles gut«, antwortete Mads und trat vom Fenster weg. »Deshalb bin ich nicht gekommen.«
Sie musterte ihn einen Moment und deutete dann mit der Hand auf die Sitzgruppe. »Warum dann?«
»Wegen dem hier«, antwortete Mads und nahm den weißen Umschlag aus der Tasche. »Das Projektil, das du für mich analysiert hast.«
»Ah«, sagte Sarah mit einem Nicken, während Mads sich setzte. »Das hatte ich ganz vergessen. Gib mir einen Augenblick, ich bin gleich zurück.« Sie verschwand in der Küche.
Mads sah ihr einen Moment nach, ehe er den Umschlag zusammendrückte und wieder durchs Fenster zum Fjord sah, über dem es immer dunkler wurde.
»Ich habe mich nur von Line verabschiedet«, sagte Sarah, als sie zurückkam. Sie sah ihn fragend an und stellte zwei kalte Bierdosen auf den Tisch. Ihre Wangen waren leicht gerötet, als sie sich die Locken hinter die Ohren schob und ihm gegenüber Platz nahm. »Nachtschicht.« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Haustür. »Manchmal geben wir uns wirklich nur die Klinke in die Hand.« Sie zuckte mit den Achseln, lehnte sich zurück und lächelte ihn an.
»Wie lange seid ihr schon zusammen?«, fragte Mads und betrachtete kurz die Bierdosen, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.
»Sieben Jahre«, antwortete Sarah, drehte an ihrem Ring und zog die Beine unter sich. »Die Zeit vergeht schnell. Bist du dir sicher, dass du kein Bier willst?«
»Danke, mir geht es gut«, sagte Mads und legte den Umschlag auf den Tisch. »Was weißt du eigentlich über den Birkelev-Fall?«
»Nicht viel«, antwortete Sarah. Sie beugte sich vor und griff nach einer der Bierdosen. Das Zischen beim Öffnen füllte für einen Moment die Stille zwischen ihnen. Sie trank einen Schluck, stellte die Dose ab und lehnte sich wieder zurück. »Der Fall ist so alt, dass er noch nicht digitalisiert wurde«, fuhr sie fort. »Die schon gelösten Fälle haben bei der Digitalisierung keine so hohe Priorität wie die offenen.« Sie sah ihn an. Die roten Locken, die über ihre Schultern fielen, wirkten durch die Feuchtigkeit viel dunkler. »Nur die Asservatenlisten liegen in digitaler Form vor.«
»Stimmt.« Mads nickte. »Ich hatte nur gehofft, dass du etwas darüber weißt.«
»Leider nein«, antwortete Sarah und trank noch einen Schluck. »Warum fragst du?«
»Mein Vater hatte die Unterlagen zu dem Fall zu Hause«, antwortete Mads.
»Zu Hause?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Verstößt das nicht gegen die Vorschriften?«
Er zuckte mit den Achseln. »Er war Dezernatsleiter. Ich glaube, er hat in dem Fall ermittelt, als er starb.«
»Dann hatte er das Projektil also auch bei sich zu Hause liegen?«
»Nein, nur die Fallakte«, präzisierte Mads.
»Und woher stammt das Projektil?«
»Das ist eine lange Geschichte.« Er schob ein Kissen zur Seite, das zwischen ihm und der Armlehne klemmte.
»Kein Problem, ich habe die ganze Nacht Zeit, und du hast meine Neugier geweckt.« Sie griff nach einer Decke und legte sie über ihre nackten Beine, ehe sie den Blick wieder auf ihn richtete. »Aber sollte sich das Projektil nicht in der Asservatenkammer befinden?«
»Das Projektil, das du für mich analysiert hast, hat nie zum Beweismaterial gehört.«
»Das verstehe ich nicht.« Sie zog die Brauen zusammen, und ihre grünen Augen bekamen einen wachsamen Ausdruck. »Die Ballistik hat es aber doch dem Birkelev-Fall zugeordnet?«
»Ich habe das Ding in der Wand meines Wintergartens gefunden«, antwortete Mads. Er drehte den Kopf und sah wieder aus dem Fenster. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass der Fjord nur noch als hellere Nuance zu erahnen war. »Mein Vater hat Selbstmord begangen«, fuhr er fort, als sie nichts sagte. »Oder sagen wir besser: Das ist die Schlussfolgerung der Rechtsmedizin.«
»Aber du bist dir nicht sicher?«
»Nein.« Mads schüttelte den Kopf. Die Unruhe rumorte in seinem Körper wie ein Raubtier, das im Dunkeln auf der Lauer lag und nur auf einen unaufmerksamen Augenblick seiner Beute wartete. »Mein Vater war nicht der Typ, der Selbstmord begeht.«
»Gibt es da wirklich verschiedene Typen?«
»Du klingst schon wie Teglgård«, antwortete Mads und richtete seinen Blick wieder auf Sarah. Das weiche Licht des Wohnzimmers ließ ihre Haare beinahe glühen.
»Ist das gut oder schlecht?«
»Schlecht. Teglgård weicht nicht von seiner Meinung ab. Er ist überzeugt davon, dass die Arbeit meinen Vater zu sehr belastet hat.«
»Und das siehst du anders?«
»Nein – oder doch. Vielleicht«, antwortete Mads und machte eine resignierte Geste. »In der Akte zum Birkelev-Fall ist zu lesen, dass es ein besonders brutaler Mord war. Im Bericht der Spurensicherung heißt es, das Opfer sei an eine Wand gefesselt und sexuell misshandelt worden.«
»Sexuell misshandelt?«
»Der Anus ist mehrfach penetriert worden, wobei der Enddarm perforiert wurde«, antwortete Mads. »Aus der Asservatenliste geht hervor, dass der Täter eine Art Holzpflock verwendet haben muss.«
»Boah, das ist heftig«, murmelte Sarah. »Und das war vor dem Mord?«
»Ja«, antwortete Mads. »Das geht aus dem Obduktionsbericht klar hervor.«
»Erzähl«, forderte Sarah ihn auf und schob das Handtuch, das über der Armlehne hing, etwas zur Seite, bevor sie ihren Blick wieder auf Mads richtete.
Er saß ein paar Sekunden schweigend da und rief sich die Bilder in Erinnerung, die er so oft gesehen hatte. Das Blut, die Exkremente und das vor Schmerz und Angst verzerrte Gesicht. »Neununddreißig Messerstiche«, sagte er schließlich. »Eine extreme Form von Overkill, dem zahlreiche Schläge und die sexuelle Misshandlung vorausgingen. Sämtliche Stiche wurden von hinten durchgeführt.«
»Dann hat der Täter also hinter ihm gestanden?«, fragte Sarah und zog die Brauen zusammen. »Aber warum hat das Opfer sich nicht gewehrt?«
»Es war gefesselt«, antwortete Mads und sah den halb nackten Körper auf dem Brennholzstapel vor sich. Allein die Blutung aus dem Enddarm sprach eine deutliche Sprache. Der Täter musste mit ungemeiner Brutalität zu Werke gegangen sein.
»Das kling echt übel«, sagte Sarah. »Lässt sich diese Brutalität irgendwie aus seinem psychologischen Profil erklären?«
»Aus dem Bericht geht hervor, dass der Täter eine sozioemotionale Störung hat«, antwortete Mads. »Wobei ihn das noch nicht zu einem Täter macht, aber das kann natürlich eine Mitursache für die Brutalität gewesen sein.«
»Was steht da noch über ihn?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, wurde er als verschlossen beschrieben, aber mit einem normalen IQ.«
»Und er hat den Mord gestanden?«
»Ja, das hat er«, antwortete Mads und schüttelte sich leicht.
»Aber wenn er gestanden hat, gab es für deinen Vater doch keinen Grund, sich den Fall nach der Urteilsverkündung noch einmal anzuschauen, oder?«
»Nein, und genau das wundert mich auch«, antwortete Mads und presste die Lippen zusammen. »Der Fall ist gelöst. Lauritz Koch hat gestanden, nachdem die Tatwaffe in seinem Zimmer unter einer losen Diele gefunden worden war.«
»Ist das durch Fingerabdrücke oder DNA untermauert worden?«
»Eine DNA-Analyse habe ich nicht gefunden, aber Lauritz Kochs Fingerabdrücke waren auf der Tatwaffe.«
»Dann gibt es doch keine offenen Punkte mehr«, meinte Sarah. »Alle Beweise deuteten auf ihn, und er hat gestanden.«
»Aber es muss doch einen Grund dafür geben, dass mein Vater sich den Fall noch einmal angesehen hat.« Einen Augenblick bereute Mads, sie gefragt zu haben, aber wenn ihm irgendjemand helfen konnte, dann sie.
»Manchmal wird so etwas zur Besessenheit«, sagte Sarah und legte den Kopf zur Seite. »Ich verstehe, dass du beweisen willst, dass er irgendeiner Sache auf der Spur war, aber vielleicht ist seine Besessenheit zu deiner geworden.«
»Das ist keine Besessenheit. Mein Vater war einfach nicht der Typ, der aufgibt. Ich schulde es ihm, herauszufinden, was wirklich passiert ist.«
»Du schuldest es ihm?« Sarah zog die Stirn in Falten. Ihr mitfühlender Blick wirkte besorgt.
»Ich habe ihn damals gefunden«, antwortete Mads. Sein Hals schnürte sich zu, und er senkte den Blick, damit sie nicht die Trauer sah, die ihn übermannte.
»Entschuldige, das wusste ich nicht.« Eine ebenso schwere wie befreiende Stille legte sich über das Wohnzimmer. »Das muss schwer für dich gewesen sein«, sagte sie schließlich.
»Ich sehe es noch immer vor mir.« Mads schüttelte kaum merkbar den Kopf und knetete die Hände. Dann hob er den Blick wieder und sah sie direkt an. »Wie er da im Wintergarten hing. Wie sich das Seil in seinen Hals schnitt und seine Augen mich leer anstarrten. Sein Gesicht war rotviolett angeschwollen. Alles in mir schrie danach, ihn herunterzunehmen, aber irgendwie konnte ich mich nicht rühren. Ich war vor Panik wie erstarrt.«
»Das muss ein schreckliches Erlebnis gewesen sein«, sagte Sarah. Sie beugte sich vor und streckte die Hand über den Tisch aus. »Ich kann gut verstehen, dass du dir Vorwürfe machst, weil du ihm nicht helfen konntest, aber du weißt ja selbst, dass es dafür mit großer Wahrscheinlichkeit schon zu spät war, oder?«
»Ja«, antwortete Mads, als ihre Hand die seine streifte. »Das weiß ich. Damals wusste ich das aber noch nicht. Ich konnte lange nicht schlafen, weil sein Blick mich immer wieder heimgesucht hat.«
»Hast du Hilfe bekommen?«
»Nicht wirklich«, sagte er mit einem leichten Schulterzucken. »Es gab so viel anderes zu erledigen. Meine Mutter hatte einen psychischen Zusammenbruch, als der Obduktionsbericht bestätigt hat, dass es Selbstmord war.«
»Und was ist mit dir?«
»Keine Ahnung. Ich war wohl … in erster Linie … wütend.«
»Wütend über das, was er getan hat?«
»Vielleicht.« Er kniff den Mund zusammen. Mit jedem Bild, das in ihm aufstieg, schnürte sich seine Brust enger zusammen und drückte ihm die Luft ab. »Das Schlimmste war vermutlich das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe damals immer wieder gesagt, dass er sich nicht umgebracht hat. Dass er so etwas niemals tun würde, aber Teglgård hat mir nicht zugehört.«
»Er wollte dich schützen«, sagte Sarah und zog die Hand wieder zu sich. Ihre Finger strichen dabei noch einmal sanft über seinen Handrücken, und ein schwaches Zittern ging durch seinen Körper. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass Polizisten sich das Leben nehmen.«
»Das weiß ich. Ich weiß alles über Selbstmordstatistiken und -theorien. Mein wichtigster Punkt ist aber, dass er den Abschiedsbrief an uns niemals mit seinem zweiten Vornamen unterschrieben hätte. Da stimmt was nicht. Die Ermittlungen wurden aber trotzdem eingestellt, kaum dass der Obduktionsbericht vorlag.«
»Aber was hätten sie denn noch herausfinden sollen?«, fragte Sarah. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat doch nichts auf einen Mord hingedeutet.«
»Es muss da einen Zusammenhang geben«, sagte Mads mit Nachdruck. »Wie kommt das Projektil in die Wand von unserem Wintergarten? Und was gibt es für eine Verbindung zu dem Fall, den mein Vater sich noch einmal angesehen hatte?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Sarah und schüttelte bedauernd den Kopf. »Aber nach allem, was du erzählt hast, glaube ich nicht, dass das Projektil beim Mord in Birkelev irgendwie von Bedeutung war.«
»Das Projektil nicht, aber vielleicht die Waffe«, wandte Mads ein.
»Okay«, sagte Sarah und unterdrückte ein Gähnen, während sie diskret auf ihre Uhr blickte. »Es mag dieselbe Waffe gewesen sein, aber wir wissen weder, wer den Schuss abgefeuert hat, noch, wann er abgefeuert wurde. Ich verstehe ja, dass du nach jedem Strohhalm greifst, den du finden kannst, aber womöglich hat Teglgård recht. Vielleicht wäre es am besten, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.«
Mads schaltete den Fernseher aus und legte die Fernbedienung auf den Couchtisch. Er atmete tief durch und richtete den Blick auf die Wand, an der die alte Uhr gestanden hatte. Es roch noch immer ein bisschen nach Farbe, obwohl es mittlerweile einige Monate zurücklag, dass seine Schwester Lisa das gemeinsame Elternhaus renoviert hatte. Die weißen Flächen der Wände schrien ihn mit ihrer minimalistischen Nacktheit geradezu an. Der neue Laminatboden unter seinen Füßen fühlte sich fremd an, und als er aufstand und das Wohnzimmer verließ, wurde der Klang seiner Schritte durch die ansonsten fast klinische Stille noch verstärkt.
Er rieb sich über das Gesicht. Ihm kam es vor, als hätte er Sand in den Augen, und er blinzelte ein paarmal, bevor er in den Flur trat und vor dem alten Büro seines Vaters Jørgen Lindstrøm stehen blieb. Die Risse in der alten Holztür waren in dem schwachen Lichtschein, der aus dem Wohnzimmer in den Flur fiel, noch besser zu sehen. Er zögerte einen Moment, dann öffnete er die Tür. Abgestandener Geruch nach altem Pfeifentabak schlug ihm entgegen und katapultierte ihn in die Vergangenheit zurück. Ein Streifen fahles Mondlicht fiel durch das Fenster auf den Schreibtisch mit dem aufgeschlagenen Ordner.
Junger Mann nach dem Birkelev-Mord zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, mit anschließender Option auf Sicherungsverwahrung.
Er betrachtete das vergilbte Foto des Mannes, der aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Die Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern viel zu groß, und durch die gebeugte Körperhaltung sah er viel kleiner aus, als er es in Wirklichkeit war.
Die Geschworenen waren sich einig, dass Lauritz Koch, der neunzehnjährige Angeklagte, den Leiter der Wohneinrichtung, Hans Peter Jessen, aus Birkelev getötet hat.
Er zog den Stuhl zurück, setzte sich und strich mit der Hand über den alten Zeitungsartikel, bis seine Augen erneut an dem Text hängen blieben.
Der Fall, der in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hat, fand seinen Schlusspunkt, als Lauritz Koch heute wegen des bestialischen Mordes an dem 61-jährigen Eigentümer und Verwalter der Einrichtung Vråskovgård verurteilt wurde. Der Fall hat die Debatte über die Sicherheit der Angestellten von Wohneinrichtungen erneut angefacht. Hans Peter Jessen war im Spätsommer erstochen auf dem Gelände seines Hofes in Birkelev, südlich von Ribe, aufgefunden worden.
Mads hob den Kopf und sah auf die vergilbte Landkarte, die über dem Schreibtisch hing. Der Name des kleinen Dorfes war mit einem Bleistift eingekreist worden. Mads griff nach dem Bericht der Spurensicherung. Als Datum war der 27. August 1998 angegeben. Er schlug den Bericht auf und betrachtete die Fotos. Absperrband markierte die schmale Einfahrt zu dem gelben Haus, und einige schlanke Fichten schirmten Haus und Vorgarten von der Straße ab. Mads spitzte die Lippen, während er seinen Blick konzentriert über die anderen Fotos des Anwesens schweifen ließ. Der geschlossene Hofplatz war sauber und ordentlich, die Mauer frisch gekalkt und das Reetdach so hell, als wäre es erst kurz vor der Aufnahme des Fotos erneuert worden. Er drehte sich um und warf einen Blick auf die Flurkarte. An das Grundstück grenzte ein kleinerer Wald, zwischen dessen Bäumen der Fundort, ein Holzschuppen, eingezeichnet worden war.
Mads schob die Dokumente etwas zur Seite und griff nach dem Polizeibericht. Er überflog die Meldung, die im Polizeirevier eingegangen war, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bericht der Spurensicherung und die Fotos der Leiche richtete. Hans Peter Jessens halb entkleideter Körper hing schlaff über einem Haufen Brennholz, als wäre er über seine eigene Hose gestolpert. Rotviolette Wunden überzogen den nackten Unterleib, und lang gezogene Blutspritzer verwandelten die Wände und den Betonboden des Schuppens in eine Art makaberes Kunstwerk, in dessen Zentrum die übel zugerichtete Leiche hing.
Mads legte den Bericht zur Seite und nahm sich den Obduktionsbericht vor. In die Skizze des Toten waren die neununddreißig Stichwunden eingezeichnet, von denen der Rechtsmediziner mindestens achtundzwanzig für tödlich gehalten hatte. Mads zog die Brauen zusammen, während er die grauenhaften Aufzeichnungen durchging, wobei er immer wieder einen Blick auf die Skizze warf, bis er sich den Ablauf des Mordes einigermaßen vorstellen konnte.
Mads drehte das Wasser auf, hielt das Glas unter den Wasserstrahl und trank einen Schluck, um den künstlich süßen Geschmack des Proteindrinks von der Zunge zu bekommen. Die Muskeln in seinem Nacken waren steif, sie nahmen ihm die vielen nächtlichen Stunden am Schreibtisch seines Vaters übel. Er legte den Kopf zur Seite und dehnte die Muskeln mit angestrengter Miene, als das Handy in seiner Tasche zu klingeln begann.
»Lindstrøm«, sagte er und leerte das Glas in einem langen Zug, bevor er es abstellte und ins Wohnzimmer ging.
»Hallo, Mads? Was machst du?«, fragte Lisa. Im Hintergrund war das charakteristische Rauschen des Verkehrs zu hören. Sie stand vermutlich auf der kleinen, zur Straße gewandten Terrasse ihres Hauses in dem englischen Vorort, wo sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebte.
»Nichts Besonderes«, antwortete Mads und ging in den Wintergarten. Trotz der Sonnenstrahlen, die auf die Dielen fielen, zog ein kalter Lufthauch über seine nackten Füße, als er die Tür zum Garten öffnete.
»Hast du frei?«
»Ja.« Er setzte sich in die Türöffnung und betrachtete das Spiel der Sonnenstrahlen in den Zweigen des alten Apfelbaums. »Im Bylderup-Fall ist ein Urteil gesprochen worden. Sechzehn Jahre.«
»Klingt nach einer angemessenen Strafe«, sagte Lisa. »Ich gehe davon aus, dass ihr zufrieden seid?«
»Ja, das war das erwartete Urteil«, antwortete Mads und ließ die Schultern etwas sinken.
»Du klingst nicht ganz fit. Ist was?«
»Nee, alles in Ordnung. Ist gestern nur ein bisschen spät geworden«, antwortete Mads und stand auf. Mit dem Blick folgte er einem Taubenpärchen, das über die Felder flog. Dann drehte er sich um und ging wieder ins Haus.
»Habt ihr gefeiert?«, erkundigte sich Lisa.
»Die anderen schon.«
»Du nicht?«
»Nein.« Er wedelte eine Wespe, die sich ins Wohnzimmer verirrt hatte, durch die offene Tür nach draußen.
»Du solltest ein bisschen mehr unter Leute gehen«, sagte Lisa. »Das würde dir guttun.« Im Hintergrund war ein leises Klicken zu hören, dann atmete sie tief ein.
»Und du solltest mit dem Rauchen aufhören.«
»Touché!« Lisa lachte heiser. »Was hast du jetzt für Pläne?«
»Keine besonderen«, sagte Mads und ging in den Flur. »Hier sind noch ein paar alte Sachen, die ich aufräumen muss.«
»Hast du schon Zeit gehabt, mit dem Makler zu reden?«
Ihre Frage brachte ihn dazu, das Handy fester zu umklammern. »Nein, noch nicht.«
»Aber du kümmerst dich drum, oder?«
»Ja, natürlich. Aber eins nach dem anderen. Ich muss erst mit dem fertig werden, was ich gerade mache.« Er drückte die Tür zu dem kleinen Büro auf und starrte auf das runde Gesicht von Lauritz Koch, der ihn von dem vergilbten Zeitungsartikel aus ansah, den Mads in einem der Ordner im Regal gefunden hatte.
»Brauchst du dafür noch lange?«
»Keine Ahnung«, antwortete Mads und setzte sich. Sein Blick fiel auf die handschriftlichen Notizen am Seitenrand einiger ausgedruckter Dokumente, und er atmete schwer aus. »Ich verspreche, dass ich mich bald darum kümmere.« Er schob den Stuhl etwas nach hinten und lockerte die Schultern.
»Das ist gut«, antwortete Lisa und atmete aus. »Wäre toll, wenn das nicht so lange dauern würde, jetzt, da wir das Haus für den Verkauf renoviert haben.«
Mads biss die Zähne zusammen und rieb sich mit den Fingerspitzen die Stirn. Die Leichtigkeit in ihrer Stimme provozierte ihn, und er fühlte sich an ein Versprechen gebunden, das nicht seines war.
»Ich kann das auch machen«, fuhr sie fort, als er nicht antwortete.