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Grausame Morde erschüttern das Grenzland zwischen Dänemark und Deutschland – der neue Fall für Mads Lindstrøm und Thomas Beckmann Was haben eine ermordete Pastorin in einer kleinen Kirche im dänischen Bylderup und die Leiche eines Mannes im Moor jenseits der Grenze gemeinsam? Für Mads Lindstrøm, beurlaubt und im Haus seiner verstorbenen Eltern den Geistern der Vergangenheit ausgeliefert, zunächst nichts. Doch dann holt ihn sein Dezernatsleiter zurück, da die Spuren in Bylderup im Sand zu verlaufen drohen. Und ausgerechnet Thomas Beckmann bittet Mads um Hilfe beim Toten im Moor. Der sonst so korrekte deutsche Kommissar weiß, dass nur dieser ihm die Informationen verschaffen kann, um das Rätsel zu lösen. Je tiefer Mads gräbt, desto mysteriöser und dunkler werden die Fälle. Fast zu spät finden er und Thomas Beckmann heraus, dass hinter den Morden ein Täter steckt, der aus zutiefst persönlichen Gründen tötet. Und dann gibt es ein drittes Opfer ... Packend, düster, abgründig – der zweite Grenzland-Fall aus der Feder der dänischen Thrillerautorin Karen Inge Nielsen »Niemand hört dich«, »Niemand sieht dich«, »Niemand rettet dich« – an dieser Thriller-Trilogie aus Dänemark kommt 2025 niemand vorbei! »Ein packender Thriller voller dunkler Überraschungen.« dagens.dk Wer Jens Hendrik Jensen, Stieg Larsson und Arne Dahl mag, wird Karen Inge Nielsen lieben!
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
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Aus dem Dänischen von Günther Frauenlob
© Karen Inge Nielsen 2023
Titel der dänischen Originalausgabe:
»Dødedansen«, Dreamlitt, Dänemark, 2023
© der deutschsprachigen Ausgabe 2025:
Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, www.piper.de
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Lektorat: Annika Krummacher
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Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Widmung
NOVEMBER
28. November
FEBRUAR
18. Februar
Toftlund
19. Februar
Haderslev
19. Februar
Bylderup
19. Februar
Vojens
20. Februar
Toftlund
20. Februar
Toftlund
22. Februar
Toftlund
23. Februar
Vojens
24. Februar
Toftlund
24. Februar
Toftlund
26. Februar
Toftlund
28. Februar
Toftlund
MÄRZ
4. März
Toftlund
4. März
Haderslev
4. März
Haderslev
4. März
Haderslev
4. März
Haderslev
5. März
Toftlund
5. März
Bylderup
5. März
Bylderup
5. März
Haderslev
5. März
Vojens
6. März
Toftlund
7. März
Eggebek
7. März
Thorsberger Moor
7. März
E45 Richtung Norden
7. März
Kiel
7. März
Kiel
7. März
E45 Richtung Norden
8. März
Toftlund
8. März
Haderslev
8. März
Haderslev
8. März
Haderslev
8. März
Haderslev
8. März
Toftlund
9. März
Haderslev
9. März
Toftlund
10. März
Sundsmark
10. März
Haderslev
10. März
Bylderup
10. März
Haderslev
10. März
Haderslev
11. März
Toftlund
11. März
Klingbjerg
11. März
E45 Richtung Norden
12. März
Sundsmark
12. März
Haderslev
12. März
Vojens
12. März
Toftlund
13. März
Haderslev
13. März
Ockholm
13. März
E45 Richtung Norden
13. März
Haderslev
13. März
Toftlund
14. März
Kiel
13. März
Kiel
14. März
Kiel
14. März
Haderslev
14. März
Haderslev
15. März
Flensburg
15. März
Flensburg
15. März
Flensburg
16. März
Haderslev
16. März
Toftlund
16. März
Toftlund
16. März
Sundsmark
17. März
Haderslev
17. März
Haderslev
17. März
Haderslev
17. März
Klingbjerg
17. März
Klingbjerg
17. März
Sønderborg
Leseprobe aus NIEMAND RETTET DICH
27. August 1998
Birkelev
2. Juli
Haderslev
2. Juli
Vonsbæk
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Karina Rye Pedersen
Zu spät erkennen wir, dass wir am Rande des Abgrunds stehen
Karl Uwe Kleibner sah vom Bildschirm auf. Das gelbliche Licht der Schreibtischlampe fiel auf die rotbraune Tischplatte. Er schob den Stuhl nach hinten und stand auf, während das Läuten der Türklingel langsam im Wohnzimmer verhallte. Dann leerte er das Cognacglas, stellte es auf ein Tablett, das im Regal stand, und ging in den Flur. Für einen Moment ließ er den Blick über die großen Wohnzimmerfenster schweifen. Die Lichter von Schleswig schimmerten über die Schlei zu ihm herüber und spiegelten sich im nachtschwarzen Wasser. Er schaltete das Licht im Flur ein, als es erneut klingelte.
»Ja?« Karl Uwe Kleibner öffnete die Tür und sah nach draußen. Das Licht der Hoflampen fiel auf die dünnen Zweige der Trauerweide. Unter dem Vordach des weißen Gebäudes hatte eine Spinne ihr Netz gewebt. Er holte tief Luft. Als Erstes bemerkte er das parkende Auto an der Baumreihe, dann erst sah er die dunkel gekleidete Gestalt, die ihm den Rücken zudrehte, als betrachtete sie die Landschaft. Karl Uwe atmete noch einmal tief durch und trat einen Schritt nach draußen. Die Luft roch nach Salzwasser, prickelnd und kalt.
»Sie können hier nicht parken, das ist Privatgrund.« Er blieb stehen und betrachtete die Gestalt, die sich langsam umdrehte. Weißer Atem stand vor ihrem Gesicht, und für einen Moment erstarrte Karl Uwe, ehe die Wut in ihm hochkochte. »Was wollen Sie hier?« Seine Stimme war hart, sein Blick bohrend. In seinen Adern mischte sich das Adrenalin mit dem Alkohol und brachte seine Haut zum Glühen. »Verschwinden Sie!« Er trat einen weiteren Schritt vor, schlug zu und traf die Schulter. Sein Gegner wich zurück. »Verschwinden Sie, oder ich rufe die Polizei!«
Er wartete einen Augenblick und holte zum nächsten Schlag aus, der aber ins Leere ging. Dann drehte er sich schnaubend um und ging zurück zum Haus. Er zog das Handy aus der Hosentasche und erweckte das Display zum Leben, als ein stechender Schmerz seinen Körper durchbohrte. Hektisch schnappte er nach Luft, während die Beine unter ihm nachgaben. Er griff nach der Mauer neben den Stufen, doch er fand keinen Halt und ging zu Boden.
»Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass es vorbei ist?«, zischte die Person durch die zusammengebissenen Zähne und legte die Hand auf seinen Mund und seine Nase.
Das Messer bohrte sich tiefer zwischen die Rückenwirbel, und Karl Uwe schlug nach hinten, um seinen Gegner zu treffen, aber die Kräfte verließen ihn. Der Knorpel knirschte, als die Klinge gedreht und die Knochen weiter auseinandergedrückt wurden. Er öffnete den Mund, es kam aber kein Laut über seine Lippen. Ein Inferno aus Nervenimpulsen breitete sich entlang seiner Wirbelsäule aus und ließ seinen ganzen Körper zittern. Der Platz vor ihm geriet in Bewegung, und die Sterne über ihm zuckten wie Feuerwerkskörper über den schwarzen Himmel. Im Blick seines Gegners stand der pure Irrsinn.
»Warum?« Seine Stimme erstickte unter der Hand, die sich mit immer mehr Kraft auf seinen Mund drückte. Die flammende Hölle in seinem Inneren drohte ihm die Besinnung zu rauben, trotzdem entging ihm nicht, dass das Gesicht über ihm lachte.
»Warum?«, wiederholte sein Gegner. Ein höhnisches Schnauben trat an die Stelle des Lachens, und mit einem Mal war der Blick wieder eiskalt. »Du hast mir das Letzte genommen, was ich noch hatte. Meine Identität, mein Leben. Es ist an der Zeit, dass du denselben Albtraum durchmachst wie ich. Das, was du bist, bin ich gewesen. Und das, was ich bin, sollst du werden.«
Eine neue Welle aus Schmerz schoss durch seinen Schädel. Er schmeckte Blut auf der Zunge, und die Lunge brannte. Lichtpunkte tanzten vor seinem inneren Auge, als sich die Muskeln ein letztes Mal anspannten, bevor sein Körper schlaff auf die Granitplatten des Hofs fiel. Sein Blick starrte leer auf die hell erleuchteten, schwach im Wind wehenden Zweige, als wollten sie seiner Seele den Weg weisen.
Mit einem verächtlichen Blick auf den leblosen Körper richtete die Gestalt sich auf und ging zum Wagen. Ein Klicken durchbrach die Stille, als sie den Kofferraum öffnete und nach dem Beutel mit dem Blut griff.
Mads blieb stehen, während das Adrenalin durch seinen Körper pumpte. Er sah über die Felder, auf die sich eine dünne Schicht Raureif gelegt hatte, und atmete tief durch. Die klare, kalte Luft füllte seine Lunge mit befreiender Leichtigkeit. Er beugte sich vor und stemmte die Hände auf die Knie. Sein Herz hämmerte und trieb das Blut durch seinen Körper, während eine Atemwolke vor seinem Mund tanzte. Er sah auf seine Armbanduhr. Eine Stunde und achtunddreißig Minuten. Über eine Minute schneller als sonst. Er drehte den Kopf und sah zu dem roten Backsteinhaus. Die braunen Blätter der Buchenhecke rahmten den großen Vorgarten mit dem halbhohen, welken Gras und dem alten, knorrigen Apfelbaum ein, der dicht am Haus wuchs. Für einen Moment blieb sein Blick am Wintergarten hängen. Die Schmutzschicht an den Scheiben verwehrte den Blick auf die dahinter gestapelten Pappkartons. Er richtete sich auf. Kälte drang durch die klamme Sportkleidung, und seine Muskeln zitterten leicht. Er drückte die Hände an die Wangen, legte den Kopf in den Nacken und atmete aus, als es an seinem Oberschenkel sanft zu vibrieren begann.
»Mads Lindstrøm«, antwortete er und drückte sich das Handy ans kalte Ohr.
»Per Teglgård hier. Wo warst du?«
»Draußen«, antwortete Mads und ging über die Einfahrt zum Haus. Der Kies knirschte unter seinen Schritten. »Was ist denn los?«
»Du weißt schon, dass wir gestern eine Verabredung hatten?«
»War das gestern?«, antwortete Mads und atmete schwer aus.
»Verdammt, Mads. So läuft das nicht. Du verbaust dir deine Zukunft.«
»Ich soll mir meine Zukunft verbauen?«, schnaubte Mads. »Wenn meine Zukunft dich auch nur ein bisschen interessieren würde, hättest du dich doch wohl für mich einsetzen können.« Er steckte den Schlüssel ins Türschloss und öffnete.
»Hör auf, Mads.«
»Womit?«, fragte Mads. Im Flur schlug ihm warme, abgestandene Luft entgegen, und für einen Moment erwog er, wieder nach draußen zu gehen und einfach weiterzulaufen.
»Du musst dich der Sache stellen. Du hast gegen meine Anweisung gehandelt«, antwortete Per Teglgård. »Drei Menschen sind gestorben, aber wir müssen es trotzdem irgendwie hinter uns lassen.«
»Hinter uns lassen?«, wiederholte Mads, streifte sich im Flur die Schuhe ab und schloss die Tür hinter sich. »Du gibst mir die Schuld, sagst aber gleichzeitig, dass wir das Ganze hinter uns lassen müssen?« Er zögerte ein paar Sekunden, atmete langsam ein und wieder aus, konnte aber nicht verhindern, dass die Wut in ihm weiterglühte. »Du weißt doch gar nicht, ob das nicht so oder so passiert wäre.«
»Nein, das wissen wir nicht«, räumte Per ein. »Der Punkt ist aber, dass wir das nicht beweisen können. Unsere Position ist ziemlich schwach.«
»Und mit uns meinst du vermutlich mich«, sagte Mads. »Du sitzt fest im Sattel, dabei hast du den Fall gar nicht aufgeklärt.«
»Verdammt noch mal! Wir sitzen beide im selben Boot«, schnitt Per Teglgård ihm das Wort ab. »Der Fall betrifft uns alle. Es geht dabei nicht nur um dich.«
»Aber nur ich bin suspendiert worden.«
»Du bist nicht suspendiert worden«, antwortete Per.
»Aber freigestellt.« Mads ging ins Wohnzimmer. »Und das kommt ja wohl auf dasselbe raus.«
»Es ging nicht anders.«
»Nicht? Du hättest die internen Ermittler davon abbringen können, eine Klage einzureichen. Du hättest ihnen sagen können, dass ihr den Durchbruch, der zur Festnahme von Charon geführt hat, nur mir zu verdanken hattet.«
»Du weißt genau, dass ich da nichts machen konnte«, antwortete Per Teglgård. »Du hast dich über einen Befehl hinweggesetzt, und dafür musst du nun die Verantwortung übernehmen.«
»Und wer hat die Festnahme zu verantworten? Und wer wird dafür gefeiert?«, fragte Mads und warf sich aufs Sofa. »Was ich getan habe, war das einzig Richtige.«
»Das kann keiner von uns wissen«, antwortete Per. »Aber auch wenn du es nicht glaubst: Ich bin auf deiner Seite.«
»Ach, wirklich?« Mads legte die Füße aufs Sofa und griff mit der freien Hand nach der Zeitung. »Du hast mich nicht mal über die weitere Entwicklung in diesem Fall auf dem Laufenden gehalten. Das habe ich alles erst aus der Zeitung erfahren.«
»Du kennst doch das System«, antwortete Per mit einem Seufzen. »Solange die interne Ermittlung tätig ist, muss ich dich aus dem Fall heraushalten.«
»Wärst du wirklich auf meiner Seite, hättest du es gar nicht erst so weit kommen lassen.«
»Ich halte mich lediglich an die Vorschriften«, antwortete Per Teglgård. »Und die besagen, dass wir regelmäßig miteinander reden müssen. Deshalb erwarte ich, dass du morgen in meinem Büro erscheinst. Verstanden? Oder ist das wieder ein Befehl, den du zu missachten gedenkst?«
Mads zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. Er lehnte sich zurück und sah hinüber zum Polizeirevier. Die weißen Ornamente an der Mauer waren in dem grauen Straßenbild ein echter Lichtblick. Er öffnete die Autotür und stieg aus, den Blick noch immer auf das alte Gebäude gerichtet. Einige Fenster waren gekippt. Er schob die Hände in die Taschen und ging über den Platz. Auf dem Parkplatz vor dem Haus standen nur wenige Autos. Eine altvertraute Wut stieg in ihm auf, als er auf dem Parkplatz, den er selbst immer benutzt hatte, Laugesens Schrottkarre stehen sah. Er ballte die Hände zu Fäusten und drückte die Tür des Gebäudes mit der Schulter auf. Nachdem er dem Polizeiassistenten am Empfang zur Begrüßung kurz zugenickt hatte, ging er die Treppe hoch. Vor der Glastür des Dezernats für Gewaltverbrechen zögerte er kurz, dann öffnete er sie und ging über den Flur zu Teglgårds Büro. Der vertraute Geruch nach Druckertoner und Kaffee zog ihn an, auch wenn er dagegen ankämpfte.
»Ah, da bist du ja«, sagte Per, der im selben Moment den Kopf aus der Tür steckte. »Setz dich schon mal rein. Ich komme sofort.« Er öffnete die Tür. Auf dem Schreibtisch standen eine Kaffeekanne und zwei Becher. »Bedien dich«, fuhr er fort und verschwand über den Flur.
Mads öffnete die Jacke. Sein Blick wanderte durch das Fenster zu einer Kindergartengruppe, die am Polizeirevier vorbeiging. Die hellen Stimmen mischten sich mit dem Rauschen des Verkehrs, das durch das Fenster nach innen drang. Er zog die Jacke aus und warf sie auf die Lehne des kleinen Sofas, über dem die Porträts der früheren Dezernatsleiter hingen. Dann ging er zum Schreibtisch und setzte sich.
»Hast du dir Kaffee genommen?«, fragte Per Teglgård, schloss die Tür hinter sich und ging um den Schreibtisch herum. Er musterte Mads ein paar Sekunden, dann zog er den Stuhl zurück und setzte sich.
»Danke, ich brauche nichts«, antwortete Mads und hob ablehnend die Hand, als sein Chef die Kanne anhob und sich selbst nachschenkte.
»Sicher?« Per stellte die Kanne zurück auf den Tisch und ließ die Hand auf dem Henkel ruhen.
»Ja.«
»Dann legen wir los«, sagte Per und griff zu einer Plastikmappe, die vor ihm auf dem Tisch lag. Für einen Moment erstarrte er, dann verzog er sein Gesicht zu einer etwas gequälten Grimasse, bevor er wieder zu Mads hinübersah. »Wie geht es dir eigentlich?«
»Okay, denke ich.« Mads zuckte mit den Schultern.
»Ich meine das ernst, Mads. Wir müssen darüber reden können, wie es dir geht. Was machst du zurzeit?«
»Nicht so viel.«
Per Teglgård seufzte. Er griff nach seinem Becher und trank einen Schluck. »Denkst du an deine Zukunft bei der Polizei?«
»Was soll ich denn sonst tun? Schließlich bin ich von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt worden.«
»Du bist nicht vor die Tür gesetzt worden«, antwortete Per. »Ich verstehe ja gut, dass sich das so anfühlt, aber so solltest du es nicht sehen.«
»Dann erklär mir bitte, wie ich das sehen sollte, denn aus meiner Perspektive sieht es so aus, als hättest du mich geopfert.«
»Ich habe dich nicht geopfert. Du hast gegen meinen Befehl gehandelt, und du weißt ganz genau, dass ich auf so etwas reagieren muss«, antwortete Per Teglgård und nahm die Papiere aus der Mappe. »Außerdem hat Steen Hvidtfeldts Anwalt Beschwerde eingelegt gegen die Art, wie sein Mandant vernommen worden ist.«
Mads schüttelte den Kopf. »Beschwerde eingelegt? Gregers Tornborg hätte seinen Mandanten bitten können, die Karten auf den Tisch zu legen und uns die Wahrheit zu sagen. Dann wäre Hvidtfeldt früher aus der Haft entlassen worden, was im Übrigen auch für die Ermittlungen gut gewesen wäre.«
»Das ist deine Sicht der Dinge. Ich gehe davon aus, dass du eine Stellungnahme geschrieben hast?«
Mads biss die Zähne zusammen und nickte.
»Ich weiß nicht, wie dein Fall ausgehen wird«, fuhr Per fort. »Ich habe von der Staatsanwaltschaft noch nichts gehört, es ist also alles möglich.« Er zögerte und trank einen Schluck Kaffee. »Da ist aber noch ein ganz anderes Problem. Mir ist zu Ohren gekommen, dass du nicht zu den Sitzungen bei dem Psychologen gegangen bist, wie wir es eigentlich vereinbart hatten.«
Er stellte seinen Kaffeebecher ab, schob den Stuhl nach hinten und griff nach einem Dokument, das auf dem niedrigen Regal hinter ihm lag. »Laut Troels Halland hast du dich weder abgemeldet noch sonst irgendwie auf die Nachrichten reagiert, die er dir auf der Mailbox hinterlassen hat.« Er legte das Dokument auf den Schreibtisch und sah Mads eindringlich an.
»Für so was habe ich keine Zeit«, antwortete Mads und lehnte sich zurück. Er verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine aus.
»Es geht nicht darum, ob du Zeit hast oder nicht, das ist eine Auflage«, sagte Per.
»Soweit ich weiß, bin ich freigestellt, und in dem Bescheid steht nicht, dass du auch über meine Freizeit verfügen kannst.«
»Das ist nicht nur eine Auflage, damit du wieder zurück in den Polizeidienst kommen kannst, Mads. Ich mache mir ehrlich Sorgen um dich.« Per Teglgård beugte sich vor. »Verstehst du das? Um dich als Menschen. Du bist einer der besten Ermittler des Dezernats, aber du vergräbst dich in einem Loch, das immer tiefer wird.«
»Was weißt du denn schon darüber?«
»Mehr, als du denkst«, antwortete Per und legte die gefalteten Hände vor sich auf den Tisch. »Der Weg, auf dem du da gerade bist, ist verdammt gefährlich.«
»Und was soll das für ein Weg sein?«
»Du lässt die Sachen zu nah an dich ran, als wärst nur du dafür verantwortlich. Wir sind ein Team. Niemand hier funktioniert ohne die anderen. Auch du nicht.«
»Es fühlt sich aber gerade nicht so an, als wäre ich Teil eines Teams.«
»Das bist du aber«, beteuerte Per. »Ich habe gesehen, wie die Leute an ihrer Arbeit zerbrechen.«
»Jetzt fang nicht wieder damit an«, fiel Mads ihm ins Wort. »Mein Vater ist nicht an seiner Arbeit gestorben.«
»Das wollte ich auch gar nicht sagen«, erwiderte Per Teglgård und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. »Aber vielleicht ist das auch eine Sache, über die du mit Troels Halland reden könntest. Er hat auf meine Bitte hin ein paar Termine verlegt und hätte heute Nachmittag eine Stunde Zeit für dich.«
»Das geht nicht.«
»Das steht nicht zur Diskussion«, antwortete Per. Im selben Moment wurde die Tür geöffnet. Er hob den Blick und sah zu Torben Laugesen hinüber, der in der Türöffnung stand, dann wanderte sein Blick zurück zu Mads, bevor er mit dem Finger auf das Dokument zwischen ihnen tippte. »Die Adresse steht hier. Das ist bei ihm zu Hause.«
»Wir haben einen Einsatz«, sagte Torben Laugesen zu seinem Chef, ohne Mads auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Ein Mord?«, fragte Mads. »Wo denn?«
»Das geht dich doch nichts an«, antwortete Torben Laugesen. »Sarah Jonsen ist mit ihrem Team schon unterwegs zur Kirche in Bylderup.«
»Verdammt«, antwortete Per Teglgård und stand auf. »Ich komme.« Er sah kurz zu Mads. Rote Flecken zeichneten sich auf seiner Haut ab, während er das Dokument über den Tisch schob. »Du bewegst dich da auf einem schmalen Grat.« Er nahm seine Jacke vom Garderobenständer hinter der Tür und sah Mads noch einmal eindringlich an. »Das ist deine letzte Chance.«
Mads folgte seinem Chef mit dem Blick, als dieser eilig nach draußen verschwand. Vom Flur drangen hektische Stimmen zu ihm herein, doch nur kurze Zeit später war es wieder still. Er stand auf, nahm seine Jacke von der Sofalehne und überflog die Adresse, dann knüllte er das Dokument zusammen. Im Gehen warf er es in den Papierkorb.
Mads sah auf die Uhr. In etwas weniger als anderthalb Stunden hatte er den Termin bei Halland. Im Rückspiegel verschwand Haderslev aus seinem Blick. Er nahm die Hand vom Steuer und gab statt der Adresse des Psychologen in Vojens den Ort Bylderup ins Navi ein. Im nächsten Moment zeichnete sich die Route als rote Linie auf dem Bildschirm ab. Vielleicht war das zu schaffen. Er gab Gas und sah zu, wie die Tachonadel die Hundertvierzig passierte, dann tippte er auf »Route starten«. Er würde sich von Per Teglgård doch nicht sein Leben diktieren lassen.
*
Eine Reihe kahler Bäume flankierte den Kirchenweg in Bylderup. Mads ging vom Gas und hielt am Straßenrand. Ein Stück vor ihm wurde das Blaulicht an der weißen Kirchenmauer reflektiert. Einige Beamte standen mit dem Rücken zu ihm da, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Ihre Aufmerksamkeit galt den weiß gekleideten Gestalten, die hinter dem flatternden Absperrband in der Kirche ein und aus gingen. Mads legte den Kopf an die Nackenstütze. Sarah Jonsens weißer Kastenwagen stand mit offener Heckklappe vor Per Teglgårds Auto. Mads sah sich um und beobachtete ein paar Pressefotografen, die ihre Teleobjektive justierten und die Qualität der Fotos prüften.
»Hallo, Mads«, sagte jemand, gefolgt von einem leisen Klopfen an die Seitenscheibe.
»Ach, hallo«, sagte er und lächelte Berit Langer an.
Sie öffnete die Beifahrertür seines Wagens. »Ich wusste gar nicht, dass du schon wieder zurück bist. Willst du mit rein?«
»Ich war bloß in der Gegend«, antwortete Mads und richtete seinen Blick wieder auf die vor der Kirche geparkten Autos. Sarah Jonsen redete mit Per Teglgård. Ihre roten Locken waren unter der Kapuze des weißen Overalls nur zu erahnen. Die kalte Luft färbte ihre Wangen. »Weißt du schon Genaueres über die Leiche?«
»Es ist eine Frau«, antwortete Berit Langer und setzte sich auf den Beifahrersitz.
»Identifiziert?«
Berit Langer nickte. »Der Totengräber hat sie gefunden. Die Kirchentür stand offen. Charlotte Weidemann. Pastorin der örtlichen Gemeinde.«
»Wie ist sie getötet worden?«
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Berit. »Nach allem, was ich gehört habe, hat man sie an die Altarschranke gebunden. Quasi gekreuzigt, nur eben vornübergebeugt.«
»Ein Ritual?«
Berit Langer zuckte mit den Schultern. »Es ist zu früh, um so etwas sagen zu können. Du weißt ja, dass Sarah und ihr Team erst fertig sein müssen, bevor ich den Fundort unter die Lupe nehmen kann.«
»Natürlich«, antwortete Mads und nickte. »War nur so ein Gedanke.«
»Weiß ich doch.« Sie lächelte mitfühlend. »Wie lautet die Prognose?«
»Wie meinst du das?«, fragte Mads, ohne den Blick von Sarah Jonsen zu nehmen, die gerade wieder in der Kirche verschwand.
»Wann du zurückkommst?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Mads. Er zögerte, und mit einem Mal war die Stille zwischen ihnen beklemmend. »Ich weiß nicht einmal, ob ich zurückkomme.«
»Natürlich kommst du zurück«, sagte Berit. Sie drehte den Kopf und betrachtete ihn von der Seite, ehe sie die Tür öffnete. Die Kälte drang zu ihnen herein. »Ich gehe mal besser zu den anderen rüber«, sagte sie. »War aber nett, mit dir zu reden.«
»Ja«, antwortete Mads. Er hob die Hand und lächelte ihr etwas mutlos zu, als sie die Tür hinter sich schloss. Während sie die Straße überquerte, wirbelte der Wind ihr Haar durcheinander, und sie schob es sich aus dem Gesicht. Sie duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging über den weißen Kiesweg zur Kirche.
Mads ließ den Motor an. Das Brummen erfüllte den Wagen, während Berit Langer einen Overall überstreifte und in der Kirche verschwand. Er legte den Gang ein. Die Luft säuselte im Gebläse, als er losfuhr und in der nächsten Einfahrt wendete. Einen Augenblick später vibrierte das Handy in seiner Tasche. Der Name des Dezernatsleiters stand auf dem Display.
»Ja?«
»Was, zum Henker, machst du hier? Du hast einen Termin in Vojens!« Per Teglgårds Stimme donnerte durch die Lautsprecher des Wagens. »Wenn du nicht rechtzeitig bei Halland bist, muss ich das melden!«
»Ich bin doch unterwegs«, antwortete Mads und biss die Zähne zusammen. Er bog nach rechts ab, und im Rückspiegel verschwand das blaue Blinken. Die Bebauung wurde lichter, und als er das Ortsschild hinter sich hatte, öffnete die Landschaft sich zu einer weiten Fläche.
»In einer Stunde ist dein Termin!«, meinte Per Teglgård bitter, dann legte er auf.
Mads zog die Handbremse an und warf einen Blick auf das große Haus hinter der hohen Hecke. Widerstrebend löste er den Sicherheitsgurt und stieg aus. Sein Blick klebte für einen Moment an den graubraunen Wänden und den schwarz glasierten Dachziegeln, dann kniff er die Lippen zusammen und ging zum Haus.
»Ich dachte schon, Sie würden gar nicht mehr kommen«, sagte Troels Halland, als er die Tür öffnete und einen Schritt zur Seite trat, um Mads hereinzulassen. »Wir können uns da reinsetzen.« Halland nickte in Richtung einer halb offen stehenden Tür und schob diskret den Ärmel des Strickpullovers hoch, um einen Blick auf seine Uhr werfen zu können. »Ich sage eben Ulla Bescheid, dass Sie gekommen sind.«
Mads drückte die Tür des Büros auf. Aus dem Augenwinkel sah er den Psychologen im Wohnzimmer verschwinden. Dann trat er einen Schritt vor und ließ seinen Blick so aufmerksam durch den Raum schweifen, als wäre es ein Tatort. Erst danach öffnete er seine Jacke. Die klare Wintersonne fiel durch das Fenster auf den großen Schreibtisch.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Halland hinter ihm und zeigte auf zwei Sessel. »Ich habe hier zu Hause nur selten Therapiesitzungen, Per Teglgård hat mir aber zu verstehen gegeben, dass es wichtig ist. Kaffee?«
»Nein danke«, antwortete Mads. »Aber wenn Sie ein Glas Wasser hätten?«
»Ein Kommissar, der keinen Kaffee trinkt?«, antwortete Halland und rieb sich den Bart. »Das erlebt man nicht oft.«
»Das mit dem Kaffee habe ich hinter mir. Unnötiger Gebrauch von Stimulanzien ist nicht gut für den Körper«, sagte Mads und legte seine Jacke auf die Armlehne. Er betrachtete das Bild hinter Troels Halland, fragte sich für ein paar Sekunden, was es darstellte, gab den Gedanken dann aber wieder auf und setzte sich.
»Vernünftig«, antwortete Halland und nickte, während er ein Glas nahm und Mads aus einer Karaffe Wasser einschenkte. »So standhaft bin ich leider nicht.« Er nahm Mads gegenüber Platz. »Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind.«
»Das weiß ich eigentlich auch nicht so genau«, sagte Mads. »Vielleicht wäre es einfacher, wenn Sie mir das erklären würden.«
»Tja, so einfach ist das nicht«, brummte Halland. Er setzte seine Lesebrille auf und öffnete eine Mappe. »Vielleicht fangen Sie einfach damit an, ein bisschen über sich selbst zu erzählen?«
»Da gibt es nicht so viel zu erzählen«, antwortete Mads. Er griff nach dem Glas und trank einen Schluck Wasser. »Ich bin achtunddreißig und arbeite im Dezernat für Gewaltverbrechen bei der Polizei in Haderslev.«
»Ja, das weiß ich«, sagte Halland und warf einen kurzen Blick auf die Papiere. »Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um Ihren letzten Fall?« Er hob seinen Blick und sah Mads über das markante Brillengestell hinweg an. »Teglgård hat mich informiert, dass es ein sehr unangenehmer Fall war?«
»Die meisten Mordfälle sind unangenehm«, entgegnete Mads und rutschte im Sessel etwas nach vorn, bevor er sich anlehnte.
»Ja, das ist mir klar«, sagte Halland mit einem Nicken. »Ich weiß nichts Konkretes über den Fall, aber nach allem, was ich aus den Medien erfahren habe, war das Beweismaterial mehr als erschütternd. Es muss schlimm gewesen sein, sich das anzuschauen. Wie geht es Ihnen damit?«
»Das ist ein Teil meines Jobs«, erwiderte Mads und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Auch das ist mir bewusst, trotzdem hinterlässt so etwas doch Spuren«, fuhr Halland fort und legte die Papiere weg.
»Es nützt nichts, das mit nach Hause zu nehmen«, antwortete Mads.
»Dann sind Sie also dazu in der Lage, in Ihrer Freizeit alles auszuklammern, was mit der Arbeit zu tun hat?«
»Ja, ich denke schon«, antwortete Mads mit einem Schulterzucken, ohne seine Arme zu lockern.
»Interessant«, erwiderte Halland und nahm die Brille ab. Er hielt sie für einen Moment in der Hand und legte sie dann auf den Tisch. »Die meisten Ermittler sind so in ihrer Arbeit gefangen, dass ihre Gedanken fast immer darum kreisen. Die Zeit läuft ihnen davon, denn nicht selten geht es ja um Leben oder Tod, solange der Täter noch nicht gefasst ist.« Eine Wolke schob sich vor die Sonne, wodurch sich das Licht auf dem Tisch vor ihnen veränderte. Halland musterte Mads, der reglos dasaß. »Per Teglgård hat mir gesagt, dass Sie im Moment freigestellt sind?«
»Ja, das ist korrekt.«
»Krankgeschrieben?«
»Nein«, antwortete Mads.
»Wie dann?«
»Gegen meinen Willen freigestellt.«
»Ach so.« Halland nickte. »Was denken Sie darüber?«
»Ist es nicht egal, was ich darüber denke?«, konterte Mads. »Man ermittelt intern gegen mich wegen meiner Vorgehensweise im letzten Fall, und das muss ich ja wohl akzeptieren.«
»Hm«, wiederholte Halland und machte sich eine Notiz. »Theoretisch kann Sie das den Job kosten, oder? Machen Sie sich Gedanken darüber?«
»Im Grunde spielt es doch keine Rolle, was ich darüber denke.« Mads ließ seine Arme sinken und griff nach dem Wasserglas.
»Vielleicht ja doch«, sagte Halland und kreiste etwas auf seinem Block ein. »Wir können später darüber reden.« Er machte eine Pause, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. »Womit verbringen Sie Ihre Zeit?«
»Dies und das«, antwortete Mads und folgte Hallands Blick in den Garten. Ein Spatz landete auf einem Meisenknödel, der unter einem Vogelhaus hing. Er krallte sich in dem dünnen Nylonnetz fest, während er die Futterkugel und den Garten in Augenschein nahm. Dann hackte er seinen Schnabel ein paarmal in das Fett. »Ich gehe joggen.« Mads richtete den Blick wieder auf den Psychologen.
Halland nickte anerkennend. »Allein oder zusammen mit jemandem?«
»Allein.«
»Warum allein?«, fragte Halland und schlug die Beine übereinander.
»Das ist mir lieber so«, antwortete Mads. »Ich kann in meinem eigenen Tempo meine Strecke laufen, und zwar, wann immer ich will.«
»Interessant«, sagte Halland und machte sich wieder eine Notiz. »Sind Sie denn immer schon gelaufen?«
»Nein.« Mads verschränkte die Arme erneut vor der Brust.
»Erzählen Sie mir von der Zeit, in der Sie nicht gelaufen sind«, forderte Halland ihn auf und ließ den Kugelschreiber in den Fingern kreisen.
»Äh, wie meinen Sie das?«, fragte Mads und zog die Stirn in Falten.
»Was haben Sie gemacht, als Sie noch nicht joggen gegangen sind?«, konkretisierte der Therapeut. »Womit haben Sie da Ihre Zeit gefüllt?«
»Ich habe gearbeitet«, antwortete Mads.
»Aha«, murmelte Halland und machte sich eine weitere Notiz. »Und warum sind Sie damals noch nicht gelaufen?«
»Das weiß ich nicht. Vermutlich hatte ich keine Zeit dafür.«
»Wenn Sie keine Probleme damit haben, Ihre Arbeit nach Feierabend liegen zu lassen, sollten Sie doch eigentlich Zeit genug gehabt haben.«
Mads spürte, wie sein Augenlid zu zittern begann. »Tja, dann weiß ich es auch nicht«, antwortete er und griff nach seinem Glas, während er den Psychologen anstarrte.
»Lindstrøm?« Halland beugte sich vor und stellte die Ellenbogen auf den Tisch. Einen Augenblick schwieg auch er, legte das Kinn auf die Hände und betrachtete Mads. »Ich gehe davon aus, dass Sie mit Jørgen Lindstrøm verwandt sind?«
»Ja«, antwortete Mads mit einem kurzen Nicken. »Das ist mein Vater.«
»Das dachte ich mir schon, als Per Teglgård Ihren Namen erwähnte. Ich hatte das Vergnügen, Ihren Vater kennengelernt zu haben. Er war ein sehr guter Ermittler und ein verantwortungsvoller Dezernatsleiter.« Er machte eine Pause und musterte Mads, der seine Finger so fest um das Glas gelegt hatte, dass seine Muskeln zitterten. »Wie geht es Ihnen damit, in seine Fußstapfen zu treten?«
»Dass mein Vater Dezernatsleiter war, hat nichts damit zu tun, dass ich im selben Dezernat arbeite«, antwortete Mads und stellte das Glas etwas zu hart auf den Tisch. »Ich weiß ganz genau, dass mein Chef der Meinung ist, dass ich wie mein Vater bin, aber das stimmt nicht.«
»Aha«, murmelte Halland. »Wäre es denn so schlecht, ihm zu ähneln?«
Mads zog die Mütze über die Ohren und schaltete die Stirnlampe ein. Das scharfe Licht wischte über den Hof, als er den Kopf drehte und langsam durch die Einfahrt in Richtung Straße trabte. Auf dem Asphalt glitzerte Raureif. Nur das Knirschen unter seinen Schuhen war zu hören. Mads beschleunigte seine Schritte. Der kalte Wind stach ihm in die Wangen und ließ seine Nase kribbeln, während sein Blick über die Felder ging. Das Licht der Straßenlaternen von Toftlund leuchtete wie die entfernte Glut eines Feuers und verschwand immer wieder hinter den Bäumen, die die Grenze des Orts markierten. Mads atmete tief durch und tauchte in sich selbst ab, während er nach links in den Bevtoftvej lief und seine Füße ihren eigenen Rhythmus fanden.
In beiden Richtungen erstreckte sich die flache, offene Landschaft. Windkraftwerke wuchsen wie majestätische, schlanke Gestalten aus dem Boden, und das Knistern der Hochspannungsleitungen lag in der eisig klaren Morgenluft. Mads achtete auf seinen Atem. Er spürte, wie der Puls in den Adern pochte, und in ihm breitete sich Ruhe aus. In den Häusern um ihn herum erwachte langsam das Leben. Aus den Fenstern fiel warmes Licht nach draußen. Hinter ihm näherte sich ein Auto, und er warf einen Blick über die Schulter, während er sich dem Kreisverkehr am Rand von Bevtoft näherte. Die Scheinwerfer wirkten im Dunkel wie die Augen eines Raubtiers. Mads blieb stehen und lief auf der Stelle, während er ungeduldig darauf wartete, dass der Wagen vorbeifuhr, damit er die Straße überqueren konnte.
Das Licht der Straßenbeleuchtung fiel auf das Gesicht der Fahrerin, die das Tempo ihres Wagens gedrosselt hatte. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke.
»Mads?« Berit Langer kurbelte die Scheibe herunter.
»Hej.« Er winkte und lächelte sie an, während er auf der Stelle trabte.
»Du bist aber früh unterwegs«, sagte sie. Der Wind wehte ihr eine ihrer blonden Locken ins Gesicht, die sie sich hinters Ohr schob.
»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte Mads und schlug die Arme um sich. Die Kälte drang durch seine verschwitzte Kleidung, und er bekam Gänsehaut. »Und du?«
»Ich bin auf dem Weg nach Odense«, antwortete Berit. »Ich muss im Institut für eine Kollegin einspringen und die Frühschicht übernehmen. Eigentlich habe ich Urlaub.« Sie zog die Schultern resigniert hoch. »Hast du schon was von Teglgård gehört?«
»Ich war am Freitag bei ihm. Seitdem habe ich nichts mehr gehört, nein«, antwortete Mads und ließ den Blick über die Felder schweifen.
»Dann weißt du noch immer nicht, wann du wieder zurückkommst?«
»Nein«, antwortete Mads, ohne sie anzusehen.
»Blöd«, sagte Berit und sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ich muss leider weiter. Vielleicht hast du im Laufe der Woche mal Zeit für einen Kaffee?«
»Das wäre nett.« Sein Blick richtete sich wieder auf sie. Die Wärme in ihren Augen war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte, und für einen Moment zog sein Herz sich zusammen. Dann hob er die Hand. »Fahr vorsichtig.«
»Das werde ich«, antwortete Berit und winkte durchs Fenster, als sie losfuhr.
Mads sah dem Wagen hinterher, ehe er die Straße überquerte und über die schmalen Sträßchen in Richtung Over Jerstal lief.
Mads atmete aus und schob die Finger etwas auseinander, dann biss er die Zähne zusammen und stemmte die Gewichte hoch. Die Muskeln zitterten unter der Belastung, und er wartete einen Augenblick, bevor er die Stange wieder zurück in die Halterung sinken ließ und die Finger ausstreckte. Er legte den Kopf nach hinten auf die Hantelbank und spürte das Herz in seiner Brust hämmern. Aus den Lautsprechern dröhnte Musik, die aber nicht laut genug war, um das Rauschen des Blutes in seinem Körper zu übertönen. Er richtete sich auf, als das Lied stoppte und stattdessen der Klingelton seines Handys zu hören war. Auf dem Display erschien der Name seiner Schwester.
»Mads«, meldete er sich und griff nach dem kleinen Handtuch, das auf dem Boden neben der Hantelbank lag.
»Hallo, ich bin’s, Lisa.« Mads schwieg, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. »Was machst du gerade? Ich versuche schon seit Tagen, dich zu erreichen.«
»Ich trainiere«, antwortete Mads, stand auf und ging ins Wohnzimmer. Durch die Fenster sah er die Lichter von Toftlund auf der anderen Seite der Felder.
»Trainieren? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Ja, kurz vor elf«, antwortete Mads. Er schaltete das Licht ein und warf das Handtuch auf den Esstisch. Das regelmäßige Ticken der alten Uhr durchbrach die Stille, und er ging schweigend in die Küche.
»Wie lange bist du schon dabei?«
»Keine Ahnung«, antwortete Mads und öffnete den Kühlschrank. Er starrte kurz hinein, dann klemmte er das Handy zwischen Schulter und Ohr, nahm sich einen Proteindrink und schloss den Kühlschrank wieder. »So drei oder vier Stunden, glaube ich.«
»Seltsamer Zeitpunkt zum Trainieren, findest du nicht auch?«, fragte Lisa.
»Es kann dir doch wohl egal sein, wann ich trainiere, oder?«, konterte Mads und trank einen Schluck.
»Klar, so war das nicht gemeint.«
»Und wie war es dann gemeint?« Mads leerte die Plastikflasche, drückte sie zusammen und warf sie ins Spülbecken. »Es fühlt sich echt so an, als würdet ihr mich alle überwachen. Ob ich nachts um drei trainiere oder am helllichten Tag, ist doch wohl meine Sache.«
»Ja, natürlich«, antwortete Lisa. Einen Augenblick blieb es still, dann sagte sie: »Ich will einfach nur wissen, wie es dir geht. Ich habe im Netz gelesen, dass im Fährmann-Prozess bald das Urteil fällt.«
Mads öffnete den Mund. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, aber all das, was er sagen wollte, blieb in seinen Gedanken.
»Alles okay bei dir?«, erkundigte sie sich.
Er drehte den Wasserhahn auf und ließ ein Glas volllaufen, während er auf die dunklen Felder starrte.
»Mads, bist du noch da?«
»Ja, ich bin da«, antwortete er und atmete schwer aus.
»Kommst du klar?«
»Ja, ich komme klar«, antwortete er und drehte den Hahn wieder zu. Er trank in großen Schlucken und spülte mit dem Wasser den klebrigen Geschmack des Vanilledrinks hinunter, ehe er zurück ins Wohnzimmer ging und sich auf das abgewetzte Ledersofa fallen ließ.
»Hast du Kontakt mit Teglgård?«
»Hm«, antwortete Mads und lehnte sich zurück. Im Spalt zwischen den Polstern kamen Staub und Krümel zum Vorschein.
»Du, ich meine das ernst«, fuhr Lisa fort, als er nicht weiter darauf einging. »Nach allem, was ich im Netz gelesen habe, kann ich nur erahnen, was du damals gesehen haben musst. Du weißt, wie sehr so was Papa zugesetzt hat.«
»Ich bin nicht Papa«, fiel Mads ihr ins Wort. »Ich verstehe nicht, warum alle immer glauben, dass ich wie er bin. Als würdet ihr förmlich erwarten, dass ich mich am nächsten Balken aufhänge.«
»Ihr?«
»Du und Teglgård«, schimpfte Mads. »Und dieser Psychotherapeut.«
»Was für ein Psychotherapeut?«
»Per Teglgård verlangt von mir, dass ich zu einem Psychologen gehe«, erklärte Mads und verdrehte die Augen. »Troels Halland. Er hat Papa gekannt und glaubte natürlich gleich zu wissen, wie ich ticke.«
»Vielleicht ist es keine schlechte Idee, mit einem Psychologen zu reden«, sagte Lisa. Ein scharfes Klicken war durch das Handy zu hören, dann hörte er, wie sie tief einatmete.
»Es ist wirklich unglaublich, wer alles zu wissen glaubt, was gut für mich ist«, antwortete Mads.
»Ich sage doch gar nicht, dass du das brauchst. Ich dachte nur, dass es dir vielleicht guttut, mit jemandem über das alles zu reden«, wandte Lisa ein.
»Gut tut?«, wiederholte Mads und schüttelte den Kopf. »Danke für deine Fürsorge, aber ich komme wirklich allein klar.«
»Ja, natürlich«, sagte Lisa. »Ich wollte mich nicht einmischen.«
»Das macht Teglgård schon mehr als genug.«
»Hast du was von der internen Ermittlung gehört?«
»Nee, noch nicht«, antwortete Mads.
»Du weißt also noch nicht, wann du wieder arbeiten kannst?«
Mads legte den Kopf zurück und atmete aus. »Nein.«
»Und Teglgård weiß das auch nicht?«
»Woher soll ich das denn wissen?«, brummte Mads.
»Ja, klar«, antwortete Lisa und nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. »Ich dachte nur, dass du vielleicht irgendetwas gehört hast.«
»Du solltest dir darüber nicht so viele Gedanken machen«, sagte Mads. »Ich weiß nicht einmal, ob ich zurückwill.«
»Wie meinst du das denn?« Er konnte förmlich hören, wie sie ihre Stirn in Falten zog.
»Genau so, wie ich es gesagt habe«, antwortete Mads. »Ich weiß nicht, ob ich zurück ins Dezernat für Gewaltverbrechen will. Per Teglgård ist sehr bewusst, dass ich den Fall aufgeklärt habe, trotzdem hat er den Vorgang an die interne Ermittlung weitergegeben. Er hat mich hintergangen.«
»War er denn nicht gezwungen, sich an den Dienstweg zu halten?«, fragte Lisa.
»Du glaubst also auch, dass ich schuld am Tod dieser Mädchen bin?«
»Lass das, Mads. Du weißt ganz genau, was ich glaube. Ich werde immer auf deiner Seite sein.«
»Danke«, murmelte Mads.
»Hast du heute die Nachrichten gesehen? Da kommt immer wieder dieselbe Meldung.«
»Nein.«
»Dann tu das mal«, antwortete Lisa. »Das ist sogar hier in England ein Thema, vermutlich gibt es da irgendwelche Verbindungen.«
Mads beugte sich vor, griff nach der Fernbedienung und schaltete TV2 ein. Gleich darauf sah er einen Journalisten, der sich vor dem Gerichtsgebäude aufgestellt hatte.
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