Night Shift - Annie Crown - E-Book

Night Shift E-Book

Annie Crown

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Beschreibung

Sunny Buchnerd trifft auf grumpy Basketballstar

Kendall hat keine Lust auf Studentenpartys. Sie verbringt ihren Freitagabend lieber mit einem spicy Liebesroman, während sie in der Universitätsbibliothek den Nachtdienst schmeißt. Doch als unerwartet Vincent Knight, der Kapitän der Basketballmannschaft und wandelnder Herzschmerzmagnet, mit verletztem Handgelenk, schlechter Laune und einer dringenden Frage in Sachen Poesie auftaucht, gerät ihre Welt ins Wanken. Groß, schlagfertig und unwiderstehlich – Vincent bringt alles mit, um zum Helden in Kendalls ganz eigener Liebesgeschichte zu werden. Doch wie sich herausstellt führt der Weg zum Happy End im wahren Leben über mehr als nur Tropes und Klischees.
Der Wattpad-Überraschungserfolg aus den USA endlich auch auf Deutsch

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Annie Crown ist durch und durch Kalifornierin. Mit einem Iced Coffee am Morgen und Frozen Margeritas am Abend genießt sie ihr Leben in San Francisco. Seit ihrem Abschluss in Kreativem Schreiben, den sie an der Universität von Kalifornien machte, schreibt sie New Adult- und Romance-Romane mit Humor, Herz und Spice. Wenn sie gerade nicht schreibt, schaut sie wiederholt ihre Lieblingsserien, ergänzt neue Romance-Bücher auf ihrer nie endenden Leseliste oder träumt von fiktiven Männern, die einen dahinschmelzen lassen.

Bettina Hengesbach lebt in Oslo und übersetzt seit vielen Jahren Romane unterschiedlicher Genres aus dem Englischen. Zudem ist sie als freie Lektorin tätig.

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Aus dem Amerikanischen von Bettina Hengesbach

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

© 2023 Annie Crown

The author is represented by Wattpad WEBTOON Studios

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Night Shift« bei W by Wattpad Books, einem Imprint der Wattpad WEBTOON Book Group

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Bettina Hengesbach

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotiv: Dylan Bonner

skn × Herstellung: DiMo

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33068-2V002

www.cbj-verlag.de

Für die Tagträumer*innen

Eins

Ich habe Bibliotheken nach Einbruch der Dunkelheit schon immer geliebt.

Diese hier – die einzige Bibliothek an der Clement University, die rund um die Uhr geöffnet hat – mag zwar nicht die Marmorfußböden und die hohen Decken einer Kathedrale haben, die man auf Pinterest und Instagram sieht, aber sie ist dennoch einer meiner Lieblingsorte auf dem Campus. Trotz der altmodischen Möbel, der fragwürdigen Flecken auf dem Teppich, der künstlichen Farngewächse und des stets in der Luft liegenden Geruchs von altem Kaffee, hat es etwas Magisches an sich, wenn das Mondlicht durch die hohe Glasdecke in das mittige Atrium fällt und die fast vollkommen leeren Tische in einen sanften blauen Schein taucht.

Es gibt keinen Ort, an dem ich samstagabends um zehn Uhr lieber sein würde.

Dass ich dafür bezahlt werde, nichts zu tun, trägt natürlich dazu bei.

Zu Beginn meiner Schicht habe ich eine Runde durch die erste und zweite Etage gedreht, um Bücher einzusammeln, die nicht wieder richtig einsortiert wurden, was mich ganze fünfzehn Minuten gekostet hat. Nun sitze ich, eingewickelt in meinen größten Strick-Cardigan, hinter der Ausleihtheke. Es ist Ende Oktober – kurz nach der belebten Phase in der Mitte des Semesters –, sodass nur noch ein paar Leute verstreut an den Tischen im Atrium sitzen: fünf oder sechs Studierende, die scheinbar vollkommen auf ihren Laptop fokussiert sind, eine Gruppe Mädchen, die gerade im Begriff ist aufzubrechen, und ein Junge, der zwischen einem der Desktopcomputer und dem alten Drucker hin- und herläuft, der beim ersten Versuch niemals das auszudrucken scheint, was man braucht.

Bald wird die Bibliothek eine Geisterstadt sein, aber draußen auf dem Unigelände wimmelt es nur so von Studierenden. Einige von ihnen sind nach der letzten Abendvorlesung auf dem Weg zurück zu ihrem Wohnheim, doch die meisten haben bis soeben vorgetrunken und sind nun auf der Suche nach einer Hausparty. Ihr betrunkenes Gelächter und ihre Rufe schallen durch den Innenhof und dringen durch die Glaseingangstüren der Bibliothek. Von der Ausleihtheke aus sehe ich mit unbeteiligtem Interesse zu, wie sie am Gebäude vorbeitaumeln, als würde ich vor einer Glasscheibe im Zoo stehen.

Nur weiß ich nicht, ob ich die Besucherin oder das Tier in Gefangenschaft bin.

Vielleicht sollte ich mich während dieser langen, stillen Nachtschichten einsam fühlen, aber das tue ich nicht. Nicht, wenn ich von Büchern umgeben bin. Und definitiv nicht, wenn sich der Rest meines Lebens so laut und hell und unausweichlich hektisch anfühlt.

Außerdem bin ich nicht vollkommen allein. Ich habe Margie, meine Vorgesetzte und fest angestellte Nachtbibliothekarin – die nun an meiner Seite erscheint und einen Stapel schwerer Bücher auf den Tisch fallen lässt. Margie mag einen Kopf kleiner als ich und dreimal so alt sein wie ich, aber sie hat die Armstärke und das Auftreten einer Ausbilderin beim Militär.

»Die lagen vor der Rückgabebox auf dem Boden«, verkündet sie. »Offenbar kostet es zu viel Mühe, sie in die Box zu legen.«

»Was für eine Unverschämtheit. Hier – ich registriere sie im System.«

Die Ausleihtheke ist so lang, dass es dahinter Platz für fünf Stationen gibt, an denen Ausleihe und Rückgabe registriert werden können. Bei Tag arbeiten hier genügend Studierende, um all diese Tische zu besetzen, aber heute Abend sind nur Margie und ich anwesend. Ich fahre den Computer hoch und logge mich in das System der Bibliothek ein, wobei ich seufze und das Kinn in meine Hand stütze, als ich den gefürchteten Bildschirm sehe, der anzeigt, dass die Seite lädt.

Die Clement University mag vielleicht eine milliardenschwere Stiftung haben, aber unser WLAN ist bekanntermaßen unzuverlässig.

Endlich gehen die Atrium-Mädchen an meinem Schreibtisch vorbei und steuern den Ausgang an, wobei einige von ihnen neben mir stehen bleiben, um ihre leeren Kaffeebecher in den Müll zu werfen. Ich bekomme Bruchstücke ihrer Unterhaltung mit.

»… Professor will, dass wir bis Montag das ganze Buch lesen.«

»Du kannst immer noch eine Vorlesung schmeißen …«

»Oh fuck, mein Handy ist leer.«

»Leute, Georgia hat mir gerade getextet, dass eine Party im Haus des Basketballteams stattfindet. Wollen wir zum Vorglühen zu ihr? Sie hat Tequila.«

»Ich dachte, sie sollen so kurz vor Saisonbeginn keine Partys feiern.«

»Ja, es ist streng geheim. Man kommt nur mit Einladung rein. Ich glaub, ich hab noch Wodka in meinem …«

»Aber im Ernst, kann mir jemand sein Ladegerät leihen?«

Die Tür fällt hinter den Mädchen zu, deren nun gedämpfte Stimmen immer leiser werden, bis es wieder ganz still ist. Mein Blick fällt von dem Ladebildschirm vor mir auf mein Handy. Wenn das Basketballteam eine geheime Party schmeißt, ist das auch der Ort an dem Harper und Nina – meine Mitbewohnerinnen – enden werden. Was mit Sicherheit bedeutet, dass ich in den nächsten paar Stunden ein paar betrunkene Nachrichten erhalten werde.

Wir drei sind unzertrennlich, seitdem wir uns im ersten Semester ein Wohnheimzimmer geteilt haben. Mittlerweile sind wir Juniors und ziemlich gut darin zu akzeptieren, wie unterschiedlich wir alle sind.

Harper kann keine Theaterproduktionen oder Gespräche über Stücke mit drei Akten ausstehen. Nina kann nichts ausstehen, für das man Sportklamotten anziehen und sich einer Masse an verschwitzten Körpern im Fitnessstudio der Clement University stellen müsste. Und ich kann keine Unipartys ausstehen – zu viele Leute, lauwarmes Bier, schlechte Musik auf einer Lautstärke, bei der einem fast das Trommelfell platzt. Wenn Harper und Nina also freitags ausgehen und sich betrinken, übernehme ich die Nachtschicht in der Bibliothek und genieße ein paar Stunden Ruhe und Frieden.

Es passt perfekt.

Als die Seite endlich geladen ist und ich im System der Bibliothek eingeloggt bin, dauert es ganze fünf Minuten, um den Stapel aus zurückgebrachten Büchern zu registrieren, den Margie vor mir abgeladen hat. Da ich gerade nichts anderes zu tun habe, schiebe ich meinen Stuhl zurück und greife nach meinem Rucksack. Darin sind alle Dinge, die ich immer zu meiner Nachtschicht mitbringe: eine mit Wasser gefüllte Thermosflasche, die Kordel mit den Schlüsseln zu meiner Wohnung und zur Bibliothek, eine Plastiktüte mit ausgewählten Snacks (für den Fall, dass der Automat neben den Aufzügen wieder einmal defekt ist) und – das Wichtigste – mein Buch der Woche.

Ich schaue mich ein letztes Mal um, um mich zu vergewissern, dass mich niemand beobachtet, und ziehe diskret Die Mafiaprinzessin aus den Tiefen meines Rucksacks.

Das Cover ist beschämend. Ich weiß nicht, wer die Entscheidung getroffen hat, nackte männliche Oberkörper auf Romance-Bücher zu drucken, aber ich habe den dringenden Verdacht, dass mich irgendein führender Marketingexperte dazu bewegen wollte, mir einen E-Reader zu kaufen, damit ich mit derartigen Romanen nicht in der Öffentlichkeit gesehen werde. Mein Gesicht wird heiß, als ich das Buch aufschlage, meinen Daumen zwischen die Seiten klemme und in das dritte Kapitel einer weiteren Geschichte über einen jungen weiblichen Bücherwurm und einen mürrischen, besserwisserischen Alphamann eintauche, der sie vergöttert.

Meine Mitbewohnerinnen bezeichnen mich als hoffnungslose Romantikerin, und ich widerspreche ihnen nicht. Es ist angenehmer, als Einsiedlerkrebs genannt zu werden.

»Kendall.«

Ich zucke zusammen und schiebe das Buch eilig auf meinen Schoß, sodass es unter dem Schreibtisch verborgen ist.

Margie steht zwischen mir und dem Haupteingang, zu beschäftigt damit, die Schlüssel an ihrem Schlüsselbund zu sortieren, um zu bemerken, in welch einer unnatürlichen Position sich meine Arme befinden und wie rot mein Gesicht ist.

Hinter ihr steht der arme Kerl, der zwischen dem Computer und dem Drucker hin- und hergerannt ist. Seinem zerzausten Haar und resignierten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, scheint es nicht gut zu laufen.

»Was gibt’s?«, frage ich.

»Der Drucker spinnt schon wieder«, erklärt Margie. »Ich nehme den jungen Mann mit rüber in die Bibliothek für Ingenieurswesen, damit er einen der Drucker dort nutzen kann. In einer Viertelstunde bin ich wieder da.« Margie führt den jungen Studenten durch den Haupteingang nach draußen.

Sobald sie verschwunden sind, hebe ich mein Buch wieder und rutsche voller Vorfreude auf meinem Stuhl nach vorn.

Ich kann nicht glauben, dass ich so früh am Abend eine Viertelstunde ungestörte Lesezeit bekomme – normalerweise muss ich bis nach Mitternacht warten, ehe ich meine Füße hochlegen und mich entspannen kann.

Die Mafiaprinzessin ist keine bahnbrechende Literatur, aber genau das, was ich von einem Liebesroman erwarte. Die Heldin ist eine scharfsinnige Anwältin, nicht weinerlich oder zu dumm, um ihr Leben zu führen, und der Held, ein ehemaliger Street Fighter und früheres Mafiamitglied, ist nicht so besitzergreifend, dass er eine wandelnde Red Flag ist. Beide sind schlau. Beide sind ehrgeizig. Außerdem bin ich erst bei Kapitel drei, und es gab schon zwei sehr gut geschriebene Kampfszenen. Das ist ein gutes Zeichen. Autorinnen, die geniale Kampfszenen schreiben, sind in der Regel auch gut darin, andere körperliche Aktivitäten zu beschreiben – und der Art nach zu urteilen, wie sich die beiden gegenseitig aufziehen und einander schwelende Blicke zuwerfen, nähere ich mich einer der heißesten Sexszenen, die ich jemals gelesen habe.

Ich bin so in die Geschichte vertieft, dass ich es kaum registriere, als eines der Drehkreuze, die sich mit einem Studierendenausweis öffnen lassen, piept und aufschwingt. Vielleicht ist es eine der Studentinnen, die vorhin gegangen sind, um eine vergessene Wasserflasche oder ein Handyladegerät zu holen. Oder vielleicht sind es Margie und der Typ, der etwas ausdrucken musste.

Ich sollte aufschauen. Doch die Anwältin und der Mafia-Abtrünnige befinden sich gerade allein in einem Aufzug, und die sexuelle Spannung zwischen ihnen ist derart aufgeladen, dass es knistert. Ihr Atem geht schnell und …

Ein Schatten fällt auf meinen Schreibtisch.

Widerwillig hebe ich den Blick.

Der Typ, der vor der Ausleihtheke steht, ist groß. Sehr, sehr groß. Ich lege den Kopf in den Nacken, um ihn richtig anschauen zu können … und oh. Oh. Er wirkt gleichermaßen bedrohlich und schön. Sein dunkles Haar ist kurz geschnitten, und seine Augen haben die Farbe von gemahlenem Kaffee. Er betrachtet mich mit einem Blick, den ich nur als feindselig beschreiben kann.

Als ich ihn erkenne, macht mein Herz erst einen Hüpfer und rutscht mir dann in die Hose.

Denn ich weiß, wer er ist. Wir haben noch nie miteinander gesprochen, aber ich habe ihn schon aus der Ferne auf dem Campus gesehen, und gelegentlich auch auf Bildschirmen. Er ist der Star des Uni-Basketballteams, der Spieler, dem alle Sportkommentatoren und Basketballfanatiker eine glänzende Karriere prophezeien. Derjenige, der während des wichtigsten Spiels im letzten Jahr auf die Bank verwiesen wurde, weil er dem Point Guard der rivalisierenden Mannschaft mit einem harten rechten Haken die Nase gebrochen hat.

Vincent Knight.

Zwei

Ich bin eingekuschelt in meinen übergroßen Cardigan, habe die Hälfte meines blonden Haares zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden und halte ein Romance-Buch in den Händen. Es muss also nicht extra erwähnt werden, dass ich in keinster Weise, weder mental noch körperlich, darauf vorbereitet bin, dem berüchtigtsten Spieler des geliebten Basketballteams der Clement University gegenüberzutreten.

Vincent Knight ist respekteinflößend. Er sieht eher aus wie das ehemalige Mafiamitglied aus meinem Liebesroman als wie ein Unisportler – abgesehen von der Schlinge, in der sein linker Arm steckt, und der sperrigen Schiene, die sein Handgelenk umgibt.

»Hi«, platze ich heraus. »Kann ich dir helfen?«

Ein Muskel in Vincents Kiefer zuckt. Mit der rechten Hand – die nicht in einer Schlinge steckt – umklammert er so fest seinen Studierendenausweis, dass sich dieser in seine Haut graben muss. »Ich brauche britische Gedichte aus dem neunzehnten Jahrhundert.«

Seine Stimme, die er auf eine bibliothekstaugliche Lautstärke gesenkt hat, durchbricht die Stille und trifft mich hart in die Brust.

Ich unterdrücke ein Zittern. »Klar. Die findest du eine Etage höher. Wenn du nach rechts gehst, nachdem du aus dem Aufzug gestiegen bist, und den Schildern folgst, ist es ganz hinten bei den …«

»Kannst du mir irgendwelche speziellen Werke zeigen?«, unterbricht mich Vincent.

Das ist eine vollkommen gewöhnliche Bitte, und selbst der Anflug von Genervtheit, von dem seine Worte durchzogen sind, ist nichts Neues. Es ist nichts im Vergleich zu dem, was ich in der Phase der Abschlussprüfungen erlebe, wenn eine Kombination aus Schlafmangel und Verzweiflung die negativsten Seiten der Menschen zum Vorschein bringt. Es gibt also wirklich keinen Grund dafür, dass ein mürrischer Basketballspieler bewirken sollte, dass ich am liebsten vor Scham im Erdboden versinken möchte, weil er eine Leseempfehlung braucht.

Plötzlich fällt mir wieder der Liebesroman in meinen Händen ein. Mein Gesicht brennt, als ich mit meinem Stuhl nach vorn rolle, das Buch zuklappe und es mit dem Cover nach unten auf meinen Schoß drücke, wobei ich bete, dass Vincent Knight nicht über Kopf lesen kann.

»Unsere Nachtbibliothekarin ist leider gerade nicht da«, erkläre ich ihm in meiner höflichsten Kundenberatungsstimme. »Möchtest du warten, bis sie wiederkommt oder …«

»Und du bist nicht qualifiziert?«

Abrupt schließe ich angesichts seines barschen Tonfalls den Mund. Vincent Knight muss daran gewöhnt sein, das zu bekommen, was er will, wenn er seine abfälligen Bemerkungen und den stählernen Blick zum Einsatz bringt, den ich bei ihm bisher nur auf dem Spielfeld gesehen habe. Ich gebe zu, dass ich eingeschüchtert bin – von seiner Größe, von seinem Ruf und der Tatsache, dass jeder an der Clement University seinen Namen kennt, von der kühlen Intelligenz, die in seinen dunklen Augen schimmert –, aber ich werde mich von ihm bestimmt nicht herumschubsen lassen.

»Ich bin im Englischprogramm für Hochbegabte. Wenn überhaupt, bin ich also überqualifiziert.«

»Super«, erwidert Vincent ungerührt. »Dann zeig mir den Weg.«

»Leider zählt es nicht zu meinem Aufgabenbereich, diesen Schreibtisch zu verlassen, um launischen Typen bei den Hausaufgaben zu helfen.«

Vincents Augenbrauen schießen vor Überraschung in die Höhe. Er wirft einen Blick zu den Tischen im Atrium, an denen zwei oder drei Studierende, die so spät am Abend noch lernen, von ihren Laptops aufgeblickt haben, und nun den Star unseres Basketballteams anstarren, als sei dies der letzte Ort, an dem sie an einem Freitagabend mit ihm gerechnet haben. Was auch in mir die Frage aufkeimen lässt, warum er mit einem Arm in einer Schlinge und dem dringenden Bedarf an britischer Poesie vor mir steht. Besonders weil der Rest des Teams angeblich eine verbotene Party im Basketballhaus schmeißt.

Nun wendet sich Vincent wieder mir zu und presst beschämt die Lippen zusammen. »Meinst du, du kannst eine Ausnahme für jemanden machen, der nur einen nutzbaren Arm und einen echt beschissenen Abend hat?« Damit hat er seinen Stolz zwar zu einem gewissen Grad über Bord geworfen, aber er ist es eindeutig nicht gewohnt, um Hilfe bitten und sich für seine mürrische Art entschuldigen zu müssen. Für einen Moment sieht er aus, als wisse er, dass er sich aufführt wie ein Arsch, und wünsche sich, er könne damit aufhören. Irgendetwas daran lässt meine Wut ein wenig verfliegen.

Wir schauen einander fest in die Augen, und schließlich bin ich diejenige, die den Blick zuerst abwendet.

»Na schön«, sage ich widerwillig. »Ich denke, ich … kann dich begleiten.«

Es sind nur fünf Minuten meines Lebens, und es ist nicht so, als hätte ich etwas Besseres zu tun, außer die Szene zu lesen, in der Lorenzo und Natalie Sex an der Fahrstuhlwand haben. Ich lege Die Mafiaprinzessin umgedreht auf den Tisch und stelle das Schild auf, das den Leuten mitteilt, dass ich in fünfzehn Minuten wieder zurück bin.

Erst als ich mich von meinem Stuhl erhebe, wird mir bewusst, wie groß Vincent tatsächlich ist. Das ergibt natürlich Sinn – schließlich ist er ein Top-Basketballspieler –, aber ich bin fast eins achtzig, daher kommt es nicht häufig vor, dass mich jemand so weit überragt. Es bringt mich aus dem Konzept. Ich greife nach meinem Schlüsselbund, wobei die Schlüssel in meiner Eile gegen die Wasserflasche schlagen, und schlinge die Kordel fest um meine Faust, während ich um die Theke herumgehe und mich an Vincent vorbeidränge. Der Geruch von Waschmittel und etwas Warmem, Würzigem steigt mir in die Nase – und ich denke absolut nicht darüber nach, wie gut er riecht, wie klein ich mir neben ihm vorkomme und wie sehr mir das gefällt.

Die Treppe befindet sich am anderen Ende des Atriums, aber da ich gerade im Begriff war, eine leidenschaftliche Sexszene zu lesen, die sich in einem Aufzug abspielt, begebe ich mich mit Vincent lieber nicht in einen Fahrstuhl.

Er folgt mir, als wir in die erste Etage hinaufgehen und in das Labyrinth aus Büchern eintauchen, in dem wir uns durch die Gänge pirschen wie Tiere auf der Jagd.

Ich bin schon immer schnell gegangen. Harper und Nina meckern und ächzen, wenn sie nicht mit mir mithalten können, aber Vincent – mit seinen großen Schritten – kommt hinter mir her, ohne sich zu beschweren.

Er mag zwar arrogant sein, aber wenigstens ist er nicht langsam.

Die britische Literatur befindet sich versteckt in einer der hintersten Ecken. Eine der Neonröhren über uns ist durchgebrannt, sodass dieser Teil der Bibliothek dunkel ist und sich merkwürdig intim anfühlt. Wenn man auf der Suche nach einem Platz wäre, an dem man auf dem Campus ungestört rummachen kann, wäre dies der beste Ort. Nicht dass Vincent und ich rummachen werden.

Himmel Herrgott, tadele ich mich. Reiß dich zusammen.

Das kommt davon, wenn man während der Arbeit zu viele spicy Romane liest.

»Da wären wir.« Ich schnaufe. »Britische Gedichte. Alles ist irgendwie zusammengewürfelt, aber ich kann dir helfen, wenn du etwas aus einem bestimmten Jahrhundert suchst, falls du nicht weißt, wie man googelt.«

Vincent verdreht die Augen. »Gib mir einfach irgendwas.«

Ich lege den Kopf schief und lasse meinen Blick über die Bücher im Regal wandern, wobei ich die Titel und Autoren leise vor mich hin murmele.

Gedichte aus dem neunzehnten Jahrhundert sind ein ziemlich dehnbarer Begriff, also brauche ich mehr Informationen, wenn ich die Sache schnell hinter mich bringen will, um zu meinem Buch zurückzukehren.

»Für welche Veranstaltung ist es?«

»Ich belege einen Grundkurs in britischer Literatur«, antwortet Vincent. »Wir sollen bis Montag ein Gedicht analysieren. Der Professor hat es nicht näher eingegrenzt.«

Also keine Abgabe bis Mitternacht, aber dennoch ist er hier anstatt auf der Party wie der Rest des Teams. Warum konnte er nicht bis morgen Früh warten und einfach verkatert vorbeikommen, so wie alle anderen Studierenden?

Ich betrachte Vincent eingehend, lasse meinen Blick über sein zerzaustes Haar und die leichten Schatten unter seinen dunklen Augen wandern. Er sieht aus, als könnte er acht Stunden Schlaf und ein wenig Aufheiterung gebrauchen.

Vielleicht macht er sich größere Sorgen wegen seiner Hausaufgabe, als er zugeben möchte. Oder vielleicht sind die Schlinge um seinen Arm und die bevorstehende Basketballsaison der Grund für seine miese Stimmung. Wenn ich mein Handy bei mir hätte, könnte ich heimlich eine Nachricht an Harper und Nina schreiben, um zu fragen, ob sie vielleicht mehr Informationen haben.

Mein Telefon ist jedoch unten, und Vincent steht neben mir – groß und einschüchternd und sichtlich beunruhigt, während er die Bücher um uns herum betrachtet.

Ich unterdrücke ein Lachen. Ein Problem nach dem anderen.

»Wonach ist dir denn?« Ich nehme ein paar Bücher aus dem Regal – Byron, Wordsworth, Blake – und stapele sie in meiner Armbeuge auf, um sie ihm zu zeigen. »Ein paar Gedichte von einem alten weißen Mann oder ein paar Gedichte von einem alten weißen Mann?«

Vincent lacht nicht über meinen Witz. Stattdessen greift er nach Byron, der oben liegt, und dreht das Buch um, um sich den Klappentext durchzulesen.

Mein Blick bleibt an Vincents Hand hängen. Sie ist fast doppelt so groß wie meine und bewegt sich mit einem Selbstvertrauen und einer Behändigkeit, die leider überaus anziehend ist. Wären wir in einem Liebesroman, wäre Vincent Knight der Held, daran besteht kein Zweifel. Er ist groß, breitschultrig, dunkelhaarig und auf die gefährlichste Art schön. Er könnte ein Auftragskiller der Mafia sein, der Anführer des Rudels, der eiskalte Milliardär mit Daddy-Issues – er könnte mich mit seinem gesunden Arm hochheben, mich in der hintersten Ecke gegen das Bücherregal drücken und mich ausfüllen. Er würde mir schmutzige Dinge ins Ohr flüstern. Keine Sprüche aus einem schlechten Porno, sondern Poesie. Worte der Leidenschaft.

Doch das hier ist kein Liebesroman. Und demnach zu urteilen, wie Vincent stirnrunzelnd auf Lord Byrons gesammelte Werke hinabblickt, darf ich wohl keine poetischen Worte von ihm erwarten.

Hör auf, an Sex zu denken, du armseliger Trottel.

»Das war übrigens ein Witz«, erkläre ich, da ich die Stille nicht länger ertragen kann. »Schließlich weiß jeder, dass die besten Gedichte aus dem neunzehnten Jahrhundert von Frauen stammen.«

Vincent gibt mir Byron zurück. »Hast du irgendwas …«, er zögert, »Leichteres?«

»Ich fürchte, Dr. Seuss ist Amerika aus dem zwanzigsten Jahrhundert.«

Vincent bedenkt mich mit einem genervten Blick.

Ich hebe mein Kinn, fest entschlossen, mich nicht zu entschuldigen.

»Hör zu«, nuschelt er. »Tut mir leid. Mein Handgelenk bringt mich um, ich hab die ganze Woche nicht richtig geschlafen, und dieser ganze … Gedicht-Scheiß liegt außerhalb meiner Komfortzone.« Seine Wangen färben sich rosig, aber ich bin mir sicher, es liegt nur am Licht. »Englisch war nie mein bestes Fach.«

Ich schiebe die drei Bücher wieder zurück ins Regal. »Viele Leute haben ihre Probleme damit. Besonders wenn es um Gedichte geht. Was auch keine große Überraschung ist, wenn man bedenkt, wie das Fach unterrichtet wird.«

Vincent schnaubt verbittert. »In der Highschool habe ich Englisch gehasst. Ich war megaschlecht darin. In meinem Freshman-Jahr hätte ich Basketball fast aufgeben müssen, da mich mein Lehrer durchfallen lassen wollte, weil ich ein Shakespeare-Gedicht nicht auswendig gelernt hatte.« Er wirft mir einen Seitenblick zu. »Aber ich hab mich notenmäßig noch verbessert – offensichtlich. Ich war klug genug, um die Highschool zu beenden.«

»Nur weil du keinen Zugang zu Gedichten gefunden hast, heißt das noch lange nicht, dass du nicht klug bist. Gedichte sind … fast eine andere Sprache. Es spielt keine Rolle, ob du eins davon Wort für Wort aus der Erinnerung aufsagen kannst. Ein paar neue Vokabeln zu lernen, bringt nichts, wenn du nicht auch die Grammatik und den kulturellen Kontext lernst.«

Falls Vincent meinen Monolog peinlich prätentiös findet, sagt er zumindest nichts. Sein Blick wirkt geduldig. Und fest. Seine Aufmerksamkeit gibt mir das nötige Selbstvertrauen, um fortzufahren.

Ich lasse meinen Blick über die Reihen aus Büchern vor uns wandern, ehe ich ein vertrautes und sehr dickes Werk herausnehme – Engmans Anthologie, zwölfte Auflage mit erweitertem Vorwort – und es durchblättere, bis ich den Abschnitt über Elizabeth Barrett Browning finde.

»Okay, das hier ist gut«, verkünde ich und tippe mit der Fingerspitze auf die Seite.

Vincent kommt näher, um über meine Schulter hinweg mitzulesen.

Ich bleibe vollkommen reglos, fest entschlossen, nicht zurückzuschrecken oder mich der Wärme seines großen Körpers entgegenzuneigen.

»Wenn du mich lieben musst«, liest er, wobei sein heißer Atem mein Schlüsselbein und den Rücken meiner ausgestreckten Hand streift.

»Es ist ein Sonett«, erläutere ich und balle meine Hand zu einer Faust. »Vierzehn Verse, jambischer Pentameter. Sehr leicht zu erkennen. Der Trick bei Sonetten ist normalerweise, zum Schluss nach der Wende Ausschau zu halten. Oft liegt sie im letzten Reimpaar – die letzten zwei Verse –, wenn der Rest des Gedichts in drei Quartette, also dreimal vier Verse, unterteilt ist …«

»Das hier sind vier Verse, richtig?«

Ich schaue zu Vincent auf. Es ist ein Fehler. Er ist mir so nahe, dass ich Sommersprossen auf seinem Nasenrücken und eine kleine weiße Narbe direkt unter seiner rechten Augenbraue erkenne. Sein Blick ruht nicht auf dem Gedicht. Er ruht auf mir.

»Äh, ja.« Ich räuspere mich und betrachte wieder das Buch. »Vier Verse. Aber schau, es ist ein Petrarca-Sonett. Ein Huitain, ein Achtzeiler, und ein Sextett. Also ist die Wende im Sextett – in diesen letzten sechs Versen.«

»Wenn du mich lieben musst«, liest Vincent die erste Zeile vor.

»So soll es nur der Liebe wegen sein«, fahre ich fort.

Die Luft um uns herum bewegt sich mit einem Mal langsamer, und die Welt besteht nur noch aus dieser Ecke der Bibliothek. Ich lese den Rest des Sonetts laut vor, verhaspele mich bei ein paar Wörtern, aber Vincent lacht nicht und korrigiert mich auch nicht. Er ist leise. Andächtig. Es fühlt sich fast wie etwas Heiliges an – wie in einer Kapelle, die gebaut wurde, um Worte und die Menschen, die sie erschaffen haben, zu ehren; um das Werk einer Frau zu lesen, die schon lange tot ist.

»… wer den Schritt aus deinem Trost heraus nicht tut, verkennt die Tränen schließlich und verliert mit ihnen der Liebe Ewigkeit: ihr sollst du dienen.«

Ein Moment der Stille entsteht – ein gemeinsamer Atemzug –, nachdem ich die letzte Zeile gelesen habe.

»Was bedeutet das, Professorin?«, fragt Vincent schließlich.

Ich stoße lachend die Luft aus, dankbar dafür, dass er die Anspannung vertrieben hat.

»Elizabeth hat es für ihren Mann geschrieben. Ihr gefällt der Gedanke nicht, dass er sie vielleicht für ihre Intelligenz oder ihre Schönheit liebt. Ich liebe sie um ihres Lächelns willen, für ihren Blick, ihr Mildsein … Das möchte sie nicht. Diese Dinge können sich schließlich verändern. Sie wird altern. Sie könnte krank werden. Sie könnte sich einfach … verändern. Und sie will nicht, dass seine Liebe an Bedingungen geknüpft ist.«

Vincent tritt zurück, doch die Wärme seines Körpers verweilt noch einen Augenblick, bevor mir wieder kalt wird.

Ich klappe die Anthologie zu und drehe mich zu ihm um.

»Verdammt.« Ein aufrichtig beeindrucktes Lächeln zuckt an seinen Lippen. »Du bist gut.«

Seine Worte senden eine Welle der Hitze durch meinen Körper. Ich glaube, ich bin tatsächlich feucht. Es ist peinlich, dass ein albernes kleines Kompliment eine solch intensive Wirkung auf mich haben kann. Dass ein nettes Wort in einer stillen Ecke der Bibliothek dazu führen kann, dass ich mit einem Mal brenne.

»Ich werde nicht grundlos so gut bezahlt«, scherze ich mit schwacher Stimme, während ich Vincent das Buch in die Hand drücke. »Nun, ehrlich gesagt bekomme ich nur den Mindestlohn. Obwohl wir für die Nachtschicht einen Doller mehr pro Stunde bekommen, was ziemlich cool ist.«

Vincent wiegt Engmans Anthologie in seiner gesunden Hand, als würde er über etwas nachdenken. »Bis wann arbeitest du?«

Mir ist schleierhaft, warum er mich das fragen sollte.

»Äh, ich sollte um fünf fertig sein. Vorausgesetzt die Person, die die Morgenschicht übernimmt, ist kein Vollidiot und kommt pünktlich.«

Vincent stößt ein leises Pfeifen aus. »Wow. Das ist hart. Wie oft arbeitest du nachts?«

»Normalerweise trage ich mich für freitags ein.« Ich zucke mit den Schultern.

»Warum das denn?« Er klingt beinahe, als hätte ich ihn vor den Kopf gestoßen. »Alle wissen doch, dass freitags die besten Partys stattfinden.«

»Ich bin kein großer Fan von Partys. Ich meine, ich trinke definitiv gerne mit Freundinnen, aber nicht zwingend auf riesigen Events. Menschenmassen machen mich … Ich weiß auch nicht.« Ich erschaudere bei dem Gedanken an ohrenbetäubende Musik und dunkle Räume voller fremder Menschen. »Aber ich habe ein Sozialleben. Ich mache Party – nur auf meine eigene Art. Meine Mitbewohnerinnen und ich veranstalten jeden Donnerstag einen Filmabend mit Wein, und sonntags zum Brunch trinken wir Cocktails.«

Vincents Mundwinkel heben sich zu einem wissenden Lächeln. »Also machst du donnerstags und sonntags Party.«

»Jepp.«

»Und freitags sitzt du an der Ausleihtheke und liest Pornos.«

Drei

Mir fällt vor Schreck die Kinnlade runter.

»Ich lese keine … Es war kein … Es ist kein Porno.«

Vincent hebt beschwichtigend die Hand. »Hey, es ist nichts Verwerfliches, sich ab und zu etwas zu gönnen. Ich urteile nicht. Und ich verspreche dir, dass ich dich nicht melden werde, weil du auf der Arbeit liest, falls du das befürchtet hast.«

Er zieht mich auf. Meine Panik verwandelt sich in Genervtheit. Ich hebe mein Kinn und funkele ihn an, ohne meine Wut zu verbergen, aber anstatt eingeschüchtert zu wirken, presst Vincent seine Lippen zusammen, um ein Lachen zu unterdrücken.

»Romane zu lesen«, zische ich, »ist eine gesunde Art, seine Fantasie anzuregen …«

»Komm schon. Du brauchst keine Fantasie. Du könntest einfach auf der nächstbesten Hausparty aufkreuzen und reihenweise Typen finden, die bereit sind zu tun, was immer du willst.« Sobald ihm die Worte über die Lippen gekommen sind, rümpft Vincent die Nase, als hätte der Gedanke in seinem Kopf besser geklungen.

Ich verschränke die Arme vor meiner Brust. Mein Mangel an Erfahrung in Bezug auf körperliche Intimität ist ein wunder Punkt, und nun hat er Salz in die Wunde gestreut.

»Ich bin durchaus in der Lage, mit jemandem rumzumachen, wenn ich denn wollte«, entgegne ich. »Aber ich will nicht, weil Uni-Jungs unreife kleine Gremlins sind, die in schmuddeligen Kellern Videospiele spielen, frauenfeindliche Witze reißen und nicht wissen, wo die Klitoris ist. Die Männer in meinen Romanen sind leidenschaftlich und erfahren und …«

»Erfunden.«

Als Vincent meinen vernichtenden Blick sieht, zieht er eine Augenbraue hoch, als wollte er mich dazu herausfordern, ihm zu widersprechen.

»Dann gibst du also zu, dass Uni-Typen zu nichts zu gebrauchen sind?«, frage ich stattdessen.

Vincent lacht.

Ich weigere mich, stolz darauf zu sein, dass ich ihm diesen Laut entlockt habe, und wende mich eilig einem der Regale zu, um meinen Blick über die Buchrücken fliegen zu lassen, ohne jedoch die Namen der Autoren oder Titel richtig zu lesen.

Als ich mich traue, Vincent wieder anzusehen, lächelt er mich an, als hätte er das letzte Eckstück eines komplizierten Puzzles gefunden. »Jetzt verstehe ich«, verkündet er.

»Was verstehst du?«

Er hebt das Buch in seiner Hand. »Es gibt einen Grund, warum du das Gedicht so sehr liebst.«

»Und der wäre?«

»Weil du auch Angst hast.«

Ich lache, aber es klingt eher verbittert als belustigt. »Wovor?«

»Es ist Freitagabend. Du bist jung und hüb… Äh, jung und schlau. Und du bist so sehr in einen Liebesroman vertieft, dass ich deine Aufmerksamkeit kaum wecken konnte. Also entweder hältst du dich für was Besseres oder du hast Angst, dort rauszugehen. Du willst die Kontrolle nicht abgeben, und du willst nichts tun, wenn du dir vorher keine Spoiler über das Ende durchlesen kannst. Wenn du mich lieben musst, so soll es nur der Liebe wegen sein. Bücher verändern sich nicht. Menschen aber schon. Du …«, er zeigt mit Engmans Anthologie auf mich, »bist ein Feigling.«

Wut breitet sich in meinen Adern aus wie ein Lauffeuer, so heiß und tosend, dass meine Augen brennen. »Du täuschst dich.«

»Ach, wirklich?«

Nein, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. »Definitiv.« Ich starre ihn an.

Er starrt zurück. Und dann huscht Vincents selbstsicherer Blick – so kurz, dass es mir entgangen wäre, wenn ich geblinzelt hätte – zu meinem Mund. »Beweise es.«

Es fühlt sich an, als würde die Welt unter meinen Füßen ins Wanken geraten. Als wäre ich mit einem Mal Alice im Kaninchenbau oder Lucy Pevensie im Wandschrank – ein Mädchen, das kopfüber in eine Fantasiewelt stürzt.

Vielleicht liegt es an dem herausfordernden Blick, der in Vincents dunklen Augen lodert, oder vielleicht ist es auch der Zorn, der mich so mutig macht, so fest entschlossen, ihm zu zeigen, dass er nichts über mich weiß. Denn in einem Moment funkele ich ihn an, wobei sich meine Brust hebt und senkt und mein Herz hämmert, und im nächsten Moment stehe ich auf Zehenspitzen, lege die Hände auf seine Schultern und grabe die Fingernägel tief in den Stoff seines schwarzen T-Shirts. Als könnte ich ihn dafür bestrafen, dass er mich derart wütend macht, dass er so von sich eingenommen ist, dass er sich einbildet, mich an meinem geheiligten Ort analysieren zu können.

Ich küsse ihn. Fest.

Vincent ächzt an meinem Mund, wobei seine Brust an meinen Handflächen vibriert, und öffnet die Lippen unter meinen. Einen Moment lang bin ich stolz, weil ich glaube, ihn überrascht zu haben, doch dann fühle ich die Klettverschlüsse seiner Schiene an meinem Shirt und erkenne, dass sein verletzter Arm zwischen uns eingequetscht ist.

Eilig löse ich mich von ihm und taumele einen Schritt zurück.

Habe ich das gerade wirklich getan?

»Oh verdammt, tut mir leid«, entschuldige ich mich atemlos und beschämt. »Ist dein Arm …« Ich kann meine Frage nicht einmal beenden.

Vincent lässt Engmans Anthologie fallen. In dem Moment, in dem sie mit einem dumpfen Aufprall zu unseren Füßen landet, legt er seine nun freie Hand in meinen Nacken. Vincent mag gebaut sein wie eine Backsteinmauer, aber die Art, wie er mich festhält, ist sanft. Es ist keine fordernde, sondern eine geduldige, stützende Berührung.

Er übt leichten Druck auf meinen Nacken aus, bittet mich stumm, seinem Blick zu begegnen.

Ich gehorche. In seinen Augen liegt das gleiche lodernde Feuer wie in meinen eigenen Augen.

»Hör auf, dich zu entschuldigen.« Mit einem Mal klingt er sehr ernst. »Und versuch es noch mal.«

Es ist total abgefahren.

Wie kann es sein, dass er mir das Gefühl gibt, als sei ich diejenige, die die Kontrolle hat? Als würde ich die Entscheidungen treffen? Denn es ist Vincent, der mich mit einer Hand zusammenhält, während mein Körper droht, zu zerbrechen.

»Ich hab noch nie jemanden nüchtern geküsst«, gebe ich zu, wobei sich mein gesamtes Gesicht rötet.

Vincents Miene wird weicher. »Dann übe an mir«, bietet er an. »Ich bin hier. Und gehöre ganz dir.« Er versucht nicht, mich zu bedrängen oder mich zu überreden. Stattdessen hält er still – wie ein Fels, an den ich mich in den krachenden Wellen meiner Ängste klammern kann – und gibt mir die Zeit, die ich brauche, um meine Gedanken zu ordnen.

Ich will ihn küssen. So viel steht fest. Und wenn Vincent nicht gerade der beste Schauspieler der Welt ist, ist er definitiv nicht abgeneigt, mich auch zu küssen. Doch mein verwirrter Kopf kann sich keinen Reim auf diese Fakten machen. Normale Leute machen nicht zehn Minuten, nachdem sie sich kennengelernt haben, miteinander rum, es sei denn, sie sind wahnsinnig betrunken – selbst wenn sie sich in diesen zehn Minuten mit sarkastischen Witzen aufgezogen und in der dunklen Ecke einer fast menschenleeren Bibliothek Gedichte vorgelesen haben.

Das wahre Leben ist nie wie in den Romanen.

Wo ist der Haken?

Vincent deutet mein Zögern falsch. »Wenn du keinen Bock darauf hast, kannst du wieder zu deinem Buch zurückkehren. Mein Ego wird es schon verkraften, das verspreche ich dir. Aber halte dich nicht zurück, weil du Angst hast.«

Mit einem Mal ist das Feuer in mir wieder entfacht. »Ich hab keine …«

Vincents Hand übt erneut Druck auf meinen Nacken aus, diesmal dringlicher. »Dann komm her«, murmelt er.

Scheiß drauf, sage ich mir. Ja, meine Haare sind unordentlich, und mein Make-up ist schon mehrere Stunden alt. Ja, die Neonlichter und der schmuddelige Teppich tragen nicht gerade zur Stimmung bei. Ich wünschte, ich würde mich gepflegter fühlen, besser vorbereitet, um gehalten und berührt zu werden.

Doch Vincent scheint es nicht zu stören, dass ich nicht perfekt bin, und vielleicht ist das alles, was zählt.

Das Leben ist zu kurz, um meine Chance, mich zu fühlen, als wäre ich in einem Liebesroman, verstreichen zu lassen.

Mit einem tiefen Atemzug nehme ich all meinen Mut zusammen, hebe das Kinn erneut und verschaffe Vincent Zugang zu meinem Mund.

Er hält mich, sein Daumen an meiner pulsierenden Ader und seine Finger in meinem Haar, als er den Kopf senkt, um mich zu küssen, erst einmal sanft und dann noch einmal. Es ist ein schnelles, federleichtes Streifen meiner Lippen – als würde er mich necken.

Als ich einen ungeduldigen Laut ausstoße, der tief aus meiner Kehle dringt und klingt wie ein Jammern, lacht Vincent.

Dann küsst er mich richtig.

Ich schnappe nach Luft, als sich Vincents Mund auf meinen legt. Meine Lippen teilen sich, und unsere Zungen berühren einander, zuerst vorsichtig, dann mit mutigeren, erkundenden streichenden und kreisenden Bewegungen. Es ist kein unbeholfener betrunkener Kuss, wie ich es gewohnt bin – dies ist etwas vollkommen anderes. Es ist entschlossen. Zielgerichtet.

So fühlt es sich an, jemanden zu küssen, wenn das Einzige, was meinen Geist benebelt, der verzweifelte Wunsch ist, herauszufinden, wie er schmeckt.

Vincents Zunge gleitet über meine Unterlippe, ehe er sanft daran knabbert.

Ich schnappe nach Luft. Mein Herz hämmert so laut in meinen Ohren, dass ich kaum etwas anderes hören kann. Als er sich tiefer bückt, um Küsse auf meiner Kieferkontur zu platzieren, hebe ich den Arm, um die Finger in sein dunkles Haar gleiten zu lassen. Es ist dick und seidig weich.

Vorsichtig ziehe ich daran.

Vincent ächzt an meinem Hals, was ich bis tief in meine Knochen spüre, wo es vibriert wie ein Echo und geradewegs zwischen meine Beine schießt.

Ich winde mich an ihm und ziehe scharf die Luft ein, als ich es spüre – die Härte unter dem weichen Stoff seiner schwarzen Jogginghose. Warum ich so schockiert bin, weiß ich selbst nicht. Dank meiner ausgiebigen literarischen Recherche ist mir bekannt, wie alles funktioniert. Doch der Gedanke, dass Vincent wegen mir eine Erektion hat, lässt eine Flut aus Hitze in meine Mitte schießen. Mit einem Mal ärgere ich mich darüber, dass er eine Hose trägt und ich eine Leggings anhabe, da sie im Weg sind. Ich will, dass sie verschwinden. Ich will, dass wir Haut an Haut sind, dass Vincent meine Beine spreizt, warm und feucht und verletzlich. Nun lasse ich die Hände zu seinem Bizeps hinaufgleiten, umfasse die harten Muskeln, über denen die Baumwolle spannt, und klammere mich an ihm fest, um meine Hüften noch intensiver an ihm zu reiben.

»Fuck«, sagt Vincent an meiner Wange. »Du bringst mich noch um, Professorin.«

Meine Mitte zieht sich angesichts seiner Worte zusammen. Und dann kommt mir ein erschreckender Gedanke: Er kennt nicht mal meinen Namen.

Vier

Ich lehne mich zurück und atme tief die kühle Luft ein, wobei ich versuche, die Orientierung wiederzufinden.

Vincent nutzt die Gelegenheit, um den Kopf zu senken und mir aufmerksame Küsse auf mein entblößtes Schlüsselbein zu drücken.

Er ist gut darin. Verdächtig gut.

»Verführst du öfter Frauen in Bibliotheken oder ist das neu für dich?« Eigentlich soll es wie ein Scherz klingen, aber ich bin mir sicher, dass er die Sorge in meiner Stimme heraushört.

Vincent gibt mir einen letzten Kuss auf den Halsansatz, ehe er sich aufrichtet, um mich anzusehen. »Nein«, antwortet er. »Ich meine, ich habe schon Frauen verführt, aber noch nie in einer Bibliothek. Und das hatte ich auch nicht vor. Ich muss wirklich bis Montag eine Hausaufgabe abgeben, und diese verdammt bescheuerte Schiene«, er hebt seinen verletzten Arm und lässt ihn wieder an seine Brust fallen, »ist echt. Ich hab mir das Handgelenk beim Sommertraining verstaucht. Ich trag das Ding nicht nur, um Mitleid zu erregen.«

Ich sehe ihn aus verengten Augen an. »Nur verstaucht?«

»Ich bin draufgefallen, als ich nach einem Korbleger wieder auf dem Boden aufgekommen bin.«

»Hmm. Die Schlinge lässt die Verletzung ziemlich ernst wirken.«

»Mein Coach hat vielleicht überreagiert«, presst Vincent hervor. »Er will nicht, dass ich bei mehr Spielen aussetzen muss als unbedingt notwendig.«

Ich presse die Lippen zusammen, als ich an all die Clips zurückdenke, die ich von ihm gesehen habe, in denen er sich mit Mitgliedern der gegnerischen Mannschaft anlegt. Die Worte sprudeln aus mir heraus, ehe ich darüber nachdenken kann. »Bist du dir sicher, dass du nicht jemandem eine reingehauen hast?«

Vincent seufzt, legt den Kopf in den Nacken und schaut zur Decke. »Dann weißt du also, wer ich bin.«

»Nur weil ich nicht zu Partys gehe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht mitbekomme, was an der Uni abgeht.«

»Warst du schon mal bei einem Basketballspiel?«

»Nein, aber ich hab letztes Jahr das Video gesehen, in dem du diesem Typen die Nase gebrochen hast.«

Vincent verzieht das Gesicht. »War nicht meine schlaueste Idee. Dieser Arsch hatte es aber verdient.«

»Was hat er denn getan?«

Einen Moment wirkt er überrascht – als hätte er erwartet, ich würde ihm einen Vortrag darüber halten, dass Gewalt niemals die Antwort sei.

»Er hat etwas gesagt, das er nicht hätte sagen sollen.«

»Zu dir?«

»Nein. Zu meinem Mannschaftskollegen. Jabari.«

»Oh.« Ich runzele die Stirn. »Nun, dann hast du Scheiße gebaut, Knight.«

»Echt?«

»Jepp. Du hättest mindestens drei Körbe mehr werfen sollen, bevor der Schiedsrichter dich auf die Bank verwiesen hat.«

Auf Vincents Gesicht macht sich ein leicht beschämtes Grinsen breit, das schreckliche Dinge mit meinem Inneren anrichtet. Er legt seine unverletzte Hand auf meine Schulter.

Ich frage mich, ob er weiß, dass jedes Mal elektrische Funken durch mich hindurchschießen, wenn er mit dem Daumen mein Schlüsselbein nachfährt.

»Irgendwie unfair, dass du meinen Namen kennst, aber ich deinen nicht weiß«, murmelt er.

Erst in diesem Augenblick wird mir bewusst, dass meine Anonymität eine schützende Decke dargestellt hat. Natürlich könnte ich Vincent ebenso gut einen falschen Namen nennen, aber der Gedanke daran, ihn anzulügen, bewirkt, dass sich mein Magen vor Schuldgefühlen zusammenzieht.

»Ich heiße Kendall«, erwidere ich leise.

»Nun, Kendall«, flüstert er, mein Name weich auf seinen Lippen, »diese Schlinge trage ich nicht, um Mädels aufzureißen, falls du dir darüber Sorgen machst.«

Ich unterdrücke ein Schmunzeln. »Das habe ich auch nicht gedacht. Der Trick wäre irgendwie lame. Ich weiß ohnehin nicht, wie du an einem Bücherregal Sex haben solltest, wenn du nur eine unverletzte …«

Die einzige Warnung, die ich bekomme, ist ein schelmisches Funkeln in Vincents dunklen Augen. Dann legt er den gesunden Arm unter meinem Cardigan um meine Taille und hebt mich hoch.

Nachdem ich vor Überraschung ein beschämendes Quietschen ausgestoßen und meine Beine um seine Hüften geschlungen habe, kralle ich mich mit einer Hand in seinem Haar und mit der anderen an seinem T-Shirt fest. Ich bin nicht gerade klein und demnach keine typische Romanheldin, die im Schlafzimmer herumgeworfen und süß oder frech genannt wird. Es ist definitiv nicht leicht, mich so mühelos hochzuheben, wie er es gerade gemacht hat. Obwohl Vincents Schultern breit sind und sein Bizeps einen beeindruckenden Umfang hat, habe ich ein wenig Angst, dass er mich fallen lassen könnte.

»Das war ein Scherz«, erkläre ich. »Ich hab einen Scherz gemacht.«

»Ich aber nicht.« Er passt seinen Griff um mich herum an, sodass ich spüre, wie sich seine Finger in meine Hüfte graben, gerade so fest, dass es auf angenehme Art schmerzt. Vielleicht bekomme ich einen Bluterguss. Ich weiß auch nicht, warum ich diesen Gedanken aufregend finde.

»Lass mich bloß nicht fallen«, warne ich.

»Du weißt, dass ich dich beim Kniebeugen machen hochstemmen könnte, oder?«

Die feste Wölbung seines Hinterns an meinen Waden genügt als Beweis für seine Behauptung.

»Ich meine ja nur.«

Vincent lacht, wobei sein heißer Atem federleicht über meine Haut streicht. »Gib mir nur einen Moment. Lass mich wenigstens versuchen, smooth zu sein. Ich verspreche dir, dass ich dich halten kann, Kendall.«

Mein Name aus seinem Mund weckt schon wieder Begierde in mir.

Vincent entgeht das offenbar nicht, denn er macht ein paar Schritte nach vorn, bis ich etwas Hartes in meinem Rücken spüre – ein Bücherregal. Es steht an einer Wand, sodass wir es höchstwahrscheinlich nicht umwerfen können, aber es fühlt sich dennoch irgendwie gefährlich an, dagegen gedrückt zu werden, während sich unter meinen Füßen nichts als Luft befindet.

Die gesamte Situation ist überaus prekär.

»Was hast du noch mal gesagt?«, murmelt er. »Über Sex am Bücherregal? Denn ich denke, es ist eindeutig, dass ich dazu in der Lage bin.«

Mit einem Mal werde ich übermütig und senke meinen Kopf, sodass ich mit den Lippen sein Ohr streife. »Beweise es«, flüstere ich.

Vincent lacht nicht, doch in seiner Brust vibriert es – leise, fast wie ein Knurren –, ehe er mich erneut küsst. Diesmal ist es nicht sanft, denn unsere Münder begegnen sich mit einem Hunger, bei dem sich mein Bauch zusammenzieht.

Er kann nicht real sein. Dieser Gedanke geht mir immer wieder durch den Kopf, als Vincent seine Hüften an meinen wiegt. Woher kommt dieser Typ? Denn es macht so verdammt viel Spaß, mir Wortgefechte mit ihm zu liefern, mein Lieblingsgedicht zu lesen und dann an einem Bücherregal mit ihm rumzumachen, dass mir schleierhaft ist, wie ich die letzten knapp einundzwanzig Jahre meines Lebens ohne dieses Gefühl überstanden habe.

Mein Kopf wird langsam benebelt. Meine Welt beschränkt sich nur noch auf Vincents festen, warmen Körper und seine Hände, die mich halten, und mich näher an ihn heranziehen, während sein Mund …

Etwas Schweres trifft mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden auf.

Erschrocken zucke ich zurück.

Es ist ein Buch.

Ich muss es vom Regal gestoßen haben. Später werde ich herausfinden müssen, woher es gekommen ist, damit Margie sich nicht die Mühe …

Oh, verdammt.

Margie.

Mittlerweile müssen definitiv fünfzehn Minuten vergangen sein, sie könnte also jeden Moment heraufkommen, um Bücher einzusortieren.

Panisch tippe ich Vincent am Arm an. »Lass mich runter, bitte.«

Er gehorcht sofort.

In dem Moment, in dem meine Füße den Boden berühren, gehe ich um ihn herum und bringe einen halben Meter Abstand zwischen uns.

Den gesunden Arm lässt er wieder an seine Seite fallen.

Nun, da ich Vincents Körperwärme nicht mehr spüre, erinnere ich mich daran, welch arktische Temperaturen oft in der Bibliothek herrschen können, doch widerstehe dem Drang, den Cardigan enger um meinen Körper zu ziehen und mich darin zu vergraben. Ich werde mich nicht verstecken. Nicht solange Vincent mit geröteten Wangen und vom Küssen geschwollenen Lippen, zerzaustem Haar und benommener Miene vor mir steht.

Das ist mein Werk, sage ich mir. Ich hab dafür gesorgt, dass er so aussieht.

Meine Mitbewohnerinnen würden kreischen, wenn sie mich jetzt sehen könnten. Harper und Nina ziehen mich schon seit Jahren damit auf, dass ich die Stubenhockerin und die Vernünftige bin – die Mom unserer Gruppe. Doch heute Abend bin ich nicht wiederzuerkennen. Ich habe regelrecht den Verstand verloren. Verhalte mich vollkommen untypisch.

»Ich hab’s dir ja gesagt«, merke ich mit einer Ruhe an, die ich in Wahrheit nicht empfinde. »Ich habe keine Angst.«

Vincents Lippen zucken. »Na gut.«

Seine Stimme ist auf eine Art tief und heiser, die meine Knie weich macht. Aber ich muss pragmatischer denken. Ich arbeite. Ich habe eine Vorgesetzte, die eventuell bald nach mir suchen wird.

Was kommt als Nächstes? Soll ich meine Jungfräulichkeit an einen Jungen verlieren, den ich gerade in einer dunklen Ecke der Vierundzwanzig-Stunden-Bibliothek der Clement University kennengelernt habe?

Logik und Vernunft sind gemeine Bitches.

Ich glätte die Vorderseite meines Shirts und räuspere mich. »Ich sollte mich wirklich wieder an die Arbeit machen. Aber wenn du mit mir zur Theke kommst, kann ich dir helfen, das Buch auszuleihen.« Ich trete einen Schritt zurück.

Vincent lächelt, doch es wirkt eher wie eine Grimasse. »Wir sehen uns gleich unten.« Als ich ihn verständnislos anblicke, deutet er zu seinem Schritt. Die Beleuchtung ist schwach, und seine Jogginghose ist schwarz, aber dennoch kann ich die Umrisse einer beeindruckenden Erektion ausmachen. »Ich brauch ’ne Minute.«

Mein Gesicht wird rot. »Oh. Oh, okay.«

Ich habe den Eindruck, ich sollte noch mehr sagen – etwas, mit dem ich anerkenne, wie schwerwiegend das ist, was soeben passiert ist –, aber das wäre zu viel. Ich wüsste nicht mal, wo ich anfangen sollte.

Als ich mich entferne, drehe ich mich nicht noch einmal um, denn dann würde das Risiko bestehen, dass ich wieder zurücklaufe, und das beende, was wir begonnen haben.