Nikomachische Ethik - Aristoteles - E-Book

Nikomachische Ethik E-Book

Aristoteles

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Beschreibung

Die Nikomachische Ethik (altgriechisch thiká Nikomácheia) ist die bedeutendste der drei unter dem Namen des Aristoteles überlieferten ethischen Schriften. Da sie mit der Eudemischen Ethik einige Bücher teilt, ist sie möglicherweise nicht von Aristoteles selbst in der uns erhaltenen Form zusammengestellt worden. Warum die Schrift diesen Titel trägt, ist unklar. Er bezieht sich möglicherweise auf Aristoteles' Sohn Nikomachos, auf seinen gleichnamigen Vater oder eine andere Person dieses Namens. (aus wikipedia.de)

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Nikomachische Ethik

Aristoteles

Inhalt:

Aristoteles – Biografie und Bibliografie

Nikomachische Ethik

Vorbemerkung

1. Die Stufenleiter der Zwecke und der höchste Zweck

2. Form und Abzweckung der Behandlung des Gegenstandes

Einleitung

1. Verschiedene Auffassungen vom Zweck des Lebens

2. Kennzeichen und Erreichbarkeit der Eudämonie

I. Teil - Die sittliche Anforderung

1. Kennzeichen der sittlichen Beschaffenheit und ihrer Betätigung

II. Das freie und das unfreie Handeln

III. Die einzelnen Arten der sittlichen Betätigung

II. Teil - Das sittliche Subjekt

I. Verstandesbildung

II. Willensbildung

III. Gefühlsbildung

III. Teil - Die menschlichen Gemeinschaften

1. Die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft

2. Arten der Verbindung zwischen den Menschen

3. Freundschaftsverhältnis und Rechtsverhältnis

4. Einzelfragen das Freundschaftsverhältnis betreffend

5. Freundschaftsähnliche Verhältnisse

6. Das Bedürfnis nach Freunden

IV. Teil - Motive, Ziele und Stufen des sittlichen Lebens

1. Der sittliche Wert der Gefühle

2. Das Leben nach reiner Vernunft

3. Die moralische Betätigung

4. Staat, Gesetz, Zwang im Dienste des sittlichen Lebens

Nikomachische Ethik, Aristoteles

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849603847

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com

Aristoteles – Biografie und Bibliografie

Der einflussreichste Philosoph und Naturkundige Griechenlands, geb. 384 v. Chr. zu Stagira in Chalkidike, weshalb er auch häufig der Stagirit genannt wird, gest. 322 in Chalkis auf Euböa, war der Sohn von Nikomachos, dem Leibarzt und Freund des makedonischen Königs Amyntas II., ging schon im Alter von 17 Jahren nach Athen, um Platon zu hören, und blieb daselbst 20 Jahre lang dessen Schüler. Daß er feindselig gegen seinen Lehrer aufgetreten sei, ist eine üble Nachrede. Nach dem Tode Platons (347) verließ A. Athen und begab sich zu Hermias, dem Beherrscher von Atarneus in Mysien, konnte sich aber nach dessen Hinrichtung auf Befehl des Perserkönigs nur durch die schleunigste Flucht gleicher Gefahr entziehen und vermählte sich 345 mit Pythias, der Schwester oder Nichte des Hermias. Zwei Jahre später wurde er vom König Philipp von Makedonien zur Erziehung des damals 13jährigen Alexander berufen, auf den er nachhaltigen und wohltätigen Einfluss ausübte. Nach dessen Thronbesteigung siedelte er bald nach Athen über, wo er sich in dem nach dem benachbarten Tempel des Apollon Lykeios benannten Lyzeum, das mit schattigen Baumgängen zum Lustwandeln umgeben war, einrichtete. Weil A. mit seinen Schülern hier auf und ab wandelnd zu philosophieren pflegte, wurde ihnen der Name Peripatetiker beigelegt. Es wird erzählt, dass er seine Vorlesungen in Morgen- und Abendvorträge geschieden habe, zu deren ersteren nur die vertrauteren Freunde Zutritt hatten, die in die tiefer gehenden philosophischen Untersuchungen eingeführt werden sollten. Diese Vorträge hießen »akroamatische« und waren streng wissenschaftlich. In den Abendstunden wurden exoterische Untersuchungen vorgenommen, die sich auf Rhetorik und Politik vornehmlich bezogen und verständlicher gehalten waren. In dieser Zeit seines zweiten, 13jährigen Aufenthaltes in Athen verfasste er seine wichtigsten Schriften. Obgleich die Zuneigung, die Alexander seinem Lehrer bisher bewiesen, in der Folgezeit, angeblich infolge der Tötung des Kallisthenes (323), eines Neffen und Zöglings des A., erkaltete, galt A. den Feinden des Königs als Makedonierfreund, und als die Athener zu Beginn des Lamischen Krieges alle Anhänger der makedonischen Herrschaft innerhalb der Stadt verfolgten, hatte A. besonders darunter zu leiden. Der Gottlosigkeit angeklagt, die man in einem Päan auf Hermias finden wollte, floh A., ohne die gerichtliche Entscheidung abzuwarten (322), nach Chalkis auf Euböa, wo er bald darauf starb. Er hinterließ eine unmündige Tochter, Pythias, und seine zweite Frau, Herpyllis, von der ihm der bei des Vaters Tode noch sehr junge Nikomachos geboren worden war. Eine sitzende Porträtstatue im Palazzo Spada zu Rom wurde früher fälschlich für die des A. gehalten.

Schriften des Aristoteles.

Von den sehr zahlreichen Schriften des A. (nach einigen in 400, nach andern in 1000 Büchern) sind aus dem Altertum drei Verzeichnisse auf uns gekommen, von denen zwei einander sehr ähnlich sind, während das dritte nicht unbedeutend von diesen abweicht. Die dialogischen Schriften, die Spätere exoterische nannten, weil sie verständlicher waren, ebenso manche andre in früherer Zeit abgefasste, sind uns nur noch in Bruchstücken erhalten, während wir die hauptsächlichsten der sogen. esoterischen oder akroamatischen, d.h. der strenger wissenschaftlichen, Lehrschriften noch besitzen, wenn auch z. T. in sehr mangelhafter Verfassung. Von den noch vorhandenen sechs logischen Schriften des A. (hrsg. von Th. Waitz, Leipz. 1844–46, 2 Bde.) sind die wichtigsten die sogen. »erste Analytik«, die über den Schluss, und die »zweite Analytik«, die über den Beweis, die Definition und Einteilung und über die Erkenntnis der Prinzipien handelt. Die Schrift »Über die Kategorien« (deren Echtheit bestritten wird) betrifft die höchsten Allgemeinbegriffe, die (gleichfalls unsichere) Abhandlung »Über die Auslegung« den Satz und das Urteil, die sogen. »Topik« die dialektischen oder Wahrscheinlichkeitsschlüsse und endlich die Untersuchung »Über die sophistischen Schlüsse« die Trugschlüsse der Sophisten. Unter dem Namen Organon (Werkzeug) sind diese Schriften erst später zusammengefasst worden, weil A. die Logik oder, wie er sie nennt, »Analytik« als Hilfsmittel zur Erlangung wissenschaftlicher Erkenntnis betrachtet.

Zu den naturwissenschaftlichen Schriften gehören vor allen die acht Bücher der Physik (»Auscultatio physica«, hrsg. von Prantl, Leipz. 1879; griech. u. deutsch von demselben, das. 1854), worin die allgemeinsten Gründe und Verhältnisse der gesamten Natur dargestellt werden, und an die sich die zwei Bücher vom Entstehen und Vergehen (»De generatione et corruptione«) anschließen, sowie die vier Bücher »De coelo« (griech. u. deutsch von Prantl, Leipz. 1857), von den Gestirnen und ihren Bewegungen, und die vier Bücher »Meteorologica« (hrsg. von Ideler, Leipz. 183436), von den Lufterscheinungen handelnd. Die Gesetze der inneren Erscheinungen, die Lehre über das Wesen, die Vermögen und die Eigenschaften der Seele legt A. dar in den drei Büchern über die Seele (»De anima«, hrsg. von Trendelenburg, 2. Aufl., Berl. 1877; von Torstrik, das. 1862; von Biehl, Leipz. 1884; deutsch von Rolfes, Bonn 1901). Den Übergang zu der empirischen Lehre von der Seele bilden einige Schriften naturwissenschaftlich-philosophischen Inhalts, die unser dem gemeinsamen Namen »Parva naturalia« zusammengefasst werden. Auf dem Gebiete der Naturgeschichte schlug A. den Weg der Empirie ein, indem er die Erscheinungen der Natur im Einzelnen betrachtete. Von den Werken über die unorganische Natur ist nicht ein einziges erhalten. Die »Historia animalium«, deren 10. Buch unecht, ist das Hauptwerk des Altertums über die Geschichte der Tiere (hrsg. von Schneider, Leipz. 1812, 4 Bde., und griech. u. deutsch von Aubert und Wimmer, das. 1868, 2 Bde.); hiermit hängen zusammen: »Über die Zeugung der Tiere« (hrsg. griech. u. deutsch von Aubert und Wimmer, das. 1860), und die vier Bücher »Über die Teile der Tiere« (griech. u. deutsch von Frantzius, das. 1853). Den Organismus der Pflanzen hatte A. in einem verlornen Werk: »De plantis«, dargestellt. Unecht sind die »Physiognomica«, die »Quaestiones mechanicae«, die vielgelesene und schon an die Stoa erinnernde kleine Schrift »De mundo«. Die 37 Bücher »Problemata« enthalten wenigstens einiges Aristotelische. Die »Metaphysik« (hrsg. von Bonitz, Bonn 1848; griech. u. deutsch von Schwegler, Tübing. 1846–48; in deutscher Übersetzung von Bonitz, Berl. 1890) verdankt ihren Namen, der nicht von A. selbst herrührt, dem Umstande, dass die 14 Bücher, aus denen sie besteht, ohne Titel in der Reihe der Aristotelischen Handschriften zunächst hinter den physikalischen standen. In ihrer jetzigen Gestalt, in der sie sich nicht von A. herschreiben können, sind mehrere Bücher logischen Inhalts, andernteils wieder Überarbeitungen einzelner Teile, die nebeneinander gestellt worden sind, oder Kompilation selbständiger Abhandlungen, die Spätere ohne innern Zusammenhang in die Sammlung gereiht haben. A. nannte die Wissenschaft, die wir als Metaphysik bezeichnen, »Erste Philosophie«. Die moralisch-politische Klasse der Schriften des A. umfasst einige seiner wichtigsten. Über die Sittenlehre existieren u. d. T. »Ethik« drei Werke, von denen die sogen. Nikomachische Ethik (hrsg. von Zell, Heidelb. 1820, 2 Bde.; von Grant, mit engl. Kommentar, 4. Aufl., Lond. 1885, 2 Bde.; von Ramsauer, Leipz. 1878; deutsch von Garve, Berl. 1798–1806, 2 Tle.) am ersten noch dem A. selbst zugeschrieben werden kann, während die sogen. Eudemische ein Werk seines Schülers Eudemos und die »Magna moralia« (hrsg. von Susemihl, Leipz. 1883) betitelte kürzeste Schrift ein Auszug aus beiden vorgenannten sein soll. Die »Politik« (hrsg. von Stahr, Leipz. 1836–39; Susemihl, das. 1872 und, mit Übersetzung von demselben, das. 1878; die drei ersten Bücher deutsch von Bernays, Berl. 1872) enthält in acht Büchern die Lehre von dem Zweck und den Elementen des Staates, eine Darstellung der verschiedenen Regierungsformen, zuletzt das Ideal eines Staates und die Lehre von der Erziehung als dessen wichtigster Bedingung. Über das Hauswesen (Ökonomik) existiert ein besonderes Werk in zwei Büchern, von denen das erste Buch wahrscheinlich nur in einem Auszug des Theophrast auf uns gekommen, das zweite als unecht nachgewiesen ist. Das für die Altertumskunde unersetzliche Werk »Politien«, eine Sammlung aller bis zu des A. Zeit bekannt gewordenen 158 oder gar 250 Staats- und Gesetzverfassungen des Altertums, ist bis auf wenige Bruchstücke und die neuerdings erst aufgefundene »Staatsverfassung der Athener« (hrsg. von Kaibel u. v. Wilamowitz-Möllendorff, Berl. 1891 u. ö.; übersetzt von Kaibel und Kießling, Straßb. 1891 u. ö.) verloren. Die Rhetorik und Poetik schließen sich z. T. an die logischen, in der Hauptsache an die ethischen Schriften an. Von den drei Büchern »Rhetorica« (hrsg. von Spengel, Leipz. 1867; deutsch von Stahr, Stuttg. 1864) sind die ersten beiden sehr gleichmäßig durchgeführt. Ein andres rhetorisches Werk »Rhetorica ad Alexandrum«, ist unecht. Die »Poetik« (häufig herausgegeben, z. B. von Vahlen, 3. Aufl. Berl. 1885, von Überweg, das. 1870; griech. u. deutsch von Susemihl, Leipz. 1874, von Schmidt, Jena 1875; deutsch von Gomperz. Leipz. 1897, mit einer Abhandlung über die Katharsis-Theorie von A. v. Berger), die über das Prinzip der Kunst, über die Tragödie und epische Poesie die wichtigsten Aufschlüsse gibt, hat trotz ihrer sehr unvollständigen Beschaffenheit auf alle Kunstbetrachtung (in Deutschland seit Lessing) den wirksamsten Einfluss ausgeübt. Die vorhandenen angeblichen Briefe des A. sind teils offenbar untergeschoben, teils von zweifelhafter Echtheit.

Gesamtausgaben. Sämtliche Werke des A. wurden griechisch herausgegeben zuerst von Aldus Manutius (Vened. 1494–98, 5 Bde.), dann unter anderem unter der Aussicht des Erasmus und Grynaeus zu Basel (1531, 1538), von Buhle (Zweibr. 1791–1800, 5 Bde.; mit lat. Übersetzung). Eine neue Ausgabe besorgte Bekker im Auftrag der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bd. 1–2 griech. Text, Bd. 3 lat. Übersetzung, Bd. 4 Auszüge aus den Scholien, Berl. 1831; Bd. 5, die Fragmente, hrsg. von Rose, und den Index, bearbeitet von Bonitz, enthaltend, 1871), auf die sich auch die Didotsche Ausgabe (Par. 1848–1874, 5 Bde.) stützt. Übersetzungen von gesammelten Werken des A. erschienen in den bekannten Stuttgarter Klassikersammlungen und, mit Einleitungen, in Kirchmanns »Philosophischer Bibliothek«.

Die Aristotelische Philosophie.

A. ist Schüler Platons und als solcher erst zu verstehen; mehr als man meist glaubt, hat er von seinem Lehrer genommen, namentlich die ganze teleologische Weltanschauung; freilich wendet er sich den Tatsachen mehr zu, lässt sich aber von hohen spekulativen Gedanken leiten und steigt zu den letzten Gründen auf, so dass er kein Realist im niederen Sinn ist. Eine feste Einteilung der Philosophie vermissen wir bei ihm; meist führt man auf ihn die in theoretische, in praktische und in poetische, aber nicht mit vollem Recht, zurück. Die erste würde auf die nur wissenschaftliche Erkenntnis des Seienden, die zweite auf das Handeln, die dritte auf das Gestalten eines Stoffes, das Bilden, gehen. Die Logik hat er zuerst wissenschaftlich begründet. Die Hauptsache in der Logik ist ihm der wissenschaftliche Schluss, der Syllogismus, der vom Allgemeinen zum Besondern herabsteigt, im Gegensatze zu der weniger sichern, aber für uns deutlicheren Induktion, und aus gewissen Prinzipien ableitet, im Gegensatze zum dialektischen Schluss, der das Wahrscheinliche als Prämissen gebraucht, und zum sophistischen, der aus Falschem schließt oder durch die Form täuscht. Die letzten Prinzipien erfasst die Vernunft unmittelbar. In der Metaphysik ist A. mit Platon darin einverstanden, dass, wenn es kein Allgemeines (Begriff, Gattung) an den Dingen gäbe, auch kein Wissen von diesen möglich wäre; darin weicht er von Platon ab, dass er nicht das Allgemeine, die Idee, sondern das Einzelne, die Individuen, als das erste Seiende anerkennt und dem Begriff nicht eine Wirklichkeit für sich, wie Platon der Idee, zuschreibt, sondern nur in den einzelnen Dingen, z. B. dem Begriff Pferd nur in den einzelnen Pferden (universalia in re, nicht ante rem). Der Begriff ist wirklich, indem er zum gestaltenden Prinzip eines bildsamen Stoffes wird. An jedem wirklichen Dinge, mit Ausnahme eines einzigen, der Gottheit, ist beides, Form und Materie, zu unterscheiden, obgleich niemals zu trennen, indem, mit Ausnahme wieder jenes einzigen, Form nie ohne Materie, diese nie ohne jene gegeben ist. Dies sind die beiden Grundprinzipien, neben die A. bisweilen noch zwei weitere, den Zweck und die bewegende Ursache, stellt, die er aber doch wieder in die Form oder das Wesen (Begriff) ausgehen lässt. Die Ausgestaltung des Stoffes durch die Form geht niemals plötzlich, sondern stets allmählich vor sich, so dass das schließlich Wirkliche (Ausgebildete) anfänglich nur als Mögliches (Anlage zur Ausbildung, Angelegtes), wie das Hühnchen im Ei, die Pflanze im Samenkorn, existierte. Der Übergang aus der bloßen Anlage (Potenzialität, Stoff) in Wirklichkeit (Aktualität, Entelechie, weil sie den Zweck, griech. telos, in sich hat) erfolgt durch Bewegung. Damit diese eintrete, bedarf es einer Ursache, und da sich bei dieser dasselbe, Übergang aus Nichtwirksamkeit in Wirksamkeit, also Bewegung, wiederholt, einer weitern Ursache u. s. s. Da nun die Reihe dieser Ursachen nicht ins Endlose gehen kann, so muss eine letzte Ursache vorhanden sein; diese aber als letzte darf in keiner Weise Anlage (Vermögen) zum Tätigsein, sondern muss Tätigkeit schlechthin sein, da sie sonst selbst einer weitern Ursache bedürftig wäre, um aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit überzugehen. So muss es eine selbst unbewegte Ursache aller Bewegung geben, dies ist der erste Beweger, Gott, der Ausgangspunkt aller Bewegung und alles Lebens. Dieser selbst ist seinem Wesen nach reine Wirklichkeit oder Tat (Energie), hat nichts von Möglichkeit oder Materie, die etwas werden könnte, an sich. Gott ist notwendig ewig, da die durch ihn bewirkte Bewegung ohne Anfang und Ende ist, ferner immateriell, unveränderlich, leidenlos. Er ist unbeweglich, obgleich er andres bewegt; denn er bewegt nur, wie es das Schöne tut, das den nach ihm Begehrenden in Bewegung versetzt, ohne selbst in solcher zu sein, d.h. Gott bewegt das Ideal, dem das der Gestaltung bedürftige, die Materie, zustrebt. Er ist Einer, denn das der Zahl nach Viele hat Materie; rein Form (ohne Stoff), von allem Seienden das einzige, dessen Tun nicht Gestalten materiellen Stoffes, nicht praktisches Handeln, sondern (theoretisches) Denken ist, keinen Zweck außer sich hat, dem alle Materie durch Unterwerfung unter die Form sich zu nahen bestimmt ist. Gott ist Denken des Denkens; sein Tun, da er sich selbst genügend, keines von ihm verschiedenen Dinges bedürftig ist, die seligste Beschäftigung. Gott als die stofflose Form, die nichts mehr werden kann, und die Materie als der formlose Stoff, der alles werden kann, sind Gegensätze, zwischen denen alle andern wirklichen Dinge gelegen sind. A. hat mit dieser ausgeführten Theorie von der Gottheit den wissenschaflichen Theismus begründet.

In der Physik spielt die Bewegung, die durchaus zweckvoll ist, eine große Rolle, indem sie den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit bildet; sie hat ihren Grund in Gott als erstem Beweger. Die Naturgegenstände, in denen der Stoff die Form überwiegt, machen die leblose, die, in denen das Umgekehrte der Fall ist, die lebendige Natur aus, und zwar in der Art, dass das formloseste Produkt der Natur die unterste, der Mensch dagegen die oberste Stufe der Reihenfolge bildet. Jede der höheren Stufen setzt die früheren, die lebendige Natur selbst die leblose und diese wieder die allgemeinen Bedingungen alles natürlichen Daseins, Raum, Zeit und Bewegung, voraus. Die Zeit ist unbegrenzt, der Raum dagegen begrenzt, da er nichts andres ist als die Grenze eines einschließenden Körpers gegen den umschlossenen. Hiernach kann es keinen leeren Raum geben. Stoff und Bewegung sind so ewig wie der erste Beweger, die Welt so ungeschaffen und so unvergänglich wie Gott selbst. Da der Beweger der vollkommenste ist, so ist auch das Bewegte ein wohlgeordnetes System von Bewegungen und seiner Gestalt nach vollendet und abgeschlossen. Zwischen dem Firsternhimmel und der Erde, die den Mittelpunkt des Universums bildet, bewegen sich die Planetensphären. Jener macht den vollkommensten, weil dem ersten Beweger nächsten, die Erde den unvollkommensten, weil demselben fernsten Teil des Weltalls aus, daher auf der letzteren anstatt der Wandellosigkeit der Gestirnwelt unaufhörlicher Wechsel herrscht. Dafür zeigt sich hier eine unendlich größere Mannigfaltigkeit von Formen und Gestalten der irdischen Phänomene, insbes. der organischen. In dieser diesseitigen Welt unter dem Monde tritt, da sie dem ersten Beweger so fern steht, um so mehr das Bedürfnis eines eignen inneren Bewegungsprinzips, der Seele, hervor, wodurch die organische Welt als Sitz einer von ihr selbst (wenigstens relativ) ausgehenden Bewegung dem ersten Beweger wieder ähnlich wird. Mit der Physik hängt die Psychologie unmittelbar zusammen. Die Seele, welche die Entelechie, die Form des Leibes, ist, im weitesten Sinne gleich Lebenskraft, tritt auf der untersten Stufe des organischen Lebens, in der Pflanze, ohne sichtbaren Lebensmittelpunkt, nur als ernährende, auf der mittleren Stufe, im Tier, zugleich als empfindende mit einem Mittelpunkte des leiblichen (Herz) und zugleich einer Einheit des wahrnehmenden, Lust und Unlust fühlenden, begehrenden und verabscheuenden psychischen Lebens auf. Im Menschen, dem vollkommensten Tier, kommt zu beiden genannten als höchste Stufe die denkende, von den beiden früheren unterschiedene Seele, die Vernunft, der Geist (griech. nūs), hinzu; sie stammt nicht aus der Natur, sondern ist etwas »Göttliches«. Bei dem »Geist« im Menschen unterscheidet A. in nicht ganz klarer Weise ein Doppeltes, nämlich einen tätigen und einen leidenden Geist (nus poietikos und pathetikos), von denen der letzere mit dem Körper sich entwickelt und vergeht, der erstere von »außen«, von der Gottheit kommt und in sie zurückkehrt. Eine individuelle Unsterblichkeit kann A. folgerichtigerweise nicht annehmen, aber unter seinen Anhängern entspann sich ein heftiger Streit um die Unsterblichkeit. Neben der theoretischen Denkkraft gibt es bei A. noch eine praktische, die in der Ethik erörtert wird. Die Ethik fragt nach dem Zweck des Menschen, d.h. nach dem höchsten Gut, als das A., wie alle griechischen Philosophen die Eudämonie (Glückseligkeit) ansieht, und zwar bestimmt er diese psychologisch nach dem, was dem Menschen eigentümlich im Gegensatze zu andern Lebewesen zukommt, das ist aber die Vernunft. Demnach ist die Eudämonie die vernunftgemäße oder, was dasselbe ist, die tugendhafte Tätigkeit. Die Tugend kann aber nicht nach allen Seiten ausgeübt werden ohne gewisse äußere Vorbedingungen, Reichtum u. dgl., während die notwendige Folge der tugendhaften Tätigkeit die Lust ist, so dass auch diese in die Glückseligkeit aufgenommen wird, ohne doch das höchste Ziel des Menschen zu sein. Die ethische oder Charaktertugend ist eine dauernde Willensrichtung, welche die uns angemessene Mitte zwischen zwei Extremen einhält, und beruht auf natürlicher Anlage und Übung, wozu noch die Einsicht kommen muss. So ist die Tapferkeit die Mitte zwischen dem Zuviel der Verwegenheit und dem Zuwenig der Feigheit. Am eingehendsten behandelt A. die Gerechtigkeit. Neben den ethischen stehen die dianoëtischen Tugenden, die des Denkens selbst, drei auf das Notwendige sich beziehend: Vernunft, d.h. das Erfassen der Prinzipien, Wissenschaft, die sich richtet auf das aus den Prinzipien Erweisbare, und Weisheit, die als Philosophie dies beides zusammenfasst, und zwei sich auf das, was sich anders verhalten kann, beziehend: die praktische und die künstlerische Einsicht. Der Philosoph, in dem das Denken herrscht. kommt der Gottheit am nächsten. Den Übergang zur Politik bilden die wertvollen Erörterungen über die Freundschaft. Der Mensch ist von Natur ein politisches Wesen, da er nur im Staat seine sittliche Aufgabe lösen kann. Der Zweck des Staates ist die Glückseligkeit oder das sittlich gute Leben der einzelnen Menschen, zu dem der Staat die Jugend heranbilden muss. Der Unterschied zwischen den trefflichen und den entarteten Verfassungen besteht darin, dass in den ersteren die Herrschenden das Gemeinwohl, in den letzteren ihr besonderes Wohl im Auge haben. Königtum, Aristokratie und Timokratie (Politeia) sind gute, Demokratie, Oligarchie und Tyrannis verwerfliche Verfassungsarten. Die ideale Staatsform ist die aus demokratischer, aristokratischer und monarchischer gemischte; im einzelnen Fall ist die den vorliegenden Verhältnissen angemessene die beste. Bei der Kunst unterscheidet A. eine nützliche und eine nachahmende, welch letztere den Zweck der Erholung, der Befreiung (Katharsis) von gewissen Affekten durch deren Anregung verfolgt. Berühmt ist die Definition der Tragödie, die durch Mitleid und Furcht eine Reinigung solcher Affekte zustande bringen soll.

Geschichte der Aristotelischen Philosophie.

Die Philosophie des A. wurde zunächst durch dessen Schule, die peripatetische, die ihren Sitz im Lykeion hatte, fortgepflanzt; ihr Einfluss aber erstreckt sich durch das Altertum, das Mittelalter bis auf die neueste Zeit herab, wo sie namentlich von Trendelenburg (s. d.) in erneuerter Gestalt wieder aufgenommen worden ist. In den nächsten Jahrhunderten nach dem Tode des A. trieben die Peripatetiker vielfach mehr gelehrte, d.h. naturwissenschaftliche und geschichtliche Studien als eigentliche metaphysische. Unmittelbare Schüler des A. waren Theophrastos, der Nachfolger des A., Eudemos von Rhodos, Aristoxenos und Dikäarchos von Messana. Der Schüler und Nachfolger des Theophrastos, Straton von Lampsakos, suchte die Erscheinungen mehr physikalisch als teleologisch zu erklären. Neben ihm ist Demetrios aus Phaleron bei Athen zu nennen. Die Nachfolger des Straton im Lykeion waren der Reihe nach: Lykon aus Troas, Ariston von Keos, Kritolaos aus Phaselis und Diodoros von Tyros, in der zweiten Hälfte des 2. Jahrh. v. Chr. Unter ihnen hat die peripatetische Schule die Richtung auf die Ethik genommen. Trotzdem konnte die peripatetische Schule neben der epikureischen und stoischen Lehre und der der neuen Akademie in Rom nicht recht aufkommen. Die gelehrte Beschäftigung mit den Aristotelischen Schriften und die zahlreichen Kommentatoren, unter denen Alexander von Aphrodisias (im 2. Jahrh. n. Chr.) hervorzuheben ist, unterdrückten das originelle Denken in der peripatetischen Schule, zumal die Aristotelische Lehre sich vielfach mit der Platonischen und stoischen verschmolz. Sie erhielt sich aber bis zu den Byzantinern, von welchen sie nach dem Fall Konstantinopels ins Abendland zurückkam, während sie schon vorher in ihrem logischen Teile durch Boethius auf die Schulen des christlichen Mittelalters und durch die arabischen Übersetzungen, die seit dem 9. Jahrh. die Kalifen an fertigen ließen, auf das islamische Morgenland übergegangen war. Von hier wurde sie nach Spanien verpflanzt und, nachdem sie daselbst neue Blüte (durch Averrhoës) erlangt hatte, z. T. unter jüdischer Vermittlung zu den abendländischen Christen gebracht. Um 1220 waren fast sämtliche Werke des A. aus dem Arabischen ins Lateinische übersetzt, bald wurden auch, namentlich auf Anlass des Thomas von Aquino, Übersetzungen des griechischen Text es direkt veranstaltet. Die scholastische Philosophie des 13. und 14. Jahrh., deren Häupter Albertus Magnus und Thomas von Aquino waren, stand ganz unter dem Einfluss des A., der als Norm der Wahrheit in weltlichen Dingen galt. Mit der Wiedererweckung der klassischen Literatur im 15. Jahrh. begann ein allgemeiner Kampf wider die Scholastik, der sich anfänglich nur gegen den entstellten Text des A., dann aber gegen dessen Philosophie selbst kehrte. Bemerkenswert sind hier die beiden Parteien der Alexandristen und Averrhoisten, die sich in der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele heftig befehdeten, sodann die Mystiker und (meist pantheistischen) Naturphilosophen, die der Metaphysik und Physik. ferner die sogen. Ramisten und die Verteidiger der empirischen Methode (Bacon), die der Logik des A. entgegentraten. Mit dem Aufkommen der Cartesianischen Philosophie erlosch der Peripatetismus mehr und mehr. Doch taucht er in der modifizierten Form des Thomismus (s. d.) bei den katholischen Theologen und Philosophen auf päpstlichen Befehl seit den letzten Jahrzehnten zu neuem Leben wieder auf.

Literatur.

Wertvolle Beiträge zum Verständnis des A. bieten die alten Erklärer, besonders Alexander von Aphrodisias (s. Alexander 3, S. 301), Themistios, Syrianos, Simplikios, Philoponos u.a., deren Kommentare neuerdings auf Veranlassung der Berliner Akademie herausgegeben werden. Von neuern Werken sind zu nennen, außer Zeller, Philosophie der Griechen (2. Teil, 2. Abt.; für die nacharistotelische Philosophie der 3. Teil): Biese, Die Philosophie des A. (Berl. 1835–42, 2 Bde.); Brandis, A. und seine akademischen Zeitgenossen (»Geschichte der griechisch-römischen Philosophie«, 2. Teil, 2. Abt., das. 1853–57) und Übersicht über das Aristotelische Lehrgebäude (ebenda, 3. Teil, 1. Abt., das. 1860); Grote, Aristotle (2. Aufl., Lond. 1879); A. Grant, Aristotle (2. Aufl., das. 1898; deutsch, Berl. 1878); Siebeck, Aristoteles (Stuttg. 1899). Aus der Literatur über einzelne Kreise der Aristotelischen Schriften sind hervorzuheben: Kampe, Die Erkenntnistheorie des A. (Leipz.1870); Lewes, Aristotle, a chapter from the history of science (Lond. 1864; deutsch von Carus, Leipz.1865); J. B. Meyer, A.' Tierkunde (Berl. 1855); F. Brentano, Die Psychologie des A. (Mainz 1867); Teichmüller, Aristotelische Forschungen (Bd. 1 u. 2, Halle 1867–69, die Poetik und Kunstlehre betreffend); Reinkens, A. über Kunst, besonders über Tragödie (Wien 1870). Speziellere Literatur bei Überweg-Heinze, Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 1 (9. Aufl., Berl. 1902).

Nikomachische Ethik

Vorbemerkung

1. Die Stufenleiter der Zwecke und der höchste Zweck

Alle künstlerische und allewissenschaftliche Tätigkeit, ebenso wie alles praktische Verhalten und jeder erwählte Beruf hat nach allgemeiner Annahme zum Ziele irgendein zu erlangendes Gut. Man hat darum das Gute treffend als dasjenige bezeichnet, was das Ziel alles Strebens bildet. Indessen, es liegt die Einsicht nahe, daß zwischen Ziel und Ziel ein Unterschied besteht. Das Ziel liegt das eine Mal in der Tätigkeit selbst, das andere Mal noch neben der Tätigkeit in irgendeinem durch sie hervorzubringenden Gegenstand. Wo aber neben der Betätigung noch solch ein weiteres erstrebt wird, da ist das hervorzubringende Werk der Natur der Sache nach von höherem Werte als die Tätigkeit selbst.

Wie es nun eine Vielheit von Handlungsweisen, von künstlerischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten gibt, so ergibt sich demgemäß auch eine Vielheit von zu erstrebenden Zielen. So ist das Ziel der ärztlichen Kunst die Gesundheit, dasjenige der Schiffsbaukunst das fertige Fahrzeug, das der Kriegskunst der Sieg und das der Haushaltungskunst der Reichtum. Wo nun mehrere Tätigkeiten in den Dienst eines einheitlichen umfassenderen Gebietes gestellt sind, wie die Anfertigung der Zügel und der sonstigen Hilfsmittel für Berittene der Reitkunst, die Reitkunst selbst aber und alle Arten militärischer Übungen dem Gebiete der Kriegskunst, und in ganz gleicher Weise wieder andere Tätigkeiten dem Gebiete anderer Künste zugehören: da ist das Ziel der herrschenden Kunst jedesmal dem der ihr untergeordneten Fächer gegenüber das höhere und bedeutsamere; denn um jenes willen werden auch die letzteren betrieben. In diesem Betracht macht es dann keinen Unterschied, ob das Ziel für die Betätigung die Tätigkeit selbst bildet, oder neben ihr noch etwas anderes, wie es in den angeführten Gebieten der Tätigkeit wirklich der Fall ist.

Gibt es nun unter den Objekten, auf die sich die Betätigung richtet, ein Ziel, das man um seiner selbst willen anstrebt, während man das übrige um jenes willen begehrt; ist es also so, daß man nicht alles um eines anderen willen erstrebt, / denn damit würde man zum Fortgang ins Unendliche kommen und es würde mithin alles Streben eitel und sinnlos werden /: so würde offenbar dieses um seiner selbst willen Begehrte das Gute, ja das höchste Gut bedeuten. Müßte darum nicht auch die Kenntnis desselben für die Lebensführung von ausschlaggebender Bedeutung sein, und wir, den Schützen gleich, die ein festes Ziel vor Augen haben, dadurch in höherem Grade befähigt werden, das zu treffen, was uns not ist? Ist dem aber so, so gilt es den Versuch, wenigstens im Umriß darzulegen, was dieses Gut selber seinem Wesen nach ist und unter welche Wissenschaft oder Fertigkeit es einzuordnen ist. Es liegt nahe anzunehmen, daß es die dem Range nach höchste und im höchsten Grade zur Herrschaft berechtigte Wissenschaft sein wird, wohin sie gehört. Als solche aber stellt sich die Wissenschaft vom Staate dar. Denn sie ist es, welche darüber zu bestimmen hat, was für Wissenschaften man in der Staatsgemeinschaft betreiben, welche von ihnen jeder einzelne und bis wie weit er sie sich aneignen soll. Ebenso sehen wir, daß gerade die Fertigkeiten, die man am höchsten schätzt, in ihr Gebiet fallen: so die Künste des Krieges, des Haushalts, der Beredsamkeit. Indem also die Wissenschaft vom Staate die andern praktischen Wissenschaften in ihren Dienst zieht und weiter gesetzlich festsetzt, was man zu tun, was man zu lassen hat, so umfaßt das Ziel, nach dem sie strebt, die Ziele der anderen Tätigkeiten mit, und mithin wird ihr Ziel dasjenige sein, was das eigentümliche Gut für den Menschen bezeichnet. Denn mag dieses auch für den einzelnen und für das Staatsganze dasselbe sein, so kommt es doch in dem Ziele, das der Staat anstrebt, umfassender und vollständiger zur Erscheinung, sowohl wo es sich um das Erlangen, wie wo es sich um das Bewahren handelt. Denn erfreulich ist es gewiß auch, wenn das Ziel bloß für den einzelnen erreicht wird; schöner aber und göttlicher ist es, das Ziel für ganze Völker und Staaten zu verfolgen. Das nun aber gerade ist es, wonach unsere Wissenschaft strebt; denn sie handelt vom staatlichen Leben der Menschen.

2. Form und Abzweckung der Behandlung des Gegenstandes

Was die Behandlung des Gegenstandes anbetrifft, so muß man sich zufrieden geben, wenn die Genauigkeit jedesmal nur so weit getrieben wird, wie der vorliegende Gegenstand es zuläßt. Man darf nicht in allen Disziplinen ein gleiches Maß von Strenge anstreben, sowenig wie man es bei allen gewerblichen Arbeiten dürfte. Das Sittliche und Gerechte, die Gegenstände also, mit denen sich die Wissenschaft vom staatlichen Leben beschäftigt, gibt zu einer großen Verschiedenheit auseinandergehender Auffassungen Anlaß, so sehr, daß man wohl der Ansicht begegnet, als beruhe das alles auf bloßer Menschensatzung und nicht auf der Natur der Dinge. Ebensolche Meinungsverschiedenheit herrscht aber auch über die Güter der Menschen, schon deshalb, weil sie doch vielen auch zum Schaden ausgeschlagen sind. Denn schon so mancher ist durch den Reichtum, andere sind durch kühnen Mut ins Verderben gestürzt worden. Man muß also schon für lieb nehmen, wenn bei der Behandlung derartiger Gegenstände und der Ableitung aus derartigem Material die Wahrheit auch nur in gröberem Umriß zum Ausdruck gelangt, und wenn bei der Erörterung dessen, was in der Regel gilt und bei dem Ausgehen von ebensolchen Gründen auch die daraus gezogenen Schlüsse den gleichen Charakter tragen. Und in demselben Sinne muß man denn auch jede einzelne Ausführung von dieser Art aufnehmen. Denn es ist ein Kennzeichen eines gebildeten Geistes, auf jedem einzelnen Gebiete nur dasjenige Maß von Strenge zu fordern, das die eigentümliche Natur des Gegenstandes zuläßt. Es ist nahezu dasselbe: einem Mathematiker Gehör schenken, der an die Gefühle appelliert, und von einem Redner verlangen, daß er seine Sätze in strenger Form beweise.

Jeder hat ein sicheres Urteil auf dem Gebiete, wo er zu Hause ist, und über das dahin Einschlagende ist er als Richter zu hören. Über jegliches im besonderen also urteilt am besten der gebildete Fachmann, allgemein aber und ohne Einschränkung derjenige, der eine universelle Bildung besitzt. Darum sind junge Leute nicht die geeigneten Zuhörer bei Vorlesungen über das staatliche Leben. Sie haben noch keine Erfahrung über die im Leben vorkommenden praktischen Fragen; auf Grund dieser aber und betreffs dieser wird die Untersuchung geführt. Indem sie ferner geneigt sind, sich von ihren Affekten bestimmen zu lassen, bleiben die Vorlesungen für sie unfruchtbar und nutzlos; denn das Ziel derselben ist doch nicht bloße Kenntnis, sondern praktische Betätigung. Dabei macht es keinen Unterschied, daß einer jung ist bloß an Jahren oder unreif seiner Innerlichkeit nach. Denn nicht an der Zeit liegt die Unzulänglichkeit, sondern daran, daß man sich von Sympathien und Antipathien leiten läßt und alles einzelne in ihrem Lichte betrachtet. Leuten von dieser Art helfen alle Kenntnisse ebensowenig wie denen, denen es an Selbstbeherrschung mangelt. Dagegen kann denen, die ihr Begehren vernünftig regeln und danach auch handeln, die Wissenschaft von diesen Dingen allerdings zu großem Nutzen gereichen.

1. Verschiedene Auffassungen vom Zweck des Lebens

Wir kommen nunmehr auf unseren Ausgangspunkt zurück. Wenn doch jede Wissenschaft wie jedes praktische Vorhaben irgendein Gut zum Ziele hat, so fragt es sich: was ist es für ein Ziel, das wir als das im Staatsleben angestrebte bezeichnen, und welches ist das oberste unter allen durch ein praktisches Verhalten zu erlangenden Gütern? In dem Namen, den sie ihm geben, stimmen die meisten Menschen so ziemlich überein. Sowohl die Masse wie die vornehmeren Geister bezeichnen es als die Glückseligkeit, die Eudämonie, und sie denken sich dabei, glückselig sein sei dasselbe wie ein erfreuliches Leben führen und es gut haben. Dagegen über die Frage nach dem Wesen der Glückseligkeit gehen die Meinungen weit auseinander, und die große Masse urteilt darüber ganz anders als die höher Gebildeten. Die einen denken an das Handgreifliche und vor Augen Liegende, wie Vergnügen, Reichtum oder hohe Stellung, andere an ganz anderes; zuweilen wechselt auch die Ansicht darüber bei einem und demselben. Ist einer krank, so stellt er sich die Gesundheit, leidet er Not, den Reichtum als das höchste vor. Im Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit staunen manche Leute diejenigen an, die in hohen Worten ihnen Unverständliches reden. Von manchen wurde die Ansicht vertreten, es gebe neben der Vielheit der realen Güter noch ein anderes, ein Gutes an sich, das für jene alle den Grund abgebe, durch den sie gut wären.

Alle diese verschiedenen Ansichten zu prüfen würde selbstverständlich ein überaus unfruchtbares Geschäft sein; es reicht völlig aus, nur die gangbarsten oder diejenigen, die noch am meisten für sich haben, zu berücksichtigen. Dabei dürfen wir nicht außer acht lassen, daß ein Unterschied besteht zwischen den Verfahrungsweisen, die von den Prinzipien aus, und denen, die zu den Prinzipien hin leiten. Schon Plato erwog diesen Punkt ernstlich und untersuchte, ob der Weg, den man einschlage, von den Prinzipien ausgehe oder zu den Prinzipien hinführe, gleichsam wie die Bewegung in der Rennbahn von den Kampfrichtern zum Ziele oder in umgekehrter Richtung geht. Ausgehen nun muß man von solchem was bekannt ist; bekannt aber kann etwas sein in doppeltem Sinn: es ist etwas entweder uns bekannt oder es ist schlechthin bekannt. Wir müssen natürlich ausgehen von dem, was uns bekannt ist. Deshalb ist es erforderlich, daß einer, der den Vortrag über das Sittliche und das Gerechte, überhaupt über die das staatliche Leben betreffenden Themata mit Erfolg hören will, ein Maß von sittlicher Charakterbildung bereits mitbringe. Denn den Ausgangspunkt bildet die Tatsache, und wenn diese ausreichend festgestellt ist, so wird das Bedürfnis der Begründung sich gar nicht erst geltend machen. Ein so Vorgebildeter aber ist im Besitz der Prinzipien oder eignet sie sich doch mit Leichtigkeit an. Der aber, von dem keines von beiden gilt, mag sich des Hesiodos Worte gesagt sein lassen:

Der ist der allerbeste, der selber alles durchdenket;

Doch ist wacher auch der, der richtigem Rate sich anschließt.

Aber wer selbst nicht bedenkt und was er von andern vernommen

Auch nicht zu Herzen sich nimmt, ist ein ganz unnützer Geselle.

Wir kehren nunmehr zurück zu dem, wovon wir abgeschweift sind. Unter dem Guten und der Glückseligkeit versteht im Anschluß an die tägliche Erfahrung der große Haufe und die Leute von niedrigster Gesinnung die Lustempfindung, und zwar wie man annehmen möchte, nicht ohne Grund. Sie haben deshalb ihr Genüge an einem auf den Genuß gerichteten Leben. Denn es gibt drei am meisten hervorstechende Arten der Lebensführung: die eben genannte, dann das Leben in den Geschäften und drittens das der reinen Betrachtung gewidmete Leben. Der große Haufe bietet das Schauspiel, wie man mit ausgesprochenem Knechtssinn sich ein Leben nach der Art des lieben Viehs zurecht macht; und der Standpunkt erringt sich Ansehen, weil manche unter den Mächtigen der Erde Gesinnungen wie die eines Sardanapal teilen. Die vornehmeren Geister, die zugleich auf das Praktische gerichtet sind, streben nach Ehre; denn diese ist es doch eigentlich, die das Ziel des in den Geschäften aufgehenden Lebens bildet. Indessen, auch dieses ist augenscheinlich zu äußerlich, um für das Lebensziel, dem wir nachforschen, gelten zu dürfen. Dort hängt das Ziel, wie man meinen möchte, mehr von denen ab, die die Ehre erweisen, als von dem, der sie empfängt; unter dem höchsten Gute aber stellen wir uns ein solches vor, das dem Subjekte innerlich und unentreißbar zugehört. Außerdem macht es ganz den Eindruck, als jage man der Ehre deshalb nach, um den Glauben an seine eigene Tüchtigkeit besser nähren zu können; wenigstens ist die Ehre, die man begehrt, die von seiten der Einsichtigen und derer, denen man näher bekannt ist, und das auf Grund bewiesener Tüchtigkeit. Offenbar also, daß nach Ansicht dieser Leute die Tüchtigkeit doch den höheren Wert hat selbst der Ehre gegenüber. Da könnte nun einer wohl zu der Ansicht kommen, das wirkliche Ziel des Lebens in den Geschäften sei vielmehr diese Tüchtigkeit. Indessen auch diese erweist sich als hinter dem Ideal zurückbleibend. Denn man könnte es sich immerhin als möglich vorstellen, daß jemand, der im Besitze der Tüchtigkeit ist, sein Leben verschlafe oder doch nie im Leben von ihr Gebrauch mache, und daß es ihm außerdem recht schlecht ergehe und er das schwerste Leid zu erdulden habe. Wer aber ein Leben von dieser Art führt, den wird niemand glücklich preisen, es sei denn aus bloßer Rechthaberei, die hartnäckig auf ihrem Satz besteht. Doch genug davon, über den Gegenstand ist in der populären Literatur ausreichend verhandelt worden.

Die dritte Lebensrichtung ist die der reinen Betrachtung gewidmete; über sie werden wir weiterhin handeln. Das Leben dagegen zum Erwerb von Geld und Gut ist ein Leben unter dem Zwange, und Reichtum ist sicherlich nicht das Gut, das uns bei unserer Untersuchung vorschwebt. Denn er ist bloßes Mittel, und wertvoll nur für anderes. Deshalb möchte man statt seiner eher die oben genannten Zwecke dafür nehmen; denn sie werden um ihrer selbst willen hochgehalten. Doch offenbar sind es auch diese nicht; gleichwohl ist man mit Ausführungen gegen sie verschwenderisch genug umgegangen. Wir wollen uns dabei nicht länger aufhalten.

Förderlicher wird es doch wohl sein, jetzt das Gute in jener Bedeutung der Allgemeinheit ins Auge zu fassen und sorgsam zu erwägen, was man darunter zu verstehen hat, mag auch einer solchen Untersuchung manches in uns widerstreben, weil es teure und verehrte Männer sind, die die Ideenlehre aufgestellt haben. Indessen, man wird uns darin zustimmen, daß es doch wohl das Richtigere und Pflichtmäßige ist, wo es gilt für die Wahrheit einzutreten, auch die eigenen Sätze aufzugeben, und das erst recht, wenn man ein Philosoph ist. Denn wenn uns gleich beides lieb und wert ist, so ist es doch heilige Pflicht, der Wahrheit vor allem die Ehre zu geben.

Die Denker, welche jene Lehre aufgestellt haben, haben Ideen nicht angenommen für diejenigen Dinge, bei denen sie eine bestimmte Reihenfolge des Vorangehenden und des Nachfolgenden aufstellten; das ist der Grund, weshalb sie auch für die Zahlen keine Idee gesetzt haben. Der Begriff des Guten nun kommt vor unter den Kategorien der Substanz, der Qualität und der Relation; das was an sich, was Substanz ist, ist aber seiner Natur nach ein Vorangehendes gegenüber dem Relativen; denn dieses hat die Bedeutung eines Nebenschößlings und einer Bestimmung an dem selbständig Seienden. Schon aus diesem Grunde könnte es keine gemeinsame Idee des Guten über allem einzelnen Guten geben.

Nun spricht man aber weiter vom Guten in ebenso vielen Bedeutungen wie man vom Seienden spricht. Es wird etwas als gut bezeichnet im Sinne des substantiell Seienden wie Gott und die Vernunft, im Sinne der Qualität wie wertvolle Eigenschaften, im Sinne der Quantität wie das Maßvolle, im Sinne der Relation wie das Nützliche, im Sinne der Zeit wie der rechte Augenblick, im Sinne des Ortes wie ein gesunder Aufenthalt, und so weiter. Auch daraus geht hervor, daß das Gute nicht als ein Gemeinsames, Allgemeines und Eines gefaßt werden kann. Denn dann würde es nicht unter sämtlichen Kategorien, sondern nur unter einer einzigen aufgeführt werden.

Da es nun ferner für das Gebiet einer einzelnen Idee auch jedesmal eine einzelne Wissenschaft gibt, so müßte es auch für alles was gut heißt eine einheitliche Wissenschaft geben. Es gibt aber viele Wissenschaften, die vom Guten handeln. Von dem, was einer einzigen Kategorie angehört, wie vom rechten Augenblick, handelt mit Bezug auf den Krieg die Strategik, auf die Krankheit die Medizin; das rechte Maß aber bestimmt, wo es sich um die Ernährung handelt, die Medizin, und wo um anstrengende Übungen, die Gymnastik.

Andererseits könnte man fragen, was die Platoniker denn eigentlich mit dem Worte »an sich« bezeichnen wollen, das sie jedesmal zu dem Ausdruck hinzufügen. Ist doch in dem »Menschen-an-sich« und dem Menschen ohne Zusatz der Begriff des Menschen einer und derselbe. Denn sofern es beidemale »Mensch« heißt, unterscheiden sich beide durch gar nichts, und wenn das hier gilt, so gilt es auch für die Bezeichnung als Gutes. Wenn aber damit gemeint ist, daß etwas ein Ewiges sei, so wird es auch dadurch nicht in höherem Maße zu einem Guten; gerade wie etwas was lange dauert deshalb noch nicht in höherem Grade ein Weißes ist, als das was nur einen Tag dauert. Größere Berechtigung möchte man deshalb der Art zuschreiben, wie die Pythagoreer die Sache aufgefaßt haben, indem sie das Eins in die eine der beiden Reihen von Gegensätzen einordneten und zwar in dieselbe, wo auch das Gute steht, und ihnen scheint sich in der Tat auch Speusippos angeschlossen zu haben.

Indessen, dafür wird sich ein andermal der Platz finden. Dagegen stellt sich dem eben von uns Ausgeführten ein Einwurf insofern entgegen, als man erwidert: die Aussagen der Platoniker seien ja gar nicht von allem gemeint was gut ist, sondern es werde nur alles das als zu einer Art gehörig zusammengefaßt, was man um seiner selbst willen anstrebt und werthält; das aber was diese Dinge hervorbringt oder ihrer Erhaltung dient oder was das Gegenteil von ihnen verhütet, werde eben nur aus diesem Grunde und also in anderem Sinne gut genannt. Daraus würde denn hervorgehen, daß man vom Guten in doppelter Bedeutung spricht, einerseits als von dem Guten an sich, andererseits als von dem was zu diesem dient. Wir wollen also das an sich Gute und das bloß zum an sich Guten Behilfliche auseinanderhalten und untersuchen, ob denn auch nur jenes unter eine einzige Idee fällt. Wie beschaffen also müßte wohl dasjenige sein, was man als Gutes-an-sich anerkennen soll? Sind es etwa die Gegenstände, die man auch als für sich allein bestehende anstrebt, wie das Verständigsein, das Sehen, oder wie manche Arten der Lust und wie Ehrenstellen? Denn wenn man diese auch als Mittel für ein anderes anstrebt, so wird man sie doch zu dem rechnen dürfen, was an sich gut ist. Oder gehört dahin wirklich nichts anderes als die Idee des Guten? Dann würde sich ein Artbegriff ohne jeden Inhalt ergeben. Zählen dagegen auch die vorher genannten Dinge zu dem Guten-an-sich, so wird man verpflichtet sein, den Begriff des Guten in Ihnen allen als denselbigen so aufzuzeigen, wie die weiße Farbe im Schnee und im Bleiweiß dieselbe ist. Bei der Ehre, der Einsicht und der Lust aber ist der Begriff gerade insofern jedesmal ein ganz anderer und verschiedener, als sie Gutes vorstellen sollen. Mithin ist das Gute nicht ein alledem Gemeinsames und unter einer einheitlichen Idee Befaßtes.

Aber in welchem Sinne wird denn nun das Wort »gut« gebraucht? Es sieht doch nicht so aus, als stände durch bloßen Zufall das gleiche Wort für ganz verschiedene Dinge. Wird es deshalb gebraucht, weil das Verschiedene, das darunter befaßt wird, aus einer gemeinsamen Quelle abstammt? oder weil alles dahin Gehörige auf ein gemeinsames Ziel abzweckt? oder sollte das Wort vielmehr auf Grund einer bloßen Analogie gebraucht werden? etwa wie das was im Leibe das Sehvermögen ist, im Geiste die Vernunft und in einem anderen Substrat wieder etwas anderes bedeutet? Indessen, das werden wir an dieser Stelle wohl auf sich beruhen lassen müssen; denn in aller Strenge darauf einzugehen würde in einem anderen Zweige der Philosophie mehr an seinem Platze sein. Und ebenso steht es auch mit der Idee des Guten. Denn gesetzt auch, es gäbe ein einheitliches Gutes, was gemeinsam von allem einzelnen Guten ausgesagt würde oder als ein abgesondertes an und für sich existierte, so würde es offenbar kein Gegenstand sein, auf den ein menschliches Handeln gerichtet wäre und den ein Mensch sich aneignen könnte. Was wir aber hier zu ermitteln suchen, ist ja gerade ein solches, was diese Bedingungen erfüllen soll.

Nun könnte einer auf den Gedanken kommen, es sei doch eigentlich herrlicher, jene Idee des Guten zu kennen gerade im Dienste desjenigen Guten, was ein möglicher Gegenstand des Aneignens und des Handelns für den Menschen ist. Denn indem wir jene Idee wie eine Art von Vorbild vor Augen haben, würden wir eher auch das zu erkennen imstande sein, was das Gute für uns ist, und wenn wir es nur erst erkannt haben, würden wir uns seiner auch bemächtigen. Eine gewisse einleuchtende Kraft ist diesem Gedankengange nicht abzusprechen; dagegen scheint er zu der Realität der verschiedenen Wissenschaften nicht recht zu stimmen. Denn sie alle trachten nach einem Gute und streben die Befriedigung eines Bedürfnisses an; aber von der Erkenntnis jenes Guten-an-sich sehen sie dabei völlig ab. Und doch ist schwerlich anzunehmen, daß sämtliche Bearbeiter der verschiedenen Fächer übereingekommen sein sollten, ein Hilfsmittel von dieser Bedeutung zu ignorieren und sich auch nicht einmal danach umzutun. Andererseits würde man in Verlegenheit geraten, wenn man angeben sollte, was für eine Förderung für sein Gewerbe einem Weber oder Zimmermann dadurch zufließen sollte, daß er eben dieses Gute-an-sich kennt, oder wie ein Arzt noch mehr Arzt oder ein Stratege noch mehr Stratege dadurch soll werden können, daß er die Idee selber geschaut hat. Es ist doch klar, daß der Arzt nicht einmal die Gesundheit an sich in diesem Sinne ins Auge faßt, sondern die Gesundheit eines Menschen, und eigentlich noch mehr die Gesundheit dieses bestimmten Patienten; denn der, den er kuriert, ist ein Individuum. / Damit können wir nun wohl den Gegenstand fallen lassen.

2. Kennzeichen und Erreichbarkeit der Eudämonie

Wir kommen wieder auf die Frage nach dem Gute, das den Gegenstand unserer Untersuchung bildet, und nach seinem Wesen zurück. In jedem einzelnen Gebiete der Tätigkeit, in jedem einzelnen Fach stellt sich das Gute mit anderen Zügen dar, als ein anderes in der Medizin, ein anderes in der Kriegskunst und wieder ein anderes in den sonstigen Fächern. Was ist es nun, was für jedes einzelne Fach etwas als das durch dasselbe zu erreichende Gut charakterisiert? Ist nicht das Gut jedesmal das, um dessen willen man das übrige betreibt? Dies wäre also in der Medizin die Gesundheit, in der Kriegskunst der Sieg, in der Baukunst das Gebäude, in anderen Fächern etwas anderes, insgesamt aber für jedes Gebiet der Tätigkeit und des praktischen Berufs wäre es das Endziel. Denn dieses ist es, um dessen willen man jedesmal das übrige betreibt. Gäbe es also ein einheitliches Endziel für sämtliche Arten der Tätigkeit, so würde dies das aller Tätigkeit vorschwebende Gut sein, und gäbe es eine Vielheit solcher Endziele, so würden es diese vielen sein. So wären wir denn mit unserer Ausführung in stetigem Fortgang wieder bei demselben Punkte angelangt wie vorher.

Indessen, wir müssen versuchen dieses Resultat genauer durchzubilden. Wenn doch die Ziele der Tätigkeiten sich als eine Vielheit darstellen, wir aber das eine, z.B. Reichtum, ein Musikinstrument, ein Werkzeug überhaupt, um eines anderen willen erstreben, so ergibt sich augenscheinlich, daß nicht alle diese Ziele abschließende Ziele bedeuten. Das Höchste und Beste aber trägt offenbar den Charakter des Abschließenden. Gesetzt also, nur eines davon wäre ein abschließendes Ziel, so würde dieses eben das sein, das uns bei unserer Untersuchung vorschwebt, und bildete es eine Vielheit, dann würde dasjenige unter ihnen, das diesen abschließenden Charakter im höchsten Grade an sich trägt, das gesuchte sein. In höherem Grade abschließend aber nennen wir dasjenige, das um seiner selbst willen anzustreben ist, im Gegensätze zu dem, das um eines anderen willen angestrebt wird, und ebenso das was niemals um eines anderen willen begehrt wird, im Gegensatze zu dem, was sowohl um seiner selbst willen, als um eines anderen willen zu begehren ist. Und so wäre denn schlechthin abschließend das, was immer an und für sich und niemals um eines anderen willen zu begehren ist.

Diesen Anforderungen nun entspricht nach allgemeiner Ansicht am meisten die Glückseligkeit, die »Eudämonie«. Denn sie begehrt man immer um ihrer selbst und niemals um eines anderen willen. Dagegen Ehre, Lust, Einsicht, wie jede wertvolle Eigenschaft begehren wir zwar auch um ihrer selbst willen; denn auch wenn wir sonst nichts davon hätten, würden wir uns doch jedes einzelne davon zu besitzen wünschen; wir wünschen sie aber zugleich um der Glückseligkeit willen, in dem Gedanken, daß wir vermittelst ihrer zur Glückseligkeit gelangen werden. Die Glückseligkeit dagegen begehrt niemand um jener Dinge willen oder überhaupt um anderer Dinge willen.

Das gleiche Resultat ergibt sich augenscheinlich, wenn wir uns nach dem umtun, was für sich allein ein volles Genüge zu verschaffen vermag. Denn das abschließend höchste Gut muß wie jeder einsieht die Eigenschaft haben, für sich allein zu genügen; damit meinen wir nicht, daß etwas nur dem einen volles Genüge verschafft, der etwa ein Einsiedlerleben führt, sondern wir denken dabei auch an Eltern und Kinder, an die Frau und überhaupt an die Freunde und Mitbürger; denn der Mensch ist durch seine Natur auf die Gemeinschaft mit anderen angelegt. Allerdings, eine Grenze muß man wohl dabei ziehen. Denn wenn man das Verhältnis immer weiter ausdehnt auf die Vorfahren der Vorfahren, auf die Nachkommen der Nachkommen und die Freunde der Freunde, so gerät man damit ins Unendliche. Doch davon soll an späterer Stelle wieder gehandelt werden.

Die Eigenschaft volles Genüge zu gewähren schreiben wir demjenigen Gute zu das für sich allein das Leben zu einem begehrenswerten macht, zu einem Leben, dem nichts mangelt. Für ein solches Gut sieht man die Glückseligkeit an; man hält sie zugleich für das Begehrenswerteste von allem, und das nicht so, daß sie nur einen Posten in der Summe neben anderen ausmachte. Bildete sie so nur einen Posten, so würde sie offenbar, wenn auch nur das geringste der Güter noch zu ihr hinzukäme, noch mehr zu begehren sein. Denn kommt noch etwas hinzu, so ergibt sich ein Zuwachs an Größe; von zwei Gütern ist aber jedesmal das größere mehr zu begehren. So erweist sich denn offenbar die Glückseligkeit als abschließend und selbstgenügend, und darum als das Endziel für alle Gebiete menschlicher Tätigkeit.

Darüber nun, daß die Glückseligkeit als das höchste Gut zu bezeichnen ist, herrscht wohl anerkanntermaßen volle Übereinstimmung; was gefordert wird, ist dies, daß mit noch größerer Deutlichkeit aufgezeigt werde, worin sie besteht. Dies wird am ehesten so geschehen können, daß man in Betracht zieht, was des Menschen eigentliche Bestimmung bildet. Wie man nämlich bei einem Musiker, einem Bildhauer und bei jedem, der irgendeine Kunst treibt, und weiter überhaupt bei allen, die eine Aufgabe und einen praktischen Beruf haben, das Gute und Billigenswerte in der vollbrachten Leistung findet, so wird wohl auch beim Menschen als solchem derselbe Maßstab anzulegen sein, vorausgesetzt, daß auch bei ihm von einer Aufgabe und einer Leistung die Rede sein kann. Ist es nun wohl eine vernünftige Annahme, daß zwar der Zimmermann und der Schuster ihre bestimmten Aufgaben und Funktionen haben, der Mensch als solcher aber nicht, und daß er zum Müßiggang geschaffen sei? Oder wenn doch offenbar das Auge, die Hand, der Fuß, überhaupt jedes einzelne Glied seine besondere Funktion hat, sollte man nicht ebenso auch für den Menschen eine bestimmte Aufgabe annehmen neben allen diesen Funktionen seiner Glieder? Und welche könnte es nun wohl sein? Das Leben hat der Mensch augenscheinlich mit den Pflanzen gemein; was wir suchen, ist aber gerade das dem Menschen unterscheidend Eigentümliche. Von dem vegetativen Leben der Ernährung und des Wachstums muß man mithin dabei absehen. Daran würde sich dann zunächst etwa das Sinnesleben anschließen; doch auch dieses teilt der Mensch offenbar mit dem Roß, dem Rind und den Tieren überhaupt. So bleibt denn als für den Menschen allein kennzeichnend nur das tätige Leben des vernünftigen Seelenteils übrig, und dies teils als zum Gehorsam gegen Vernunftgründe befähigt, teils mit Vernunft ausgestattet und Gedanken bildend. Wenn man nun auch von diesem letzteren in zwiefacher Bedeutung spricht als von dem bloßen Vermögen und von der Wirksamkeit des Vermögens, so handelt es sich an dieser Stelle offenbar um das Aktuelle, die tätige Übung der Vernunftanlage. Denn die Wirksamkeit gilt allgemein der bloßen Anlage gegenüber als das höhere.

Bedenken wir nun folgendes. Die Aufgabe des Menschen ist die Vernunftgründen gemäße oder doch wenigstens solchen Gründen nicht verschlossene geistige Betätigung; die Aufgabe eines beliebigen Menschen aber verstehen wir als der Art nach identisch mit der eines durch Tüchtigkeit hervorragenden Menschen. So ist z.B. die Aufgabe des Zitherspielers dieselbe wie die eines Zithervirtuosen. Das gleiche gilt ohne Ausnahme für jedes Gebiet menschlicher Tätigkeit; es kommt immer nur zur Leistung überhaupt die Qualifikation im Sinne hervorragender Tüchtigkeit hinzu. Die Aufgabe des Zitherspielers ist das Zitherspiel, und die des hervorragenden Zitherspielers ist auch das Zitherspiel, aber dies als besonders gelungenes. Ist dem nun so, so ergibt sich folgendes. Wir verstehen als Aufgabe des Menschen eine gewisse Art der Lebensführung, und zwar die von Vernunftgründen geleitete geistige Betätigung und Handlungsweise, und als die Aufgabe des hervorragend Tüchtigen wieder eben dies, aber im Sinne einer trefflichen und hervorragenden Leistung. Besteht nun die treffliche Leistung darin, daß sie im Sinne jedesmal der eigentümlichen Gaben und Vorzüge vollbracht wird, so wird das höchste Gut für den Menschen die im Sinne wertvoller Beschaffenheit geübte geistige Betätigung sein, und gibt es eine Mehrheit von solchen wertvollen Beschaffenheiten, so wird es die geistige Betätigung im Sinne der höchsten und vollkommensten unter allen diesen wertvollen Eigenschaften sein, dies aber ein ganzes Leben von normaler Dauer hindurch. Denn eine Schwalbe macht keinen Frühling, und auch nicht ein Tag. So macht denn auch ein Tag und eine kurze Zeit nicht den seligen noch den glücklichen Menschen.

Dies nun mag als ungefährer Umriß des Begriffes des höchsten Gutes gelten. Es ist zweckmäßig, den Begriff zunächst in grober Untermalung zu entwerfen und sich die genauere Durchführung für später vorzubehalten. Man darf sich dann der Meinung hingeben, daß jedermann die Sache weiterzuführen und die richtig gezeichneten Umrisse im Detail auszuführen vermag, und daß auch die Zeit bei einer solchen Aufgabe als Erfinderin oder Mitarbeiterin an die Hand geht. In der Tat hat sich der Aufschwung der Künste und Wissenschaften in dieser Weise vollzogen; denn was noch mangelt zu ergänzen ist jeder aufgefordert.

Zugleich aber müssen wir im Gedächtnis behalten, was wir vorher ausgeführt haben: wir dürfen nicht die gleiche Genauigkeit auf allen Gebieten anstreben, sondern in jedem einzelnen Fall der Natur des vorliegenden Materials gemäß die Strenge nur so weit treiben, wie es der besonderen Disziplin angemessen ist. So bemüht sich um den rechten Winkel der Zimmermann wieder Mathematiker, und doch beide in sehr verschiedener Weise. Der eine begnügt sich bei dem, was für seine Arbeit dienlich ist, der andere sucht das Wesen und die genaue Beschaffenheit zu erfassen. Denn das eben ist sein Fach, sich nach der reinen Wahrheit umzusehen. In derselben Weise muß man auch bei anderen Objekten verfahren, damit nicht die Hauptsache von dem Beiwerk überwuchert werde. Nicht einmal die Frage nach der Begründung darf man auf allen Gebieten gleichmäßig aufwerfen. Bei manchen Gegenständen ist schon genug damit geleistet, wenn nur der tatsächliche Bestand richtig aufgezeigt worden ist, so auch was die Prinzipien als Ausgangspunkt und Anfang anbetrifft. Die Tatsache ist das Erste und der Ausgangspunkt. Die Prinzipien werden teils auf dem Wege der Induktion, teils auf dem der Anschauung, teils vermittels einer Art von eingewöhntem Takt ergriffen, die einen auf diese, die anderen auf andere Weise. Da muß man nun versuchen, zu ihnen jedesmal auf dem Wege zu gelangen, der ihrer Natur entspricht, und dann alle Mühe darauf verwenden, sie richtig zu bestimmen; denn sie sind für das Abgeleitete von ausschlaggebender Bedeutung. Der Anfang ist nach dem Sprichwort mehr als die Hälfte des ganzen Werkes, und schon vermittels des Prinzips, von dem man ausgeht, tritt manches von dem in den Gesichtskreis, was man zu erkunden sucht.

Wenn wir das Prinzip bestimmen wollen, so dürfen wir uns nicht auf unser Ergebnis und auf seine Begründung beschränken; wir werden gut tun, auch das zu berücksichtigen, was darüber im Munde der Leute ist. Denn mit der Wahrheit stehen alle Tatsachen im Einklang, mit dem Irrtum aber gerät die Wirklichkeit alsobald in Widerstreit.

Man teilt die Güter in drei Klassen ein: in die äußeren Güter, die Güter der Seele und die des Leibes, und nennt die, welche der Seele zugehören, Güter im eigentlichsten und höchsten Sinne; die Betätigungsweisen und Wirksamkeiten der seelischen Vermögen aber rechnet man zu dem, was der Seele zugehört. Insofern darf man, was dieser altüberlieferten und von den Denkern einmütig geteilten Auffassung entspricht, zutreffend bemerkt finden, und zutreffend ist es auch, wenn als der Endzweck gewisse Betätigungsweisen und Wirksamkeiten bezeichnet werden; denn so kommt der Endzweck in die Klasse der geistigen, nicht der äußeren Güter zu stehen. Auch das stimmt zu unserer Auffassung, daß der, dem die Eudämonie eignet, ein erfreuliches Leben führt und es gut hat; denn als ein Leben im rechten Sinne und als subjektives Wohlbefinden ist die Eudämonie wohl von je aufgefaßt worden. Aber auch alles das, was man als Bestandteil der Eudämonie verlangt, ist augenscheinlich in unserer Bestimmung des Begriffes mit enthalten. Die einen fassen sie als Trefflichkeit überhaupt auf, die anderen heben Einsicht, wieder andere hohe geistige Bildung als herrschenden Zug hervor; diese Eigenschaften oder eine von ihnen denkt man sich in Verbindung mit der Lustempfindung oder doch nicht ohne sie, und manche wieder ziehen auch die äußeren Glücksumstände mit hinein. Einige dieser Bestimmungen stammen aus alten und weit verbreiteten Ansichten, andere wieder werden von wenigen, aber hervorragenden Autoritäten vertreten. Da ist es doch wohl anzunehmen, daß niemand von ihnen in allen Punkten irrt, sondern daß sie wenigstens in einem Punkte oder auch in den meisten recht behalten werden.