Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
„Sie fragen mich, wo ist Ärotik in Rumba?“ Der Koloss von einem tschechischen Tanzlehrer fixierte mich mit einem Blick, der für mich einiges widerspiegelte, Entrüstung ob meiner dummen Frage, Draufgängertum und die jederzeitige Bereitschaft, für seine Überzeugung auch gesellschaftliche Tabus zu brechen. Im Saal war es still geworden. Alle Paare, die an dem Sonderkursus des tschechischen Altmeisters teilnahmen, hatten ihre lockere Tanzhaltung aufgegeben und erwarteten voller Interesse Mareks Antwort. Auch die Zuschauer, die nach ihren eigenen Kursen vor der großen Glasfront noch zusammensaßen, hatten ihre Gespräche abgebrochen und beobachteten neugierig die Szene. Sämtliche Blicke folgten Marek, der mit raumgreifenden Schritten auf mich zueilte und wieder mit seiner dröhnenden Stimme ausrief: „Sie wollen wissen, wo ist Sex bei Rumba, ich zeige Ihnen, gäben Sie mir Ihre Frau und Sie werden sähen!“ Selbst würde ich mich heute als ordentlichen Gesellschaftstänzer bezeichnen. Auf dem Weg vom eher bequemen Tanzbanausen bis hin zum engagierten Tänzer habe ich viel erlebt, Freunde gewonnen, Verrücktes mitgemacht und immer weiter getanzt. All das habe ich in meinem Buch festgehalten. Paare, die jetzt schon mit Freude tanzen, werden sich in manchen Erlebnissen wiederfinden. Andere möchte ich gerne dazu motivieren, es doch mal auszuprobieren. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich jedenfalls von ganzem Herzen vergnügliche Stunden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 390
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.
Impressum
Wolfgang Schörnig, »Nimm den anderen linken Fuß
Vom Tanzmuffel zum Gesellschaftstänzer«
www.edition-winterwork
© 2018 edition-winterwork
Alle Rechte vorbehalten
Satz: edition-winterwork
Umschlag: edition-winterwork
Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf
Nimm den anderen linken Fuß
Vom Tanzmuffel zum Gesellschaftstänzer
Wolfgang Schörnig
„Sie fragen mich, wo ist Ärotik in Rumba?“ Der Koloss von einem tschechischen Tanzlehrer fixierte mich mit einem Blick, der für mich einiges widerspiegelte, Entrüstung ob meiner dummen Frage, Draufgängertum und die jederzeitige Bereitschaft, für seine Überzeugung auch gesellschaftliche Tabus zu brechen. Im Saal war es still geworden. Alle Paare, die an dem Sonderkursus des tschechischen Altmeisters teilnahmen, hatten ihre lockere Tanzhaltung aufgegeben und erwarteten voller Interesse Mareks Antwort. Auch die Zuschauer, die nach ihren eigenen Kursen vor der großen Glasfront noch zusammensaßen, hatten ihre Gespräche abgebrochen und beobachteten neugierig die Szene. Sämtliche Blicke folgten Marek, der mit raumgreifenden Schritten auf mich zueilte und wieder mit seiner dröhnenden Stimme ausrief: „Sie wollen wissen, wo ist Sex bei Rumba, ich zeige Ihnen, gäben Sie mir Ihre Frau und Sie werden sähen!“
Selbst würde ich mich heute als ordentlichen Gesellschaftstänzer bezeichnen. Auf dem Weg vom eher bequemen Tanzbanausen bis hin zum engagierten Tänzer habe ich viel erlebt, Freunde gewonnen, Verrücktes mitgemacht und immer weiter getanzt. All das habe ich in meinem Buch festgehalten. Paare, die jetzt schon mit Freude tanzen, werden sich in manchen Erlebnissen wiederfinden. Andere möchte ich gerne dazu motivieren, es doch mal auszuprobieren. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich jedenfalls von ganzem Herzen vergnügliche Stunden.
Meine ersten Tanzschritte erlernte ich 1968 gemeinsam mit meinen Klassenkameraden in einer wenig angesagten Regensburger Tanzschule. Damals durfte eine Gymnasialklasse nur mit vorheriger Billigung des jeweiligen Oberstudiendirektors Tanzkurse besuchen. An meinem Albrecht- Altdorfer- Gymnasium beäugte der Lehrkörper seinerzeit außerschulische Aktivitäten grundsätzlich eher kritisch, so dass man nicht ohne weiteres mit einer Erlaubnis rechnen konnte. Der Weg zur Genehmigung erwies sich als dornenreich. Nur mit einem positiven Votum des Klassenleiters gelangte der Wunsch überhaupt erst zum Direktorat. Dieser reagierte zwar zunächst etwas unwirsch, aber letzten Endes brummelte er etwas im Sinne von „gerade noch vertretbar“ und schickte unser Begehr auf dem Dienstweg weiter an die höchste gymnasiale Instanz .
Etwa ein Monat nach Überwindung dieser Hürde wurde ich als Klassensprecher zum Direktor gerufen. Selbst mit meinen damals 18 Jahren betrat ich dessen Büro leicht angespannt. Der Direktor des Albrecht-Altdorfer-Gymnasiums war ein Patriarch von alter Schule. Humanistische Werte, Ordnung, Fleiß und tadelloses Benehmen galten als höchste Disziplin. Nicht umsonst prangte in der Aula unserer Schule der lateinische Spruch: „Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt“. Jeder Kontakt mit dem Direktor hinterließ bei mir das mulmige Gefühl, die eigene Persönlichkeit zu verlieren und zu einem Objekt namens Schüler zu mutieren.
„Tanzen wollen also meine Humanisten“, begann der Direktor das Gespräch. „Besser wäre es schon, sich auf das Griechische zu versteifen, das Niveau meiner humanistischen 12 A lässt mich nicht mit Stolz erschauern“. Betrüblich guckte ich auf meine Fußspitzen und wusste nicht so recht, was ich antworten sollte. „Sprechen Sie, Schörnig, liege ich da mit meinem Verdacht nahe, dass Sie alle mehr an Ihr Vergnügen denken als an die antiken Philosophen?“ Immerhin war ich durch mein Alter schon etwas zur Persönlichkeit herangereift. Generell sprachen uns die Lehrkräfte ab 18 mit „Sie“ an. In der Praxis machte es nicht viel Unterschied, ob es hieß: „Schörnig, Du fauler Hammel“ oder: „Schörnig, Sie grammatikalischer Ignorant“. Trotz des „Sie“ bei der Anrede verschaffte mir der Direktor jedes Mal sehr schnell den Eindruck, ein kleiner unbedeutender Wicht zu sein. „Haben Sie Sich denn schon überlegt, mit welcher Schulklasse der Damenwelt Sie den Tanzkurs angehen wollen?“ Nach dieser Frage fühlte ich mich schlagartig etwas leichter ums Herz, da mir nichts eingefallen war, was ich auf die Qualitätsaussage zu unseren Griechisch-Schulaufgaben hätte antworten sollen. Die direktorale Erkundigung nach der von uns favorisierten Damenschule ließ jedenfalls erahnen, dass wir sein Plazet bekommen würden. Schüchtern äußerte ich: „Jawohl Herr Direktor, wir wünschen uns das Von-Müller-Gymnasium als Partner“. Ein ärgerlicher Blick unseres Schulherrgottes ließ weitere Komplikationen erahnen. Er legte eine quälend lange Gesprächspause ein, während der er still auf den Zehen wippte und mich dabei mit kritischer Miene von oben nach unten musterte. „So so, die freizügigen Damen vom Von-Müller-Gymnasium, die haben’s meinen Humanisten angetan. Sie wollen nicht bloß tanzen, sondern nachher noch Herumscharwenzeln, Händchen halten und was sonst alles noch. Stimmt’s?“
Auf diese anklagende Behauptung meines Direx wusste ich keine Antwort, zumal er unseren Wunsch ja treffsicher analysiert hatte. In erster Linie wollten wir Mädchen kennenlernen und die Freiheit genießen, abends gemeinsam mit der neuen Bekannten auszugehen. Der Tanzkurs war Mittel zum Zweck, für manche ein notwendiges Übel, für einige auch ein willkommener Weg in die Welt der Erwachsenen. Jeder erhoffte sich insgeheim eine Freundin und amouröse Abenteuer. Also fühlte ich mich durchschaut und blieb vorsichtigerweise schuldbewusst stumm. Das Von-Müller-Gymnasium war zu meiner Zeit eine reine Mädchenschule der neuzeitlichen Orientierung auf die Sprachen Englisch und Französisch. In unserem Haus existierten zu 99% reine Jungenklassen, Schülerinnen bildeten eine exotische Rarität, weshalb jeder, der ein Mädchen kennenlernen wollte, samstags nach Unterrichtsende durch die halbe Altstadt zum Von-Müller-Gymnasium eilte. Natürlich wussten auch die Mädchen, dass die Verehrer erst verspätet eintreffen konnten. Viele trödelten im Pausenhof herum, kicherten in verschiedenen Gruppen und taten dann so, als ob es Zufall sei, dass sie noch nicht nach Hause gegangen waren. Ein Supersamstag wurde es für mich, wenn ich die eine oder andere Gleichaltrige erblickte, sie lässig in ein Gespräch verwickeln und den weltmännischen Casanova mimen konnte. Schaffte ich es dann noch, ein Mädchen auf dem Nachhauseweg ein Stück begleiten zu dürfen, platzte ich innerlich beinahe vor Stolz und Glück.
Solche Erfolgsmomente beschränkten sich weitgehend auf die Schülerinnen vom Petersweg, da das andere Mädchengymnasium, die Englischen Fräulein, genauso wie die Niedermünster-Realschule nicht nur von strengen Ordensschwestern geführt, sondern auch als Internat organisiert waren. Insbesondere bei den Englischen Fräulein hätte es keine Chance gegeben, sich mit einer Bekannten nach Ende des Tanzkurses länger als 15 Minuten aufzuhalten. Spätestens nach dieser Zeitspanne hatten die Damen einzupassieren. Mein Direktor empfahl mir dann auch: „Von meinen Humanisten erwarte ich anständiges Benehmen, suchen Sie sich also gefälligst eine Klasse der Englischen Fräulein aus“. Mit einem: „Vielen Dank, Herr Direktor, Ihren Hinweis werden wir selbstverständlich berücksichtigen“, verließ ich fürs Erste erleichtert das Direktorat, wenngleich ich natürlich wusste, dass keiner meiner Kameraden mit dieser Vorgabe einverstanden sein würde.
Wie erwartet entzündete sich im Klassenverbund eine recht intensive Diskussion mit völlig konträren Meinungen über unser weiteres Vorgehen: „Dann lieber gar keinen Tanzkurs als mit denen“ oder „gerade mit denen, so streng gehaltene Mädchen sind ganz wild auf Männer“, „wir bleiben bei den Müllermädchen und sagen dem Direx einfach, es seien die Internatsziegen“. Zu einer Konfrontation mit unserem Direktor kam es letztlich trotz dem allseitigen Wunsch, nur mit dem Von-Müller-Gymnasium zu paktieren, aus einem anderen überraschenden Grund nicht. Die sofort kontaktierten Klassensprecherinnen der in Frage kommenden Klassen des „Müllerischen“, erteilten uns eine schmähliche Abfuhr, sie wollten nicht mit Humanisten tanzen. Latein und Griechisch haftete der Verdacht des späteren Theologiestudiums an. Kein modern denkendes Mädchen wollte sich nachsagen lassen, mit einem angehenden Pfarrer auszugehen. Wir Humanisten galten auch eher als konservative introvertierte Streber mit verstaubtem Temperament. Vielfach hörte man damals die These: „Wer sich für tote Sprachen entscheidet, bleibt in der Vergangenheit haften, die Zukunft gehört den Schülern mit neuzeitlicher Orientierung“.
Wir hatten keine andere Wahl mehr und ließen uns notgedrungen auf die Partnerschaft mit der Niedermünster Realschule ein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer erleichterte diese Entscheidung. In diesem Institut gab es auch einige sogenannte Heimschläferinnen, die nur zum Schulbesuch die Internatsschule aufsuchten und deshalb je nach Elternhaus etwas mehr Freiraum genossen. Jeder erhoffte sich insgeheim, ein solches Mädchen zu erhaschen.
Die einzige Kröte, die es zu schlucken galt, war die Tanzschule. Bei den meisten Jugendlichen war damals ausschließlich der fortschrittliche Betrieb Wolf-Weber angesagt, der allerdings gerade wegen seiner Beliebtheit bei der Rektorin der Niedermünsterschule Unbehagen auslöste. Heute wird man ungläubig darüber lächeln, aber diese Tanzlehrer galten bei uns als Inbegriff der Moderne, weil man ganz zwanglos ohne Krawatte und sogar auch in Jeans erscheinen durfte. Wir wollten unkompliziert erwachsen werden und hatten keinen Bock auf Leute, die uns nicht so aufnahmen, wie wir sein wollten. Darüber hinaus gab es natürlich noch einen ganz besonderen Anreiz. Die Tanzlehrer standen im Ruf, öfters auch mal einen Schwof aufzulegen und es mit der hellen Beleuchtung nicht so genau zu nehmen. Allein die Vorstellung, sich im Halbdunkel Wange an Wange ganz nahe zu sein, entwickelte eine prickelnde Anziehungskraft. Gerade um solches präventiv zu verhindern, erhielt die Niedermünster Klasse nur dann die Erlaubnis zum begehrten Tanzkurs, wenn wir ein für junge Damen wesentlich schicklicheres aber ziemlich verstaubtes Institut im Herzen der Altstadt bevorzugen würden, was notgedrungen schließlich auch geschah.
Vor dem ersten Übungsabend predigte unser Klassenleiter anstelle der gewohnten Hausaufgabenabfrage über die Verantwortung eines jeden humanistisch gebildeten Schülers, in der Öffentlichkeit den guten Ruf seines Gymnasiums mit tadellosem Benehmen hochzuhalten. Mit ernster Miene vermittelten wir ihm den Eindruck, stets die eingeforderte moralische Integrität zu praktizieren, aber hinter seinem Rücken alberten wir natürlich herum: „Ich verspreche hochheilig bei der Seele des Direktors jede vergnügliche Sünde im Schweiße meines Angesichts lustvoll zu begehen“.
Der Tanzkurs gewann durch die Ermahnungen unseres Professors enorm an Bedeutung, auch wenn ich aus heutiger Sicht feststellen muss, dass gerade das Tänzerische ein ziemlicher Flop war. Es trafen hier Welten aufeinander, die schlicht nicht zueinander passten. Die dortigen Tanzlehrer waren fest verfangen in einer traditionellen Welt der Jahrhundertwende. Sie verstanden sich als Türöffner für die ersten Schritte auf dem gesellschaftlichen Parkett der Upperclass. Uns betrachteten sie als Rohdiamanten, denen man den letzten Schliff geben musste, um für zu erwartende große gesellschaftliche Ereignisse bis hin zu einem Grundkorsett staatsübergreifender diplomatischer Protokollregeln gerüstet zu sein. Neben der Unterrichtung der Tänze stand deshalb als fester Bestandteil des Kurses das richtige Benehmen auf dem Lehrprogramm. Hier zitierte die Tanzlehrerin gerne eine Frau, die sie offensichtlich glühend verehrte, Erica Pappritz. Frau Pappritz war Protokollchefin der Adenauer Regierung und hatte ein Buch über die richtige Etikette geschrieben. So erfuhren wir beispielsweise, dass der Herr beim Hinaufsteigen einer Treppe immer hinter der Dame geht, diese aber etwa zwei Meter vor der Eingangstüre stehenbleiben müsse, denn es sei Angelegenheit des Herren, zu klingeln und den Gastgeber zu begrüßen. Dann wiederum, wenn der Gastgeber zum Hereinkommen bittet, habe der Herr zur Seite zu treten und der Dame den ersten Schritt zu gewähren. Anders verhalte es sich beim Verlassen der Wohnung, dort müsse der Herr vorausgehen und zwar mindestens zwei Treppenstufen vor der Dame. Auch wäre es absolut unschicklich, unter einem Anzug lange Unterhosen zu tragen, was uns insgesamt herzlich wenig interessierte. Dieser Einstellung entsprach auch das Tanzprogramm. Von den zehn Unterrichtseinheiten des Kurses vergingen fünf mit dem Erlernen der Münchner Francaise, die wir traditionell beim Abschlussball unter den Augen unserer Eltern vorzuführen hatten. Ansonsten beschränkte sich der Kurs auf damals schickliche Gesellschaftstänze wie Blues, Foxtrott, Cha-Cha-Cha,oder Langsamer und Wiener Walzer. Boogie Woogie, Jive, Samba sowie Tango und Rumba blieben auf der Strecke. Unsere beiden Tanzlehrer begnügten sich im Wesentlichen auf die Vermittlung einfacher Schritte, denn: „Ihr sollt bei Euren ersten Tänzen nicht aus der Reihe fallen, sondern bescheiden aber mit Anstand zeigen, dass Ihr Euch auf dem Parkett geziemend bewegen könnt. Eure Aufgabe ist es, die Etikette zu wahren, das heißt, korrekt mitzutanzen aber nicht in den Vordergrund zu drängeln“. Im Stillen dachte sich jeder etwas im Sinne von:„Unter den Talaren Staub von tausend Jahren“. Nach außen hin blickten wir mit vorgetäuschtem Ernst zu den anderen, zwinkerten uns heimlich zu und ließen die altmodischen Vorgaben wirkungslos verpuffen. Meiner Freundin hauchte ich „wahnsinnig spannend“ in das Ohr und freute mich über ihren puterroten Kopf als Folge meiner Intimität.
Im gleichen freudlosen Stil spielte sich das weitere Unterrichtsgeschehen ab.
„Cha-Cha-Cha bedeutet: Der Herr setzt den rechten Fuß eine Schrittbreite zur Seite, ein Schritt ist gleich einem Cha, zieht den linken Fuß mit einem weiteren Schritt heran, das ist das zweite Cha und beendet die Cha-Cha-Cha Reihenfolge mit einem weiteren Schritt nach rechts, dem dritten Cha. Anschließend folgt ein kurzer Vorwärtsschritt mit dem linken Fuß, an den sich eine Gewichtsverlagerung zurück auf den rechten stehenden Fuß anschließt, die sog. Wiege“. Nach etlichen Trockenübungen begab sich die Tanzlehrerin zu einem erhöhten Podest, auf dem ein schwarz glänzendes Klavier thronte. Mit einer Hand intonierte sie erste Cha-Cha-Cha Takte, mit der anderen dirigierte sie heftig gestikulierend unsere Gruppe. Derartig musikalisch umrahmt tapsten wir mit unseren Partnerinnen bemüht und todernst auf dem Parket hin und her. Neben dem Klavier erfüllte noch ein weiterer akustischer Höhepunkt den Raum. Die Lehrerin begleitete unsere Bewegungen mit gelegentlichen einpeitschenden Kommandos: „Cha-Cha-Cha-Wiiiiege!“ Dabei akzentuierte sie das I in Wiege mit einem solchen tremulierenden Ton, dass man an eine erstarrenden Schreckensruf im Anblick einer plötzlich auftauchenden Ratte denken konnte. Das Wort Wiege hat sich bei mir so im Gehör festgesetzt, dass ich auch heute noch aufpassen muss, es nicht automatisch mit einem langgezogenen nervigen „ I “ auszusprechen.
Ähnlich distanziert verlief der Unterricht bei allen anderen Tänzen. Den ganzen Kurs über blieben die Tanzlehrer unabänderlich beim förmlichen Sie und ließen auch keinen Hauch einer annähernd kameradschaftlichen Vertrautheit zu. Noch bei der letzten Unterrichtseinheit hieß es emotionslos und unpersönlich: „Diesen Schritt haben Sie aber nicht bei mir gelernt, konzentrieren Sie Sich bitte.“ Im Mittelpunkt standen Regeln, beispielhaft dafür ist mir die häufig vernommene Mahnung der Lehrerin in Erinnerung geblieben: „Nicht aus der Reihe tanzen!“ So eingenordet, verkümmerte jeder Ansatz, die eigene Seele für den Tanz zu entdecken.
Schließlich kam doch noch ein Höhepunkt für uns Jungen hinzu. Wir hatten den Tanzlehrer gebeten, uns bitte auch zu zeigen, wie wir Beat tanzen könnten. Seine Äußerungen waren zunächst sehr abwehrend. „Beat ist kein klassischer Gesellschaftstanz, er hat sich weder aus dem Standard-noch dem Lateinprogram entwickelt, es handelt sich genau genommen um ein sinnfreies und stilloses Herumhampeln“. Schließlich ließ er sich aber mit einem deutlich abschätzigen Ton doch zu einer Erklärung herab: „Drei Schritte vorwärts, rechts beginnend, dann auf der Stelle zwei Stampfschritte. Also der Herr beginnt rechts, vor vor vor, stampf stampf auf der Stelle und dann links beginnend rück rück rück, stampf stampf am Platz“. Es folgten abwertende Hinweise wie: „Figuren gibt es zu dieser simplen Rhythmik nicht, glauben Sie mir, es wird sehr eintönig, wenn Sie immer vorwärts und rückwärts laufen und dann fest auf den Boden trampeln. Maximal können Sie den Schritt seitlich variieren. Also nicht vorwärts eins zwei drei, stampf stampf, sondern seitwärts eins zwei drei, stampf stampf“.
Unser Tanzlehrer als Musterbeispiel einer traditionell konservativen Gesellschaft konnte mit der bei den Jugendlichen unheimlich populären Musik der Beatles überhaupt nichts anfangen. Er verstand sie nicht, wollte sie auch nicht verstehen, lehnte sie deshalb schon grundsätzlich ab und entsprach damit dem vorherrschenden Zeitgeist unserer Eltern. Dabei ging es mir nicht anders als meinen Klassenkameraden. Während wir alle für die Beatles oder die Rolling Stones schwärmten, bezeichnete unsere Elterngeneration diese als „Affenmusik, amelodisches Geheule, Verbrechen an der deutschen Musikkultur“ oder verwendete ähnlich negative Kraftausdrücke. Unser Deutschprofessor – Lehrkräfte am Gymnasium mussten damals mit Herr Professor angesprochen werden – verstieg sich sogar zu der These, dass die auf Englisch gesungenen Lieder Schuld an der Mittelmäßigkeit unserer deutschen Schulaufsätze seien: „Wer sich selbst der Phonetik des deutschen Liedguts beraubt, braucht sich nicht wundern, wenn seine grammatikalische Variabilität leidet“.
Wir heranwachsenden jungen Männer befanden uns deshalb in einem starken Dilemma. Einerseits fühlten wir uns von der neuen Musikrichtung wie magisch angezogen, andererseits eckten wir damit laufend an.
„ I see a red door and I want it painted black, no colours anymore, I want them to turn black”. Ich sehe eine rote Türe und ich möchte sie schwarz anmalen, keine Farben mehr, ich möchte alles in Schwarz anmalen. Fasziniert summten wir diesen Text immer wieder von neuem, weil Rhythmus und Botschaft unserer innersten Gefühlslage entsprach. Die überkommenen Vor- und Nachkriegsreden unserer Eltern, ihre sozialen Verhaltensweisen und antiquierten Gebote bedrückten wie ein zu enges Korsett. Dagegen entfachten die Songs und revolutionär erscheinenden Texte der Beatles oder Rolling Stones Sehnsucht nach einem Überwinden ungeliebter Barrieren und verkündeten ungeahnte Freiheiten in einem lockeren Lebensstil. Die Magie eines andersartigen aus Amerika und England herüberwehenden Zeitgeistes eroberte unser Denken und Fühlen, wir wollten die alten Farben übermalen und Neues schaffen. Heftig diskutierten wir deshalb über aktuelle Songs von den Rolling Stones oder anderer angesagter Bands und schwärmten begeistert von der neuen Langspielplatte „Sergeant Pepper‘s lonely hearts club band“ der Beatles, die uns wie ein Wegweiser in eine verheißungsvolle Zukunft vorkam. Wir trafen uns bei den wenigen Schulkameraden, die sich die LP für 21 DM leisten konnten, meist nur nachmittags, um uns in Abwesenheit der Väter von der verpönten Musik mitreißen zu lassen. Mit verklärten Augen saßen wir auf dem Fußboden und hörten die Songs solange, bis die Eltern unsere „Sessions“ unterbrachen, argwöhnisch und verständnislos beäugend, was ihre Söhne da trieben.
Die Beatmusik war die zweite große musikalische Revolution der 60er Jahre, zuvor waren die Rock‘n Roll-Helden wie Bill Haley, Chuck Berry, Little Richard oder Elvis Presley in Europa aufgeschlagen. Unsere Gesellschaft hatte Probleme damit, den Rock‘n Roll zu akzeptieren, da er die Musik der amerikanischen Besatzungssoldaten darstellte. Deshalb war es leicht, ihn zu negieren, was ja auch unsere Tanzlehrer taten, die diesen Tanz nicht in ihr Grundprogramm aufnahmen. Die traditionelle Gesellschaft erfreute sich zwar schon daran, wenn gelegentlich ein Fernsehballett Rock‘n Roll in einer Samstagabendshow bei Joachim Kulenkampff oder Peter Frankenfeld darbot, machte sich dieses neue Lebensgefühl aber nicht wirklich zu Eigen. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir Heranwachsende idealisierten und der Welt unserer Eltern konnte man nicht besser ausdrücken als der Tanzlehrer mit der Bezeichnung „Stampftanz“ für Beat. Wir führten deshalb zwar schön brav zum Abschlussball vor unseren Eltern die Münchner Francaise vor, aber keiner von uns buchte anschließend einen Fortgeschrittenenkurs oder fand sich zu den wenigen Tanzabenden ein. Wir fühlten uns dort nicht verstanden.
Unsere Freundinnen von der Niedermünster-Realschule empfanden im Grunde genauso wie wir, wenngleich sie durch die Aufsicht der Armen Schulwestern wesentlich weniger Freiraum hatten. Beatmusik stand ganz oben auf der Liste aller verbotenen Sachen und konnte nur leise unter der Bettdecke mit dem Ohr am Transistorradio gehört werden, was nur wenige sich getrauten. Unsere Partnerinnen schwärmten deshalb für beides, ganz offiziell für die damaligen deutschen Schlagerstars wie Wencke Myhre, die 1966 den Nummer-Eins-Hit „Beiß nicht gleich in jeden Apfel“ gelandet hatte, heimlich für die Beatles. Hits wie der Song von Dorthe „Wärst du doch in Düsseldorf geblieben“ ödeten uns Jungs an. Allenfalls verwendeten wir sie, um die Mädchen auf den Arm zu nehmen „Wärst du Dussel doch zu Haus geblieben“, brachte mir einen heftigen Tritt gegen das Schienbein ein, als ich den so verballhornten Liedtext laut vor mich hin trällerte. Gemeinsam pflegten wir jedoch beides, eine Abneigung gegen Standardtänze und Regelvorgaben. Die nächsten Jahre beschränkte sich das Tanzen auf Beat in allen Variationen. Je nach Gefühlslage und Song wiegten wir unsere Körper nur still zum Text sehnsuchtsvoller Balladen oder verausgabten uns unter dem dröhnenden Gewummer der Bässe in akrobatischen Verrenkungen. Besonders beliebt waren irren Sprünge, bei denen wir unsere damals so moderne lange Haarpracht wild hin und her schüttelten.
Auch der letzte Rest meiner Tanzschulkenntnisse entschwand Anfang der 70er Jahre in totaler Finsternis. Während meiner Studienzeit boomte die Discowelle in Deutschland. Wir verbrachten unsere Nächte in neu eröffneten Studentenclubs wie Tangente oder Zarap-Zap-Zap und tobten nach eigenem Gusto auf der Tanzfläche herum. Regeln gab es nicht und wir wollten auch keine. Erstmalig tanzten Männer und Frauen auch für sich alleine, man versuchte aufzufallen, ließ den eigenen Emotionen freien Lauf oder versank ganz still in sich selbst. Rhythmen und Takte waren meistens sehr ähnlich. Formationen wie Boney M. oder Silver Convention mit klassischen Discosongs wie „Daddy Cool“ oder „Fly Robin Fly“ prägten das musikalische Geschehen. Zu später Stunde bremsten die Discjockeys allmählich das Temperament und bei Songs wie „Follow me“ von Amanda Lear suchten wir Wange an Wange die Nähe unserer Partnerin.
Schnell reagierte die Gastronomie auf den wachsenden Trend. Neben den Szene Treffs entstanden Großdiscos, die sich vom ersten Moment an eines immensen Zulaufs erfreuten. Je mehr die Tanzflächen wuchsen, desto ohrenbetäubender erschall die Musik. Farbregler an den Strahlern warfen ein diffuses wirres Bild auf alle Tanzenden, die gemeinsam in einem Meer zuckender Körper alle aufgestauten Emotionen auslebten. Man skandierte wild mit den Armen, ließ die Köpfe hin und her pendeln und spürte erstmalig im Spiegelbild glitzernder Discokugeln die euphorischen Dimensionen eines mitreißenden Gruppenfeelings. Damals hätte ich es als absurd und unvorstellbar reaktionär empfunden, jemals wieder nach vorgegebenen Regeln konventionell zu tanzen. Klassischer Gesellschaftstanz hatte in meiner Lebensphilosophie ausgedient.
Mit Abschluss meiner Staatsexamina und dem Eintritt ins Berufsleben folgte fast zwangsläufig ein allmählicher Wechsel von den abgedunkelten Diskotheken zu den hell erleuchteten Regensburger Festsälen. Mein erster Ballbesuch führte mich in das exklusive Hotel Maximilian, das ich zuvor noch nie betreten hatte. Auf der Einladung war in goldgeprägter Schrift vornehm vermerkt: Herren schwarzer Anzug, Smoking oder Uniform, Damen lange Abendgarderobe. Die arrivierte Stadtgesellschaft hatte mir ein Entree gewährt, was mich mit jungenhaftem Stolz erfüllte.
Meine Partnerin las den Kartentext mit deutlichem Stirnrunzeln. Auch sie wollte unbedingt dabei sein, wies aber sehr rational auf ein entscheidendes Manko hin. Kein Stück vom geforderten Dresscode befand sich in unserem Besitz. Nachdenklich überlegte sie halblaut, für mich wäre es wohl am einfachsten, eine Uniform auszuleihen. Etwas baff über diesen unsinnigen Vorschlag erwiderte ich, ich hätte schon als Kind immer Straßenbahnschaffner werden wollen, als Eisen-oder Straßenbahner würde ich sicher eine gute Figur abgeben. Wenn schon, dann sollten wir aber beide in Uniform aufkreuzen, ich könnte mir durchaus ein klösterlich weißes hochgeschlossenes Novizinnenkleid als Gottes Uniform vorstellen. Das letzte Wort blieb meiner Partnerin, die mir den Hauptmann von Köpenik vorschlug, der sei mir auf den Leib geschrieben.
Am nächsten Samstag suchten wir gemeinsam ein renommiertes Damen-und Herrenmodegeschäft in der Regensburger Altstadt auf. Gerne hätte ich mir einen Smoking geleistet, musste aber nach einem Blick auf das Preisschild erst mal tief durchatmen. Der Herrenausstatter zeigte Mitgefühl. Er riet mir in väterlichem Ton zu einem schwarzen Anzug, der ohnehin viel praktischer sei, weil man ihn ja auch zu sonstigen feierliche Anlässen tragen könne. Wohlgefällig betrachtete ich im Wandspiegel mein Erscheinungsbild und erwarb von einem der ersten Gehälter einen schwarzen Anzug mit Silberkrawatte. Meine Freundin strahlte mich bewundernd an: „Jetzt ist es passiert, Du wirst seriös“. Nach außen gab ich mich lässig, insgeheim aber freute ich mich wie ein Schneekönig über meine neue Errungenschaft.
Schwieriger hatte es meine Partnerin. Lange Abendkleider führten nur extrem teure Damenmodengeschäfte. Entsprechend hoch und unerschwinglich fiel der Preis aus. Eine nette Verkäuferin empfahl meiner unglücklichen Begleiterin schließlich, sie solle sich doch bloß eine elegante weiße Bluse kaufen und selber dazu einen festlichen langen Rock nähen. Stoffe gäbe es doch schon recht preisgünstig. Problematisch war an diesem gut gemeinten Ratschlag lediglich, dass meine damalige Lebensabschnittspartnerin noch nie etwas geschneidert hatte, aber mit tollem Selbstwertgefühl der Ansicht war, was andere vor ihr schon geschafft hätten, würde auch sie bewerkstelligen.
Im Stoffgeschäft bewachten zwei ältere Verkäuferinnen die bunt bedruckten Rollen und amüsierten sich königlich über uns Naivlinge, weil wir unbedarft einen Gardinenstoff favorisierten. Schließlich erstanden wir einen Restposten eines schwarzen Kleiderstoffes, ein Schnittmuster mit unverständlichen Hieroglyphen und erhielten darüber hinaus eine Menge gut gemeinter Ratschläge, die uns beiden wie Rätsel aus einer fremden Welt vorkamen: „Runden Sie den Saum lieber ab, ein Stoßband macht sich am Rock nicht so gut“. Während meine Freundin etwas verzweifelt zu mir guckte, erklärte ich weltmännisch: „Keine Sorge, ein Stoßband haben wir noch nie gebraucht“.
In meinen Augen sah der Rock richtig toll aus. Nach anfänglichen Fehlversuchen hatten sich noch zwei beste Studienfreundinnen als Nothelferinnen betätigt. Wir fühlten uns optimal gerüstet. Allerdings erhielt meine Partnerin schon im Vorfeld des Ballauftakts einen frustrierenden Dämpfer, als sie nach der gegenseitigen Begrüßung von einer mit schweren Goldklunkern behängten Tischnachbarin gelobt wurde, wie schön sie doch den Rock genäht hätte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass jemand ihre liebevoll angefertigte Eigenproduktion als solche erkennen würde. Am Tisch hatten alle die gut vernehmbare Erwähnung ihrer Schneiderkunst mitbekommen. Trotz ihres überbordenden Temperaments wahrte meine Freundin die Contenance, obwohl ich ihr deutlich ansah, wie es in ihr brodelte. Höflich nickend beteiligten wir uns an der folgenden Konversation. Bei der nächsten Gelegenheit zischte sie mir ins Ohr, ob ich gemerkt hätte, dass die eingebildete „Klunkerkuh“, sie mit voller Absicht bloßgestellt habe. Anschließend bat sie kurz um Entschuldigung, sie müsse sich ein wenig frisch machen. Als sie wiederkam, trug sie ihre Bluse nicht mehr hochgeschlossen sondern überaus freizügig geöffnet und strahlte mich mit offensichtlicher biestiger Zufriedenheit an: „Glaub mir, ab jetzt schaut niemand mehr auf meinen Rock“. Sie behielt Recht, vielbeachtet schlenderten wir untergehakt im Festsaal einher.
Leider erwies sich bereits der erste Gang zur Tanzfläche als stimmungsdämpfend. Meine Begleiterin hatte zwar genauso wie ich zu ihrer Schülerzeit einen Tanzkurs besucht, aber seitdem nie wieder Standardtänze probiert. Den Anfangswalzer hatten wir noch ausgelassen und uns erst bei der zweiten Runde auf das Parkett gewagt. Zu meinem Entsetzen kündigte der Kapellmeister einen Tango an, den wir in unserem Schülerkurs schon gar nicht im Programm gehabt hatten. Links und rechts von mir machten einige Paare recht zackige Schritte und bewegten sich dabei wie in einer Marschformation auf imaginären geraden oder rechtwinkligen Linien voran. Mein Versuch, Ähnliches zu improvisieren, war, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade harmonisch. Entweder konnte meine Partnerin nicht folgen, oder sie stolperte bei meinen ungestümen Versuchen, sie in irgendeine Richtung zu dirigieren. Wir quälten uns etwa drei Minuten auf der Tanzfläche ab und erwarteten beide recht genervt den nächsten Tanz. Gott sei Dank folgte ein langsamer Walzer, den ich damals für einen Blues hielt und anfing, mit meiner Freundin ganz behutsam mit engem Körperkontakt hin und her zu schwofen. Zwar waren wir uns der Regelwidrigkeit unserer improvisierten Schritte schon irgendwie bewusst, fühlten uns jedoch insgesamt im Gleichklang unserer Bewegungen einigermaßen wohl. Ebenso individuell meisterten wir den vom Kapellmeister als Jive angekündigten nächsten Tanz. Bereits bei den ersten Takten war mir klar, dieses Problem mit unseren Discofähigkeiten lösen zu können. Temperamentvoll wirbelten wir herum, schlenkerten mit den Armen nach allen Seiten und hatten erstmalig an diesem Abend richtig Spaß.
Eine halbe Stunde später musste ich dann leicht erschüttert feststellen, dass es im Gesellschaftsleben recht blamabel sein kann, nicht tanzen zu können. An unserem Tisch begannen die ersten Herren gemäß einem ungeschriebenen von alters her überliefertem Brauch, nach der eigenen nun auch die anderen Damen um einen Tanz zu bitten. Konsequenterweise musste ich natürlich mitziehen. Da wir sechs Paare an einem Tisch waren, hieß es für mich, fünf Mal mit einer fremden Frau den Versuch zu wagen, wie auch immer die anstehende Runde mit jeweils drei Tänzen zu bewältigen. Bereits bei der ersten Herausforderung erlebte ich mein persönliches Waterloo: „Mit Ihrem Walzer schaffen Sie es nicht zum Salonlöwen“, erklang es in meinen Ohren, „aber an Courage fehlte es Ihnen ja offensichtlich nicht, jetzt schauen Sie nicht so betroffen, lassen Sie sich einfach von mir führen“. Zwar muss ich gestehen, dass die Dame sehr energisch und kraftvoll agierte, sodass wir uns mehrfach rechts herum im Kreise drehten, aber zugegebenermaßen war mein Selbstwertgefühl nach diesem Tanz eher im Keller als im Lot. Irgendwie rettete ich mich die nächste Stunde über mit dem Grundschritt des Foxtrotts, den ich in hilfloser Unkenntnis einfach auf alle Tänze anwendete. Intuitiv hatte ich mich daran erinnert, immer zwei Schritte geradeaus vorwärts, anschließend zwei Seitwärtsschritte nach links zu tanzen und das Ganze dann mit rückwärts und seitwärts zu vollenden. Bei einem temperamentvollen Rhythmus wie Samba oder Cha-Cha-Cha tanzte ich den Foxtrott eben entsprechend schneller und brachte es auch fertig, nach dem Grundschritt gelegentlich eine Drehung miteinzubauen.
Meine Gefährtin erlebte ähnlich Unbefriedigendes. Von einigen Herren fühlte sie sich schlichtweg überfordert, andere zerrten an ihr herum. Fast jeder Kavalier erklärte ihr, sie solle sich ganz einfach nur seiner Führung überlassen, wobei sie sich trotz aller gut gemeinten Ratschläge zusehends hilfloser vorkam und permanent stolperte. „Weißt Du, was das Schlimmste an allen Tanzrunden war?“, flüsterte sie mir zu, worauf ich fragend mit den Achseln zuckte. „Das Schlimmste war, dass jeder der Herren sich für das Vergnügen bedankte, mit mir getanzt zu haben und ankündigte, im Verlauf des Abends noch einmal vorstellig zu werden! Bitte lass Dir was einfallen, sonst klettere ich beim nächsten Anstandswauwau unter den Tisch und schrei: ich bin nicht da!“
Gottseidank hatte ich die befreiende Idee, zunächst an die Bar zu wechseln, um eine Verschnaufpause einzulegen. Dort gewannen wir abseits vom Ballgeschehen den nötigen Abstand zu unseren frustrierenden Tanzversuchen. Meine Freundin riskierte schon bald wieder neugierige Blicke auf die Tanzfläche, so dass ich mir die Frage stellte, ob es schon wieder opportun wäre, einen erneuten Versuch zu wagen. Mit einer gewissen Beruhigung entdeckte ich einige Herren mit ähnlich wenigen Kenntnissen, sie probierten aber gar nicht erst, richtig zu tanzen, sondern bewegten sich irgendwie passabel hin und her. Meine Partnerin hatte mich aus den Augenwinkeln beobachtet, erkannte meine wachsende Zuversicht und deutete aufmunternd zur Tanzfläche. Galant bot ich ihr den Arm und geleitete sie zur Tanzfläche. Diesmal probierte ich gar nicht, mich an anderen zu orientieren , sondern beschränkte mich auf wenige Schritte vorwärts, dann rückwärts und, als das klappte, auch im Kreis. Wir versuchten uns irgendwie vom Tempo der Musik leiten zu lassen und fühlten uns nicht mehr ganz so unsicher wie zuvor.
Noch ein Problem blieb, meine Partnerin wollte auf keinen Fall ein zweites Mal mit den anfänglichen Kavalieren herumstolpern. Wir mieden deshalb unsere Sitzplätze und umgingen so mögliche Aufforderungen. Folglich schlenderten wir ziellos im Saal oder im Foyer herum. Die Zeit verging dabei langsamer als bei netten Unterhaltungen, so dass ich öfters heimlich auf die Uhr blickte und mich fragte, wie wir uns bis zum Ballende noch in halbwegs guter Laune beschäftigen könnten. Nach einer recht unbefriedigenden Durststrecke wurde es endlich Mitternacht und die ersten Gäste begannen, sich zu verabschieden. Der Saal leerte sich zusehends und auch wir dachten an Aufbruch. Allerdings hatte sich der Musikstil in erfreulicher Weise geändert. Die Kapelle spielte zur späten Stunde nahezu ausschließlich Discofox, was in uns völlig neue Energiereserven entfachte. Meine Partnerin und ich kehrten von konventionellen Zwängen befreit auf die Tanzfläche zurück, tobten wie in früheren Zeiten ungezwungen herum und fanden den Ball letztlich doch ganz gelungen.
In den folgenden Jahren pendelte sich mein tänzerisches Niveau immer mehr nach unten ein, die meisten Tänze improvisierte ich mit Foxtrott-Schritten, mein Walzer rumpelte und holperte wie ein altes Fuhrwerk auf Schlaglöchern. Beim Aufsuchen der Tanzflächen beschlich mich ein eher ungutes Gefühl. Nach dem ersten Tanz folgte ein unsicheres Warten auf die nächsten Takte. Nach außen gab ich den Coolen, innerlich bedrückte die bange Vorahnung, nicht zu wissen, wie der nächsten Tanz gelingen sollte. Zwangsläufig schloss sich diesen lückenhaften Fähigkeiten eine gewisse Unlust an, auf Tanzveranstaltungen zu erscheinen. In meinem Freundeskreis entwickelte sich zumindest bei den Männern eine ähnlich ablehnende Einstellung. Meist half nur nachhaltiges Drängen unserer Partnerinnen, den inneren Schweinehund zu überwinden und den einen oder anderen Ball doch zu besuchen. Dabei gingen die Paare mit ihren jeweiligen tänzerischen Defiziten sehr unterschiedlich um. „Wir kommen gerne mit Euch mit, aber das sagen wir Euch gleich, getanzt wird nicht“. Die sich so äußerten, saßen dann regelmäßig als Stimmungsbremsen am Tisch. Ertönte Tanzmusik, so klebten sie wie festgewurzelt an ihrem Platz, schauten etwas genervt in der Gegend herum und überbrückten gelangweilt die Zeit bis zur nächsten Pause. Einige meiner Tischnachbarn waren auch so rücksichtslos, ihre Frauen alleine sitzen zu lassen, indem sie vorgaben, schnell mal rein aus geschäftlichen Gründen jemand an der Bar begrüßen zu müssen. Solches Verhalten bürdete den anderen Paaren eine damals fest verwurzelte gesellschaftliche Pflicht auf. Eine Dame allein durfte nicht einsam am Tisch zurückbleiben. Ein derartiges No Go ergab eine nicht unwillkommene Ausrede, trotz der schönen Musik die kommende Tanzrunde zu pausieren. Andere Freunde pflegten den „Hoppla jetzt komme ich Stil“. Sie ignorierten selbstbewusst und mutwillig den Charakter der jeweiligen Tänze, trotzten jedem Takt, stellten sich in allen Richtung quer und tanzten wild entschlossen ihren Stiefel runter. Schon beim Zuschauen hatte man das Gefühl, es müsse jetzt gleich eine Durchsage kommen: „Achtung, auf der Tanzfläche kommt Ihnen ein unsensibles Paar mit großer Dynamik entgegen, vermeiden Sie schmerzhafte Kollisionen, weichen Sie rechts aus und halten Sie angemessenen Abstand“.
Der Brauch, die anderen Damen des Tisches zum Tanzen aufzufordern, fiel zusehends in Vergessenheit. Wer selbst nur schlecht tanzen kann, kommt allenfalls mit seiner eigenen Partnerin einigermaßen klar. So ergab sich eher stillschweigend die Übereinkunft, wenn überhaupt, dann nur mit jemand aus dem Freundeskreis ein Tänzchen zu wagen. Selbstverständlich beobachtete ich die anderen zuvor aus den Augenwinkeln heraus. Erst wenn ich mir einigermaßen sicher war, ob sie sich in etwa auf meinem Level bewegten, wagte ich es, eine Tischnachbarin um einen Tanz zu ersuchen. Meist wartete ich auch die Anfangstakte ab und wurde ausschließlich bei Melodien aktiv, die meinen Möglichkeiten am besten entsprachen. Mit dieser innerlichen Einstellung nahm ich am festlichen Treiben recht entspannt teil, das Risiko unangenehmer Überraschungen war hinreichend minimiert. Erst gegen Ende der Bälle steigerte ich meine tänzerischen Aktivitäten, wenn die nicht mehr so dicht frequentierten Tanzflächen einladend wirkten und zu individuellem zwanglosem Tanzen verleiteten.
Für den Entschluss, teure Ballkarten zu erwerben, gab es viele Motive. Tanzen spielte eher eine untergeordnete Nebenrolle. Hauptsächlich genossen wir es, gelegentlich aus dem Alltag abzutauchen, uns festlich zu kleiden und noch Tage später Ballfotos im Bekanntenkreis zu betrachten. Es fühlte sich auch gut an, ein besonderes gesellschaftliches Ereignis hautnah miterlebt zu haben. Alles in allem befand ich mich in einer Phase komfortabler Gelassenheit, eine Tanzfläche zog mich nicht gerade an, schreckte mich aber auch nicht ab. Meine Fähigkeiten reichten so weit, dass der Besuch eines Balles letztlich zu einem gewinnbringenden Abend werden konnte.
Zufrieden mit mir und der Welt hätte ich an meinen tänzerischen Fähigkeiten aus eigenem Antrieb nie etwas geändert. Anders meine Frau. Sie wollte mehr Spaß am Tanzen haben, wenn wir denn schon, was selten genug war, die Gelegenheit dazu hatten. So überraschte Gina mich eines Abends mit der beiläufig gestellten Frage, ob ich Lust hätte, mit ihr einen Tanzkurs zu besuchen. Daraus entwickelte sich ein folgenschwerer Disput:
„Wie kommst Du denn darauf?“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage, ich wollte wissen, ob Du Lust hast, mit mir besser tanzen zu lernen!“
„Und ich möchte wissen, warum Du auf die Idee kommst, dass wir besser tanzen lernen sollten“.
„Du drückst Dich bloß um eine Antwort herum, indem Du Gegenfragen stellst – sag doch gleich, dass Du nicht willst!“
„Jetzt unterstellst Du mir etwas, ohne dass ich mich entschieden habe, ich will doch nur wissen, warum Du auf diese Idee gekommen bist“.
„Mit Euch Männern ist es furchtbar, auf eine einfache Frage könnt Ihr keine einfache Antwort geben!“
„Natürlich kann ich das, ich will bloß vorher den Grund der Frage kennen“.
Wir drehten uns also auf der Stelle. Der Aufbruch in eine bessere Tanzwelt drohte zu einem Fehlstart zu werden. Gina hatte ihre Stimmlage leicht drohend erhöht und ich mich korrekt hingesetzt, was auf eine kompakte Abwehrstellung hindeutete. In der Tat hatte ich wenig Neigung, mir von irgendeinem Tanzlehrer siebengescheite Belehrungen über meine Haltung oder sonstige falsche Bewegungen anhören zu müssen. Auch unsere Freizeitaktivitäten hatten sich so gut eingespielt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, irgendwo noch Freiraum zu finden. Wir spielten Tennis, Badminton und liebten Bergwanderungen, ich war zufrieden, ein Mehr an Aktivitäten brauchte ich nicht. Trotz allem galt es, die festgefahrene Gesprächssituation wieder irgendwie aufzulösen.
„Hör mal, ich will doch keinen Streit mit Dir, die Frage hat mich überrascht, weil sie aus dem Nichts kam“.
„Gut, mittlerweile hast Du zehn Minuten Zeit gehabt, Dir zu überlegen, ob Du Lust hast, mit mir einen Tanzkurs zu absolvieren“.
Wir waren also wieder auf Start angekommen. Beinahe hätte ich erneut die Frage nach dem ‚Warum‘ gestellt, erkannte aber intuitiv, dass dies wohl zu einer explosiven Reaktion meiner Partnerin geführt hätte. Also probierte ich es anders herum. „Jedes Mal, wenn ich mit Dir auf die Tanzfläche gehe, denke ich, es wäre schön, besser tanzen zu können, aber es war noch nie Grund für mich, über einen Tanzkurs nachzudenken“.
„Für mich eben schon, wenn ich auf einen Ball gehe, will ich Spaß am Tanzen haben, unterhalten kann ich mich mit unseren Freunden in jedem Lokal besser. Dazu braucht es keinen festlichen Rahmen“.
Langsam dämmerte es bei mir, dass die Frage meiner Frau, ob ich Lust habe, mit ihr einen Tanzkurs zu besuchen, eigentlich lautete:
„Ich möchte gerne einen Tanzkurs besuchen, um mit Dir gemeinsam besser tanzen zu lernen, erfüllst Du mir diesen Wunsch?“
„So habe ich das noch nie betrachtet, Lust habe ich ehrlicherweise nicht unbedingt, aber ich könnte es mir auch vorstellen, da mitzumachen“.
Die Kriegsgefahr war gebannt. Gina blickte mich versonnen an, brummelte etwas in der Art von: „Bis Ihr Männer Euch mal zu was Neuem durchringen könnt“, war aber offensichtlich sehr angetan von unserem Gesprächsergebnis.
Einige Monate vergingen, den Tanzkurs hatte ich über berufliche und alltägliche Routine hin vergessen. Ich hätte es besser wissen müssen. Wenn Gina etwas wichtig war, dann setzte sie es auch um. Sie hatte sich mittlerweile ausführlich umgehört, das Internet und auch die Gelben Seiten zu Rate gezogen und präsentierte mir ihre Ergebnisse. Nach dem Abendessen zeigte sie mir ein Blatt Papier, auf dem sie die Adressen dreier Betriebe sowie die nächsten Anfängertermine notiert hatte. „Schau mal, diese Tanzschule liegt eigentlich nur um die Ecke, fußläufig perfekt erreichbar, die anderen beiden allenfalls eine Viertelstunde mit dem Fahrrad. Lass uns einen Spaziergang machen, um uns die Nächstgelegene anzusehen“.
Wenig später standen wir vor einem garagenähnlichen Anwesen, das wie ein Behelfsbau aus der Nachkriegszeit wirkte. Das Gebäude beinhaltete nur ein Erdgeschoß, war fensterlos und verfügte über einen größeren Schaukasten an der Türe. Die ausgestellten Fotos hingen offensichtlich schon längere Zeit unverändert dort. Ihnen hatte das Sonnenlicht deutlich sichtbar zugesetzt. Sie erweckten den Eindruck, aus einer langjährigen Dornröschenruhe zu stammen. Das Szenario unterschied sich in nichts von meiner Schülerzeit. Genau wie damals hingen Gruppenaufnahmen verschiedener Gymnasialklassen aus. Man hätte sie beliebig alle paar Monate mit weniger vergilbten durchtauschen können, ohne dass es sonderlich aufgefallen wäre. Einzig der Tanzlehrer bürgte für die regionale Authentizität der Aufnahmen. In diesem Fall handelte es sich um einen kleinen, etwas zu korpulenten Herren, der seine wenigen Haare genau nach der Haarmode der Vorkriegszeit über die hohe Stirn drapiert und offensichtlich mit etwas Brillantine fixiert hatte. Die figürlich ebenbürtige Tanzlehrerin stach bei den Gruppenbildern durch eine augenfällige Blässe hervor. Mit ihren in der Mitte gescheitelten dünnen blonden Haaren passte sie weder zu einem vergangenem noch zu einem heutigen Modetrend und wirkte trotz eines Lächelns irgendwie leblos. Bei ihrem Anblick fiel mir eine freudlose sonnenlichtscheue Gouvernante aus viktorianischen englischen Trivialromanen ein. Bevor ich noch eine diesbezügliche Bemerkung fallen lassen konnte, packte mich Gina am Arm: „Bloß weg hier, ich will nicht von einer Wasserleiche unterrichtet werden!“
Ohne weitere Besichtigungen entschieden wir uns noch am selben Abend für eine erst vor kurzem gegründete Tanzschule, deren Kurse schon eine Woche später begannen. Alles andere als das gerade erlebte verstaubt wirkende Institut erschien uns verheißungsvoller. Die Würfel waren gefallen, das Abenteuer Tanz begann.
Der Anfängerkurs startete das folgende Wochenende am Nachmittag eines verregneten Sonntags. Die Tanzschule befand sich im Untergeschoß eines großen Geschäftshauses, fensterlos, war jedoch modern eingerichtet und hell erleuchtet. Bei der Anmeldung hatte es geheißen, man solle bitte rechtzeitig erscheinen, um mögliche offene organisatorische Fragen noch abzuklären. Gina hatte stark darauf gedrängt, diesen Hinweis brav zu befolgen. Vor Ort entfiel allerdings jegliche bürokratische Abklärung, da das Büro nicht besetzt war. An der Türe befand sich lediglich ein handgeschriebener Zettel mit der Saalnummer unseres Grundkurses.
Bereits 20 Minuten vor Unterrichtsbeginn standen wir etwas fremdelnd mit anderen Neulingen in der Umgebung der Tanzsäle herum. Auf die meisten Frauen entwickelte eine große Glaswand eine magische Anziehungskraft. Hinter dieser übten gerade ersichtlich fortgeschrittene Paare. Neugierig bewegten sich die Damen dorthin und beobachteten freudig aufgeregt das Geschehen. Auch Gina konnte den Blick nicht mehr abwenden, drehte zuerst nur ihren Kopf in Richtung der Tänzer und reihte sich schließlich in den Kreis der anderen Zuschauerinnen ein. In Nullkommanichts verhielten sich unsere Frauen wie vertraute alte Bekannte, begannen sofort untereinander zu kommunizieren und machten sich gegenseitig auf Paare aufmerksam, die irgendeine Figur besonders elegant gemeistert hatten. Mitten im Geschehen strahlte Gina mit leuchtenden Augen und offensichtlich bestens gelaunt.
Schlagartig erschloss sich mir die Erkenntnis, dass es wohl nicht bei dem Erlernen sicherer Grundschritte der üblichen Standardtänze bleiben würde. Mit einer Mischung aus Neugier und dem Unbehagen, nicht zu wissen, was da alles auf mich zukommt, betrachtete ich das gesamte Geschehen. Auch die Männer fanden sich mehrheitlich zu einer Gruppe zusammen, aber nicht vor der Glaswand sondern an der Bar. Dort orderten sie fast unisono Weizen oder Pils. Die meisten hatten sich wenig kommunikativ mit ihrem Bierglas in eine Ecke verzogen. Mit verschlossenen Lippen und verschränkten Armen signalisierten sie jedem Betrachter eine nachhaltige innere Abwehr gegen alles Kommende. Lauter Einzelkämpfer, die sich an ihrem Getränk festhielten, um ihre Unsicherheit zu überbrücken.
Schließlich kam der große Augenblick, die Glastüre öffnete sich und die zuvor bewunderten Paare verließen den hell erleuchteten Raum. Der Tanzlehrer blieb in der Mitte stehen und winkte uns mit einem freundlichen Lächeln herein. Er stellte zunächst klar, was ohnehin schon alle vermutet hatten, er sei unser Kursleiter, wir sollten ihn doch bitte mit seinem Vornamen „Thorwald“ ansprechen. „Aus welcher Familie kommt den der?“, brummelte neben mir ein kräftiger Herr meines Alters und legte in diesem Moment den Grundstein für eine beiderseitige langjährige Freundschaft. Ohne viel zu reden, fanden wir uns auf den ersten Blick sympathisch und spürten einen besten Draht zueinander. Er flüsterte halblaut: „Bei dem Vornamen tippe ich darauf, dass sein Vater Fürchtegott oder Fridolin hieß.“ „Vielleicht steckt ja auch seine Mutter Notburga dahinter“, ergänzte ich und wäre beinahe laut lachend herausgeplatzt. Gleich in den ersten Minuten unangenehm aufzufallen, wäre mir sehr peinlich gewesen. Deshalb unterdrückte ich den Ausbruch so gut es ging. Lediglich ein strahlendes Lächeln blieb sichtbar. Das brachte mir Ginas Lob ein, die erfreut feststellte, dass ich endlich gut gelaunt wirke. Sie hätte wegen meines zurückhaltend ernsten Gesichts schon Sorge gehabt, ich könne ihr mit meiner augenscheinlich wenig begeisternden Einstellung den Kurs vermiesen. Vorsichtshalber sah ich von einer Antwort an meinen neuen Bekannten ab, obwohl ich ihm ansah, dass auch er gerne mit mir weitergeblödelt hätte. So zwinkerte ich ihm nur anerkennend zu. Später verbrüderten wir uns bei einem Pils, Bert und seine Muna tanzen noch heute mit uns. Gina schmiegte sich glücklich an meinen Rücken. Ihre offensichtliche Vorfreude auf das Tanzen und die heimlichen Witze beflügelten auch mich. Jegliches Unbehagen ob der ungewohnten Situation war wie weggeblasen.
Thorwald bemühte sich, die ihm wohlbekannte Atmosphäre einer noch fremdelnden Gruppe aufzulockern. „Im Namen unserer Tanzschule begrüße ich alle Frauen ganz herzlich, die es geschafft haben, ihre Männer hierher zu bringen“. Ein vielsagendes Lächeln lockte er auf den meisten Mienen der Damen hervor. Andererseits ging er auch auf die Männer ein. „Meine Herren, ich sage es Ihnen ganz ehrlich, alle Damen besitzen eine natürliche Begabung zum Tanzen. Leider trifft das auf unser Geschlecht nicht zu. Genetisch bedingt sind einige Männer dafür nicht geschaffen. Gerne möchte ich herausfinden, wer mit diesem „Anti -Tanz-Gen geboren wurde. Wir machen jetzt einen kleinen Test, wer nicht besteht, bekommt anstandslos sein Kursgeld zurück. Damit Sie mich nicht missverstehen, natürlich sind Sie mir alle herzlichst willkommen, aber mit Gipsbeinen auf der Tanzfläche macht es wirklich keinen Sinn. Dann ist es ehrlicher, Ade zu sagen.“
Ein gefühltes Raunen erfasste die Männerwelt. Bei einem Rundblick fielen mir ein paar Teilnehmer auf, die ich vorher eher als Bedenkenträger eingestuft hätte. Jetzt wirkten sie positiv hoffnungsvoll. Einige lächelten ganz verhalten, so als ob sie schon immer geahnt hätten, dass ihre Passion überall wo anders, aber eben nicht auf der Tanzfläche liegen könne. Auch die Damenwelt wirkte auf mich schlagartig etwas anders. Einige Frauen hatten zuvor noch untereinander getuschelt und aufgeregt gekichert. Mit einem Mal verstummten sie und begannen, ernste fixierende Blicke in Richtung ihrer Partner zu werfen. So hatte mich meine Mutter zu Volksschulzeiten immer angesehen, bevor sie alleine zum Einkaufen ging. Nach einer solchen wortlosen Ermahnung hatte ich es nie gewagt, irgendetwas anzustellen. Hier in der Tanzschule konnte diese Gestik nur eine Warnung für den Partner darstellen, die Eignungsprüfung ja nicht zu vergeigen.
Thorwald genoss ersichtlich die Aufmerksamkeit des Saales. Mit lauter Stimme bat er alle Herren um konzentriertes Mitwirken. Wir sollten zwei Schritte vortreten, damit er uns bei dem anstehenden Test besser im Blick habe. Nahezu gleichzeitig bildeten wir Männer einen inneren Kreis, kritisch beäugt von unseren Begleiterinnen. Dann kam das erste Kommando: „Alle Männer bitte den linken Fuß heben, okay, okay, okay, jetzt den Fuß absetzen, und nochmals linken Fuß heben, gut, gut so, wieder senken und jetzt dasselbe mit dem rechten Fuß“. Wieder fest auf beiden Beinen warteten wir unschlüssig auf weitere Aufgaben. Nichts dergleichen geschah.
Thorwald badete sich ein paar Sekunden lang in den fragenden Blicken und legte dann los: „Herzliche Gratulation meine Herren, Sie haben alle einen linken und rechten Fuß, den Sie offensichtlich normal bewegen können, damit sind Sie bestens für das Tanzen gerüstet“. Letztlich stimmten auch wir Männer in das schallende Gelächter mit ein, suchten unsere Partnerinnen wieder auf und sahen jetzt doch ein wenig gelöster dem beginnenden Unterricht entgegen. Thorwald palaverte noch etwas über die Schönheit des Tanzens, sprach den einen oder anderen persönlich an und lockerte allmählich die gesamte Atmosphäre immer mehr auf. Schließlich zeigte er uns erste Grundschritte, tanzte sie mehrfach vor und ließ uns zu modernen Rhythmen Cha-Cha-Cha nach links und Cha-Cha-Cha nach rechts ausprobieren.
Hoch rechne ich Thorwald heute noch an, dass er uns von Beginn an Spaß beim Tanzen vermittelt hat. Anfänger bewegen sich im Regelfall recht unbeholfen, erst nach vielen Übungseinheiten stellt sich ein Gefühl für rhythmische Bewegung ein. Auch wir starteten mit diesem Manko. Mit festen Schritten suchten wir den Boden unter den Füßen und malträtierten das Parkett, voll darauf konzentriert, alles Neue im Sinne einer mathematischen Reihenfolge abzuarbeiten. In dieser Phase des Tanzens steht man zwar seiner Partnerin gegenüber, im Grunde ist aber jeder mit sich alleine beschäftigt. Ich fühlte mich wie ein ABC-Schütze, der erstmalig Buchstaben von der Tafel in sein Heft übertragen soll. Rundherum um mich existierte gar nichts außer meinem Bemühen, die Aufgabe zu erfüllen. Anscheinend spürte auch Thorwald die nachhaltige Konzentration. Er hielt es mehrmals für angebracht, unsere offensichtlich zu ernsten Mienen etwas aufzulockern: „Seit-Schluss-Seit nach rechts, der Herr sucht die Augen seiner Partnerin und lächelt sie an, Seit -Schluss- Seit nach links, die Dame erwidert strahlend das angebotene Lächeln.“