Nirgendwann - Mac Conin - E-Book

Nirgendwann E-Book

Mac Conin

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Beschreibung

Plan B war auch Mist … Jo steht vor dem Nichts: kein Geld, kein Job, bald keine Wohnung. Als ihr Chef zu weit geht, zieht sie die Reißleine – doch der Preis ist hoch. In einer Stadt, die keine Rücksicht nimmt. Sie kämpft sich mit Trotz, trockenem Humor und der Hilfe eines alten Mannes durch die täglichen Zumutungen des Großstadtlebens. Zwischen Grapschern, Schulden und der Hoffnung auf ein anderes Leben stellt sich eine Frage: Wie tief kann man fallen – und wann beginnt der Weg zurück? Kein Liebesroman, aber über Selbstachtung, klare Ansagen und den Mut, sich nicht unterkriegen zu lassen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch

Plan B war auch Mist …

Jo steht vor dem Nichts: kein Geld, kein Job, bald keine Wohnung. Als ihr Chef zu weit geht, zieht sie die Reißleine – doch der Preis ist hoch. In einer Stadt, die keine Rücksicht nimmt.

Sie kämpft sich mit Trotz, trockenem Humor und der Hilfe eines alten Mannes durch die täglichen Zumutungen des Großstadtlebens.

Zwischen Grapschen, Schulden und der Hoffnung auf ein anderes Leben stellt sich eine Frage: Wie tief kann man fallen – und wann beginnt der Weg zurück?

Inhaltsverzeichnis
Jo
Büdchen
Sami
Büdchen
Carlo
Büdchen
Amira
Das Moloko
Herr Hänsel
Büdchen
Hella
Büdchen
Jo
Der Park
Carlo
Jo holt ihre Sachen
Carlo
Pete
Büdchen
Jo
Jo kocht
Hänsel
Wäsche
Visionen
Hella
Hänsel
Büdchen
Jo geht einkaufen
Jo kocht
Abends
Albträume
Hänsel
Büdchen
Klamotten
Es wird entrümpelt
Badezimmer
Jo erzählt
Das Moloko
Finanzen
Jo
Büdchen
Jürgen
Krisensitzung
Pete
Büdchen
Pete
Ein Job
Pete
Carlo und Jo
Büdchen
Pete
Jo ist gestresst
Helga
Pete bei Carlo
Küche
Streit
Büdchen
Hella und Hänsel
Hänsel
Jürgen
Jo nach der Arbeit
Sami
Freddi
Jo
Hella
Albträume
Büdchen
Hänsel
Freddi
Büdchen
Amira
Joti
Büdchen
Abschied
Aufbruch
Helga
Hänsel
Carlo
Hänsel
Stillstand
Epilog 1
Epilog 2
Epilog 3
Danksagung
Über den Autor
Literaturverzeichnis
Hilf uns
Anne auf Green Gables
Himmelsstürmer
Der Job
Stadt der Spiegel
Das Wrack der Grosvenor
Zwei Jahre vorm Mast
Notes

Impressum:

Erschienen im kontrabande Verlag, Köln.

Landsbergstraße 24 . 50678 Köln

Ungekürzte Neuausgabe © 2025 Mac Conin

Umschlagbild & Umschlaggestaltung: kontrabande Verlag, Köln.

Titelgeneration unter Verwendung von Teilen von midjourney.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar. eBook-Herstellung im Verlag.

ISBN 978-3-911831-17-8 E-Book

ISBN 978-3-911831-18-5 Paperback

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.kontrabande.de

Viel Spaß beim Lesen.

Alle Personen und Ereignisse in diesem Buch sind natürlich frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit freilaufenden, lebenden oder verstorbenen Personen oder Orten wären rein zufällig.

Wenn du glaubst, dass du dich erkannt hast oder Ähnlichkeiten zu anderen Personen vermutest, oder glaubst, jemanden erkannt zu haben: Glückwunsch zu deiner blühenden Fantasie.

Für Birgit

Wenn du ein Kribbeln im Bauch hast,

muss das nicht gleich heißen,

dass du verliebt bist.

Das kann auch Dünnschiss sein.

— unbekannt —

Jo

„Du tropfst in mein Schlafzimmer.“

Er steht da, wie ein ertappter Schuljunge. Schultern hängen runter, Hände schützend vor seinem jetzt winzigen Pimmelchen.

Pitschnass steht er im Türrahmen zwischen Schlafzimmer und Bad. Wasser läuft von seinen Haarspitzen, kleine Tropfen sammeln sich auf dem Boden. Nicht gerade das Bild, das man sich am Morgen wünscht. Vor allem nicht nach einer Nacht wie der letzten.

„Soll ich nicht noch mal zu dir kommen? Oder vielleicht Frühstück holen?“ Seine Stimme klingt fast hoffnungsvoll, als würde er glauben, dass diese Nacht irgendwas bedeutet. Etwas Tieferes. Aber sein Anblick sagt mir das Gegenteil. Mein Schädel brummt, mir ist gerade nicht nach Sex. Ganz im Gegenteil.

Er hat wohl mehr erwartet. Etwas, das über eine einfache Verabschiedung hinausgeht. Gleich fragt er mich, ob er meine Nummer haben kann. Ich spüre schon, wie sich das unangenehm zusammenbraut. Hoffentlich bricht er nicht in Tränen aus. Jetzt heißt es, hart und konsequent bleiben. Kein Spielraum für Mitleid.

„Nein, du trocknest dich jetzt ab und dann musst du leider gehen“, sage ich so ruhig und bestimmt wie möglich. „Es war nett, aber mehr ist das jetzt nicht. Und Frühstück fällt aus. Ich muss arbeiten.“

Kann ja schlecht sagen, dass der Kühlschrank leer ist, weil ich pleite bin. Und ich will jetzt auch einfach meine Ruhe. Aufhören, bevor es nervt.

Gestern sah er besser aus. Eine dieser Nächte, in denen man sich einredet, dass der Typ ganz passabel aussieht, wenn das Licht richtig fällt und der Alkohol ein bisschen die Sicht trübt. Aber bei Tageslicht? Na ja. Es gibt Dinge, die lieber in der Dunkelheit bleiben sollten.

Ich deute auf den Stapel Handtücher im Bad. „Nimm dir eins, und dann musst du leider gehen.“

Nicht zu streng klingen. Vielleicht tut er mir ein wenig leid – nein, eigentlich nicht. Je schneller der draußen ist, desto besser. Es ist für mich eindeutig vorbei, bevor es überhaupt hätte anfangen können.

„Es ist Sonntag, da musst du arbeiten?“ Er klingt überrascht. Wahrscheinlich hatte er sich einen gemütlichen Morgen vorgestellt. Brunch. Vielleicht mit einer Art erotischem Nachschlag zur Nacht. Brötchen zum Frühstück? Meine? Oh Gott, Spießertum im Anmarsch.

„Ja, stell dir vor, ich muss arbeiten.“ Dieses Mal deutlich gereizter. Ich habe echt keine Lust auf eine Diskussion. Ich will meine Ruhe und so schnell wie möglich wieder allein sein.

Er seufzt tief, schleppt sich ins Badezimmer, als würde die ganze Welt auf seinen Schultern lasten. Aber er schafft es. Ohne auf dem Weg dorthin zu verenden. Ich höre das Waschbecken laufen. Stelle mir vor, wie er sich bedrückt abtrocknet, als hätte ich ihm gerade das Herz gebrochen. Wahrscheinlich hat er sich wirklich Mühe gegeben. Aber das allein reicht nicht. Die Nacht war nicht schlecht, aber nichts in mir will eine Wiederholung. Immerhin war er kein „One-Shot-Wonder“, aber das ist auch schon das Beste, was ich über den Abend sagen kann.

Nach ein paar Minuten kommt er aus dem Badezimmer zurück. Jetzt angezogen in T-Shirt und Jeans. Seine Schultern hängen noch tiefer als vorher. Er lehnt sich linkisch an den Türrahmen, unsicher, was er als Nächstes tun oder sagen soll.

„Ich habe deine Zahnbürste benutzt. Ich hoffe, das war okay.“

War es nicht! Er hat auch mein Handtuch benutzt. MEIN Handtuch. Und sich vermutlich den Arsch und Eier damit abgetrocknet. Mein Handtuch fürs Gesicht! Ich werd nachher die Bude desinfizieren – und ne neue Zahnbürste, definitiv. Aber das muss ich ihm nicht unbedingt sagen. Also: Tschüss und Tür zu.

Also jetzt erst mal das eigene Beauty-Programm.

Checkliste: Pipi, Dusche, Zähne okay, Haare? Wird wohl so gehen müssen – ich seh aus wie’n Mopp. Also auch okay.

Jetzt mal schauen, was ich mit dem Frühstück mache. Kohle ist sowas von aus. Der Kühlschrank bietet freie Aussicht auf: nix. Außer nem abgelaufenen Joghurt und etwas, von dem ich nicht genau weiß, was es mal sein wollte: also nada.

Auch der Kaffee ist alle – Katastrophe!!! Kreisch, aber nur ganz leise, weil mein Schädel jetzt Kaffee braucht – dafür würde ich jetzt morden. Ich werde mal bei Sami im Büdchen vorbeischaun, vielleicht lässt er sich erbarmen und rette ein armes Mädchen vor dem Hungertod. Oder spendiert zumindest einen Kaffee, damit ich wieder vernünftig denken kann.

Und dann muss ich mich wohl oder übel wieder in das Café zu Freddi bewegen. Der ist so appetitlich wie ein vollgekotzter Aschenbecher, eklig und schwabbelig. Aber: ich brauch Kohle. Dringend, da gibt es nix zu beschönigen. Miete ist schon wieder fällig, und ich bin sowas von abgebrannt. Der Fuffi, den der erschlaffte Nils, oder wie immer der hieß, zufällig – haha zufällig – verloren hatte, reicht nicht.

Auch der vorherige Monat ist noch nicht bezahlt. Der Triebel war schon mal da und hat ziemlich Stress gemacht. Er hat gedroht, dass er mich vor die Tür setzt, wenn jetzt nicht die gesamte Miete da ist. Aber wenn ich die Kohle doch nicht habe? Ich weiß nicht was ich machen soll. Schau’n wir mal, was der Tag bringt.

Der Job im Café und das, was ich da verdiene, ist doch kaum fürs Überleben. Oder genauer gesagt, es langt auf keinen Fall. Die anderen Jobs bisher waren auch nicht das Gelbe vom Ei, aber zumindest ohne den Grabscher Freddi. Hätt ich besser mal gemacht. Als Bedienung im Café zu arbeiten, ist zumindest praktisch, weil ich mir so das Einkaufen spare. Immer wenn Freddi nicht schaut, hau ich mir die Wampe voll. Und – Tupper sei Dank – kommt auch schon mal was mit nach Hause. Ich darf mich nur nicht erwischen lassen. Da kennt Freddi echt keine Gnade. Aber der will mir eh immer nur an die Wäsche. Nach seiner Vorstellung müsste ich halbnackt bedienen. Gut fürs Geschäft, meint er immer, aber bestimmt wäre es das, was er für sich selber gut fände. Die laszive, willige Jo, die ihm einen … Kaffee holt.

Aber der Job allein reicht trotzdem einfach nicht. Und von Studium ganz zu schweigen. Das war ja eher ne Flucht nach Köln – raus aus dem Scheiß zu Hause. Meine Eltern will ich nicht anpumpen, eher würde ich mir die Finger einzeln abhacken, bevor ich mich da noch mal melde. Die würden verlangen, dass ich wieder zu Hause einziehe, Kinderzimmer, Familienstress und so. Never ever.

Mama säuft und Papa bekommt wieder cholerische Anfälle. Mama versucht sich aus allem herauszuhalten und säuft sich alles schön oder macht besoffen die Augen zu.

Vielleicht erst mal klar im Kopf werden und was zum Futtern suchen.

Büdchen

Sonntage sind so – ich weiß nicht – ein bisschen wie der Zieleinlauf nach einem Marathon. Die Freitags-Partys und das Samstag-Saufen sind geschafft. Die Luft ist raus, alle taumeln über die Zülpicher Straße und warten mehr oder weniger auf den Montag. Jeder versucht, sich nach einer langen Samstagnacht durch den freien Sonntag zu mogeln.

Und dann der Sonntagvormittag – die letzten Überlebenden der Nacht aus dem Venuskeller oder der Barbarossa-Schänke. Fast schon verschwunden oder noch immer da, leicht schwankend, mit einer Bierflasche in der Hand. Eigentlich sind sie längst fertig, kaputt, hinüber – sie wissen es nur noch nicht. Sie sollten nach Hause oder wollten es zumindest mal. Aber vielleicht ist es dort genauso öde, wie morgens um elf vor der Kneipe zu stehen, die langsam die Rollläden herunterlässt.

Natürlich gibt es auch die anderen. Die, die Samstag nicht unterwegs waren und ein geregeltes Leben führen. Die mit dem Hund raus müssen oder den Sonntag für einen Spaziergang, ein Museum oder sonst etwas Biederes nutzen. Doch diese beiden Welten haben kaum Berührungspunkte. Während die einen noch versuchen, sich wieder klar zu bekommen oder herauszufinden, wo sie nach der Nacht überhaupt gewesen sind, treiben die anderen wie in einem Paralleluniversum an ihnen vorbei. Keine Schnittmengen, keine gemeinsamen Ziele oder Bedürfnisse.

Die, die jetzt noch etwas aus einem Büdchen bräuchten, werden bei mir nicht fündig. Dabei gibt es verschiedene Arten von Büdchen. Früher, als der Einzelhandel um 14 Uhr schloss, hatten wir die wichtigsten Kleinigkeiten, die die Mutti oder der Vati vergessen hatten einzukaufen: Seife, Windeln, ein paar Konserven, Toilettenpapier.

Früher – das klingt jetzt wie ein Satz von den Großeltern, aber es ist gerade mal 30 Jahre her. Damals gab es noch klare Geschäftszeiten. Samstags bis 14 Uhr, dann war Schluss. Wer danach etwas vergessen hatte, hatte Pech. Oder kam zu mir. Ein Büdchen um die Ecke hatte alles – von der Windel über Waschmittel, ein Stück Butter, Briefmarken, Reis, Mehl, Milch oder eine Dose Ravioli.

Aber das hat sich geändert. Der Einzelhandel hat bis in die Puppen geöffnet – es gibt keinen Bedarf mehr für uns als „Notanker der Nation“. Heute läuft es auf Alkohol, Knabbereien und Kippen hinaus. Oder darauf, Pakete anzunehmen und auszugeben, weil die Leute nie zu Hause sind, wenn der Bote klingelt.

Ich bin ein Büdchen in der harten Kampfzone des Nachtlebens. Hier kommt keiner her, um eine Packung Tortellini zu kaufen. Hier gibt es Alkohol und Kippen für die, die zu bequem sind, bis zum nächsten Supermarkt zu laufen.

Die, die mit dem Hund rausgehen, kaufen vielleicht eine Schachtel Zigaretten und eine Zeitung. Ich bin auch irgendwie auf den Hund gekommen.

Das Sortiment ist überschaubar. Links an der Wand fünf große Kühlschränke mit Bier in verschiedenen Sorten und Größen. Hinter der Theke alles für die Raucher. Rechts noch mal fünf Kühlschränke mit Softdrinks, Wein und Flachmännern – natürlich auch gekühlt.

Dazwischen zwei kleine Kühltheken mit ein bisschen Eis und anderem Kram. Und nicht zu vergessen: Süßigkeiten und Chips. Vor der Tür, weil drinnen kein Platz mehr ist, zwei Ständer mit Zeitungen – FAZ, SZ, Stadtanzeiger und manchmal die Jüdische Allgemeine.

Früher war ein Büdchen ein Treffpunkt – wie im Ruhrpott die Trinkhalle als Anlaufpunkt nach der Schicht unter Tage. Der Ort, an dem der Arbeiter ein Bier trank, sich mit der Nachbarschaft austauschte, den neuesten Klatsch hörte und dann nach Hause ging, um sich vor den Fernseher zu setzen. Zur Frikadelle oder fetten Currywurst gab es kostenlos die fetten Nachrichten aus dem Viertel. Heute kommt der Klatsch aus dem Internet – so spannend wie feuchtes Popcorn.

Ich mache mir nichts mehr vor: Unsere Zeit ist eigentlich vorbei. Unsere Funktion als sozialer Kristallisationspunkt eines Viertels ist Geschichte. Wir verändern uns, wir degenerieren. Was früher der Marktplatz war, der Ort, an dem sich Menschen trafen, existiert nicht mehr. Wir sind ein Echo von früher.

Heute passiert die Begegnung nur noch flüchtig im Vorbeigehen. Ein „Hallo“, eine WhatsApp-Nachricht – das war’s.

Aber es gibt Ausnahmen. Manchmal sind wir doch noch ein Anlaufpunkt. Aber nicht wegen mir – dem Kommunikationspunkt im Viertel – sondern wegen der Menschen, die hier arbeiten. Die, die noch jemanden kennen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Sami

An diesem Morgen war es wirklich ruhig. Zweimal Kippen, dreimal Zeitung. Alles Rentner, mit und ohne Köter.

Sami hinter der Theke bekam kaum noch die Augen auf. Aber nach einer Schicht war der meist eh so abgestumpft, da hätte jemand nackt hereinkommen können, er hätte wahrscheinlich nicht mal hochgeblickt. Der Strubbelkopp Jo war dagegen mal wieder eine Abwechslung und sein heimlicher Favorit. Sie sah etwas übernächtigt aus, aber in dem Alter war das meist nach einer Stunde wieder weg. 19, höchstens 24 Jahre, zierlich, aber mit zu viel Körperspannung – wie eine gespannte Feder.

Sie kam hereingesaust und legte direkt los. „Hi Sami, alles klar bei dir? Wie läufts? Wie war der Tag?“

Sami hob den Kopf, sagte nichts, zuckte nur mit den Schultern. Jo lehnte sich auf die Theke. „Mann war das ne Nacht, voll öde und langweilig. Ich war im Shell, Luxor wäre geil gewesen, aber da war wieder irgendwas mit Eintritt und die wollten mich nich so reinlassen. Voll die Kapitalisten. Hab aber grad nix. Aber im Shell, immer das Gleiche und die Typen, wää, alles voller oller Spießer und Betriebswirtschaft-Studis, weißt du, die mit dem Kuli im Hemd und ner Frisur wie von Mami geschnibbelt. Sag mal, kannst du mir noch mal nen Zwanni oder mehr leihen? Ich bin echt voll im Eimer. Und wenns nich geht, dann gehts halt nich. Aber nen Kaffee is doch immer drin, oder? Und vielleicht was zu futtern? Sag doch auch mal was.“

Sami seufzte. „Moin Jo.“ Er griff unter den Tresen und zog seine Vorräte heraus. Er nahm den Bagel, der eigentlich sein Frühstück und Mittagessen werden sollte, und schob ihn stumm Jo über die Theke hinüber.

„Ich würde dir gern was leihen, aber erstens ist gerade wieder Steuer angesagt, der Laden hier ist echt keine Goldgrube, das Finanzamt sieht das aber natürlich immer anders, und zweitens schuldest du mir schon gut achthundert. Ich sag das ja nur, damit du verstehst, was Sache ist. Sonst würd ich dir gern helfen.“

Jo verdrehte die Augen. „Ja, ich weiß, läuft halt nicht so mit der Jobsuche. Für Studenten ist momentan ne scheiß Zeit. Ich geh nachher wieder ins Café, aber das reißt mich jetzt auch nicht so richtig aus den Miesen.“

„Was ist denn mit dem Studium und deinen Eltern? Kannst du die nich anpumpen?“

„Bloß nicht, schlechte Idee. Gaaanz schlechte Idee.“

Sami schob ihr einen Kaffee über die Theke. „Aber du musst langsam mal was machen, das geht doch nicht so weiter. Du hängst nur noch rum, abends ins Shell, Luxor oder Schmelztiegel. Ich könnte mir das nicht leisten. Wie schaffst du es denn, deine Wohnung zu bezahlen? Ich mach mir langsam Sorgen um dich.“

„Du hast ja recht, es ist gerade echt kompliziert. Ich häng hinten dran mit der Miete. Und wenn mein Deckel im Shell Bargeld wäre, könnte ich damit locker die Miete zahlen. Und hoffe die ganze Zeit, dass der Vermieter mich nich rauskickt. Ich bin ja nur ein nicht gemeldeter Untermieter. Kein Vertrag, keine Rechte, ‚hire and fire‘. Darum war das auch etwas günstiger. Wat der Kölner unter ‚jünstisch‘ versteht … Aber sicher is das nicht – nur wenn ich Kohle rüberschiebe, dann ist es sicher. Oder der Vermieter überlegt sich, dass er noch mehr will. Der versteuert das garantiert nicht. Keine Überweisung, bitte alles immer in bar. Das kotzt mich an. Löhnen, aber bloß nicht aufmucken. Heizung war letzte Woche wieder kaputt. Bibber, kann ich dir sagen. Kann mir aber auch egal sein, weil für mich ist es bezahlbar. Also so eigentlich relativ nich. Momentan eben gar nicht.“

„Mit anderen Worten, du bist praktisch schon rausgeflogen, oder? Werd mal erwachsen und kümmer dich drum. Red mit dem Vermieter. Sich totstellen ist ne echt doofe Idee.“

„Jetzt klingst du wie son Oberlehrer.“

„Ich mein ja nur, was wenn der dich rauswirft? Hast du denn nen Plan B? Oder ziehst du unter ne Brücke zu den Pennern?“

Jo inhalierte den Kaffee, fluchte, weil er noch zu heiß war, und sagte: „Ehrlich gesagt, nö. Ich weiß es nicht. Kann ich denn bei dir …“

„Auf keinen Fall – ich mag dich, du bist ne liebe Freundin, aber das geht momentan echt nicht. Ich lebe in einem Wohnklo – wenn mich jemand besucht und rein will, muss ich erst mal rausgehen. Tut mir wirklich leid – es geht nicht. Hätte ich Platz, du könntest sofort bei mir einziehen. Aber ich kann mich ja mal umhören.“

Jo strahlte ihn an. „Das würdest du für mich machen? Echt?“

„Ja, wir sind zwar nicht Familie, aber dir helfe ich gern. Aber mach dir nicht allzu viel Hoffnung. Köln ist einfach teuer und Wohnungen so selten wie freie Parkplätze. Nee, noch seltener. Das wird schwer. Hast du denn keinen, wo du eventuell mal für ne Zeit pennen kannst?“

„Nee, grad nich. Und die Typen, die ab und an am Start sind, nee, wirklich nich – bei denen will ich nicht einziehen, da such ich mir lieber ne Parkbank.“

„Warm genug ist es ja jetzt. Was ist denn mit Sozialamt und Wohnungsamt? Wenn du schon keine Kohle hast, dann müsstest du doch Zuschüsse und Hilfe bekommen.“

„Gaaanz schlechte Idee! Mit denen möchte ich aus diversen Gründen nix zu tun haben. Die fragen dann wieder nach Familie, Eltern, Bafög und den ganzen Rotz. Das geht gar nicht! Nada, niente. Da möchte ich gern unterm Radar bleiben und schön unauffällig bleiben.“

„Wie, warum das denn nicht? Was sollen die dir denn? Studentin, keine Kohle, da biste ja nicht allein. Haste ne Bank ausgeraubt?“

„Quatsch, aber das erzähl ich dir ein andermal, nicht bös sein. Das ist jetzt nicht der richtige Platz und auch nicht die richtige Zeit. Mir dröhnt immer noch der Schädel. Kann ich noch nen Kaffee haben?“

Sami nahm den Becher zurück und füllte ihn erneut.

„Ich vertrau dir, du bist einer der wenigen, der nicht immer direkt die moralische Keule rausholt und einen in Schubladen steckt. Ich muss jetzt mal versuchen, etwas Geld aufzutreiben.“

„Das Moloko?“

„Mhm“

„Zahlt der, der Matzner, richtig? Also real, in Cash? Ist ein komischer Kerl. Mir ist der nicht sympathisch. Wenn der hier war, hab ich immer das Gefühl, ich muss mir gründlich die Hände waschen.“

„Wenn er zahlt, dann gibts da schon Kohle, aber immer nur direkt auf die Hand und so – du verstehst? Also immer nett sein und artig Knicks machen, sonst hat er vergessen, dass du existierst, und es gibt nix.“

„Dann such dir doch nen vernünftigen Job …“

Jo schob den in Rekordzeit geleerten Becher zurück. Sami kramte in seiner Hosentasche einen Geldschein hervor, faltete ihn auseinander und drückte ihn Jo in die Hand. „Mehr geht grad nicht. Du weißt, wie das ist.“

„Ach Sami, du bist so ein Schatz. Auf dich kann man sich verlassen. Das vergess ich dir nicht.“

Sie schnappte sich den Bagel, warf Sami noch eine Kusshand zu und war mit einem Tschüss in einem Wirbel wieder hinaus. Ein Banküberfall hätte nicht schneller sein können. Jedenfalls saufen Bankräuber keinen Kaffee und ziehen anderen nicht den Bagel ab.

Büdchen

Manchen Menschen sieht man schon an, wenn sie hereinkommen, dass sie in erster Linie ein Gespräch suchen – auch wenn es noch so kurz ist. Da werden Dinge wie ‚is aber ruhig heute‘, ‚du bist ja schon wieder am arbeiten‘ und so weiter als Gesprächsstart heraus gekramt, nur um mal etwas am Tag zu sagen.

Man kann sich vorstellen, da sitzen die den ganzen Tag zu Hause, vielleicht auch noch vor dem Fernseher oder zappen durch das Internet und sind stumm. Irgendwann fällt ihnen auf, dass heute noch kein Wort über ihre Lippen gekommen ist. Sie gehen noch mal Sicherheitspipi machen, räuspern sich, versuchen vielleicht vor dem Badezimmerspiegel einen Satz, stoppen, räuspern sich erneut, probieren es noch mal. Die Zunge muss erst locker gemacht werden. Sie überlegen, was man jetzt anzieht, es könnte ja ein Schneesturm kommen, ist auch die Tasche dabei? Ja – dann kann es losgehen. Operation Sozialkontakt.

Man geht die paar Treppen runter, über die Straße, Augen links und rechts, keinen getroffen, den man kennt, und ab ins Büdchen, quasi ‚low level Sozialkontakt‘. Man sagt das zuvor geprobte Sätzlein übers Wetter und scheitert dann grandios an Sami. Ein Dialog sieht dann so aus:

„Das wird morgen aber ein toller Tag, es soll ja richtig sonnig werden.“

Und dann eine Zeitung auswählen, irgendwas muss ja in die Hand genommen und gekauft werden.

Sami blickt kurz auf die Zeitung, „Drei achtzig“, und sedimentiert wieder hinter seinem kleinen Tresen in sich zusammen. Das Gespräch ist eigentlich gelaufen. Zumindest für Sami.

„Für Mai ist es ja schon richtig warm. Bei Ihnen isses immer so warm, kommt von den Kühlschränken, oder? Da wären Sie bestimmt auch mal gern draußen, oder? Mir wäre das ja zu warm auf die Dauer.“

Die Sätze werden heruntergehaspelt, um ja alles zu sagen, was man sich zu Hause zurechtgelegt hat. Sami schaut auf sein Handy, auf eine lang geübte Weise, wie ein todwundes Tier, das gleich verendet.

„Ja, dann noch einen schönen Tag noch.“

Sami gibt ein Geräusch von sich, das auch ein Husten oder Räuspern sein könnte.

Der Kunde geht und nichts deutet darauf hin, dass sich etwas getan hätte.

So findet der Versuch, einen Sozialkontakt aufzubauen, ein stilles Ende. Aber man hat etwas gesagt, man hat sich vor die Tür getraut und hat eine soziale Interaktion probiert. Toll, nicht wahr?

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als ich eröffnet wurde. Es war Anfang der 50er Jahre, die Straßen waren belebt, die Menschen kämpften noch mit der Nachkriegsversorgung.

Besonders die Milch, Supermärkte waren noch nicht erfunden, war wegen fehlender Kühlketten nicht so leicht zu bekommen wie heute.

Die ‚Gemeinnützige Gesellschaft für Milchausschank‘ machte ab 1904 Verkaufsstellen auf. Hier konnte man für wenig Geld Milch kaufen. Die Witwen und alleinstehenden Frauen, die diese Stellen betrieben, gaben dem Ganzen einen gewissen Charme. Sie sorgten dafür, dass ich ein Ort des Austauschs und der Begegnung wurde. Kein schnöder Verkaufsstand, sondern ein Platz, an dem die Menschen sich trafen und miteinander sprachen.

Mit den Jahren änderte sich das. In den 60ern war Milch längst nicht mehr so gefragt, andere Waren wurden über meine Ladentheke geschoben. Kuchen, Brötchen und Alkohol fanden ihren Weg in mein Sortiment. Die Leute kamen, um ihre Zigaretten zu holen, eine Zeitung oder auch mal ein Bier. Ich wurde zu dem, was man heute als Büdchen kennt – ein Ort, an dem es alles Mögliche gibt, und das auch nach den Öffnungszeiten des Einzelhandels. Und man konnte nach der Arbeit die wichtigsten Neuigkeiten aus dem Viertel aufschnappen.

Ich habe mich dadurch stark verändert. Ich wurde zu einem wichtigen Teil des städtischen Lebens, einer kleinen, aber unverzichtbaren Institution, die sich den Bedürfnissen der Menschen immer wieder anpasste.

Ich merke, dass die Kunden sich in den Jahrzehnten verändert haben. Das gesellschaftliche Zusammenleben, der Stil, wie man miteinander umgeht, das hat sich deutlich geändert.

Das, was früher ‚das Viertel‘, heute ‚die Hood‘ ausmacht, verändert sich.

Rousseau hat schon 1755 in seinem Buch ‚Diskurs über die Ungleichheit‘ über die zivile Gesellschaft gesprochen. Er beschreibt den Menschen als frei, unabhängig und friedlich. Die Menschen seien von Natur aus gut und würden nach ihren Grundbedürfnissen handeln. Gesellschaftliche Normen oder Besitzdenken erst mal Fehlanzeige. Mit der Entstehung von Eigentum und Gesellschaftsstrukturen in der Stadt sieht er die Entstehung von Ungleichheit und sozialer Entfremdung. Die zivilisierte Gesellschaft ‚korrumpiere den Menschen‘, insbesondere durch das Streben nach Anerkennung und Besitz. Hah – ich wusste es. Der erste Marxist! Diese Entwicklung führt zu sozialer Ungerechtigkeit und Konkurrenzdenken.

Rousseau plädiert für ein ‚zurück zur Natur’ und kritisiert die negativen Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklung auf die menschliche Freiheit und das individuelle Glück. Nicht nur Marxist, auch noch ein Grüner!

Klar, kann man alles machen, aber wer will heute auf Kühlschrank und Internet verzichten? Ich glaube, sein Ansatz lässt sich heute nicht mehr halten – bis vielleicht auf die, die wirklich aussteigen und nackt in einer Lehmhöhle in der Pampa leben wollen.

Wenn ich mir meine Kunden ansehe, dann sehe ich immer noch den Wunsch, Gemeinsamkeit zu erleben. Und sei es nur für ein paar Sekunden, die der Kauf von zwei Flaschen Bier für den Abend mit sich bringt.

Sami ist da sicherlich nicht der ideale Partner für Gemeinsamkeit. Aber einen Versuch war es zumindest wert.

Carlo | Zuhause

Kater motzt mal wieder, weil er nicht das zum Fressen bekommt, was er am liebsten hat. Das kann ich jetzt nicht ändern. Sonntag, Geschäfte zu. Fertig. Also hungern oder fressen. Dass Katzen aber auch immer diese Attitüde heraushängen lassen müssen, so snobistisch und so. Ich mache auch nicht so ein Gewese, wenn mal das Brötchen einen Tag alt ist oder wenn es nicht das Brot gibt, das ich gern esse. Aber nein, Kater tut so, als wollte ich ihn vergiften. Ein Blick wie ‚du meinst das wirklich ernst? Das soll ich essen? Kumpel, ich könnte sterben – da sind bestimmt die ganzen schlimmen Zusatzstoffe drin …‘ sagt alles.

Fehlt jetzt nur noch, dass er wie eine Dramaqueen zusammenbricht und vorgibt, den Hungertod zu sterben. Bisschen abnehmen könnte dem fetten Vieh auch nicht schaden.

Jetzt ist er beleidigt abgezogen. Ich glaube, er hat sich zum Hungern entschieden. Oder er fängt später mit dem Terror an, also erst sich auf die Tastatur legen, dann vielleicht aufräumen und etwas herunterwerfen. Das ganze Repertoire des Katzenterrorismus, den er bestens drauf hat. Von Ignorieren bis totale Verachtung hat Kater das alles perfektioniert. Oder die ganz große Geste: ich scheiß auf dich und dann auf deinen Teppich.

Okay, wenn er nicht will, seine Sache. Ich habe die stärkeren Nerven. Ich sitze erst mal entspannt an meinem Küchentisch und trinke meinen Morgenkaffee. Das Fenster zur Zülpicher ist auf und die Sonne scheint rein. Es wird wohl wieder ein warmer Tag.

Aber ich muss noch ein paar Dinge ausarbeiten, damit der Montag nicht voll im Stress beginnt. Jetzt zwei bis drei Stunden das Projekt vorbereiten. Bringt mir am Montag mindestens bis Nachmittag etwas Luft. Dann kann sich Meier wieder aufplustern und ich lasse ihm die Luft raus und lege ihm die fertige Planung hin.

Eigentlich ist das Wetter zu schön, um zu arbeiten. Ich könnte mich auch gegenüber in das Café setzen und dort arbeiten. Dann kann Kater sich hier austoben und aufregen. Die Bedienung im Café ist auch nett, wenn sie denn heute arbeitet.

Aber vielleicht lenkt das zu sehr ab? Also das Café, nicht die Bedienung. Die ist aber auch wirklich nett. Etwas kopflos manchmal, manchmal impulsiv, immer in Aktion. Aber das, was sie macht, macht sie mit Leidenschaft. Der Kaffee ist prima, da kann man nicht meckern. Und immer einen flotten Spruch drauf. Und wenn sie dann durch das Café flitzt, die Locken immer in irgendeiner gerade angesagten Farbe gefärbt, und dann lässige Klamotten. Wie alt die wohl ist? Ich schätze mal Uni, erstes oder zweites Semester, also so um die 20-22 Jahre? Also, wenn ich drüber nachdenke, das Café lenkt nicht ab. Da kann ich gut arbeiten. Die hat den Laden echt im Griff, alle Achtung.

Ich glaube, ich mach das. Und wenn ich nicht fertig werde, ist das auch egal. Meier wird morgen wieder schlechte Laune haben und herummosern, egal, wie weit ich komme. Und Kater ist schon auf Motztour. Ob die heute bedient?

Ich muss nur den Laptop einpacken und dann kann der Arbeitstag starten. Treppen runter, schräg über die Straße und dann ins Moloko. 

Die haben bestimmt schon in Erwartung des warmen Wetters alles an Türen und Fenstern aufgerissen. Auf der einen Seite nett, weil es dann luftig ist, aber die Zülpicher ist nicht gerade eine Oase der Ruhe. Straßenbahn, Autos und Horden von Fahrradfahrern, die meisten auf dem Weg in die Uni. Und das Stück für die Fußgänger ist schmal. Wenn du da draußen an einem Tisch sitzt, musst du schon deine Füße bei dir behalten, sonst stolpern andere drüber, oder einer dieser irren Rollerfahrer kracht in dich rein. Also so in etwa. Bestimmt arbeitet die heute, die ist ja oft da.

Ich setze mich immer hinten ins Café. Den Trubel der Straße brauche ich nicht, das kann ich auch von meinem Fenster aus haben. Ich nehme meistens den Tisch hinten, an der Rückwand des Cafés. Da hat man seine Ruhe, auch wenn es daneben in die Küche geht. Aber da gibt es Strom und es ist einfach etwas geborgener. Und du hast von da einen prima Überblick über das ganze Geschehen.

Von dort kann ich gut die Theke sehen, und auch etwas in die Küche hinein. Was weniger schön ist, ist der Besitzer. Oder ist das nur der Chef? Keine Ahnung. Ständig zetert der herum. Das ist auch so ein schmieriger Meier. Nichts ist recht, alles zu spät, zu langsam, nicht aufmerksam und so. Der nervt.

Büdchen

Aber wie ist das Zusammenleben in der Großstadt, wie hat sich das verändert? Wie war das mit dem Wunsch nach Gemeinschaft?

Die Stadt ist kein kleines Dorf. Strukturen, die es einmal auf dem Land oder in kleinen Gemeinden gegeben hat, funktionieren in der Stadt nicht, genauer gesagt haben sich erst gar nicht etabliert.

Aber der Wunsch nach Gemeinschaft, dem Viertel, der Hood, ist noch da. Man identifiziert sich über die Ecke, wo man wohnt, wo man einkauft, welche Geschäfte man frequentiert. Das Stadtviertel bestimmt den Stil.

Man will zu etwas gehören, auch wenn man mit den Menschen im Viertel wenig oder gar keinen direkten Kontakt hat. Aber jeder wird dir klar und mit fester Stimme sagen, dass er aus der Südstadt kommt, aus Ehrenfeld oder Bickendorf. Es ist fast so wie: ‚Ich komme aus dem Dorf dahinten‘.

Und diese Grenzen sind tatsächlich spürbar. Es sind nicht nur Unterschiede in Geschäften und Häusern, die Grenzen erahnen lassen. Teilweise sind es auch Sprache und Redewendungen, die sich von Viertel zu Viertel verändern. Nicht stark, aber es gibt Nuancen, die dem – in diesem Fall Kölner – signalisieren: Du hast dein Viertel verlassen, Achtung, fremdes Gebiet. Hic sunt dracones.

Man hätte jetzt vermuten können, dass die Bindung an ein Viertel deutlich in Form von sozialer Interaktion zum Ausdruck gebracht wird. Stattdessen finden ganz andere Prozesse statt.

Die gegenständliche Bindung an ein Viertel wird gegen eine virtuelle getauscht.

Das Viertel wird nicht dadurch gelebt, dass man sein Viertel real erlebt, vieles passiert in digitaler Form. Es entstehen virtuelle Viertel, ähnlich der Gruppen in Facebook, Instagram, Discord, Slack oder, oder. Aber die digitale Kommunikation, auch wenn sie so viele Vorteile mit sich bringt, ist trotz allem eine eher blutleere Angelegenheit, die eine echte reale Unterhaltung nicht ersetzen kann.

Ich habe früher mehr mitbekommen. Die Kunden kamen rein, es wurde über den Jupp gelästert, was die Luzie wieder gesagt hat, wer alles fremdging, wer nachts schon mal besoffen an der falschen Tür klopfte. Kurz, was im Zwischenmenschlichen so alles passierte.

Da formte sich in meinem Kopf ein Bild einer Umgebung, die durch Personen, Schicksale und Ereignisse definiert wurde. Wie Landmarken, die einem die Orientierung in einer teilweise unbekannten Landschaft erleichtern. Stecknadeln auf einer Übersichtskarte, durch Ereignisse und Personen unsichtbar verbunden und zusammengehalten.

Da hinten, da, wo früher der Metzger war, der immer im Winter ein Wildschwein an der Tür hängen hatte, daneben wohnte dieser seltsame Klavierlehrer, zu dem die Mädchen aus besserem Haus marschierten. Jetzt ist der Metzger weg, in den Räumen haust ein kleines Architekturbüro, und der Klavierlehrer ist gestorben.

Landmarken haben sich schon immer verschoben. Manche verschwanden, wurden verlegt oder es kamen neue hinzu.

Heute werden diese Marken immer weniger, weil niemand mehr das Büdchen zum Update von Informationen nutzt. Klar, es gibt immer noch die ein oder andere, teilweise saftige Neuigkeit, aber mehr und mehr werden meine Landmarken weniger und es sind nur noch Informationen, die nur Alteingesessenen etwas sagen: ‚Das ist da, wo früher der Müller wohnte, der mit dem Holzbein.‘ Die Landmarken verblassen, weil immer weniger den Herrn Müller kannten und andere mit dieser Information auch gar nichts mehr anfangen können. Die Landkarte wird immer leerer.

Und die Menschen? Sie laufen durch diese Stadt, haben ihre Wohnung und ihr sogenanntes Umfeld, ihre ‚Hood‘, in dem sie sich weitgehend sicher bewegen. Sie sind vereinzelt, leben als Single, sehnen sich aber in der Regel nach dem, was den Menschen früher ausgemacht hat: Gemeinschaft.

Hier in Köln leben mehr Singles als Familien, mittlerweile über 50 % der Haushalte sind Singlehaushalte. Alle vereinzelt in kleineren oder größeren Wohnungen. Tendenz steigend.

Wie Schiffe im Nebel ziehen sie durch ihr Gebiet. Sie signalisieren mit meist digitalen Signalen, einem Nebelhorn gleich, ihre Position.

Sie hören auch andere Schiffe, die im Nebel unterwegs sind. Vielleicht auf dem gleichen Weg wie sie auf einen imaginären sicheren Zielhafen zusteuernd oder auf der gerade gleichen Position – aber sehen können sie tatsächlich niemanden.

Sie hören die anderen, denken sich, dass sie nicht allein sind und das gibt ihnen ein wenig Sicherheit. Weil sie jetzt wissen, dass da draußen andere unterwegs sein müssen, die das Gleiche suchen wie sie.

Und gleichzeitig haben sie Angst, dass sie sich zu nahe kommen. Denn ein Zusammentreffen könnte im schlimmsten Fall eine Havarie bedeuten, einer oder beide könnten Beschädigungen erleiden oder Leck schlagen und vielleicht untergehen.

Aber sie sehnen sich nach Nähe und haben gleichzeitig Angst, sich anderen weiter zu nähern. So treiben sie lautlos durch die Nacht und den Nebel, hören die anderen rufen. Vielleicht antwortet einer, was ihnen bestätigt, dass sie gehört und wahrgenommen wurden. Sie rufen – und bleiben doch allein.

Lediglich das Wissen, dass dort draußen andere sind, die auch suchen, tröstet etwas. Nicht viel, aber etwas. Und vielleicht lichtet sich auch der Nebel, irgendwann.

Vielleicht müssen wir alle auch etwas mutiger werden, genauer hinhören und uns langsam an andere Schiffe herantasten. Vielleicht ist der Nebel auch nicht so dicht, wie wir annehmen, und wir könnten uns mit langsamer Fahrt anderen Schiffen vorsichtig nähern. Bei Gefahr können wir immer noch abdrehen und uns wieder im Nebel verstecken.

Aber für Nähe bedarf es Mut. Mut, sich auf ein Wagnis einzulassen, um gegebenenfalls versenkt zu werden.

Die Stadt ist wie ein Meer, mit Riffen und Sandbänken, mit Häfen und Buchten. Wir navigieren nach Gehör, vielleicht nach Karten. Doch im Nebel sind wir alle gleich. Allein und auf der Suche nach Sicherheit.

Amira

Langsam wird es Sommer. Juni. Aber vor dem Ofen ist immer Sommer – wie in Tunesien. Anstrengend und doch eine Erinnerung an die Heimat, wenn die Luft flirrt und man sich gern im Schatten trifft und sich unterhält. Das vermisse ich. Hier ist immer alles so hektisch, dass man kaum zum Reden kommt, außer dem Nötigsten. Zu Hause war auch immer viel zu tun, aber trotzdem war es entspannter. Keine Ahnung, woran das liegt. Tunesien, das ist jetzt auch schon so lange her, dass es fast unwirklich erscheint.

Heute ist Montag. Da ist es ruhiger. Freitag und Samstag sind die stressigsten Tage. Niemand kocht mehr selbst, alle holen sich Pizza oder Döner.

Manche Kunden kenne ich schon ewig. Ich weiß, was sie immer bestellen. Sie freuen sich, wenn ich mich erinnere und direkt frage: „Wie immer Pizza Napoli und gemischter Salat ohne Dressing?“ Dann lachen sie, nicken, sagen: „Ja genau!“ Das fühlt sich gut an.

Jo dagegen ist anders als die meisten hier. Sie redet schnell, hat immer einen Spruch auf den Lippen, als ob sie die Welt nicht ganz ernst nimmt – oder sie nicht zu nah an sich heranlässt. Ich muss dann schon mal nachfragen, was sie meint. Du fragst nach, und sie ist schon bei einem ganz anderen Thema. Manchmal wirkt sie, als wäre sie überall gleichzeitig und nirgends richtig angekommen. Aber sie ist nett. Direkt. Kein falsches Lächeln, sondern echt.

Sie macht viel Blödsinn, aber sie ist schlau. Ich glaube, sie könnte aus ihrem Leben viel mehr machen, wenn sie nicht immer gegen alles kämpfen müsste. Sie erinnert mich an jemanden, der in einem Fluss schwimmt – aber immer gegen die Strömung. Manchmal frage ich mich, ob sie sich das Leben nicht leichter machen könnte, wenn sie es wollte.

Wir reden nicht oft über Privates. Sie erzählt wenig richtig Privates, aber ich merke, dass da viel ist, was sie nicht sagt. Vielleicht zu viel. Ich weiß, wie das ist, wenn man Dinge nicht aussprechen will, weil sie dann zu real werden.

Manchmal gebe ich ihr eine Pizza aus, wenn sie wieder mal kein Geld hat. Vermutlich ist das dann ihre einzige richtige Mahlzeit am Tag. Sie bedankt sich immer sehr. Das finde ich gut.

Jo hat keine Angst vor mir. Das mag ich. Manche Leute hier behandeln mich wie eine Fremde, obwohl ich ihnen seit Jahren Pizza mache. Jo nicht. Sie sieht mich an, als wäre ich einfach nur Amira, nicht ‚die Frau mit Akzent und dunkler Haut‘, die manchmal nach den richtigen Wörtern sucht, weil sie nicht schnell genug den Weg auf die Zunge finden. Vielleicht ist sie so offen, weil sie selbst nirgendwo richtig dazugehört.

Meine Tochter Jouri ist jetzt fünf und wenn sie mal mitkommen darf und auf Jo trifft, freuen sich beide unbändig. Jouri soll es mal besser haben als ich. Studieren. Eine gute, ehrliche Arbeit finden. Pizza machen ist ehrlich – aber hart. Lange Schichten, von mittags bis zwei Uhr nachts. Da schläft Jouri längst. Dienstag ist mein freier Tag. Da machen wir etwas zusammen. Spielplatz, vielleicht ein Eis. Sie freut sich immer. Und ich auch.

Das Moloko

Auf der Straße legte sie noch einen Zahn zu. Bloß nicht schon wieder zu spät kommen. Dabei übersah sie fast den älteren Herrn mit Stock, den sie fast umnietete. Fast verlor er die unter den Arm geklemmte Zeitung.

„Oh Entschuldigung“, quetschte sie fröhlich zwischen Bagel und Atemnot heraus. Sie warf ihm noch einen Handkuss zu, was ihn sichtlich irritierte. Der ältere Herr richtete sein Jackett und schüttelte nur den Kopf.

Währenddessen kreisten ihre Gedanken immer um das Thema Kohle. Die Jobs, die sie in der letzten Zeit gemacht hatte, die waren mehr oder weniger gut gewesen. Sie endeten, mal im Guten, meist aber schlecht und dann war auf beiden Seiten die Stimmung im Eimer.

Der Job im Café war momentan der Einzige, der ihr sicher war – soweit das überhaupt möglich war.

Der Job in der Sushibar war klasse gewesen. Da hatte eigentlich alles gepasst. Sie eine Menge gelernt; allein vom Zuschauen hatte sie dem alten Koch, der gar kein Deutsch konnte, einiges abgeschaut. Der Sushimeister, und es war wirklich einer,  war ein echter Künstler. Takeshi unterhielt sich oft mit ihm und rief ihn dann ‚Hey, Baka’. Jo wollte aufmerksam sein und Engagement zeigen. Am nächsten Tag grüßte sie ihn fröhlich auch mit ‚Hey Baka, wie gehts?‘ Der Koch schaute sie an, dann Takeshi, es gab einen Moment der Stille, dann brüllten beide vor Lachen. Jo war vollkommen verdattert. Hatte sie das falsch ausgesprochen oder falsch in Erinnerung? Sie versuchte es noch einmal, etwas anders betont. Die folgende Lachsalve war noch schlimmer. Jo war vollkommen irritiert. Takeshi erklärte ihr, dass ‚Baka’, je nach Betonung, freundlich oder grob ‚Dummkopf’ bedeutete. Jo wurde rot wie eine Tomate.

Der Koch kam zu ihr, wischte sich die Tränen aus den Augen, klopfte ihr sanft auf die Schulter und nannte sie dann ‚hei baka-chan’. Und schüttelte sich dann wieder vor Lachen. Irgendwann musste Jo mitlachen. Baka, der eigentlich Haru hieß, zeigte ihr in den folgenden Wochen eine Menge seines Könnens. Sie lernte, welche Konsistenz der Reis haben musste, wie man den Fisch schnitt, wie Gemüse zubereitet werden musste. Sie sog alles wie ein Schwamm auf. Haru war richtig stolz auf sein ‚baka-chan1‘.

Leider war Takeshi, der wirklich ein liebenswerter Inhaber und wundervoller Gastgeber war, etwas nachlässig gewesen und hatte eine mehr als kreative Buchführung an den Tag gelegt. Das hatte eine zufällige Kontrolle des Finanzamts vor Ort ergeben.

Takeshi lachte nur und sagt, dass man das doch alles regeln könne. Das Finanzamt und der Zoll hatten das alles nicht so lustig gefunden und den Laden einfach dichtgemacht. Haru war tieftraurig, dass er seine Schülerin verlor. In einer äußerst großzügigen Geste schenkte er ihr eines seiner Sushimesser. Jo verstand, dass das ein Ausdruck großer Zuneigung und Achtung war. Vorsichtig nahm sie das Messer mit beiden Händen an und verneigte sich tief. Sie bedankte sich höflich mit einem ‚Dōmo arigatō gozaimasu2’. Das hatte sie jedenfalls gelernt. Zumindest hatte Takeshi ihr immer jeden Abend ihren Lohn in die Hand gedrückt. Die Scheine rochen zwar oft nach Fisch, aber Geld stinkt ja bekanntermaßen nicht.

Das ‚Smash‘ – das hätte etwas werden können. Eine Szenekneipe, wie sie im Buche stand. Düster, viel Zeug an die Decke geballert, abgeranzte Einrichtung, urgemütlich, eine lange, runde Theke und viel Stammpublikum. Hinter der Theke fand Jo sich zurecht. Kölsch zapfen, Deckel abrechnen, für andere ein Rotwein und alles, was in einer Eckkneipe, die seit Jahrzehnten bestand, so über die Theke ging. Sie wurde schnell ein Teil der ‚Community’, scherzte mit den Gästen und war ständig in Bewegung. Wo hatte es gehakt, was war nicht rund gelaufen? Sie hatte es bis zuletzt nicht verstanden. Nach gut vier Wochen sagte Frank, der Chef, ein rundlicher, herzensguter Kerl mit schrecklichen O-Beinen, dass sie nicht mehr gebraucht würde. Sie hatte Frank gefragt, der hatte aber nur herumgedruckst, etwas von seiner Frau gemurmelt und ihr dann den Lohn die Hand gedrückt. Mehr als eigentlich ausgemacht gewesen war. Seine Frau Renate, eine eher giftige, vertrocknete Person, die überall ihre Nase hineinsteckte und jeden kontrollierte, war wohl die treibende Kraft gewesen. Jo sprach Frank darauf an, und der gab zu, dass Renate ziemlich eifersüchtig sei und ihm die Hölle heiß gemacht hätte, sie wieder loszuwerden. Zu feste Titten, knackiger Hintern, deutlich jünger als ‚dieses vertrocknete Huhn mit Hängearsch‘, war sie in Renates Augen eine Gefahr für Frank. Sie hatte so einen Lachanfall bekommen bei der Vorstellung, dass sie etwas von Frank wollen könnte, aber Sekunden später war ihr das Lachen im Hals stecken geblieben.

Melvin mit seinen veganen Broten war sofort ein Flop. Andere Jobs folgten und endeten ähnlich. Und so wurden die Jobmöglichkeiten in der Gegend dünner. Übrig blieb das Moloko3 mit Freddi. Die Lage auf der Zülpicher Straße war gut, ein Eckcafé, eine breite Fensterfront, die sich bei gutem Wetter voll öffnen ließ. Für Tische war auf dem Gehweg gerade noch genug Platz. Freddi war der Ansicht, dass drei, vier kleine Tischchen da schon hinpassten. Innen gab es eine schlichte, längere Theke und mehr als ein Dutzend Tische und Tischchen auf zwei Ebenen. Nichts Besonderes, keine Einrichtung mit Flair – eher billig zusammengehauen und nicht sehr gemütlich. Aber die Lage war einfach gut. Mittags wurde das Café gern von den Leuten aus den umliegenden Büros frequentiert, die gegen 12:30 einflogen, einen Salat oder eine Lasagne und ein Wasser verdrückten, danach einen Espresso und wieder verschwanden. Abends war dann eher die Trinkerfraktion vorhanden, die, die etwas essen wollten, bevor sie in die nächste Kneipe zogen.

Moloko – auf den Namen war Freddi so stolz, dass er in seiner Genialität einen Namen aus dem Film ‚Clockwork Orange‘ ausgesucht hatte. Bei ihm war alles genial. Und er war der Genialste von allen auf der Zülpicher. Dachte er jedenfalls von sich. Sie fand den Namen langweilig – und Freddi nur schmierig.

Frieder Matzner, der sich selbst immer Freddi nannte, weil er das dynamisch und jugendlich fand, war früh verfettet. Jedenfalls fand dieser Mittdreißiger, dass er unwiderstehlich war, seine 165 cm und geschätzten 95 Kilo machten ihn in seinen Augen zu einer Sexbombe und zu einem tollen Typen. Dass er jetzt schon kaum noch Haare hatte und die Augen etwas hinter den zu dicken Backen verschwanden, geschenkt. Wenn er lächelte, hatte er Probleme, etwas zu sehen. Er glänzte immer etwas, als wäre er eingeölt, aber das war vermutlich nur die talgige, blasse Haut. Eine dicke braune Warze mit zwei Haaren auf der Wange bezeichnet er immer als Schönheitsfleck. Schönheit liegt halt immer im Auge des Betrachters, dachte sich Jo.

Sie betrat das Café und schwang sich hinter die Theke. Dort hing ihre Schürze. Einmal einwickeln und ‚Jo is ready for everything‘. Die Kaffeemaschine war schon klar. Einer der Stammgäste hatte sich schon an den hintersten Tisch verzogen. Sie wusste, er würde gleich einen Kaffee bestellen. Routiniert bereitete sie seine Bestellung vor.

Aus der Küche trat Freddi auf, lächelte sie an, er hatte ja Publikum. Er ranzte sie leise an. „Du bist zu spät, schöne Johanna, schon wieder.“ Genau genommen waren es knappe fünf Minuten. „Muss ich denn hier alles allein machen? Aufsperren, Tische raus und alles klar machen? Aber die Dame lässt sich mal wieder Zeit. Hast wohl deinen Schönheitsschlaf etwas zu weit ausgedehnt.“

Sie stöhnte innerlich. Er hatte den Schlüssel, er musste aufschließen, weil sie keinen Schlüssel hatte. Die Schiebetüren beiseite zu rollen, das konnte auch dieser Zwerg locker, ohne aus der Puste zu kommen. Sie sagte nichts, räumte stumm die angelieferte Ware, den Kaffee und Brötchen in die Theke. Das dauerte nur einen Augenblick. Sie machte den Job lange genug, dass sie nicht allzu viel Zeit dafür benötigte. Wenn man sich ein wenig konzentrierte, konnte man in so einem Job schon nach einer Woche als Profi gelten. Der Anspruch war nicht hoch, aber sie liebte es, ihre Aufgaben maximal effizient zu erledigen. Den Rest der Waren brachte sie in den Vorratsbereich der Küche.

Freddi schwänzelte ihr hinterher. Die Küche war eng, man kam immer wieder in nicht vermeidbaren Körperkontakt. Freddi moserte weiter, sortierte etwas, drückte sich immer wieder an Jo vorbei, als sei die Küche noch enger. Er stand auf Körperkontakt. „Muss das sein?“, fragte sie genervt. Dieses Spielchen hatten sie schon öfter durchgemacht.

„Was stellst du dich so an? Hier ist es eng, geht nicht anders.“

Sie zwängte sich aus der Küche. Erst mal Bestellungen aufnehmen. Nur Abstand zu der Warze aufbauen. Ein Gast an der Theke war schon in eine Tageszeitung versunken. „Guten Morgen, was darf sein?“, fragte sie freundlich.

„Einen Kaffee.“

„Kommt sofort.“ Sie eilte zu ihrem Stammgast, Carlo hieß der, soviel wusste sie schon. Der sah nett aus, auch wenn er immer etwas schüchtern rüberkam. Dunkle, kurze Haare, vielleicht Mitte dreißig, immer lässig gekleidet. Sie lächelte ihm zu, erleichtert, nicht mehr mit Freddi allein im Café zu sein.

„Morgen Carlo, das war doch richtig, oder?“, sprach sie ihn an.

Carlo blinzelte, schaute sie kurz an, dann schaute er wieder weg. Blickkontakt, das konnte er nicht so richtig, das hatte sie schon gemerkt. Manche Menschen fühlten sich halt dabei unwohl.

„Ja, das ist richtig, ich hätte gern einen Kaffee und ein Ciabatta, das mit Käse.“

„Geht klar, kommt sofort.“

Carlo startete ein eingeübtes Lächeln, klappte seinen Laptop auf und richtete sich sein Büro ein, das heißt, er hängte den Laptop an die Steckdose, verband sich mit dem WLAN des Cafés und startete seine Programme.

Jo stand hinter der Theke, warf die Kaffeemaschine an und machte den Kaffee für den Kunden an der Theke. Sie schob ihm den Kaffee zu und fragte ihn: „Und? Gibts was Wichtiges in der Zeitung? Ich bin bis jetzt nicht zum Lesen gekommen. Magst du vielleicht noch etwas essen? Wir haben ganz frisches Ciabatta mit verschiedensten Leckerchen drauf.“

Sie las grundsätzlich keine Zeitung. Erstens kostete das Geld, dann kostete es Nerven, die ganzen schlechten Nachrichten zu verdauen, und zu guter Letzt interessierte es sie nicht die Bohne. Sie hatte selbst genug Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzen musste, da brauchte sie nicht auch noch die Probleme anderer.

„Nö, das Übliche, Politik, dann wieder weitere Verzögerungen bei der Oper, irgendwer hat gegen eine Fahrradspur geklagt. Also nichts von wirklicher Bedeutung. Aber Ciabatta klingt gut, Käse und Salami, geht das?“

„Klar, mach ich dir, gib mir fünf Minuten. Dann hab ich ja nichts verpasst“, sagte sie und hatte schon den Kaffee für Carlo fertig.

---ENDE DER LESEPROBE---