Nisha und die verschwundenen Jahreszeiten - Josie Pinkman - E-Book

Nisha und die verschwundenen Jahreszeiten E-Book

Josie Pinkman

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Beschreibung

Der vierzehnjährige Nisha lebt in einer Welt, in der die Jahreszeiten auf mysteriöse Weise verschwunden sind. Selbst zahlreiche Wissenschaftler können die Ursache für dieses Phänomen nicht herausfinden. Doch als Nisha eines Tages den schwarzen Kater Fidibus vor dem Ertrinken im eiskalten Fluss des Stadtparks rettet, weiß er noch nicht, auf welch magische Reise das Tier ihn begleiten wird. Wie sich herausstellt, kann Fidibus sprechen. Er glaubt, Nisha sei der Auserwählte. Der Junge mit dem Leuchten in den Augen. Der Junge, der ins Land der Träume reisen und die Jahreszeiten wieder zurück auf die Erde holen soll. Der Einzige, der es mit dem gefährlichen Schattenmann aufnehmen kann.

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Seitenzahl: 225

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für Adam

Inhaltsverzeichnis

Nisha

Fidibus

Der alte Kirschbaum

Der Sandmann

Im Land der Träume

Die Frühlingsfeen

Der Zorn der alten Dame

Die Mirabelleninsel

Die Tür in die Freiheit

Im Zauberwald

Picassos Bilder

Der Kristallkönig

Flöckchen

Grünes Leuchten

Auch Albträume enden irgendwann

Weiße Rosen

Nisha

Unsere Geschichte spielt zu einer Zeit, als die Jahreszeiten auf unerklärliche Weise von unserer Erde verschwunden waren. Noch vor einigen Jahren blühten, an Tagen wie diesem, unzählige Schneeglöckchen im kleinen Hintergarten des Ehepaars George und Ophelia Green. Nach einem langen, kalten Winter läuteten die weißen Blumen den Frühlingsanfang ein, während das Licht der warmen Märzsonne den Garten durchflutete. Ein zauberhafter Anblick, den Ophelia früher so genossen hatte. Sorglos saß sie in der Hollywoodschaukel auf der Terrasse, eingekuschelt in ihrer Wolldecke. Meistens schlürfte sie dazu einen heißen Schwarztee mit Milch und Honig aus ihrer Lieblingstasse.

Auch am heutigen grauen Vormittag tat sie das und trug dabei ihr luftiges Frühlingskleid mit den hübschen Gänseblümchenstickereien. So, als wollte sie sich mit ihrem Ritual dagegen wehren, dass der Frühling auch in diesem Jahr wieder nicht hereinbrechen würde.

Während sich Ophelia ihren Garten in ein blühendes Paradies aus Schneeglöckchen erträumte und dabei an ihrer dampfenden Teetasse nippte, beobachtete sie ihren Mann. George Green grub sich mit Harke und Schaufel durch die Beete und weigerte sich scheinbar genauso, das Ausbleiben des Frühlings kampflos hinzunehmen. Ophelia stellte ihre Tasse auf den Tisch, rückte ihren Dutt zurecht und stieg die drei moosbewachsenen Marmorstufen der Terrasse hinab in das Gärtchen. Mit gerunzelter Stirn lief sie durch das Gras, das nicht mehr grün leuchtete wie früher, sondern trocken war wie Stroh. Sie kniete sich neben ihren Mann und sah ihn besorgt an: „Ich glaube, es ist hoffnungslos, George. Wir verschwenden unsere Zeit. Die Jahreszeiten werden auch in diesem Jahr nicht wiederkommen.“

George wischte sich mit dem Ärmel seines Holzfällerhemdes einige Schweißperlen von der Stirn. Er sah seine Frau durchdringend an und grub sich schweigend weiter durch den Garten. Ophelia wusste, dass er die Hoffnung nicht aufgeben konnte, doch noch eine kleine, grüne Knospe inmitten der staubigen Erde ausfindig zu machen. Ein Seufzer drang aus ihrer Kehle. Sie stieg die Stufen zurück auf die Terrasse, nahm ihr Teeservice vom Tisch und ging in die Küche.

Ophelia und George Green waren arme und bescheidene

Leute. Und doch waren sie glücklich, trotz all der Umstände. Glücklich in ihrem kleinen Haus am Rande der Stadt. Mit dem Hintergarten, in dem schon viel zu lange keine einzige Blume mehr ihren Weg ans Tageslicht gefunden hatte. Wie sie trotzdem so zufrieden sein konnten? Nun. Sie hatten den größten Schatz, den man sich nur wünschen konnte. Und dieser Schatz war ein vierzehnjähriger Junge namens Nisha.

Während Ophelia ihr Geschirr in die Spülmaschine einräumte, kochte das Mittagessen auf dem Herd und wohlduftende Dämpfe nach Curry verbreiteten sich in der Küche. Der dunkle Schatten tauchte ganz plötzlich auf. Wie aus dem Nichts. Auch wenn das Ehepaar ihn nicht bemerkte, war er eindeutig da. Leise wie der Wind flog er durch den Garten. Der Schatten hatte keine wirkliche Form, sondern glich mehr einem dünnen Seidentuch, das sanft durch die Luft geweht wurde. Vorbei am grabenden George, bahnte er sich seinen Weg durch die Terrassentür. In der Küche umflog er Ophelia, die sich gerade über den Herd beugte, um den Eintopf abzuschmecken. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf, als sie einen leichten Luftzug hinter sich verspürte. Sie beachtete es nicht weiter. Von der Küche aus gelangte das Wesen in den Hausflur und schwebte die Holztreppe nach oben. Obwohl es keine der Stufen berührte, gaben sie bei seiner windigen Bewegung leise, knarzende Töne von sich. Am oberen Ende der Treppe angelangt, machte es eine scharfe Linkskurve. Mit einem Windstoß öffnete sich quietschend eine Zimmertür. Für wenige Sekunden nahm das fremdartige Wesen die Form einer menschlichen Silhouette an: Der Schattenmann sah sich in Nishas Zimmer um, als suchte er nach etwas. Schließlich schlich er den gleichen Weg, den er gekommen war, zurück nach draußen. Vorbei am Haus der Familie Green steuerte er die Hofeinfahrt hinunter. Geschickt ließ er sich durch die Gassen treiben. An einer Straßenecke vor einem Kiosk drängte er sich an einer alten Dame vorbei, die sich mit einer Mutter unterhielt. Rhythmisch bewegte die Mutter einen Kinderwagen vor und zurück, um ihr schlafendes Baby zu schaukeln. Dem Langhaardackel der Dame fiel das fremde Wesen sofort auf. Wie auf Kommando fing er lauthals an zu kläffen und weckte damit das Baby, das sofort in das lärmende Hundegebebelle einstimmte und zu weinen anfing. Die Mutter nahm ihr Kind aus dem Wagen und wiegte es zur Beruhigung auf dem Arm. Die alte Frau versuchte ihren Hund zu bändigen und sich gleichzeitig bei der Mutter für das Verhalten ihres Haustieres zu entschuldigen. Keine der beiden Frauen bemerkte den Grund für den plötzlichen Stimmungswandel des Dackels.

Und so steuerte der Schattenmann unbemerkt weiter auf sein Ziel zu - das Schulgebäude der Kleinstadt.

Zur selben Zeit, als Ophelia in der Küche den Herd einige Stufen runterstellte, läutete, wenige Straßen weiter, die Schulglocke das Ende des Schultages ein. Mit dem schrillen Klingelton startete wie auf Kommando lautstarkes Gerede in den Bankreihen. Holzstühle wurden quietschend zurückgeschoben. Die Achtklässler warfen ihre Schulbücher in die Taschen und stürmten aus dem Klassenzimmer, noch ehe Miss Tellus, die junge Biologielehrerin, ihren Satz beendet hatte. Kopfschüttelnd klemmte sie ihre Aktentasche unter den Arm und verließ das Klassenzimmer.

Nur ein schmächtiger Junge blieb auf seinem Platz zurück: Nishas aschbraunes Haar fiel ihm ins Gesicht, während er sorgsam seine Schulbücher in dem alten Lederrucksack verstaute. Seine Mutter hatte ihn auf einem Flohmarkt für Nisha ergattert. Im Augenwinkel sah er plötzlich etwas am Fenster der linken Bankreihen vorbeihuschen. Für einen kurzen Moment wirkte dieses Etwas wie ein Schatten. Gerade als Nisha nachsehen wollte, ob er sich die Bewegung draußen nur eingebildet hatte, wurde er mehr als unsanft durch einen harten Stoß gegen seine rechte Schulter aus seinen Gedanken gerissen.

„Hey Vollidiot! Hast im Unterricht wieder geträumt, was?

Hast ja noch nicht mal geschnallt, dass Miss Tellus dich aufgerufen hat, du Riesentrottel!“ Im selben Atemzug donnerte Dustin McGrowling den Lederrucksack in eine der hinteren Ecken des Klassenzimmers. Nishas Schulbücher verteilten sich, eines nach dem anderen, auf dem Boden.

Der Junge mit den dicken Pausbacken baute sich vor Nisha auf. Donnerdustin, wie ihn seine Klassenkameraden insgeheim nannten, war ein Jahr älter als Nisha. Die beiden gingen seit Anfang des neuen Schuljahres in dieselbe Klasse. Dustin war sitzen geblieben und stolz drauf und er fühlte sich daher aus unerklärlichen Gründen den anderen Achtklässlern gegenüber überlegen. Er hatte es sich vom ersten Tag an zur Aufgabe gemacht, Nisha das Leben so schwer wie möglich zu machen. Niemand konnte sich erklären, warum sich Dustin ausgerechnet ihn zur Zielscheibe ausgesucht hatte. Vermutlich lag es daran, dass Nisha klug war und fast immer die passende Antwort parat hatte, wenn ein Lehrer eine Frage stellte. Dustin wiederrum tat sich in der Schule schwer und obwohl er die Klasse gerade wiederholte, war nicht viel vom Lernstoff des letzten Jahres in seinem Kopf hängengeblieben. Nisha holte schweigend seine Schultasche aus der Ecke, kniete sich auf den Boden und packte ein Buch nach dem anderen erneut in den Rucksack. Wie gewohnt ignorierte er den Jungen mit den strohblonden Ringellocken auf dem Kopf und den unzähligen Sommersprossen im Gesicht, die Nisha an eine Armee aus Feuerameisen erinnerten. Dustin blickte fies grinsend auf ihn herab, in der Hoffnung, eine Reaktion aus ihm herauszulocken. Wenn Nisha seit Beginn des neuen Schuljahres eines gelernt hatte, dann war es, dass man Donnerdustin einfach nicht beachten sollte.

Dustin, dem tatsächlich schnell langweilig wurde, verabschiedete sich von Nisha mit einem erneuten Tritt gegen die Schultasche und zischte ab.

Als der Donnergott verschwunden war, lief Nisha zum Fenster. Er wollte dem Schatten auf den Grund gehen, den er vor wenigen Minuten gesehen hatte. Er suchte den Schulhof mit zusammengekniffenen Augen ab, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken und stimmte Dustin in Gedanken widerwillig zu. Er muss wohl wieder mal geträumt haben. Auf dem Schulgelände war nicht einmal eine Menschenseele zu sehen.

Keiner war da, bis auf die verwilderte Eiche inmitten des Hofs, die selbst die unzähligen Pflastersteine, die sie umgaben, wie das blühende Leben aussehen ließ.

Nisha fragte sich, was so schlimm daran war, sich gelegentlich aus dieser tristen Welt wegträumen zu wollen. Wo er doch in Gedanken jederzeit überall sein konnte. In den buntesten Unterwasserwelten. Oder in den eisigsten Winterwunderländern.

Wie jeden Donnerstag ging er durch den menschenleeren Korridor der Schule, an den Schließfächern vorbei, die alte Steintreppe hinunter, durch die Aula in die Bibliothek. Die Bibliothekarin, Mrs. Libro, war eine Rentnerin mit frechem Kurzhaarschnitt und spitzzulaufender Brille. Sie arbeitete ehrenamtlich zwei Nachmittage in der Woche in der Schulbibliothek. Sie begrüßte den Jungen freundlich: „Na Liebchen, brauchst du schon wieder Nachschub? Ich kenne keinen einzigen Jungen in deinem Alter, der so viele Bücher verschlingt wie du.“

Ein Lächeln schien durch ihre Lippen, während sie über den Rand der Tageszeitung spähte, die sie in ihren Fingern hielt. Jeder einzelne war mit einem pompösen Silberring geschmückt.

Nisha wusste, dass Mrs. Libro ihre Aussage als riesengroßes Kompliment meinte.

„Ich glaube, ich werde Moby Dick noch einmal lesen“, antwortete er.

„Nur zu, sieh dich um, Liebchen! Wer weiß, was sonst noch für verborgene Schätze zwischen den Regalen zu finden sind.“

Nisha holte einige schon durchgelesene Bücher aus seinem Rucksack und legte sie der Bibliothekarin auf den Schreibtisch. Mrs. Libro würde sie später für ihn in Ruhe einsortieren. Die Rentnerin nickte ihm zu und widmete sich wieder ihrer Tageszeitung.

Nisha lief durch die Regalreihen und sog den Duft der alten Bücher ein. Er fand immer, dass die Schulbibliothek ein Ort war, der etwas Magisches an sich hatte. Es war wie Mrs. Libro sagte. Überall in den Reihen, befanden sich Schätze, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Das Wissen und die Fantasie unzähliger Schriftsteller aus vergangenen Zeiten befanden sich in den eingestaubten Bücherregalen und Nisha wurde auf unerklärliche Weise von ihnen angezogen. Besonders mochte er aber, wenn Mrs. Libro neue Bücher beschafft hatte. Er nahm ein nagelneues Exemplar von Moby Dick in die Hände, welches die Bibliothekarin gegen das alte Buch ausgetauscht hatte. Behutsam ließ er die Seiten durch seine Finger gleiten. Der Geruch eines frisch gedruckten Buches war mit nichts zu vergleichen. Selbst Stunden später hatte ihn Nisha noch immer in der Nase. Plötzlich bemerkte er, wie etwas Dunkles durchs offene Fenster in die Bibliothek huschte. Hastig verschwand es hinter den Regalreihen. Nisha stelle das Buch in seiner Hand zurück. Im selben Moment wurden zwei Bücher durch den heftigen Windstoß, den dieses Etwas verursachte, von ihrem Platz im Regal geweht. Nisha sah sich zu Mrs.

Libro um, die tief in ihre Tageszeitung versunken war. Sie hatte nichts bemerkt und wieder fragte sich der Junge, ob ihm seine Fantasie einen Streich spielte. Sein Herz klopfte schneller, als er durch die Regalreihen ging. Er konnte jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken. Er nahm die beiden herabgefallenen Bücher vom Boden und ging zurück zu der Bibliothekarin, die genau notierte, welche Exemplare Nisha auslieh: „Der kleine Prinz und Der geheime Garten. Großartige Wahl!“ Sie packte die Bücher sorgsam in den Rucksack. „Bis nächste Woche, Liebchen!“ Mrs. Libro wackelte zum Abschied mit den Fingern, wobei ihre Silberringe klirrende Töne von sich gaben.

„Schönen Tag!“, verabschiedete sich der Junge und sah beim Verlassen der Bibliothek auf die prunkvolle Schuluhr, die unterhalb der Decke in die Wand der Aula eingebaut war. Verdammt. Schon viertel vor Eins. Er musste sich beeilen, wenn er pünktlich zum Mittagessen zu Hause sein wollte. Hastig machte er sich auf den Heimweg.

Als Nisha das Schulgelände verließ, nahm er die Abkürzung durch den Park. Er überquerte schnellen Schrittes die Straße und ging schnurstracks auf das prunkvolle Eisentor gegenüber dem Schulgebäude zu, das den Eingang des Stadtparkes darstellte. Der Junge lauschte beim Gehen dem Rascheln der Steine des Kieselwegs, der sich durch den gesamten Park zog. Er musterte die morschen Bäume, die schon seit Jahren keine Blätter mehr trugen. Flüchtig nahm er erneut eine Bewegung wahr, direkt hinter dem massiven Kirschbaum inmitten des Parks. Nisha hielt kurz inne, kniff die Augen zusammen und lauschte. Er konnte jedoch nichts Weiteres erkennen, geschweige denn hören. Eine unheimliche und doch mittlerweile so vertraute Stille machte sich breit. Er erinnerte sich an den Klang der Vogelgesänge, die früher durch den gesamten Park hallten, während die Familien auf Picknickdecken saßen. Die Jungs spielten Fußball und die Mädchen saßen im Kreis und flochten Blumenkränze, während sich ihre Eltern ausgelassen unterhielten. Mit dem Verschwinden der Jahreszeiten sind jedoch auch die Vögel nach dem Winter nicht zurückgekehrt.

Das Einzige, das dem Park noch ein wenig Leben einhauchte, war der Fluss, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte und sich durch die gesamte Kleinstadt erstreckte. Er mündete in einem stillgelegenen See, der durch die wenigen Strahlen der Sonne wie Spiegelglas aussah. Die Sonne zeigte sich nur noch sehr selten. Viel zu oft war der Himmel bedeckt von einem trüben, grauen Wolkenfilm, der sich wie ein Nebelschleier über die Erde zog. Beim Anblick des Sees flackerte in Nisha eine schwache Erinnerung auf. Er muss circa sieben Jahre alt gewesen sein. Es war kurz vor Weihnachten und es schneite wie verrückt. Die letzte weiße Weihnacht, wie seine Mutter ihm später erzählte. Er war mit seinen Eltern auf dem Weihnachtsmarkt. Er erinnerte sich an die verschiedenen süßen Gerüche, die in der Luft lagen: Zimt, Zuckerwatte, gebrannte Mandeln. Und er erinnerte sich, wie ihm sein Vater nach dem Weihnachtsmarkt auf dem kleinen See im Park das Schlittschuhlaufen beibrachte. Wie so viele andere Kinder stürzte er mehrmals auf das glatte Eis, doch es war ihm egal. Zu groß war die Freude in seinem Bauch mit seinen Schlittschuhen dahinzugleiten. Er fühlte sich, als könne er fliegen. Er erinnerte sich, dass er Fibi, seine Klassenkameradin, dort zum ersten Mal sah. Wie eine Elfe schwebte sie über das Eis, als würde sie nie etwas anderes machen. Die Schneeflocken legten sich auf ihr goldenes Haar und ihre Augen leuchteten vor Freude auf, während sie ihre Bahnen über den See zog. Fibi Sparkling winkte Nisha zu und sie war schon damals das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Seit die Jahreszeiten verschwunden waren, gefror der See im Stadtpark nicht mehr. Und Nisha glaubte manchmal, dass auch ein wenig der Freude von damals aus Fibis Augen verschwunden war. Auch gab es seitdem keinen Weihnachtsmarkt mehr. In den ersten Jahren versuchten die Menschen noch, den Zauber der Weihnacht zu erhalten, aber es war nicht das Gleiche. Schließlich gaben sie auf.

Die schwachen Sonnenstrahlen schienen durch die morschen Äste der Bäume in den Park hinein und da war er plötzlich wieder und riss den Jungen aus seinen Gedanken. Er war so klar zu sehen, dass er ganz bestimmt kein Fantasiegebilde sein konnte: Ein schwarzer Schatten bewegte sich Richtung Flussufer fort und war genauso schnell im Wasser verschwunden, wie er hinter dem Kirschbaum aufgetaucht war. Nisha überlegte nicht lange. Er warf seinen Rucksack in das vertrocknete Gras und rannte auf die Stelle des Flusses zu, an der der Schatten verschwunden war. Nisha würde nun ganz sicher zu spät nach Hause kommen, aber er konnte nichts dagegen tun. Wie magisch fühlte er sich zu dem unerklärlichen Geschehnis hingezogen. Mit klopfendem Herzen suchte er das Flussufer ab. Von dem Schatten fehlte jedoch jede Spur. Doch dann unterbrach ein Miauen die Stille des Stadtparks. So leise, dass man meinen könnte, es sei nur der Wind gewesen. Doch noch einmal. Dieses Mal klang es lauter. Flehender. Ja sogar ängstlich. Und da entdeckte Nisha ein Stück Holz, das inmitten der starken Strömung des Flusses wankend an der Oberfläche trieb. An dieses Holzstück geklammert, kämpfte ein kleiner, schwarzer Kater um sein Leben. Nishas Herz klopfte. Er sah sich eilig um, nach etwas, das lang genug gewesen wäre, um den Kater zu erreichen, konnte jedoch nichts finden. Währenddessen gab das feuchte Holz der Kraft des Wassers nach und spaltete sich in zwei Hälften. Der Kater grub seine Krallen tief in eines der beiden Holzteile, doch es hielt seinem Gewicht nicht stand. Kämpfend versuchte sich das Tier über Wasser zu halten. Doch die starke Strömung des Flusses zog es wieder und wieder in die Tiefe. Nisha sprang, ohne zu überlegen, in den Fluss. Sofort durchzuckte ihn ein stechender Schmerz und ihm stockte für eine Sekunde der Atem. Jedes einzelne Härchen in seiner Haut stellte sich auf, als versuchte sein Körper zu schreien und sich instinktiv gegen die Kälte des Wassers zur Wehr setzen. Er schwamm in die Mitte des knapp drei Meter breiten Flusses und tauchte ab. Als er den Kater sah, griff er ihm ins Genick und zog ihn über Wasser. Nach Luft schnappend kämpfte sich der Junge zurück ans Flussufer, legte das Tier ins Gras und fühlte zitternd nach seinem Herzschlag. Unzählige Wassertropfen liefen ihm die Wangen hinunter. Es dauerte ein paar Sekunden, dann nahm er es ganz deutlich wahr. Bum bum. Bum bum. Bum bum. Nisha atmete erleichtert auf. Er lebte. Der Kater lebte. Für einen kurzen Augenblick sah das Tier Nisha mit seinen mystisch-goldenen Augen an. Es atmete schwer. Wäre es nicht so unglaublich gewesen, hätte Nisha schwören können, dass der Kater etwas wie `Danke` hauchte. Der Junge tat es mit einem Kopfschütteln ab und warf seinen Rucksack über die Schulter. Behutsam nahm er den Kater auf den Arm. So schnell er konnte, machte er sich auf den Heimweg.

Ophelia war auf dem Weg nach draußen, um die Post zu holen, als sie ihren triefend nassen Sohn die Auffahrt zum Haus hinaufeilen sah.

„George! Komm, schnell!“, rief sie.

Zitternd streckte Nisha ihnen ein klatschnasses, schwarzes Knäuel entgegen. Außer Atem berichtete der Junge, was ihm gerade passiert war. Ophelia war aufgelöst vor Sorge. Sie nahm ihren Sohn an die Hand und führte ihn ins Haus. „Um Gottes Willen, was hätte dir alles passieren können! Geht es dir gut? Du bist ja eiskalt.“

George hingegen war sauer, dass Nisha so unüberlegt gehandelt hatte, als er in den Fluss gesprungen war. „Hast du den Verstand verloren? Du hättest ertrinken können in dem strömenden Wasser!“

Nisha stiegen die Tränen in die Augen: „Es tut mir leid, Dad. Ich konnte nicht länger dabei zusehen, wie das arme Tier untergeht.“

Nachdem sich seine Eltern von dem ersten Schock erholt hatten, verbrachten sie den gesamten Nachmittag damit, sowohl den Jungen als auch den Kater von den Geschehnissen im Park wieder aufzupäppeln. Ophelia ließ Nisha ein warmes Schaumbad ein, während George den Kater in ein heizungswarmes, trockenes Handtuch hüllte. Später bereitete Ophelia eine Tasse heiße Schokolade für Nisha zu und füllte einen alten Suppenteller mit warmer Milch, an dem sich der Kater sofort bediente. So schlürfte Nisha auf dem Sofa im Wohnzimmer, eingekuschelt in der warmen Wolldecke seiner Mutter, an seiner Tasse.

„Das ist zum Glück nochmal gut gegangen, Kumpel. Ich pass ab jetzt auf dich auf.“ Der Junge streichelte behutsam über den Rücken des Katers, der zu Antwort in ein dankendes Schnurren einstimmte. Den restlichen Tag umsorgte Nisha das kleine Tier liebevoll und achtete penibel darauf, dass es ihm an nichts fehlte.

Die Nacht brach herein. Nachdem Nisha sich bettfertig gemacht hatte, schlüpfte er in seinen Lieblingsschlafanzug. Der abgetragene, grauschwarze Pyjama war schon ein wenig zu klein und hatte einige Löcher an Ärmeln und Hosenbeinen. Er war aber so viel gemütlicher als alle anderen, weshalb ihn seine Mutter bis heute nicht entsorgen durfte. Nisha nahm den Kater mit unter seine Bettdecke, wo er ihn fest an sich kuschelte.

Ophelia schaute zur Tür herein: „Geht es dir gut? Erhol dich ein wenig von den heutigen Strapazen, ja?“

„Ja Mum. Danke. Mir geht es gut.“

„Trotzdem musst du mir versprechen, dass du so etwas nicht noch einmal machst. Das hätte auch anders ausgehen können!“ Ophelia strich ihrem Sohn die Haare aus dem Gesicht und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

„Tut mir leid. Ich wollte euch keine Sorgen bereiten. Aber ich konnte ihn nicht in dem eisigen Wasser ertrinken lassen.“ Nisha blickte hinab auf den Kater, der ihn mit dankbaren Augen ansah.

„Ich weiß, mein Schatz. Ich weiß…“ Ophelia kraulte das Tierchen am Kopf, schaltete die Lichterkette am Kopfteil des Bettes ein und die Deckenleuchte aus.

„Können wir ihn behalten?“, fragte Nisha.

„Mal sehen…“

Der Vollmond schien durch das Fenster in Nishas Zimmer, als wollte er sagen, dass er heute Nacht auf Junge und Kater aufpassen würde.

Nisha fiel schnell in einen tiefen Schlaf. Er träumte von dankbaren, gelben Augen. Und von einem schwarzen Schatten, der sich durch das Zimmer schlich. Langsam und gefährlich steuerte er direkt auf das Bett zu. Erschrocken wachte der Junge auf und sah sich mit pochendem Herzen um. Doch niemand war zu sehen. Niemand, bis auf den Kater, der friedlich am Fußende des Bettes vor sich hinschlummerte.

Fidibus

Warum schien die Zeit ausgerechnet dann viel zu schnell zu vergehen, wenn man mehr davon benötigte, und wenn sie rasch vergehen sollte, machte sie das Gegenteil?

Der Schultag kam Nisha wie eine Ewigkeit vor. Ständig

musste er an den Kater denken, den er heute Morgen zu

Hause zurücklassen musste. Da auch seine Eltern arbeiteten, war keiner da, der auf ihn Acht geben konnte.

Im Musikunterricht nahmen die Schüler die Notenwerte eines Liedes über die vier Jahreszeiten durch. Nisha konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Immer wieder grübelte er darüber nach, was es mit dem Schatten auf sich hatte. War es nur der Schatten des Katers gewesen? Er kam ihm aber sehr viel größer vor, als dass er von einem winzigen Tier hätte stammen können. Und wie war der Kater überhaupt in dem Fluss gelandet? Und hatte er sich nur eingebildet, dass sich das Tier bei ihm bedankt hatte? Die gestrigen Erlebnisse waren so ungewöhnlich. Nisha wollte unbedingt nach Hause, um der Sache auf den Grund zu gehen. Nach der Rettungsaktion im Park gestern, war er einfach zu kaputt gewesen, um Nachforschungen anzustellen.

In der letzten Schulstunde hatten die Achtklässler Biologieunterricht. Miss Tellus hielt einen ausgiebigen Vortrag über ihr Lieblingsthema. Sie lief hinter dem Lehrerpult auf und ab und gestikulierte wild mit ihren Armen. Ihr glänzendes Haar war so lang, dass es bei jedem Schritt den staubigen Boden des Klassenzimmers kehrte. Immer wieder betonte sie, wie froh Nisha und seine Schulkameraden doch sein

konnten, die Jahreszeiten überhaupt noch kennen zu dürfen. Schließlich kannten die Kinder, die in den letzten Jahren geboren wurden, eine Rose zwar aus einem Bilderbuch, ihren Duft würden sie aber nie in der Nase haben. Sie würden nie die heißen Sonnenstrahlen im Sommer auf ihrer Haut spüren, während sie sich im kalten Wasser Abkühlung verschafften. Und sie würden nie das Gefühl der kalten Regentropfen im Herbst auf ihren Gesichtern spüren, während sie durch die Pfützen sprangen. Sie konnten sich zwar Erzählungen einer weißen Weihnacht anhören, würden jedoch selbst nie den kalten Schnee durch ihre Hände rieseln lassen können. Und das Glück allein, all das noch kennen zu dürfen, war laut Miss Tellus ein riesengroßer Segen, für den man sich dankbar erweisen sollte.

Doch kaum einer der Achtklässler schien überhaupt den Versuch zu starten, ihr zuzuhören. Die Mädchen in der Tischreihe rechts von Nisha, steckten seit geraumer Zeit die Köpfe zusammen und tuschelten und kicherten wie wild gewordene Hühner.

`Tratschtanten`, dachte Nisha mit rollenden Augen und warf einen verstohlenen Blick auf den Sitzplatz in der Fensterreihe schräg vor ihm. Fibi hörte der Lehrerin aufmerksam zu. Ihre Augen waren wie immer konzentriert und wachsam. Hier und da schrieb sie sich kleine Notizen auf einen Spickzettel. Ihr Haar hatte sie zu einem französischen Zopf gebunden, dessen Ende von einer riesigen Schleife zusammengehalten wurde. Fibis Frisur sah beinahe aus wie die Schnur eines Drachen, den man im Herbst früher in den Himmel steigen lassen konnte. Als hätte sie Nishas Blicke gespürt, sah sie sich plötzlich um und lächelte ihn an. Er wurde rot, lächelte zurück und sah schnell wieder auf seinen Tisch hinunter. Seine Nase lief und er spürte ein Kratzen im Hals. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn er sich nach dem Vorfall gestern nicht erkältet hätte. Wieder dachte er an den Kater und an den Schatten. Automatisch wendete Nisha seinen Kopf nach links und spähte aus dem Fenster. Er hielt Ausschau, ob der Schatten irgendwo auftauchen könnte, aber alles war wie immer. Gerade als er sich wieder auf Miss Tellus` Vortrag konzentrieren wollte, unterbrach etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Ein Junge in der hintersten Reihe hatte abrupt eine Entdeckung gemacht. Aus dem Strohhalm eines Erfrischungsgetränkes und kleinen Papierkügelchen, kombiniert mit der richtigen Menge an Speichel, entwickelte Dustin die ideale Wie-mache-ich-meinen-Mitmenschen-das-Leben-schwer-Waffe. Er pustete los. Eine Kugel blieb ungewollt an der Fensterscheibe kleben. Eine weitere verfehlte Fibi um Haaresbreite, die Dustin mit bösen Blicken bestrafte. Der aber antwortete nur mit einem fiesen Grinsen. Die dritte landete direkt in den Haaren von Phil, Nishas Sitzpartner, der verzweifelt versuchte, die klebrige Kugel wieder zu entfernen. Zum Glück läutete nach drei Treffversuchen Dustins die Schulglocke. Die Achtklässler stürmten aus dem Raum und auch Miss Tellus verließ das Klassenzimmer. Selbst Dustin hatte an einem Freitag keine Zeit, um sich auch nur eine Sekunde länger als nötig im Schulgebäude aufzuhalten. Er verschwand auf direktem Weg nach Hause.

Nisha senkte den Kopf, um nach dem Schulrucksack unter seinem Tisch zu greifen. Als er wieder aufblickte, sah er in Fibis eisblaue Augen.

„Donnerdustin ist echt ein Idiot. Man kann nur hoffen, dass er auch in diesem Jahr wieder sitzen bleibt“, sagte sie.

Nisha räusperte sich. Die Schmetterlinge in seinem Bauch flatterten nicht, sondern stürmten umher, als würde sich ein Tornado anbahnen. Er versuchte betont ruhig zu klingen, was ihm jedoch nicht wirklich gelingen wollte: „I-ich… Also ich meine… Da hast du Recht.“

Das Mädchen sagte schmunzelnd: „Übrigens können wir uns nächste Woche nach der Schule gerne mal treffen. Schönes Wochenende, Nisha!“

Fibi Sparkling machte eine elegante Drehung. Ihr langer Zopf mit der riesigen Schleife schwang dabei durch die Luft wie ein Drachen und sie lächelte Nisha erwartungsvoll an. Dieser saß mit hochrotem Kopf und offenem Mund auf seinem Stuhl und als er die Worte fand, war sie schon verschwunden. Nur der Duft ihres Vanilleshampoos lag noch in der Luft.

„Gerne“, sagte Nisha und blickte zum Türrahmen, durch den seine Klassenkameradin gerade verschwunden war. Über Fibi wusste er nicht viel. Sie war eher der verschwiegene Typ und in keiner Weise wie die anderen Mädchen in der Klasse. Sie lästerte und tuschelte nicht. Sie war hilfsbereit und behandelte jeden immer freundlich und ordentlich. Das Einzige, was er über sie wusste, war, dass sie bei ihrer Großmutter aufwuchs, die sich und ihre Enkelin mit einem Job in einer Postannahmestelle über Wasser hielt. Genau wie Nisha, gehörte Fibi nicht gerade zu den wohlhabenden Kindern der Klasse und auch sie war gerne für sich allein. Vielleicht fühlte er sich deswegen so zu ihr hingezogen. Sie waren beide Einzelgänger. Sie hatten etwas gemeinsam.

In der Einfahrt von Hausnummer 11 in der Rosenallee angekommen, schnappte Nisha die Tageszeitung aus dem rostbraunen Briefkasten. In abgeblätterten Lettern war kaum leserlich der Name Green