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Nissa Zink ist eigentlich ein ganz normales, dreizehn Jahre altes Mädchen. Sie liebt spannende Bücher, bringt gute Noten nach Hause und hilft ihrer alleinerziehenden Mutter Elly, wo sie nur kann. Doch als sie sich am Tag der Zeugnisvergabe auf der Flucht vor der Schulschlägerin Petra im Wald verirrt und da auf einen sprechenden Kater trifft, beginnt Nissa zu ahnen, dass es noch mehr gibt, als nur das offensichtlich Sichtbare in ihrer Welt. Mit Hilfe ihres neu gewonnenen Freundes findet sie einen Weltenwandler, der ihr den Zugang in eine völlig fremde und doch so vertraute Welt der Magie eröffnet. Ein wirres und fantastisches Abenteuer beginnt ...
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Die Lunge benötigt Luft, das Herz Blut und der Verstand Fantasie!
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Nissa rannte, was die Beine hergaben, doch ihre Verfolger blieben ihr trotzdem dicht auf den Fersen.
Die Äste der Bäume schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen feine, blutrote Kratzer auf ihrer Wange. Sie konnte ein lautes Knirschen hören, als ein aus dem Erdreich herausstehender Baumstumpf ihr die Jeans oberhalb des Knöchels aufriss.
Autsch!
So wie es sich anfühlte, hatte es wohl nicht nur ihre Hose erwischt – doch nun war keine Zeit für Gejammer. Sie biss auf die Zähne und hetzte weiter. Minuten später konnte Nissa hinter sich immer noch Gefluche hören, jedoch klangen die Stimmen allmählich erschöpfter und wurden in der Ferne immer leiser.
Sie geben auf!
Nissas Miene erhellte sich.
Jetzt hieß es, trotz ihrer müden Beine und der immer heftiger werdenden Schmerzen im Fuß, ihre verbliebene Kraft zusammenzunehmen. Sie legte zu einem finalen Endspurt an. So schnell sie konnte jagte sie tiefer und tiefer ins Gebüsch hinein. Die Bäume schossen nur noch so an ihr vorbei, es rauschte in ihren Ohren und ihre Lunge brannte vor lauter Anstrengung.
Als sie endlich stehenblieb, versteckte sie sich schwer keuchend hinter einem großen Strauch und ging in die Hocke. Nissa konzentrierte sich und versuchte, ihr lautes Atmen unter Kontrolle zu bringen, bevor es sie noch verraten würde. Als sie sich endlich ein wenig beruhigt hatte, stand sie vorsichtig auf und begann sich umzusehen. Wie es schien, hatte sie Petra samt Anhang doch endlich abgehängt. Es war auch allerhöchste Zeit, sie hätte keine Sekunde länger durchgehalten.
Erleichtert richtete sie sich auf und klopfte sich ein paar welke Blätter von der Hose.
Nun konnte sie in aller Ruhe nach Hause gehen. Endlich konnten die Ferien beginnen.
Doch halt, in welcher Richtung lag denn eigentlich ihr Zuhause? Und aus welcher Richtung war sie gekommen? Nissa sah sich um. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, einen Hinweis oder Ähnliches zu finden, doch ohne Erfolg – mit dem blöden Gerenne hatte sie voll und ganz die Orientierung verloren.
Sie begann nach einem Anhaltspunkt zu suchen, der auf einen Weg, einen Wanderpfad oder etwas in der Art hindeutete.
Als sie nach einer guten halben Stunde umherstreifen immer noch nichts gefunden hatte, wurde sie langsam nervös; und als einige Zeit später auch noch die Dämmerung langsam hereinbrach, stieg ihre Panik beinahe ins Unermessliche.
Als sie heute nach der Zeugnisverteilung aus der Schule gegangen war, war es kurz vor Mittag. Und es war Hochsommer – es mussten also schon mehr als acht Stunden vergangen sein.
Wie würde es jetzt weitergehen? Würde sie hier draußen im Wald elendig verhungern? Sie könnte in eine Felsspalte stürzen oder die Wölfe könnten sie holen oder … Nissa schüttelte energisch den Kopf. Nichts dergleichen würde passieren.
„Jetzt stell dich nicht so an Mädchen, es gibt keine Wölfe in Ewingen!“, sprach sie sich selber Mut zu.
Doch im Moment war sie nicht mal sicher, ob sie überhaupt noch in Ewingen war. Die Wälder in dieser Gegend waren sehr weitläufig und sie war bereits mehrere Stunden gelaufen.
Doch all das Lamentieren und Überlegen nützte jetzt sowieso nichts. Irgendwann musste sie sich damit abfinden, dass sie heute nicht mehr nach Hause finden würde. Nissa beschloss, sich einen sicheren Platz für die Nacht zu suchen, um da den Tagesanbruch abzuwarten. Nach einer kurzen Suche entschied sie sich für einen großen, umgestürzten Baum, der zusammen mit einigen abgerissenen Ästen und ein wenig Gestrüpp eine schöne Höhle bildete. Dahinter fiel das Gelände ein wenig ab, bis sich weiter unten ein kleines Bächlein seinen geschlungenen Weg durch den Wald grub. Das sanfte Murmeln und Plätschern wirkte irgendwie beruhigend auf Nissa. Außerdem war sie hier, sofern sie das beurteilen konnte, gut vor wilden Tieren und dem Wetter geschützt, hier konnte sie bleiben.
Nissa fing an ein wenig Laub und Moos für ihre Matratze zusammenzutragen.
Mit spitzen Fingern wischte sie einige alte Spinnenweben weg und schnippte ein paar tote Käfer aus ihrem behelfsmäßigen Schlafgemach. Wie es aussah, hatten die ihren Unterschlupf bisher als Familienfriedhof genutzt. Etwas angeekelt legte sie den Boden mit dem gesammelten Material aus, doch als sie fertig war und ihr Werk betrachtete, war sie, so weit man das in so einer Situation sein konnte, eigentlich ganz zufrieden.
Nissa legte ihren Schulrucksack ganz an das hintere Ende der kleinen Höhle, um ihn als Kopfkissen zu benutzen, und rollte sich auf ihrem kleinen Moosbett ein.
Es roch ein wenig nach Erde und war feucht, doch Nissa ignorierte es so gut es ging. Sie hatte andere Probleme:
Was würde ihre Mutter denken, wenn sie heute nicht nach Hause kam?
Ein nervöses Kribbeln stieg wieder in ihr hoch, das sie aber sofort wieder hinunterschluckte. Sie konnte es sich nicht leisten, noch mehr Panik aufkommen zu lassen; sie brauchte ihre Energie morgen, um aus diesem verfluchten Wald wieder herauszukommen. Nun musste sie erst einmal schlafen.
„Vielleicht denkt sie ja, ich hätte endlich Freunde gefunden“, murmelte sie leise, „und vielleicht vermisst sie mich ja auch gar nicht. Wenn sie wieder einmal Überstunden machen muss, wird sie bestimmt gleich zu Bett gehen. Ihr wird gar nicht auffallen, dass ich nicht zu Hause war und morgen in der Früh werde ich zur Türe hineinspazieren. Ihr werden die Augen herausfallen, wenn ich ihr erzähle … “
Eine unheimliche Müdigkeit überkam sie, und noch bevor sie den Satz zu Ende nuscheln konnte, fiel sie auch schon in tiefen Schlaf.
Nissa Zink war ein kleines, zierliches und schüchternes Mädchen von dreizehn Jahren, das keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Doch trotzdem musste sie nach einer wilden Verfolgungsjagd jetzt im Wald unter einem Baum schlafen.
Wie konnte es nur so weit kommen?
An einem lauen Sommertag Anfang Juli nahm alles seinen Anfang. Es waren die letzten Schulwochen am Gymnasium eines kleinen, malerischen Städtchens mit dem Namen Ewingen.
Die letzten Klausuren waren alle längst vorbei, die Noten standen bereits fest und die Schüler dösten in ihren Bänken nur noch vor sich hin. Selbst den Lehrern war nicht mehr großartig nach Lehren zumute und so verbrachten Jung und Alt die noch verbleibenden Unterrichtstage größtenteils damit, gedankenverloren aus dem Fenster zu starren und von weit entfernten Urlaubsparadiesen zu träumen.
Nissa freute sich auf die Ferien. Ihr war schon klar, dass sie nicht in den Urlaub fahren würden. Ihre Mutter Elly war alleinerziehend und arbeitete für einen Mindestlohn in einer Fabrik. Sie hatten nicht viel Geld – aber trotzdem waren die Ferien immer wunderbar, denn Nissa mochte die Schule nicht besonders.
Nun ja, eigentlich war das nicht die ganze Wahrheit: Nissa mochte die Schule. Nicht die Schule selbst war der Grund, warum sie immer wieder weinend nach Hause kam, und auch nicht die Lehrer. Ganz im Gegenteil, Nissa war eigentlich eine sehr gute Schülerin. Sie war fleißig und stets aufmerksam, eine konstante Einserschülerin und seit sie auf dem Gymnasium war, auch regelmäßig Jahrgangsbeste. Doch genau dieses schulische Engagement war auch ihr Verhängnis. Von ihren Mitschülern wurde Nissa stets gehänselt. Für diese war sie ein kleiner Streber – und Streber waren und sind nun mal in keiner Generation beliebt.
Vielleicht war auch die Tatsache, dass Nissa anders war und anders aussah, dafür verantwortlich. Schließlich wurde sie mit einer Pigmentstörung geboren – einer Art Albinismus, durch den jedes einzelne Haar an ihrem Körper anstatt blond oder braun oder rot ausnahmslos farblos wuchs. Ihr Haupthaar, ihre Augenbrauen, ja selbst die feinen Härchen an ihren Fingerknöcheln schimmerten in strahlendstem Weiß.
Von ihrer Mutter wurde sie dafür zärtlich „Schneeprinzessin“ genannt.
„Du bist was Besonderes Nissy“, sagte sie ihr oft. „Eine Schneeprinzessin wird man nicht einfach so, oder kennst du etwa viele Mädchen wie dich? Nur die süßesten und hübschesten Babys werden dafür von den Engeln auserwählt!“
Elly war eine sehr liebevolle Frau, die immer tröstende Worte fand, wenn Nissa tränenüberströmt von der Schule nach Hause kam.
An lauen Tagen saßen sie dann bis spät abends im Garten auf ihrer Schaukel, Elly streichelte Nissa durch die Haare und erzählte ihr die wundervollsten Geschichten über Elfenkönige und Zauberwelten. Es waren unheimlich fantasievolle Geschichten und Nissa ließ sich, auch wenn sie nun kein kleines Kind mehr war, immer wieder gerne davon ablenken.
Doch leider gingen ihre Mitschüler nicht so liebevoll wie ihre Mutter mit ihr um. Für die meisten Kinder in ihrem Alter war Nissa eine Laune der Natur, ein missgestaltetes Monster, das zu allem Übel auch noch gute Noten schrieb und sich so bei den Lehrern einschleimte.
Ihr Erfolg war vielen ein Dorn im Auge und Tag für Tag musste sie alle möglichen Gemeinheiten über sich ergehen lassen. Angefangen hatte es eher harmlos. Sie gaben ihr fiese Spitznamen wie „Geisterbraut“ und „Mehlwurm“, doch inzwischen ging es sogar soweit, dass sie tote Mäuse in ihrem Schulspind und Regenwürmer in ihrem Kantinenessen versteckten.
Nissa hatte mit ihren dreizehn Jahren schon so manches mitgemacht und sich an einiges gewöhnt, aber Anfang dieses Jahres waren einige ihrer Mitschüler doch zu weit gegangen.
Es war kurz vor Unterrichtschluss an einem Freitagmittag. Nissas Klasse hatte gerade einen kleinen Mathetest geschrieben. Als es klingelte und die Arbeiten eingesammelt werden sollten, kamen plötzlich Flammen aus dem Mülleimer neben der Tür. Die Lehrerin griff beherzt ein und löschte den Kleinbrand mit dem Feuerlöscher innerhalb weniger Minuten. Eine Gefahr für die Schüler hatte nicht bestanden.
Trotzdem kam natürlich die Frage nach dem oder der Verantwortlichen auf. Die gesamte Klasse behauptete einstimmig, Nissa noch kurz vor der Stunde beim Hantieren mit einem Feuerzeug in der Nähe des Eimers beobachtet zu haben.
Das war natürlich eine böse Verleumdung. Obwohl sie die Sache auf das heftigste bestritt, und selbst die Lehrer nicht im Geringsten davon überzeugt waren, in Nissa wirklich die Schuldige gefunden zu haben, blieben ihre Mitschüler bei der erlogenen Geschichte. Dem Direktor, Herrn Zaid, blieb somit keine andere Möglichkeit, als Nissa zu bestrafen. Sie wurde für eine Woche der Schule verwiesen und bekam als „Draufgabe“ noch einen Eintrag in das Klassenbuch. Eben dieser Eintrag würde am Ende des Jahres ein „Zufriedenstellend“ in „Verhalten in der Schule“ auf ihrem Zeugnis hinterlassen, für Nissa ein kleiner Weltuntergang.
Die wirklichen Täter und Drahtzieher hinter der ganzen Verschwörung wurden nie zur Rechenschaft gezogen, und Nissa wusste auch warum.
Petra Pesotzky war der Kopf der Bande mit dem eigenwilligen Namen „Böse Mädchenbande“, die für jeglichen Ärger im und um das Schulgelände herum zuständig waren.
Petra war groß, grob und ihre Eltern waren stinkreich. Ihr Vater, Vladimir Pesotzky, war Besitzer einer riesigen Limonadenfabrik, der einzigen wirklichen Fabrik in Ewingen und Umgebung. Viele Einwohner aus Ewingen, darunter auch Nissas Mutter Elly, hatten dank dieser Fabrik Arbeit gefunden und somit war Vladimir Pesotzky ein bedeutender und einflussreicher Mann in ihrer Gemeinde. Petras Mutter war ein typisches, hochnäsiges Modepüppchen, das brav an Herr Pesotzkys Seite her trottete und ihn anhimmelte, als bestünde er aus purem Gold.
Der gesamte Ostflügel des Gymnasiums, in dem unter anderem die Bibliothek sowie ein Computerraum untergebracht waren, war mithilfe einer großzügigen Spende des selbst ernannten Zuckerwasserkönigs erbaut worden. Es wurde zwar nie darüber geredet, doch aufgrund dieser Tatsache genoss natürlich auch seine Tochter Petra in der Schule uneingeschränkte Freiheiten. Und das nützte sie schamlos aus.
Sie war frech zu den Lehrern, schikanierte ihre Mitschüler, demolierte hin und wieder ein Fenster oder beschmierte eine Toilettentüre, doch sie kam jedes Mal aufs Neue davon. Entweder wurde die Schuld dafür einem anderen gegeben, wie in Nissas Fall, oder einfach als „Kleinmädchenstreich“ abgetan – natürlich ohne jegliche Folgen.
„Geld macht die Menschen blind, Nissy“, sagte ihre Mutter oft. „Sie verwechseln es leider zu oft mit Liebreiz, Charme und Freundlichkeit.“
Bei Petra musste das wohl zutreffen.
Sie war nicht gerade das, was man eine graziöse Schönheit nennen konnte. Die dunkelbraunen Haare lang und fettig, das Gesicht von Akne gezeichnet. Doch trotzdem hatte sie zu jeder Tages- und Nachtzeit eine ganze Heerschar von Jungs und Mädchen um sich, die sich um sie kümmerten und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablasen.
Nissa fand das Ganze zwar nicht fair, doch sie hatte sich inzwischen ganz gut damit abgefunden.
Petra war knapp zwei Jahre älter als Nissa. Sie kam nun in die achte Klasse – das war das Abschlussjahr. Falls alles gut gehen würde, was Nissa bei den Unsummen an Spenden, die Herr Pesotzky auch jetzt noch jährlich dem Gymnasium überschrieb, nicht bezweifelte, wären sie alle Petra endlich los. Nissa würde ihre letzten zwei Jahre an der Schule noch in Ruhe genießen können.
Heute war der letzte Tag vor den Sommerferien und Zeugnistag!
Alle Schüler mussten sich in der Aula im Ostflügel – dem „Limoflügel“, wie ihn einige Schüler verächtlich nannten – versammeln. Es folgte eine sterbenslangweilige, einstündige Rede über Disziplin und Pflicht, das Leben und die immerwährende Suche nach Wissen.
Während Herr Zaid am Rednerpult stand und langsam durch seinen grau werdenden Schnurrbart ins Mikrofon murmelte, blickte Nissa gedankenverloren in die Menge.
Der größte Teil der Schülerschaft hörte nicht sehr aufmerksam zu. Viele gähnten einfach nur vor sich hin.
Philip Becker, er saß in Geschichte eine Bank rechts von Nissa, bohrte mit Begeisterung in der Nase, Martina Pellet, mit der Nissa Sport hatte, kritzelte gelangweilt kleine Herzchen auf den Umschlag eines ihrer Schulbücher.
Als die Rede endlich zu Ende war und es zur Zeugnisverteilung ging, konnte man mehr als nur einen Schüler dankbar aufseufzen hören.
Nun wurde jeder Einzelne in alphabetischer Reihenfolge von seinem jeweiligen Klassenlehrer aufgerufen. Nissa war die Letzte – wenn man Zink mit Nachnamen heißt, gewöhnt man sich da schon früh daran.
Als sie endlich an der Reihe war, stand Nissa schweigend auf und schlurfte durch die Stuhlreihen nach vorne. Sie richtete den Blick stur zu Boden und sah nicht einmal auf, als ihr ein Mitschüler eine zerknüllte Papierkugel vor die Füße warf.
„Nicht so schüchtern, Nissa! Klassenbeste zum wiederholten Male. Das ist etwas, auf das man durchaus stolz sein kann.“ Ihr Klassenlehrer, Professor Lidenthal, blickte sie strahlend an, während er ihr das Zeugnis feierlich überreichte. Nissa lief puterrot an, murmelte etwas, das wohl wie „Danke“ klingen sollte, drehte sich auf der Stelle um und eilte schnurstracks zu ihrem Stuhl zurück, den Blick wieder stur am Boden festgeklebt.
Hinter ihr fing Herr Zaid mit der Verabschiedung an und als er zu guter Letzt zu klatschen begann, waren die Ferien endlich offiziell eröffnet. Erleichtert ließ sich Nissa in den Sessel fallen und atmete tief durch. Ein allgemeines Gemurmel begann die Aula zu füllen und Nissa konnte sich nun unbeschwert umsehen. Sie konnte viele verschiedene Ausdrücke in den Gesichtern ihrer Mitschüler ablesen. Die meisten Schüler waren fröhlich und riefen wild durcheinander, um mit ihren Freunden ihre Noten zu vergleichen. Doch leider waren auch manche enttäuschte Gesichter dabei – und auch einige wütende.
Ein paar Stuhlreihen weiter vorne brüllte Petra zornig herum.
„Es scheint, dass ihr Zeugnis trotz Papis Spenden nicht gerade rosig aussieht“, konnte Nissa jemanden hinter sich flüstern hören.
Das gönnte sie ihr so richtig.
Und Petra verhielt sich wirklich peinlich, schrie herum wie ein kleines, trotziges Kind. Es konnte doch niemand etwas dafür, dass sie nicht genug lernte, um gute Noten zu schreiben.
Aber eigentlich war es Nissa ja egal – jetzt konnte ihr keiner mehr die Laune verderben.
Die Schule war für dieses Jahr vorbei und vor ihr lagen zwei lange, Petra-freie Monate voll Ruhe und Entspannung.
Mit einem verlegenen Lächeln betrachtete sie das Zeugnis in ihren Händen: Wie erwartet strahlten ihr nur Einsen entgegen. Nur das „Zufriedenstellend“ in Betragen löste ein kurzes Stechen in ihrer Bauchgegend aus. Was wohl ihre Mutter dazu sagen würde?
Immerhin war das bisher noch nie vorgekommen, was aber auch nicht weiter verwunderlich war. Schließlich saß Nissa in jeder Stunde in der ersten Reihe und schwätzen wollte sowieso nie jemand mit einem Außenseiter. Aber es war ihr ganz recht, so hatte sie stets Zeit, fleißig mitzuarbeiten, sich zu melden und Pluspunkte zu sammeln.
Mit einem zufriedenen Schulterzucken packte sie ihr Zeugnis fein säuberlich in eine Klarsichthülle und klemmte es zwischen die Bücher in ihrer Schultasche, damit es keine Eselsohren bekommen konnte. Draußen strahlte die Sonne und der Duft von wilden Wiesenblumen am Waldrand wurde vom Wind durch die weit geöffneten Fenster in die Aula getragen. Nissa liebte diesen Geruch.
Nun war es so weit – die Ferien konnten endlich beginnen!
Verträumt lächelnd sah sie nach vorne zum Rednerpult, wo Herr Zaid inzwischen seine Notizzettel wieder zu einem Stapel zusammenlegte. Nissa überlegte, was sie den Rest dieses wunderschönen Tages noch alles anstellen konnte.
„Hey, Mehlwurm, was grinst du denn so blöd? Hat dich dein komischer Albertismus jetzt auch noch verdummen lassen?“
Nissa schrak hoch. Petra hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und kam geradewegs auf sie zu. Ihre Nasenlöcher blähten sich und ihre Wangen hatten eine ungesunde, dunkelrote Farbe angenommen. So wie es aussah, hatte sie bereits ein Opfer auserwählt, an dem sie ihren Frust über ihre Noten auslassen wollte.
Als sie wie ein Walross schnaufend vor Nissas Tisch angekommen war, schnappte Petra sich ihre Schultasche und begann, sie wütend zu durchwühlen.
„Wo ist dein dämliches Zeugnis? Sicher wieder alles Einsen, unser kleiner Strebergeist. Sind Leute mit Albertismus nicht alle dumm ...?“
Nun reichte es wirklich. Nissa fuhr hoch und riss Petra ihre Schultasche aus den Händen.
„ALBINISMUS – und lass deine ekligen Wurstfinger gefälligst von meinem Zeug!“, platzte es aus ihr heraus.
Plötzlich wurde alles still in der Aula. Einige Mitschüler drehten sich vorsichtig um und spitzten die Ohren.
Es traute sich doch nicht wirklich jemand, mit Petra so zu reden?
Petras Augen verengten sich zu einem Schlitz, was ihre prallen Backen noch voller aussehen ließ. Sie sah nun aus wie ein wütendes, überfüttertes Mastschwein kurz vor der Schlachtung.
„Was hast du da eben gesagt, du kleine, stinkende, weiße Made?“
Erschrocken über ihre eigene Dummheit, schlug sich Nissa die Hand vor den Mund. Sie bereute das Gesagte sofort. Das hätte sie nicht tun sollen. Wie konnte ihr so etwas nur rausrutschen? Doch nun war es zu spät, Petra würde sie nicht so leicht mit einer einfachen Entschuldigung davonkommen lassen.
Schließlich hatte sie einen hart erarbeiteten Ruf als unnachgiebige Schlägerin zu verlieren.
Zum Glück war Herr Zaid noch im Raum. Das hielt Petra wenigstens davon ab, ihr gleich auf der Stelle die Nase zu brechen.
„Wir zwei, gleich nachher, draußen vor der großen Eiche im Pausenhof!“, zischte sie Nissa ins Ohr. Sie klang wie ein Dampfkessel kurz vor dem Überbrodeln, heiß und gefährlich.
„Ich freu mich jetzt schon darauf, dir dein bleiches Näschen zu verschönern.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und stürzte stampfend davon.
Einige Schüler warfen Nissa nun einen mitleidigen Blick zu, doch keiner traute sich, etwas zu sagen. Sie schluckte schwer.
Warum gerade jetzt, warum gerade sie?
Sie hatte überhaupt keine Lust, sich mit Petra zu streiten. Und prügeln wollte sie sich schon gar nicht mit ihr. Dieses Mädchen war ein Schrank auf zwei Beinen und bekannt dafür, ein blaues Auge noch lange nicht als gewonnenen Kampf anzusehen.
Was hatte sie sich dabei nur gedacht, den schlimmsten Schulrowdy zu beleidigen, den dieses Gymnasium je gesehen hatte? Es war einfach mit ihr durchgegangen, die Zunge war schneller als der Verstand und … Nun ja, jetzt war es nun mal passiert und Nissa musste sich überlegen, wie sie sich aus diesem Schlamassel wieder heil herauswinden konnte.
Ich muss mich rausschleichen, das wird meine einzige Chance sein, nicht den gesamten Sommer in Gips zu verbringen, dachte sie leise bei sich, als sie mit zitternden Händen die Bücher in ihrer Schultasche wieder zurechtrückte. Zwar würde sie dann als feiges Huhn dastehen – aber lieber ein feiges Huhn als Hühnergeschnetzeltes.
Nissa wartete ab, bis der Direktor mit seinen letzten Glückwünschen zu den Ferien die einzelnen Schüler an der Türe verabschiedet hatte, und nutzte das darauf folgende Durcheinander, um sich aus der Aula zu schleichen.
Außer dem Haupteingang und je einem Eingang im Ost- und Westflügel gab es auch noch den Ausgang hinter den Umkleidekabinen der Turnhalle. Dieser wurde von dem Hausmeister und der Putzkolonne genutzt.
Ein Umstand, der Nissa bekannt war. Um nach Hause zu kommen, würde sie ein Stückchen durch den direkt angrenzenden Wald gehen müssen. Dies bedeutete zwar, einen ganz schönen Umweg auf sich nehmen zu müssen, doch sie entschied, dass dieser ungewollte Spaziergang auf jeden Fall besser wäre als von Petra verprügelt zu werden.
Leise huschte sie die Gänge entlang, an der großen Turnhalle vorbei. Als sie die Tür der ersten Umkleidekabine öffnete, rümpfte sie angeekelt die Nase. Offenbar war sie in der privaten Umkleide der Schulfußballmannschaft gelandet. Es roch nach alten Socken und muffigen T-Shirts, in einer Ecke lagen unzählige schmutzige Schuhe auf einem Haufen.
„Igitt, wie das stinkt!“
Doch es nutzte nichts. Nissa richtete ihren Blick wieder auf den Gang hinaus, nahm einen tiefen Atemzug und presste ihre Lippen aufeinander. Leise tippelte sie an den Bänken und dem Haufen Schmutzwäsche vorbei zur Tür auf der anderen Seite.
Was, wenn sie verschlossen ist?
Doch das konnte eigentlich nicht sein. Nissa wusste, dass der Putztrupp am Beginn der Sommerferien immer noch für eine Komplettreinigung bestellt wurde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ausgerechnet heute einen anderen Eingang benutzen sollten.
Trotzdem griff sie mit einem flauen Gefühl im Magen zur Klinke. Ich will nicht von Petra an den Fahnenmast gehängt werden. Doch zu ihrer Erleichterung ließ der Griff sich widerstandslos niederdrücken. Innerhalb von Sekunden stand sie im Freien. Sie atmete erleichtert auf und sah sich um. Auf dem Parkplatz, der nicht sonderlich groß war (es mussten ja nur ein Auto vom Putztrupp und der Bus vom Hausmeister hier Platz finden, da den Lehrern eine kleine Tiefgarage mit direktem Zugang zum Hauptgebäude zur Verfügung stand) war keine Menschenseele zu entdecken. Sie seufzte beruhigt auf und machte sich dann daran, den Parkplatz in Richtung Wald zu überqueren.
„… und wehe ihr lasst sie entkommen!“
Nissa wurde bleich. Das war eindeutig Petras Stimme.
Wie konnte das sein, wie war sie nur so schnell dahinter gekommen? Soviel Grips hatte sie ihr gar nicht zugetraut. Oder hat mich jemand beobachtet und verraten? Die Gedanken sprudelten wie wild in ihrem Kopf umher.
Mit weit aufgerissenen Augen wirbelte Nissa auf dem Absatz herum.
„Ah, sieh’ mal einer an. Unser Mehlwurm wollte also gehen, ohne sich zu verabschieden? Wie unhöflich.“
Hinter Petra kicherten zwei Mädchen leise. Eine davon war Martina Pellet, die andere kannte Nissa nur vom Sehen. Doch ihrer hochgewachsenen Statur nach – kein Schrank, doch immerhin noch ein Schränkchen - musste sie etwa in Petras Klassenstufe sein. Sie hatten sie also verraten – wie feige!
Nach und nach kamen mehr Schüler hinzu, Mädchen und auch Jungen. Schlussendlich stand Petra fies grinsend, mit verschränkten Armen und etwa zwölf Leuten im Rücken, mitten auf dem Parkplatz und versperrte Nissa den Weg.
Was sollte sie nun tun? Nissas Herz schlug ihr bis zu den Ohren.
Instinktiv schnappte sie sich ihre Schultasche und rannte los, direkt auf Petra und ihre Bande zu. Kurz bevor sie mit der Gruppe zusammengestoßen wäre schlug sie einen Haken nach links, flitzte an ihnen vorbei, wandte sich wieder nach rechts, quer über den Parkplatz und rannte weg geradewegs auf die Bäume zu.
Petra, die offensichtlich nicht mit einer derart flinken Aktion gerechnet hatte, stand einen Moment mit offenem Mund da und starrte ihr nach. Doch sie fing sich schnell wieder – zu schnell für Nissas Geschmack – und schrie die Anderen an.
„Auf was wartet ihr noch. Ihr nach, na los!“, herrschte sie ihre Bandenmitglieder an. „Und wehe die kleine Made entwischt uns.“
Die Hetzjagd durch den Wald begann, und somit auch das größte Abenteuer in Nissas Leben.
Nissas Träume in dieser Nacht waren mehr als nur unruhig.
Sie träumte davon, einen langen, düsteren Gang entlang zu hasten, verfolgt von einer ganzen Armee riesiger Feldmäuse.
„Gib uns das Buch!“, hallte es immer wieder quiekend in ihren Ohren wider.
Nissa wusste nicht, wohin sie rannte oder warum sie überhaupt vor ein paar überdimensionierten Nagern flüchtete. Sie waren groß, aber es waren doch immerhin nur Mäuse! Warum mussten ihre Träume immer so verwirrend sein? Früher war sie oft mitten in einem Albtraum aufgewacht und hatte ihrer Mutter die skurrilsten Geschichten erzählt – von Elfen, sprechenden Schnecken und grünen Wolkenschlössern – die immer völlig zusammenhangslos waren. Elly hatte ihr damals beigebracht, dass man Träume, so real und böse sie einem auch vorkamen, zu einem gewissen Teil selber steuern konnte. Man musste sich nur eine große Fernbedienung vorstellen. Damit konnte man dann einfach umschalten, wenn einem der Traum, in dem man gerade feststeckte, nicht gefiel.
Ich bestimme, wo es in meinen Träumen langgeht.
„Genau!“, rief sie. Was sollte das eigentlich?
Fest entschlossen, gleich stehen zu bleiben, um sich diesen Möchtegernmonstern zu stellen, warf sie noch einmal einen Blick über ihre Schulter. Doch was sie sah, hatte sie nicht erwartet und es versetzte ihr trotz ihres festen Vorsatzes einen riesigen Schrecken.
Die riesigen Mäuse hatten plötzlich alle das Gesicht von Petra Pesotzky angenommen. Quietschend und ihre spitzen Zähne fletschend, hasteten sie Nissa hinterher.
Sie drehte panisch den Kopf wieder nach vorne und beschleunigte ihren Schritt. Das war eindeutig ein viel zu realistischer Albtraum!
Nissa rannte und rannte. Der seltsame Tunnel, durch den sie liefen, schien schier endlos zu sein. Beinahe so, als würde er sie, ohne eine Aussicht auf einen Fluchtweg, immer wieder im Kreis herumführen.
Glücklicherweise schien sie weder müde zu werden, noch schafften es die Mäuse hinter ihr, sie auch nur ein kleines Stück einzuholen. Langsam fragte sie sich ernsthaft, ob sie erst aufhören würde zu laufen, wenn sie diesem seltsamen Traum entkommen und endlich aufwachen würde.
„… das Buch! Gib uns das Buch!“
Langsam nervte der Singsang wirklich.
Welches Buch konnten die blöden Biester denn meinen?
Ein Lexikon für verwöhnte Kinder? Ein Buch über Mäusekunde? Was konnte sie denn solchen Traummonstern bieten?
Plötzlich kam ihr die zündende Idee!
Nissa schwang den Arm nach hinten auf ihren Rücken, zog ihre Schultasche (war diese vorher auch schon da gewesen?) nach vorne und begann blindlings darin zu wühlen. Sie griff in Laub und Zweige und etwas, das sich wie die schleimigen Überreste der toten Käfer aus ihrem Unterschlupf anfühlte. Sie grub aber tapfer weiter, bis sie schließlich tatsächlich ein Buch zu fassen bekam.
Hektisch riss sie es heraus und drehte es in der Hand herum, sodass sie den Buchrücken sehen konnte. Dieses Buch war definitiv keines ihrer Lehrbücher, das erkannte sie sofort. Ihre Schulbücher waren allesamt papiergebunden, doch dieses hier hatte einen festen, blauen Leineneinband, einen verstärkten Buchrücken und einen Titel in goldenen Reliefschriftzeichen.
Nissa kniff die Augen zusammen. Was sollte das denn heißen? Egal, wie sie das Buch drehte und wendete, sie konnte nicht entziffern, was da geschrieben stand.
Es war nicht die Sprache, in der es geschrieben war – es war eher die Schrift an sich.
Nissa hatte noch nie derartige Zeichen gesehen. Sie kannte die kyrillische Schrift aus dem Unterricht. Sie wusste, wie in etwa die Schriftzeichen der Chinesen aussahen und natürlich auch das griechische Alphabet.
Aber das hier, das war etwas völlig anderes. Diese Schrift hier bestand nur aus Schnörkeln und kleinen Punkten, ganz anders als alles, was Nissa je gesehen hatte.
Sie war so fasziniert von den fremdartigen Zeichen, dass sie sich nur noch darauf konzentrierte und so kam es, dass sie die Treppe übersah, die vor ihr wie aus dem Nichts auftauchte. Sie verfehlte die erste Stufe und stolperte … Gleichzeitig schrak Nissa im Wald aus ihrem Schlaf hoch und stieß sich dabei unsanft den Kopf an dem umgestürzten Baum, der ihre provisorische Schlafzimmerdecke bildete.
Blinzelnd und noch im halb im Dämmerschlaf rieb sie sich die schmerzende Stelle.
„Na, das muss ja ganz schön wehgetan haben, so wie das geklungen hat!“
Nissa fuhr erschrocken herum. Hinter ihr blitzten im Gestrüpp zwei gelbe Augen auf. Sie wand sich so schnell sie konnte rückwärts aus ihrem Unterschlupf heraus und wich schnaufend ein paar Schritte zurück.
„W-W-Was … W-Wer?“
Mehr als dieses Gestotter brachte Nissa nicht heraus, dafür war sie zu aufgewühlt. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie regungslos da und starrte ins Gebüsch.
„Ach, natürlich! Verzeih mir mein rüpelhaftes Auftreten, junge Dame. Wie unhöflich von mir! Ich sollte mich vorstellen ...“
Es raschelte und einen Augenblick später konnte Nissa eine kleine weiße Pfote erkennen, die zwischen den Blättern herauslugte.
Das ist ja Fell!
Bevor sie den Schrei ausstoßen konnte, der in ihrer Kehle steckte, raschelte es ein zweites Mal. Nissa konnte es kaum glauben: Vor ihr stand tatsächlich eine stattliche Katze mit glänzendem Fell, das bis auf die weißen Pfoten und einen weißen Fleck, der sich über das halbe Gesicht erstreckte, völlig schwarz war. Außer diesen weißen Farbklecksen stachen die auffällig gelben Augen hervor.
„Mein Name ist Linus, Linus von Lix. Stets zu Diensten, mein Fräulein!“ Der Kopf der Katze neigte sich ein wenig, wie zu einem höflichen Gruß, doch die frech blitzenden Augen blieben stur an Nissa haften. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe dich hier schlafen sehen, und dachte, du brauchst vielleicht Hilfe. Immerhin hast du im Schlaf geredet. Wie ich vernommen habe, suchst du ein Buch?“
„N-Nein, ich meine ja, ähm …“, Nissa versuchte, sich zusammenzureißen. Das musste noch immer ein Traum sein. Eine gelbäugige Katze, die mit ihr redete – das war ja noch verrückter als die Mäuse mit Petras Gesicht!
„Keine Angst, du träumst nicht. Und außerdem bin ich ein Kater, keine Katze – nur um das klarzustellen“, schnurrte Linus ihr zu, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er lief in einem Bogen um Nissa herum bis zum Eingang ihres Unterschlupfes und lugte verstohlen hinein.
„Ich bin so wirklich wie der modrige Boden auf dem du da sitzt, das kannst du mir glauben. Sicher, für dich sehe ich aus wie ein gewöhnliches Haustier, doch ich bin weit mehr als das. In Wirklichkeit bin ich nämlich ein Wächter. Ich wache über alles, was, ähm, … verloren ist. Genau! Und sind wir mal ehrlich, du siehst ja wohl ziemlich verloren aus, oder?“
Nissa wurde schwindlig, sie musste sich setzen. Das dumpfe Pochen, das von ihrer inzwischen mächtig wachsenden Beule ausging, sprach für sich – sie war eindeutig wach.
„Linus …“, murmelte sie, „aber wie kann denn das sein?
Wie kannst du mit mir sprechen? Du bist eine Katze.
Ich glaube deine Stimmbänder sind noch nicht mal dazu in der Lage?“
„Meine Stimmbänder? Ach, eine kleine Schlaumeierin! Du hast wohl in der Schule gut aufgepasst, was?“,
antwortete Linus gelassen.
„Es ist, wie ich schon gesagt habe. Ich bin keine normale Katze, im herkömmlichen Sinne, ich bin ein Wächter.
Und die Tatsache, dass du mich hören kannst, kann nur eines bedeuten. Du hast tatsächlich etwas verloren.“
Nissa schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich wüsste nicht was …“
Er beobachtete sie neugierig.
„Also nicht einmal das Buch, das du da im Schlaf erwähnt hast? Denk darüber nach!“
Nissa schien kurz zu überlegen.
„Nein, ich habe kein Buch verloren – glaube ich zumindest. Das Einzige, das ich wirklich verloren habe, ist meine Orientierung. Ich weiß nicht mehr, wie ich nach Hause komme.
Ich glaube, dass ich mich gestern Abend vollkommen verlaufen habe. Aber es war so ein Drunter und Drüber und dann auch noch Petra und diese Mädchen.“
„Jaja, ich verstehe schon“, seufzte Linus, offensichtlich enttäuscht. „Ich würde sagen, dann liegt es jetzt an mir.
Komm, ich werde dir helfen. Wir bringen dich jetzt mal heim.“
Er nahm einen Satz über einen am Boden liegenden Ast und deutete Nissa, ihm zu folgen.
„Aber woher willst du denn wissen, wo ich wohne?“
Sie sah Linus stirnrunzelnd nach, während er schwänzelnd vor ihr im Unterholz verschwand.
„Ich weiß nicht, wo du wohnst. Aber du weißt es, das reicht uns fürs Erste. Und jetzt komm, lass uns nicht trödeln.“
Nissa ging noch einmal kurz zurück zu dem Unterschlupf, zog ihre Schultasche aus der Höhle und begann, ihm nachzulaufen.
„Das wird sicher Ärger geben“, sagte sie im Stillen zu sich selber. Linus drehte den Kopf nach ihr um und grinste.
„Nein, das denke ich nicht.“
Nissa stieß einen Seufzer aus. Er hatte wirklich gute Ohren. Sie gab sich Mühe von nun an nicht mehr laut zu denken und folgte ihm ins Gebüsch.
Es dauerte knapp zwei Stunden und Nissa stand tatsächlich wieder vor dem Gartentor ihres Hauses. Sie wirkte etwas abgekämpft, war aber immerhin in einem Stück angekommen und bis auf die immer noch heftig pochenden Kratzer unversehrt. Der hochstehenden Sonne nach war es etwa Mittagszeit. Doch so genau wusste sie es nicht, sie hatte so gut wie nie eine Uhr dabei.
Die Sonne schien steil von oben auf das kleine Häuschen und Nissa musste blinzeln, als ihr ein vom Küchenfenster reflektierter Sonnenstrahl direkt in die Augen stach. Der Duft von überbackenem Käse stieg ihr aus dieser Richtung in die Nase.
Ihre Mutter war also noch nicht auf der Arbeit, dann musste es noch Vormittag sein. Und sie kochte?
Warum um Himmels willen kochte sie? Warum saß sie nicht neben dem Telefon, ungeduldig auf einen Anruf von der Polizei wartend, während sie sich die Augen nach ihrer verschwundenen Tochter ausheulte?
Ungläubig ließ Nissa Linus einfach stehen, stieß das Tor auf und stürmte zur Haustüre. Auf dem Fußabtreter hielt sie kurz inne, atmete tief ein und öffnete die Tür.
Ihre Mutter stand wirklich am Herd. Und was noch schlimmer war: sie stand am Herd und strahlte über das ganze Gesicht, als Nissa hereinkam.
Nissa ging auf sie zu und begann zu schluchzen.
„Mama, es tut mir so leid. Ich kann nichts dafür. Da war Petra und diese anderen fiesen Mädchen und ich bin gerannt, so schnell ich nur konnte. Da waren so viele Bäume … und es ist so schnell dunkel geworden und ich habe den Weg nicht mehr gefunden …“
Nun brach sie endgültig in Tränen aus. Ihre Mutter nahm sie erschrocken in die Arme.
„Aber Nissy, was ist denn los? So schlecht kann dein Zeugnis doch gar nicht ausgefallen sein. Und warum bist du denn so schmutzig? Überall dieses Zeug …“ Sie lächelte sanft, nahm den Kopf ihrer Tochter zwischen ihre Hände und zupfte ihr ein paar Moosreste, Blätter und Ästchen aus den zerzausten Haaren.
„Und jetzt setzen wir uns mal hin und du erzählst mir, was los ist, ok?“
Nissa riss sich aus der Umarmung los und sah ihre Mutter ungläubig an.
„Du hast mich nicht vermisst? Hast du dir denn gar keine Sorgen gemacht, wo ich die ganze Zeit abgeblieben bin?“
„Wieso, sollte ich? Ich versteh dich nicht ganz, ist denn etwas passiert? Als du heute Morgen aus dem Haus gingst, schien noch alles in Ordnung zu sein?“
Heute Morgen? Was meinte ihre Mutter denn mit „Heute Morgen“? Nissa wurde schwindlig und sie musste sich setzen. Elly schob ihr vorsichtig einen Stuhl hin.
Inzwischen sah sie wirklich besorgt aus.
„Was für einen Tag haben wir denn heute?“, fragte Nissa vorsichtig.
„Freitag! Freitag, der achte Juli, und es ist jetzt knapp vor zwölf Uhr mittags. Heute war Zeugnistag, schon vergessen? Nissy, was ist los mit dir?“
Nissa verstand die Welt nicht mehr. Was ging hier nur vor sich?
„Ich denke, du gehst jetzt erstmal in dein Zimmer und legst dich ein wenig hin. Ich rufe dich dann, sobald das Essen fertig ist. Es gibt Lasagne, nur für dich. Und ich muss heute erst um drei zur Arbeit. Molly springt die Zeit davor für mich ein, zur Feier des Tages, dachte ich.
Aber was mach ich denn da? Ich kau’ dir ja ein Ohr ab und das, obwohl es dir nicht gut geht. Wir können nachher immer noch darüber reden. Jetzt geh und leg dich ein halbes Stündlein hin, das wird dir gut tun.“ Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der die Schultasche stand.
„Und nimm die gleich mit nach oben, bitte. Die brauchst du ja jetzt für eine Weile nicht mehr.“
Nissa tat, was ihre Mutter sagte, und schnappte sich die Tasche. Sie war wirklich völlig durch den Wind. Vielleicht war ein wenig Ruhe jetzt genau das Richtige. Ohne auch nur ihre Schuhe auszuziehen, ging sie die knarrende Holztreppe hinauf, schnurstracks in ihr Zimmer.
Die Tür hinter ihr glitt langsam ins Schloss und Nissa ließ sich auf ihr Bett fallen. Das tat wirklich gut.
Sie schloss ihre Augen und ließ den gestrigen Tag noch einmal Revue passieren. Oder war es doch der heutige?
Die Zeugnisvergabe, ihre unfreiwillige und verhängnisvolle Konfrontation mit Petra und die anschließende Flucht, die vielen Bäume, ihre zerrissene Jeans …
„Die Jeans, das ist es!“
Mit einem Ruck setzte sie sich auf und zog ihr Bein an sich, um die Hosenröhren zu untersuchen. Und tatsächlich war da eine kleine, blutverkrustete Wunde knapp oberhalb ihres Knöchels und ein langer, ausgefranster Riss in ihrer Jeans.
Also war das alles doch kein Traum gewesen!
Sie war wirklich im Wald gewesen und hatte mit einer Katze geredet. Nissa stöhnte auf und ließ sich wieder zurückfallen. Im selben Moment klopfte es am Fenster. Erschrocken zuckte sie zusammen und sah hinüber.
Es war Linus, der draußen auf dem Fenstersims hockte und mit seiner Pfote gegen das Glas tappte. Wie war er denn bloß hier hinaufgekommen? Konnte er jetzt außer sprechen auch noch fliegen? Doch dann fiel ihr der Baum draußen im Garten ein. Und auf Bäume klettern konnten ja immerhin auch normale Katzen. Sie stand vom Bett auf und ging zum Fenster um es zu öffnen.
„Hallöchen, Liebes. Alles in Ordnung mit dir? Du siehst so blass aus, beinahe als hättest du einen Geist gesehen?
Tut mir leid, du bist vorhin so schnell davon gerannt, dass ich gar nicht erst dazu gekommen bin, dir alles zu erklären.“
Linus nahm seinen Schwanz hoch und sprang auf den Teppichboden.
„Schön hast du’s hier, muss ich sagen. Sieht richtig nett aus.“
Er strich an ihrem Fuß vorbei und schaute sich um.
Nissas Zimmer war nicht groß, doch gemütlich eingerichtet.
Die Wände und die Holztüren an ihrem Kleiderschrank hatten sie und Elly letztes Jahr in ihrer Lieblingsfarbe, Maigrün, gestrichen. In der Mitte des Zimmers stand ihr Bett. Das hatten sie zwar nicht extra grün gestrichen, dafür war es aber völlig zugepflastert mit unzähligen kleinen Kissen in allen möglichen Grüntönen. Auf dem kleinen Nachttisch thronte eine kitschige Lampe, welche die Form eines Fliegenpilzes hatte. Daneben lagen unordentlich ein paar Bücher.
In der Ecke rechts neben ihrem Bett stand ein alter Schreibtisch aus verblichenem Eichenholz und direkt daneben, unter dem Fenster, durch das Linus gerade hereingekommen war, stand ein großer, blühender Kaktus. Besonders stolz war Nissa auf ihre kleine Bibliothek. An der Wand gleich links neben der Tür stand ein großes Regal mit unzähligen Büchern.
Nissa liebte es, zu lesen. Sie hatte Bücher über physikalische Experimente, Biologie und Mathematik, doch auch Krimis und Märchenbücher, und alle waren hier akkurat nebeneinander aufgereiht.
„Ja, ähm, Dankeschön“, erwiderte sie. „Also erst einmal, was machst du jetzt hier? Und vor allem würde ich von dir wirklich gerne wissen, warum wir heute gestern haben und nicht morgen. Oder so ähnlich … Ich kapier irgendwie gar nichts mehr. Aber ich bin mir ziemlich sicher, du hast etwas damit zu tun!“
Linus grinste Nissa verschmitzt an.
„Na sicher hab ich das. Ich hab ein bisschen an der Zeit herumgespielt. Eine kleine Gabe, die uns Wächtern in die Wiege gelegt wird. Nennen wir es einfach mal ein kleines Geschenk unter Freunden. Ich hab dir ja gesagt, du wirst keinen Ärger mit deiner Mutter bekommen, und habe ich etwa gelogen?“
„Willst du damit sagen, du kannst die Zeit zurückdrehen, ganz so, wie du möchtest?“ Sie sah ihn fassungslos an.
„Nun ja“, sagte Linus und schien ein wenig stolz zu sein. „Ich kann nicht nur das. Ich kann mit der Zeit machen, was ich will. Auch nach vorne drehen ist kein Problem, möchtest du mal sehen?“
Er wackelte mit seinen Schnurrbarthaaren. Noch ehe Nissa ein „Nein“ herausbringen konnte, begann schlagartig alles um sie herum zu verschwimmen.
Sie wurden heftig hin und her geschüttelt und Nissa landete unsanft auf ihrem Hintern. Der Boden fühlte sich auf einmal gar nicht mehr nach ihrem kuscheligen Teppich an. Es war nun eher etwas, das in die Richtung kaltes Metall ging. Und zu allem Übel vibrierte es auch noch höllisch.
Es gab einen kurzen Ruck, einen lauten Knall und Nissa schlug einen unfreiwilligen Purzelbaum rückwärts.
Mit knapper Not schaffte sie es, sich wieder aufzusetzen und rieb sich die Augen. Das verschwommene Umfeld war nun endlich scharf genug, sodass Nissa erkennen konnte, worauf sie eigentlich saß. Sie sah sich um und traute ihren Augen kaum: Sie befanden sich auf einem riesigen Flugzeug – jedenfalls war es wenigstens einem Flugzeug ähnlich. Doch irgendwie stimmte etwas nicht.
Die Flügel waren viel zu kurz und statt einem waren es zwei Paar auf jeder Seite. Ein unheimlicher Lärm kam auf. War dieses Ding etwa gerade dabei zu starten?
Nissa schaute sich entsetzt und hilfesuchend nach Linus um und entdeckte ihn ein gutes Stück hinter ihr. Er schien ebenfalls recht überrascht zu sein, und wie es aussah, hatte er trotz seiner Krallen ebenso die größte Mühe, sich auf der spiegelglatten Oberfläche festzuhalten.
„Ups, das war dann doch ein wenig zu weit!“, brüllte er durch das Getöse Nissa zu.
„Ein wenig?“
„Jaja, kann doch jedem Mal passieren …“
Nissa konnte sehen, wie er abermals mit seinen Schnurrbarthaaren wackelte. Es wurde noch einmal kurz schummrig um sie herum und bereits einige Sekunden später saßen beide keuchend wieder in Nissas Zimmer.
Der Boden hatte nun wieder seine gewohnt kuschelige Textur angenommen und auch die Möbel waren wieder dort, wo sie hingehörten.
„Mach das bitte nie, NIE wieder!“
Linus sah etwas geknickt aus und knurrte ein beinahe unverständliches „‘Tschuldigung, kann doch echt jedem mal passieren!“
Nissa sah den Kater einen Augenblick ernst an, wie er dastand, beschämt Richtung Boden starrend, und begann dann lauthals zu lachen. Linus, der erst nicht ganz verstand, stutzte einen Moment und beobachtete Nissa.
Als er sich dann sicher war, dass sie es ernst meinte, musste er ebenfalls lachen. So lagen sie beide in ihrem Zimmer am Boden, kugelten sich und hielten sich die Bäuche, bis Nissa Schritte auf der Treppe hörte.
„Versteck’ dich, ich glaube meine Mama kommt!“, keuchte sie.
Linus, immer noch nach Atem ringend, rappelte sich auf und huschte unter das Bett. Gerade in dem Moment, als sein Schwanz ganz darunter verschwand, klopfte es an der Tür.
„Nissy? Ich habe seltsamen Lärm gehört. Ist alles in Ordnung mit dir? Hast du dir wehgetan? Ich komm jetzt zu dir rein, okay?“
„Klar, Mama!“
Sie stand vom Boden auf und wischte sich noch schnell die Tränen aus den Augen, als ihre Mutter auch schon vor ihr im Zimmer stand.
„Alles okay bei dir? Ich glaub, ich hab dich laut lachen gehört. Und dann dieser Lärm … Was war denn los?“
Sie musterte ihre Tochter besorgt.
„Öhm“, sagte Nissa nach einer Ausrede suchend.
„Ich habe einen Witz gelesen, war ziemlich gut …“ Das war wirklich lahm, aber auf die Schnelle war ihr nichts Besseres eingefallen.
Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf und hoffte inständig, ihre Mutter würde ihr das abkaufen. Doch die blickte ein wenig argwöhnisch im Zimmer umher.
„Und wo hast du denn diesen Witz gelesen?“
„Das äääh, … das war schon heute Morgen, ist mir nur eben wieder eingefallen. Ich hab ihn nur erst nicht ganz verstanden, doch jetzt plötzlich – na, du weißt ja, wie das ist.“
Sie sahen einander einen Augenblick an. In den Augen von Elly konnte Nissa lesen, dass sie ihre Lüge durchschaut hatte, doch dann seufzte ihre Mutter kapitulierend.
„Na gut, dann komm nachher runter du Blitzmerker. Das Essen ist fast fertig und unser Besuch sollte auch jeden Moment eintreffen.“
Nissas Großeltern kamen am Zeugnistag immer vorbei, um ihrer Enkelin persönlich zu ihren Erfolgen zu gratulieren. Das war schon seit der Volksschule so etwas wie Tradition in ihrer Familie. Elly ging hinaus und schloss die Türe hinter sich.
„Na, das ging gerade noch einmal gut.“ Nissa drehte sich um und sah Linus völlig verstaubt unterm Bett hervorkriechen. Er schüttelte sich, und eine Wolke grauer Fusseln flog von ihm weg.
Nissa kicherte.
„Ich sollte vielleicht wieder mal unter dem Bett staubsaugen, denke ich.“
Linus sagte nichts, schnaubte aber verächtlich, als er sich die letzten Spinnweben mit den Krallen von den Ohren zog.
„Ich muss jetzt nach unten zum Essen, meine Mutter hat für mich gekocht. Ich beeile mich, du bist doch nachher noch da?“
Linus schüttelte den Kopf und sah unsicher zur Seite.
„Naja, ich weiß nicht … ähm, vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher, ich hab da noch was vor.“
Nissa lächelte und ging zur Tür. Zuvor drehte sie sich noch einmal zu Linus um.
„Trotzdem danke für alles … und vielleicht ja doch bis später.“
Sie glaubte, ein geknurrtes „Gern geschehen!“ zu hören, als sie die Türe hinter sich schloss. Wie der Blitz flitzte sie die Treppe hinunter, und gerade als sie den Fuß auf die letzte Stufe setzte, läutete es auch schon an der Haustüre.
„Ich geh schon“, rief sie ihrer Mutter in der Küche zu, lief den Gang entlang zur Tür und öffnete sie.
Ein riesiger Blumenstrauß und ein knallgrünes Geschenkpaket sprangen ihr regelrecht entgegen. Dahinter standen, mit freudestrahlenden Gesichtern, ihre Großeltern, Oma und Opa Zink.
„Fröhlichen Zeugnistag!“, jubelten sie vergnügt.
„Woher wollt ihr denn wissen, wie meine Noten ausgefallen sind, ohne auch nur eine Ecke von meinem Zeugnis gesehen zu haben?“, neckte Nissa sie, während sie ihnen die Tür aufhielt.
„Na hör mal, Nissy“, ihr Großvater grinste und hängte seinen Hut an einen Haken an der Garderobe. Wir kennen doch unsere superkluge Schlaumeierenkelin!“
„Na, die Intelligenz muss sie von dir haben“, lachte Elly, die gerade mit einem Geschirrtuch über der Schulter aus der Küche gelaufen kam, um sie zu begrüßen. „Du hast deine ja nicht mehr.“ Sie zwinkerte und sofort brachen alle in Gelächter aus. Dann ging es gemeinsam ins Esszimmer.
Es nahmen alle am bereits gedeckten Tisch Platz,