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Marius ist der beste Raumpilot von Covocal. Zusammen mit seiner Kopilotin Tessa sorgt er dafür, dass eine reibungslose interstellare Raumfahrt durch die Dwarstunnel aufrecht erhalten wird. Mit den kleinen blitzenden Nivikristallen, die Marius von seinen Inspektionsflügen mitbringt, begeistert er seine Freundin Elena. Doch diese scheinbar harmlosen Andenken bergen unerforschte Geheimnisse in sich, lösen Missgunst aus und beginnen offenbar, ein Eigenleben zu entwickeln. In diesem Spannungsfeld hängt die Liebe zwischen Marius und Elena an einem seidenen Faden.
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2018
Thomas Höding
Nivigrains
Eine Liebeserzählung aus Covocal
© 2018 Thomas Höding
Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7469-4115-8
Hardcover
978-3-7469-4116-5
e-Book
978-3-7469-4117-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Alle Märchen sind nur Träumevon jener heimatlichen Welt,die überall und nirgends ist.
(Novalis)
- 1 -
Diesmal war es der vierte Dwarstunnel auf dem Patrouillenflug. Das tiefe Brummen des Thorne-Hofmann-Transversators befand sich im Abklingen, war schon beinahe nicht mehr zu hören, da erschien ein einzelnes, rot blinkendes Symbol auf dem Navigationsmonitor. Sein rhythmisches Aufleuchten tauchte das Cockpit in ein unwirkliches Licht, das die Konturen der Geräte und der beiden Menschen abwechselnd überdeutlich scharf erscheinen und dann wieder in undurchdringlicher Dunkelheit verschwinden ließ.
Die Driconn war gerade erst in den vordersten Sektor des Dwarstunnels eingeflogen, noch dabei, sich mit Hilfe der Instrumente zu orientieren. Doch die empfindlichen Ortungssysteme, in der Lage, gleich mehrere Sektoren auszuleuchten, hatten sofort den Fremdkörper entdeckt. Mit einer Geschwindigkeit, die im bekannten Weltall-Universum dem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit entsprochen hätte, tasteten sich ihre Strahlen an den Tunnelwänden entlang, hauchdünnen, unsichtbaren Barrieren – aber trotzdem undurchdringlich und das definitive Ende des Dwars-Universums. Bis zur nächsten Krümmung des Tunnels, zwei oder drei Sektoren weiter, blieb ihnen keine Unregelmäßigkeit in der Tunnelwand und schon gar kein Fremdkörper verborgen.
Das rot blinkende Symbol, in seiner Form einer einzelnen bauschigen Wolke am Himmel eines sonnigen Sommertages nicht unähnlich, zeigte an, dass die Driconn eines ihrer gesuchten Ziele nahe vor sich hatte.
„Wir müssen nicht einmal ein umständliches Flugmanöver einleiten“, stellte Tessa fest, nachdem sie einen Blick auf weitere Piktogramme auf dem großen Monitor geworfen hatte. „Die Driconn treibt langsam auf das Ziel zu.“ Sie wandte den Kopf, sah Marius an und zwinkerte ihm zu. „Ich nehme an, jetzt willst Du übernehmen?“
„Driconn: Kommandowechsel. Marius Pilot, Tessa Kopilot!“ Er setzte den Bordcomputer mit dieser kurzen Wortformel routiniert wie schon hunderte Male zuvor in Kenntnis und hatte nun die volle Kommandogewalt über das Raumschiff.
Dann erst ging er auf Tessas leicht spöttischen Unterton ein. „Nachdem Du die Driconn so passgenau in den Dwarstunnel gebracht hast, muss ich doch nun auch beweisen, dass ich nicht überflüssig an Bord bin, oder?“
„Streng Dich an, mein Lieber!“, grinste Tessa. „Ich hab Dir ja gerade sowas von Präzision vorgegeben…!“
„Ha, da kann ich noch einen draufsetzen!“, war sich Marius sicher. „Warte ein bisschen und ich liefere Dir den Beweis! Übrigens muss ich den Anflugwinkel doch noch etwas verändern.“
Der Abstand zum Ziel verkleinerte sich schnell und Marius vergewisserte sich noch einmal gewissenhaft der Identität des Fremdkörpers. Ja, es war eindeutig eine Niviwolke. Sie war sogar außergewöhnlich groß, was ihn besonders erfreute. Meist waren diese Nivizusammenballungen wesentlich kleiner. Sie wurden dann gemeinhin als Niviflocken bezeichnet und ließen sich unkompliziert auf winzige Nivigrains, nicht größer als Getreidekörnchen, kompaktieren. Aber diese hier war eine besondere Herausforderung!
Er konzentrierte sich auf den größer werdenden Reflex der Wolke, deren Konturen er in einem Splitscreenfeld neben dem stetig weiterblinkenden Symbol visualisierte. Seine Hände ruhten fast bewegungslos auf dem Steuerstick an der Seitenlehne seines Pilotensessels, nur ab und zu tippte er ihn kurz an. Die entscheidenden Befehle, die Kurs und Annäherungsgeschwindigkeit der Driconn bestimmten, gab er über die visuelle Steuerung. Vor dem Kommandoplatz befindliche Sensoren verfolgten die Bewegungen seiner Augen und setzten sie in unmittelbare Reaktionen des Raumschiffs um.
Das engräumige Manövrieren eines Raumschiffes innerhalb eines Dwarstunnels beherrschten nur wenige Raumpiloten. Die meisten Raumschiffe benutzten Dwarstunnel lediglich als Durchgangsmedium, um die Flugstrecken zwischen Start- und Zielplaneten in verschiedenen Sonnensystemen abzukürzen. War ein Raumschiff mit Hilfe seines Thorne-Hofmann-Transversators erst einmal in den anvisierten Dwarstunnel gelangt, rutschte es buchstäblich durch den Tunnel hindurch wie ein Kirschkern durch den Darm, bis es an dessen Ende nach einer erneuten Transversion wieder in das gewohnte, von Galaxien, Sternen und Planeten erfüllte Weltall-Universum zurückfiel.
Die Entdeckung der Dwarstunnel – in früheren Zeiten wurden sie manchmal auch Wurmlöcher genannt – und der Möglichkeit, diese zu durchfliegen, hatten die interstellare Raumfahrt erst möglich gemacht.
War zwischen zwei noch so weit entfernten Planetensystemen erst einmal ein Dwarstunnel entdeckt und vermessen worden, so bot sich die Möglichkeit, diese Entfernung innerhalb weniger Tage oder Wochen überbrücken zu können. Distanzen von Tausenden von Lichtjahren stellten somit kein Hindernis mehr für die weltraumfahrende Menschheit dar. Den Übertritt von Raumschiffen in das Universum der Dwarstunnel, das ganz anderen Gesetzen unterlag als das Weltall-Universum, besorgte der nach seinen Erfindern benannte Thorne-Hofmann-Transversator.
Dieser war in der Lage, in bestimmten Zonen sogenannter „Labiler Gravitation“ das Raumzeit-Kontinuum des Weltall-Universums aufzubrechen und das mit seinem Energiefeld umhüllte Raumschiff in den Dwarstunnel ein- und auch wieder auszuschleusen.
Marius und auch Tessa gehörten zu den besten Raumpiloten von Covocal, Piloten, denen das Manövrieren in Dwarstunneln keine Schwierigkeiten bereitete. Natürlich nur, wenn sie in einem Raumschiff wie der Driconn saßen…
Sie waren für die Sicherheit in den Dwarstunneln zuständig. Für das Einfangen von Niviwolken und Niviflocken, deren Vorformen wie Protoschwaden und Flachnebel, für das Neutralisieren von Elementaragglomeraten, die durchfliegende Frachtraumschiffe des Öfteren hinterließen, für das Glätten von Pulsationsfrequenzen der Tunnelwände und für das Einsammeln von Transversionsschrott. Auch für die Vermessung der unregelmäßigen Driftbewegungen von Dwarstunneln war die Driconn ausgerüstet.
Heute war es eine sehr große Niviwolke, die die Driconn entdeckt hatte, eine jener lockeren Zusammenballungen aus nur hier vorkommender Materie, bestehend aus unzähligen winzig kleinen Nivi. Niviwolken waren Gebilde, die Marius besonders liebte…
Sie waren die am seltensten vorkommenden Materieanhäufungen, die die Dwarstunnel-Inspekteure antrafen. Ihre unregelmäßige Form erinnerte den einen an Schwämme, die auf dem Meeresboden aufsaßen, den anderen an Wolken, die beständig ihre Form änderten, in denen die Nivi ähnlich winzig kleinen Wassertröpfchen wild durcheinanderwirbelten. – Aber egal ob Wolke oder Schwamm, das waren alles nur behelfsmäßige Umschreibungen, die weder dem Aussehen noch dem Wesen einer Niviwolke auch nur einigermaßen nahekommen konnten. Um die Vorgänge in Dwarstunneln anschaulich beschreiben zu können, hatten sich Wissenschaftler und Tunnelinspekteure so etwas wie eine eigene Sprache aus lauter Komplementärtermini geschaffen.
Die Nivi waren einzeln überhaupt nicht zu erkennen, eine aus ihnen gebildete Flocke oder Wolke nur mit Hilfe der Instrumente; würde es in einem Dwarstunnel die Möglichkeit einer visuellen Beobachtung geben, nichts würde auf ihr Vorhandensein hindeuten.
Wehe jedoch, ein Raumschiff streifte bei der Passage des Tunnels ein solches Gebilde. Das Thorne-Hofmann-Feld, das es schützend einhüllte, würde bei einer solchen Begegnung aufgerissen und das Raumschiff wäre unweigerlich verloren.
Die Driconn näherte sich, den unausgesprochenen Steuerbefehlen ihres Kommandanten Marius gehorchend, weiter der Niviwolke. Auf dem großen Monitor, der fast die gesamte Stirnfläche der Kommandokanzel einnahm, ploppte ein weiterer Splitscreen auf.
„Die Wolke wabert direkt an der Tunnelwand entlang“, konstatierte Tessa, die das aus unzähligen diffus verteilten grauen Pünktchen bestehende Bild analysierte. Der Übergang dieser Punktwolke zum tiefen Schwarz der übrigen Monitorfläche war scharf, aber nicht stabil.
„Na, soll ich doch lieber…?“, fragte sie, aber ihr Tonfall verriet, dass sie Marius den Schuss keinesfalls streitig machen wollte.
„Ziemlich nahe an der Pulsation der Tunnelwand“, bestätigte Marius. „Da braucht es einen echten Kunstschuss. Also bin ich hier genau richtig. Meinst Du nicht?“
Tessa setzte eine scheinbar empörte Miene auf.
Sie sahen sich kurz an und grinsten beide.
An der Außenhülle der Driconn veränderte sich die Oberfläche der Schutzmembran an einem der Wolke zugewandten Sektor. Der Bordcomputer hatte die notwendigen Parameter errechnet, Marius das Raumschiff in Position gebracht und den Befehl bestätigt, die erforderliche Abstrahlfläche zu strukturieren. Die Außenhülle der Driconn wurde in einem Kreisdurchmesser von etwa zwanzig Zentimetern zu einem Elementarteilchenemitter, der bereit war, in genau berechneten Abständen Dwarsneutronen in Richtung der Niviwolke zu schleudern.
„Position Driconn stabil, Ziel erfasst, Beschleuniger auf grün“, fasste Tessa sachlich die verschiedenen Messwerte zusammen.
„Na dann los!“ Den Befehl zum „Go!“ gab Marius mit einer leichten Bewegung des Zeigefingers.
Dann verließ, auf unsichtbarer Spur im Dwarstunnel und erst recht unsichtbar für alle eventuellen Beobachter im sternenerfüllten Weltall-Universum, nur auf dem Monitor der Driconn visualisierbar, ein langer Strahl von Dwarsneutronen die Abstrahlfläche.
Am Beginn der langen Kette der Dwarsneutronen flogen langsame Teilchen in großen Abständen. Diese Abstände verringerten sich mit dem Fortwähren des Abstrahlens immer weiter und die vom Emitter ausgeschickten Teilchen wurden gleichzeitig immer schneller. Nach einer Emissionsdauer von mehreren Sekunden kam es an einem genau berechneten winzig kleinen Punkt mitten in der Niviwolke zu einem kritischen Zusammentreffen verschieden schneller Dwarsneutronen.
Die energetische und Massenzusammenballung, die sich exponentiell aufbaute, führte zur genau kalkulierten Interaktion mit den winzig kleinen Teilen der Wolke, den Nivi. Die Wolke implodierte einfach.
Um den punktförmigen Kern, der aus der Kollision und schließlichen energetischen Verschmelzung der Dwarsneutronen entstand, lagerten sich in dichter kristalliner Packung die Teilchen der Wolke, die Nivi. Aus der ungeordneten amorphen Struktur entstand unter dem Einfluss der aus den Dwarsneutronen freigesetzten Energie ein bis in die atomare Ebene exakt aufgebautes Kristallgerüst. Die Nivi waren keine Nivi mehr. Die Niviwolke war keine Niviwolke mehr. Sie war zu einem festen kristallinen Körper geworden.
Ja, mehr noch: Unter dem Einfluss der Bestrahlung und des energetischen Phasenwechsels der Dwarsneutronen war ein Stück Materie entstanden, das nun nicht nur in der Dimension der Dwarstunnel stabil existieren konnte, sondern auch im Weltall-Universum.
„Relikte der Niviwolke nicht mehr erkennbar, auch keine Anhäufungen von Nivi messbar. Also keine Gefahr mehr für passierende Raumschiffe“, konstatierte Tessa nach einem Blick auf die Instrumente. „Du hast alles sauber abgeräumt und kristallisieren lassen. Auch die Tunnelwand zeigt keine außergewöhnliche Pulsation.“
„Na sag ich doch, ein richtiger Kunstschuss.“ So ganz sicher war sich Marius seiner selbst ob der Größe und der schwierigen Lage der Wolke nahe der Tunnelwand nicht gewesen, nun aber froh, dass sie keine Rekonstruktionsarbeiten an der Wand vornehmen mussten.
„Dann kannst Du ja jetzt Deine Trophäe einsammeln, Marius, oder lässt Du mich das erledigen?“
„Oh nein, meine Liebe. Das Einsammeln gehört selbstverständlich dazu! Du willst es aber heute genau wissen. Hast Du vielleicht auch plötzlich Interesse an so einem niedlichen Nivikristall?“
Während er sprach, hatte er die Driconn vorsichtig an den treibenden Kristall heranmanövriert und brachte ihn mit Hilfe der Manipulatoren an Bord. Tessa beobachtete ihn dabei aufmerksam. Das musste man Marius lassen: er war der Einzige, der Niviwolken oder Niviflocken zu solch exakten Kristallen kompaktieren konnte. Dazu hatte es langer Übung und vieler Fehlversuche bedurft. Die ersten Versuche hatten nur unansehnliche körnige Steinchen mit diversen Abplatzungen erbracht. Jetzt aber legte er allen Ehrgeiz darein, mit Hilfe des Dwarsneutronenstrahls exakte idiomorphe Kristalle zu erhalten – und in den meisten Fällen gelang ihm das.
Wenig später hielt Marius den dunkelgrünen halbdurchsichtigen Kristall in den Händen. Der Nivikristall war nicht ganz so groß wie ein Fingernagel. Er zeigte auf seiner Oberfläche eine Vielzahl ganz regelmäßig geformter glatter Kristallflächen. Es war einer der größten Nivikristalle, die die Driconn je kompaktiert hatte. Meist blieben nach der Kompaktion nur sehr kleine Nivigrains zurück, davon hatte Marius schon genug eingesammelt. Diese kleinen Dinger steckte er nur noch achtlos in seine Tasche.
Die wahre Schönheit des Nivikristalls ließ sich nur erahnen, wenn eine starke Lichtquelle auf ihn fiel. Dann reflektierte er das Licht wie das Feuer eines Brillanten. Er konnte auch noch sehr viel heller und schöner leuchten als ein solcher. Aber nicht jetzt. Jetzt schlief der Nivikristall. Zu seiner wahren Erweckung bedurfte es etwas ganz Besonderem.
Marius stellte sich immer vor, dass jede dieser kleinen Kristallflächen für eines dieser winzigen Partikel der Wolke stand, jede für einen Nivi, und jetzt hielt er einen Nivikristall in der Hand, die Gesamtzahl aller Wolkenpartikelchen. In seinen Gedanken nahmen die Nivi fast wesensähnliche Züge an, aber das war natürlich Unsinn. Außerdem wusste er sehr genau um die Größenunterschiede der molekularen Ebene, auf der sich alle gerade stattgefundenen Vorgänge abgespielt hatten und dem real berührbaren Nivikristall.
Trotzdem fragte er sich immer wieder, was diese Nivi denn wohl sein könnten? Waren sie eine ureigenste Materieform der Dwarstunnel?
„Vielleicht sind es ja auch Hinterlassenschaften fremder Wesen, die irgendwann lange vor uns durch Dwarstunnel gereist sind? Und wer weiß, was andere intelligente Wesen, die nach uns kommen, wiederum von dem halten, was wir an Teilchen aus unserer Welt in den Tunneln hinterlassen?“, hatte er vor einiger Zeit sinniert.
Aber Tessa hatte nur ob seiner überbordenden Phantasie gelacht. Sie machte sich gern über seine Schwäche für die Nivierscheinungen lustig. Nun ja, sie wusste ja auch nicht das, was er wusste.
„Bestimmt hast Du in Deinem Wohnbau eine Vitrine, die schon von Nivikristallen überquillt?“, stichelte Tessa auch jetzt wieder. „Zeigst Du mir die mal?“
„Nee, keine Vitrine, ich habe eine viel bessere Verwendung dafür.“ Er wusste ganz genau, dass Tessa ihn nur aufziehen wollte, denn wie er wusste sie natürlich, dass die Nivikristalle bis vor kurzem allesamt ins kernphysikalische Institut von Covocal gegangen waren, wo sie jahrelang ebenso detailliert wie ergebnislos untersucht worden waren.
Zum Abschluss dieser Untersuchungen waren alle Kernphysiker und Mineralogen zu der Auffassung gelangt, dass ein Nivikristall im Weltall-Universum nichts anderes darstellte als einen silikatischen Mischkristall. Ähnlich dem Mineral Augit, einem recht gewöhnlichen Kettensilikat aus Silizium, Aluminium und Sauerstoff, angereichert mit einigen schwereren Metallionen im Kristallgitter. Augite, wie sie in Massen in vulkanischen Gesteinen vorkamen, teils in Kristallform – wenn auch nicht in solch einer schönen wie ein Nivikristall –, teils aber auch unscheinbar und unansehnlich wie ein normaler Stein.
Dann hatte das kernphysikalische Institut erklärt, kein Interesse mehr an weiteren Nivikristallen zu haben. Die Nivi, die Bestandteile der Niviflocken und Niviwolken, existierten in diesem Universum, dem Weltall-Universum, nicht mehr und ihre Atome waren, den Gesetzen der Kristallographie gehorchend, als gewöhnliche chemische Elemente in ein ganz kommunes silikatisches Kristallgitter eingebaut.
Niemand wusste, dass die Nivi, eingesperrt in den Augitkristall, noch existierten. Auch Marius wusste das nicht. Aber er hatte etwas entdeckt! Er hatte herausbekommen, wann diese Kristalle ihr faszinierendes Feuer versprühten.
Um Marius‘ Mund spielte ein geheimnisvolles verträumtes Lächeln. Ganz offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit weg…
Ja, er hatte eine viel bessere Verwendung für den Nivikristall! Die einzige, die den Stein wirklich zum Erglühen brachte.
- 2 -
Die Driconn stand wieder auf dem Landefeld des Raumhafens von Covocal, einer weiten ebenen Fläche, an deren Rand, ganz in der Ferne, ein einzelnes Gebäude auszumachen war. Die meisten Sektoren der Startfläche waren unbesetzt und nur durch die selbstleuchtenden Markierungen auf dem glatten Boden zu erkennen. Das Dämmerlicht des Tages ging wie immer in Covocal sehr schnell in Dunkelheit über, eine Folge der schnellen Rotationsgeschwindigkeit.
Tessa und Marius hatten die Selbstwartung der Driconn eingeschaltet und die Medienadapter für externe Andockungen freigegeben. Innerhalb von zwei Stunden würde das Raumschiff wieder startklar sein. Sie hatten zusammen die vorgeschriebene Runde um die Driconn gedreht, um eine visuelle Kontrolle auf Beschädigungen vorzunehmen. – Eine alte Vorschrift, deren Aufführung in den Manuals der letzten Jahre wahrscheinlich unabsichtlich zu streichen vergessen worden war, die aber für jeden Raumpiloten unabhängig davon zum Ritual nach der Landung gehörte. So auch für Tessa und Marius. Ein einfaches Weggehen von der Driconn wäre ihnen wie ein Davonstehlen ohne Abschied vorgekommen.
Als dann das Autocar neben ihnen abbremste, das sie zum Terminal bringen würde, gab Marius einen letzten Statusbericht in die Speicher der Driconn ein. Damit war ihr mehrtägiger Dienst beendet. Sie warfen ihr leichtes Handgepäck in das Autocar, stiegen ein und das selbstfahrende Vehikel nahm Kurs auf das Terminal.
„Sieh mal, dieser Raumfrachter, die Glapa, steht noch immer hier“, sagte Tessa, als sie an dem riesigen Schiff vorbeifuhren, das die Driconn um das Doppelte überragte. „Sollte die nicht schon vor einer Woche wieder starten?“
„Anscheinend sind die Gravitationszellen, die sie geladen hat, doch nicht so wichtig“, erwiderte Marius und dann fiel ihm noch ein: „Da wird die Besatzung wohl wieder in irgendeiner Bar sitzen und Krawall anzetteln. Die genießen wirklich ihren Zwangsaufenthalt in Covocal.“
Tessa schürzte die Lippen. „Genießen nennst Du das? Ich weiß ja nicht. Aber wahrscheinlich ist Krawall machen das Einzige, was ihnen hier die Langeweile vertreiben kann. Es gibt doch wahrlich aufregendere Orte als dieses weltvergessene Covocal.“
Die leere Startfläche, über die sie noch immer rollten, schien ihre Bemerkung demonstrativ zu unterstreichen. „Ich jedenfalls bleibe nicht ewig hier“, setzte sie etwas leiser hinzu und sah dabei Marius lange prüfend an. Ein wehmütiger Zug huschte über ihr Gesicht.
Marius war diese Stimmung an ihr schon des Öfteren aufgefallen, aber er war nie richtig darauf eingegangen. Was konnte er da auch schon sagen? Vielleicht war es ja einfach eine Laune, die Tessa in Abständen ergriff?
„Sieh doch selbst, Marius: ein leerer Raumhafen, eine Stadt, die hauptsächlich von Automaten bevölkert wird und deren eindrucksvollste Gebäude Funkstationen und Observatorien sind. Man ist ja direkt froh, mal einen Menschen zu treffen und das aufregendste Ereignis seit langer Zeit ist es, wenn mal eine Raumschiffbesatzung ein paar Tage lang rumrandaliert.“
„Na so schlimm ist es doch auch nicht“, versuchte es Marius etwas unbeholfen, „es gibt hier schließlich auch…“