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Ein herzzerreißendes Porträt vom Erwachsenwerden
Der fünfzehnjährige Jim flüchtet sich vor dem gewalttätigen Vater in die warmen Arme des Alkohols. In der Freundschaft zu Phillys und Jeremy und seiner Liebe zu Leslie findet er die grundehrlichen Werte und die Wärme, die er in seiner Familie nicht kriegen kann. Da geschieht eine Katastrophe und die Achterbahn seiner Gefühle fährt mit Vollgas in den Abgrund …
„Dieser Junge macht ALLES durch. Ich habe nie zuvor nachts wach gelegen und wegen einer Figur in einem Buch geweint … Trotzdem ist das Buch auch witzig – und es geht ans Herz.“ (Janina, 13 Jahre)
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Seitenzahl: 492
Veröffentlichungsjahr: 2020
DER AUTOR
Daniel Grey Marshall wuchs in Wisconsin auf. Nach einer Alkohol- und Drogenkarriere in früher Jugend begann er mit fünfzehn Jahren, »No Exit« zu schreiben, und zog nach New York. Mittlerweile hat er dem Alkohol und den Drogen abgeschworen, reist sehr viel durch die Welt und verbringt die meiste Zeit in Indien. »No Exit« wurde von Kritikern und Publikum hoch gelobt. Viele Leser bezeichnen es als das authentischste und beste Buch, das sie je gelesen haben.
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Daniel Grey Marshall
No Exit
Aus dem Amerikanischen von Friederike Levin
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© 2003 für die deutschsprachige Ausgabe Reclam Verlag Leipzig,© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe cbt/cbj Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2001 für den Originaltext by Daniel Grey Marshall.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »Still Can’t See Nothin’ Comin’« bei Regan Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
Übersetzung: Friederike Levin
Umschlagfoto: deepol, Wiesbaden-Nordenstadt
Umschlagkonzeption: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
st · E-Book-Produktion: VRH
ISBN978-3-641-26614-1V002
www.cbj-verlag.de
Für meine Mutter und meinen Vater und für Amma
Erzähl, wie es gar nicht war, Mann, vielleicht sehen wir dann, wie es ist.
Edward Leuders
Leslie traf sich gestern mit mir an der Bushaltestelle. Ich hatte so eine total dunkle Sonnenbrille auf, dass ich fast alle nur als Schatten sah. Ihren hätte ich sofort erkannt, auch ohne diese weiche, distanzierte Stimme, mit der sie meinen Namen rief wie ein Lied aus weiter Ferne.
»Jim.« Dann sah sie mich irgendwie abcheckend an. Ich wurde ein bisschen rot: Ich trug Fetzen, die ich drüben in Jersey von irgendeiner Getto-Wäscheleine gepflückt hatte, kurz bevor ich zur Bushaltestelle ging. Meine vorherigen Klamotten hatten wie die Pest gestunken, außerdem wollte ich auf der langen Fahrt nach Hause nicht angestarrt werden.
»Geht’s dir gut?«
Da musste ich grinsen. »Irgendwie schon, doch.«
Sie ließ ihre Fingergelenke knacken, während sie redete. »Als ich die Message bekommen hab, dass du wieder angerufen hast, hab ich gar nicht gewusst, was ich davon halten soll, aber du hast gesagt, komm zur Bushaltestelle, und da bin ich.« Sie spuckte das so schnell aus, dass es ein bisschen dauerte, bis ich kapiert hatte, was sie da eigentlich von sich gab. Ganz klar war sie nervös, was mir schon auffiel, wenn ich nur in ihre hellblauen Augen sah. Mann, ich hatte ganz vergessen, wie schön sie aussehen konnte. Sie hatte jetzt längere Haare, den Pony bis zur Nase, und dunkler. Irgendwie aschblond, nicht mehr fast weiß wie damals, als sie kaum länger als einen Zentimeter gewesen waren. »Nüchtern?«, fragte sie.
»Yeah.« Ich nickte, und offensichtlich tat ihr auf der Stelle Leid, dass sie was gesagt hatte. Sie war von mir überrascht.
Was aber egal war. Ich zählte nicht.
Dann sah ich weg. Nach Westen. Die Sonne würde bald untergehen. Ich wollte unbedingt die Sonne untergehen sehen. Das hatte ich nicht mehr gemacht, seit ich die Heimreise angetreten hatte.
»Wo bist ’n gewesen?«, fragte sie mich ganz vorsichtig. Ich wusste nicht mal, wo ich hingegangen war, also konnte ich es ihr nicht genau sagen. »Weiß ich nicht.« Sie kräuselte die Lippen.
»Am Meer«, bot ich an und hoffte, sie würde nicht nachhaken.
Sie sah ein, dass sie nicht viel mehr aus mir rauskriegen würde. »Komm mit.« Sie hob den Arm. »Auto steht da drüben.«
Ich kickte mir die Schuhe von den Füßen, fing sie einzeln in der Luft auf und stopfte sie in meine alte Armytasche, die ich immer über der Schulter trug. Die Tasche war wahrscheinlich das Einzige, an dem ich die ganze Zeit über festgehalten hatte, seit ich abgehauen war. Meine Schwester Mandy hatte sie mir geschenkt, als ich zwölf war, und ich habe sie mindestens vier Jahre lang gehütet wie eine Rettungsdecke oder so etwas. In gewisser Beziehung komme ich mir immer noch wie ein verängstigter kleiner Junge vor, der aus Angst vor der Dunkelheit nach seiner Mutter weint.
Wir mussten nicht weit laufen. Das wunderte mich, weil es so nah an der City nie Parkplätze gab. Ich schätze, sie hatte fürs Laufen nicht allzu viel übrig, weil ihr dunkelgrüner Plymouth vor einer Einfahrt parkte. So wie sie aussah, war sie vielleicht auch nur zu ausgeflippt, um es zu merken.
Mir blieb die Luft weg. Auf dem Rücksitz von Leslies verrostetem alten Auto saß mein kleiner Bruder Billy. Gerade mal sechs Monate älter als bei unserer letzten Begegnung, aber er sah aus, als wäre er um sechs Jahre gealtert. Keine braven Kaufhausklamotten mehr. Er trug ein simples Kapuzensweatshirt und Bluejeans. Leslie musste ihm Nachhilfe in Modefragen erteilt haben. Was ihn aber wirklich so viel älter aussehen ließ, waren seine Augen. Sie waren jetzt grauer, wie meine. Früher waren sie babyblau gewesen. Ich hatte ihn immer beneidet. Ich fragte mich, ob Augen aus Trauer die Farbe ändern, so wie man weiße Haare kriegt.
Als er mich sah, lächelte er schief und sagte leise: »Hey, Jimmy.« Ich glaube, er wollte noch was sagen, saß aber einfach nur da mit offenem Mund und rührte sich nicht.
Mein Lächeln war echt. Trotz all unserer Differenzen war er mein kleiner Bruder und ich liebte ihn. Wir waren zusammen unter dem gleichen Dach aufgewachsen; wir wussten beide, was es hieß, mit den Wutanfällen meines betrunkenen Vaters und mit den stillen Tränen meiner Mutter und ihrer Hilflosigkeit fertig zu werden. Wir wussten beide, was es hieß, eine Schwester zu verlieren. Er war mein Bruder und ich liebte ihn.
Als er mich lächeln sah, entspannte er sich einigermaßen. »Kommst du in den Knast, wenn sie dich schnappen, Jimmy?«, platzte es aus ihm heraus, während Leslie und ich ins Auto stiegen. An seiner ängstlichen, aufgeregten Stimme hörte ich, dass er sich freute, mich zu sehen.
»Genau, ich komm in den Knast. Jugendknast, mindestens. Ich hab einen großen Haufen Scheiße gebaut, Kid.« Ich hatte angefangen, ihn Billy the Kid zu nennen, als er ungefähr fünf war. Ich schätze, er fand inzwischen, dass er da rausgewachsen war, aber ich hatte es mir angewöhnt, ihn so zu nennen, und ich glaube, es machte ihm nicht so viel aus, weil es von mir kam.
»So ein Typ in meiner Klasse hat gesagt, sie würden dich umbringen.« Ich hörte, wie die Frage in der Luft hing.
»Die Typen in der Schule sind ein Haufen Scheiße, weißt du doch«, blaffte ich. Ich fluchte zu viel. Billy war erst elf.
»Ich hab nicht gesagt, dass ich ihm das abgenommen hab oder so. Ich sag ja bloß, dass er mir das gesagt hat. Egal, du musst mich nicht gleich so anschreien.« Er zog die Nase hoch.
»Hör mal, Kid, ich hab dich nicht …«, fing ich an und verkniff mir den Rest. Er konnte nichts dafür. »He, tut mir echt Leid.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Okay?«
»Yeah, schon okay. Alles ist okay, Jimmy.«
Das hörte sich nicht sehr überzeugend an, aber als ich in seiner Miene nach mir bekannten Anzeichen für Sorge oder Angst oder so irgendwas suchte, fand ich da nichts. Meinem Blick wich er aus.
Leslie saß mit erstarrtem Gesicht hinter dem Steuer und sagte kein Wort.
»Verdammte Scheiße!« Ich sah gehetzt von einem zum anderen, aber keiner sagte was. Ich schätze, ich an ihrer Stelle hätte zu viel Schiss gehabt zum Reden, aber zu dem Zeitpunkt dachte ich nicht ganz klar. Es war mir egal, ob sie sich Sorgen machten oder Schiss hatten. In dem Moment kümmerte ich mich nur um mich, mein Leben, meine Welt, und ich hatte nicht vor, ihnen irgendwelche unbedacht ausgeteilten Verletzungen zu ersparen. »Jetzt sitz ich hier, mir bleiben ein oder vielleicht zwei Tage, bis sie mich für wer weiß wie lang einbuchten, und mein kleiner Bruder und meine Exgeliebte …« Ich sah, wie sie zusammenzuckte und von mir wegrückte. Mann, warum hatte ich das gesagt, was zum Teufel ist mit mir los, ich mach’s kaputt, ich mach’s kaputt. »Ach, Scheiße, ich mach’s kaputt«, keuchte ich und fing an zu schluchzen. Da saß ich mit gesenktem Kopf und starrte auf meine Hände. Ich spürte, wie Leslie meine linke Schulter berührte, Billy meine rechte. Ohne aufzublicken, aber froh über ihre tröstenden Hände, redete ich ganz leise weiter. »Sagt was, okay? Redet einfach mit mir wie mit einem Menschen, so wie früher, wisst ihr noch?«
»Klar.« Es war Leslie, die das sagte, und es war ihre Stimme, die ich am meisten brauchte, obwohl ich mir sicher war, dass ich ihr gerade das Herz gebrochen hatte. »Wo willst du hin?« Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Ich schätze, ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, was ich tun wollte, wenn ich wirklich mal da war. Einen Tag nach dem anderen, Mann, so hatte ich die Dinge angehen müssen, als ich noch auf der Flucht gewesen war. Ich wollte nicht nach Hause, das war das Einzige, was ich ganz sicher wusste. Ich schwieg eine ganze Weile. In meinem Kopf fand ich nichts, was auch nur entfernt an eine gute Idee erinnerte. Ich wusste, viel Zeit blieb mir nicht. Ich wollte was draus machen, wenn ihr wisst, was ich meine.
Leslie und Billy sagten einfach nichts, ich schätze, sie warteten auf meine Antwort. Ich glaube, sie spürten, was es mir bedeutete, und wünschten mir, dass ich mich entscheiden könnte.
Nichts. Tote Luft, tote Gedanken.
Dann, ganz plötzlich, zong, in einer Millisekunde, wusste ich genau, was ich tun wollte. Wie ein bescheuerter Blitz, der mir direkt ins Genick fuhr, Mann, und außer mir konnte niemand den Donnerschlag hören. »Gehen wir angeln!«
Stille. Sie sahen mich an, als ob ich komplett durchgeknallt wäre, als ob das die schwachsinnigste Idee wäre, die mir einfallen konnte, und ich fand sie großartig. Mir gefiel die Brillanz, die verdammte Großartigkeit, die schlichte Schönheit dieser Idee, so gut hatte mir in meinem ganzen Leben noch nie etwas gefallen.
Ein bisschen Überredungskunst war angesagt, aber nach reichlich irrem Gequatsche meinerseits und vielsagenden Blicken zwischen den beiden – ich vermutete, dass sie eine Menge Zeit zusammen verbracht hatten, während ich weg gewesen war – stimmten sie zu. Wir brüteten einen Plan aus, wie wir an Angelruten kommen konnten, waren alle drei total ausgelassen und albern, redeten durcheinander über unsere kindischen Pläne für den Abend, und dann kam es mir so vor, als ob meine letzte Nacht in Freiheit noch richtig lang werden könnte.
So was liebte ich. Es machte mir tierischen Spaß, vor lauter Aufregung echt auszuflippen, nach Luft zu japsen, mir verrückte Pläne auszudenken und an ihnen herumzufeilen. Und ich weiß nicht genau, warum, aber ich fand, diese Zeit so zu verbringen, war genau das Richtige. Ihr wisst schon, ruhig, heiter, barfuß im dunkelgrünen Seewasser, lachen, reden, einfach abhängen, einfach sein. In letzter Zeit sind manchmal die nackten Grundlagen meines Daseins – atmen, reden, schreiben – wie eine Wohltat. Ich denke mir, eigentlich müsste ich tot sein, wisst ihr; fast alle, die ich kenne, sind tot oder verschwunden oder immer noch auf der Straße, ersaufen in ihrer eigenen Kotze, was eigentlich das Gleiche ist, genau genommen, außer mir, ich bin hier, lebe, atme, bin ganz. Ich weiß nicht, Mann, vielleicht habe ich einfach Glück.
Und das war unser Plan:
Wir würden zu meinem Elternhaus zurückfahren, weil wir wussten, dass dort ein paar Angelruten in einer Ecke unserer zugemüllten Garage vor sich hin rosteten. Mandy hatte sich dort am liebsten herumgetrieben. Ganz allein hatte sie den ganzen Müll durchforstet und in Kartons geordnet und so. Sah für mich immer wie ein bescheuerter Flohmarkt aus. Aber sie hat den Ort geliebt, hat stundenlang da drin gesessen, und außer ihren Händen, die in den Sachen wühlten, hörte man keinen Laut von ihr. In meiner Tasche trage ich immer noch ein Buch herum, das sie in einer Kiste fand, in der meine Mutter Erbstücke ihrer Eltern aufbewahrte. Es war total alt, so was wie Ende 18. Jahrhundert, und das ganze Ding war gespickt mit verschiedenen Schrifttypen. Es sah so aus, als hätte es irgendjemand einfach abgetippt, als ob es davon auf der ganzen weiten Welt kein zweites Exemplar geben würde. Mann, was ist sie wegen dem Buch ausgeflippt. Sie hat es mir gezeigt; sie hatte alle möglichen bedeutungsvollen Passagen unterstrichen, lauter verrückte Scheiße, aus der ich zu der Zeit überhaupt nicht schlau wurde. Aber an eins erinnere ich mich ganz genau, ich sehe die Zeilen heute noch vor mir. Es war eine Passage, die Mandy tausendmal unterstrichen hatte, nur ein Absatz. Er ging so: »Das Schwein hat mich grün und blau geschlagen, und dann hat er mich gegen meinen Willen gebumst, öfter als ich zählen kann. Und deshalb habe ich ihn im Schlaf erwürgt und Reue verspüre ich darüber auch nicht.«
Ich fragte Mutter nach dem Buch, ohne ihr zu sagen, welche Stelle ich gelesen hatte, und sie sagte, dass es wahrscheinlich das Tagebuch meiner Ururgroßmutter gewesen sei. Ich schätze, die alte Frances hätte es gern veröffentlicht, was aber nie passiert ist. Sie hat es zu einem Verlag getragen, aber die haben es abgelehnt; schließlich war sie eine Frau, und dazu nur eine einfache alte Witwe. Ich denke, für Mandy war sie ziemlich sicher die größte Frau, die je gelebt hat. Schon damals, als ich das Buch zum ersten Mal sah, bekam ich davon Gänsehaut. Ich nahm es mit, als ich wegging, und ich werde es wahrscheinlich nie hergeben.
Jedenfalls wusste ich, dass in unserer Garage die Angelruten waren, und die Frage war nur, wie wir drankommen sollten. Sobald wir beim Haus angekommen wären, würde ich mich unter den Sitz ducken, damit meine Mom mich nicht sah.
Dann würde Billy reingehen, sich die Angelruten und ein Sandwich für mich schnappen und ihr erzählen, dass er mit ein paar von seinen Kumpels angeln gehen würde. Ich hoffte, dass er damit durchkommen würde. Vor Mandys Abgang hätte das auf jeden Fall geklappt, aber danach und nach allem, was mit dem Rest unserer Familie passiert war, wunderte ich mich, dass Mom ihn überhaupt vor die Tür ließ. Wenigstens war Dad inzwischen weg, da konnte Hausarrest eigentlich gar nicht so schlimm sein. Jedenfalls kein Albtraum mehr.
Wo mein Dad war, wusste ich eigentlich gar nicht, und mir war nicht danach, Billy zu fragen. Wenn er nur ein bisschen was von mir hatte, dann würde er um die Frage den größtmöglichen Bogen machen, und ich war der Letzte, der das Thema zur Sprache bringen wollte.
Die Fahrt dauerte nicht sehr lange. Für mich jedenfalls nicht. Ich schaltete einfach nur ab und sah zu, wie die alten Wohnhäuser und Sparläden vorbeiglitten. Ich dachte daran, wie Mandy mich einmal im Winter vor so einem komischen Selbstbedienungsladen warten ließ, während sie uns drinnen heiße Schokolade und Marshmallows klaute. Niemand hatte so fesselnde, unschuldige irisch grüne Augen wie sie. Es war wirklich irre, was für Dinger sie dank ihrer Augen drehen konnte. Und ihr Lächeln. Mit dem Lächeln konnte sie einen zu allem kriegen. Viele Leute hielten sie für total egoistisch, wisst ihr; was sie wollte, kriegte sie auch, wenn sie es wollte. Letzteres ist wahr. Das Komische ist, sie hat sich nie angestrengt, um sich durchzusetzen. Sie bat einfach um etwas, irgendetwas, und die Leute gaben es ihr. Ihr hättet sie mal beim Geldsammeln erleben müssen. In null Komma nichts hatte sie an die zwanzig Mäuse zusammen. Damals im Selbstbedienungsladen war es nicht anders. Total lässig kam sie aus dem Laden, und als Nächstes sah ich, dass sie eine Tüte Marshmallows aufgemacht hatte, die Jumbovariante, und anfing zu essen. Irgendwie endete der Heimweg in einer irren Schneeballschlacht mit zwei Leuten. Wir taten so, als ob die Schneebälle Handgranaten wären, und starben tausend hochdramatische, ausgelassene Tode, hatten eimerweise Schweiß in sechzig Zentimeter Schnee abgelassen, bis wir endlich zu Hause waren. Und als wir reingegangen waren und, in so eine gigantische Armydecke gekuschelt, vor einem warmen Feuer saßen, trank ich die beste Tasse heiße Schokolade, die ich in meinem ganzen Leben bis zum heutigen Tag je getrunken habe.
»He, Jim.« Billy schnipste so dicht vor meinem Gesicht mit den Fingern, dass ich ihm die Nägel hätte abkauen können. »Tauch ab, du wohnst hier.« Ich sah auf, und siehe da, meine alte Heimat starrte mir mitten ins Gesicht. Ich konnte nicht glauben, dass ich wirklich da war. Nachdem ich so lange weg gewesen war, kam es mir unwirklich vor. Eher wie so ein Bild aus National Geographic. Ablichtung eines Kriegsschauplatzes. Ich saß einfach nur da und starrte vor mich hin; Billy musste meinen Kopf mit Gewalt nach unten drücken, um mich außer Sichtweite zu schaffen. »Nachwuchsastronaut«, murmelte er und stieg aus. Kurz darauf hörte ich, wie die Haustür auf- und wieder zuging. Da ich den Kopf unten hatte, wusste ich nicht, wer ihm geöffnet hatte und ob überhaupt. »Alles okay, Jim? Du warst auf dem ganzen Weg so in Trance.« Leslie sah zu mir hinab. Ich hätte mit ihr reden sollen, das war mir klar. Aber was sollte ich bloß sagen?
Sie beantwortete die Frage in meinem Kopf. »Ich liebe dich immer noch, Jim. Hab ich immer getan.« Was sie da sagte, war für sie nicht unbedingt die einfachste Sache der Welt. Dummerweise konnte ich ihr nicht dabei helfen.
Also sagte ich das Einzige, was ich sagen konnte. »Ich weiß.« Sie schwieg eine Weile, obwohl sie wusste, dass ich ihre Erklärung nicht erwidern würde. Trotzdem wartete sie, denn das würden die meisten tun. Irgendwann hörte ich sie schwer schlucken, während sie ihren Gegenschlag vorbereitete. Eigentlich wollte sie das gar nicht unbedingt, sie schlug aber immer zurück. »Wenn du mich also nicht mehr liebst, wieso bin ich dann hier? Warum hast du mich angerufen? Du hast mich verlassen, weißt du noch? Warum hab ich … liebst du mich noch? Tust du das?«
Mir fiel nichts ein, was ich hätte sagen können, ohne es später zu bereuen, also hielt ich einfach den Mund.
»Verdammt, antworte mir, Jim!« Jetzt war sie wütend. Zu wütend, als dass ich damit hätte umgehen können.
»Ich kann nicht«, war alles, was ich herausbekam, und auch das nur leise krächzend.
Der Blick, den sie mir zuwarf, war grausam. Mein Gesicht brannte, als ob sie mit den Augen Gift verspritzt hätte. »Du hast vielleicht Nerven, mich so auszunützen, nach allem, was wir durchgemacht haben.« Sie wandte den Blick ab, sah ins Haus hinein. »Schließlich hast du immer eine Krücke gebraucht, oder?« Sie wusste genau, wo sie mich treffen konnte, und ihre Schläge saßen ziemlich gut. »Du kannst mir noch nicht mal ins Gesicht sehen und mir sagen, dass du mich brauchst.«
Über das, was ich dann sagte, hatte ich vorher nicht nachgedacht. Meine Lippen bewegten sich und ich hörte meine schmerzverzerrte, frustrierte Stimme. »Hör auf! Klar brauch ich dich, blöde Tussi! Ich hab dich angerufen, weil ich mir was aus dir mache! Und du lässt mich bluten, Leslie, nimmst mich aus. Wenn du ein Geständnis willst, dann stich mich ab, dann siehst du, was in mir drin ist. Ich liebe dich. Okay? Bist du jetzt zufrieden? Macht’s Spaß, in meinen Innereien rumzuwühlen? Ich liebe dich. Ich sag das hier und jetzt und das hab ich echt schon lang nicht mehr gesagt. Ich hab dich verlassen, weil ich dich liebe. Ich wollte dich nicht – ich konnte dich da nicht mit runterziehen. Verstehst du das nicht, Leslie? Ich meine, wolltest du wirklich mitkommen? Wolltest du das?« Nachdem ich das alles dem Handschuhfach erzählt hatte, sah ich zu ihr hoch und drehte meine Unterarme so, dass sie die Narben sehen konnte, die streifenförmig von oben nach unten verliefen. Sie heulte inzwischen ziemlich heftig. Bei ihrem Anblick überkam mich das Bedürfnis, sie zu umarmen und wie früher ihr Gesicht zu berühren, ihr die Tränen wegzuwischen. Alles Weitere sagte ich, ohne zu brüllen. »Hör mal, es tut mir Leid, dass ich dir die Sache nie erklärt hab. Tut mir Leid, dass ich mich nie verabschiedet hab. Hätte uns ’ne Menge Ärger erspart. Ich liebe dich, Leslie. Ich wollte dir nicht wehtun. Und ich bin froh, dass du mich dazu gekriegt hast, dass ich das alles sage.«
Ich nahm ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte ein bisschen unter ihren Tränen. Ich zitterte. Ich hatte die letzte Mauer zwischen uns eingerissen, aber ich wusste, dass morgen wieder eine neue dastehen würde, eine stabilere, an derselben Stelle. Ich sah sie einfach nur weiter an, ohne zu blinzeln, und für eine Weile erwiderte sie meinen Blick, bevor sie sich nervös abwandte. Ich hörte nicht auf, sie anzuschauen. Mir blieb nicht viel Zeit mit ihr, und die wollte ich nicht damit verschwenden, Häuser und anderen Mist anzuschauen. Es gab sonst nichts auf der Welt, was ich in dem Moment hätte anschauen wollen.
Sie fing schallend an zu lachen. »Du bist irre, Jim, weißt du das? Komplett schwachsinnig.« Aus ihrem Lachen wurde ein Husten, und als der vorbei war, wurde sie eine Weile still. Dann flüsterte sie: »Du bist verrückt und ich liebe dich.«
Mir war, als würde mein Körper noch jahrelang weiterzittern.
Ich hörte, wie die Tür wieder auf- und zuging, dann lief mir von dem schrillen Quietschen der Angelruten an der Fliegentür ein Schauer über den Rücken. Billy öffnete die hintere Tür, schob die drei ramponierten Angelruten hinter Leslie und quetschte sich anschließend auf den Sitz hinter mir. »Los jetzt, fahren wir, bevor Mom ihre Meinung ändert und sich eine Arbeit für mich einfallen lässt.« Er klatschte vor Aufregung in die Hände. Leslie startete schon den Motor. Gleich hinter der nächsten Ecke erklärte mir Billy, die Luft sei rein. Ich setzte mich auf, dehnte meine verspannten Muskeln und ließ die Scheibe runter, um meinen Kopf rauszustecken. Die Brise, die mich streifte, war ziemlich erfrischend, und ich nahm ein paar gigantische Atemzüge, bevor ich meinen Kopf wieder einzog. »Juuhuu!«, rief ich ein paar älteren Leuten zu, die ihren Hund spazieren führten und an der Ampel warteten, die schon immer ewig lang auf Rot geschaltet war. Ich sah, wie sie die Köpfe schüttelten, aber ich wollte keinen schlechten Eindruck hinterlassen, weshalb mich das Bedürfnis überkam, mich zu erklären. Keine Ahnung, was mich dazu trieb. »Versteht ihr das nicht, ihr alten Leute? Ich bin frei! Ihr geht mit dem Hund spazieren und mir geht’s bestens.« Ich sah, wie sie wieder mit verkniffenen Lippen die Köpfe schüttelten. Die Ampel schaltete unterdessen um und Leslie fuhr mit einem irren Tempo an. Ich zog meinen Kopf ins Wageninnere zurück, damit der Wind ihn mir nicht abriss.
Billy streckte seinen Kopf vor. Der Wind blies so heftig, dass man sein eigenes Wort kaum verstand. »Was ist los mit dir?« Ich drehte mich zu ihm um. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt hab?«, fragte ich. »Das ist wunderbar!«
Billy schnitt eine seltsame Grimasse und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um mir zu verstehen zu geben, dass ich bekloppt sei.
Ich nickte zustimmend und fing Leslies Blick auf.
»Worum geht es?«, fragte sie mich laut.
»Wo zum Teufel fahren wir hin?« Sie nickte.
»Willst du mich verarschen?«, fragte ich irritiert.
Sie nickte wieder, und mir war klar, dass ich nicht mehr aus ihr rauskriegen würde, also lehnte ich mich zurück und betrachtete zusammen mit meinem Bruder die Szenerie, die erst aus Straßen, dann aus Feldern und Wäldern bestand. Die Blätter fingen gerade an, sich zu verfärben. Ich sah der Sonne zu, wie sie hinter dem Horizont versank, Erinnerungen und Wünsche gingen mir durch den Kopf. Als es dunkel wurde, schaltete Leslie die Scheinwerfer an, und ich beobachtete, wie die Wagenfront den mal durchgehenden, mal unterbrochenen gelben Mittelstreifen verschlang. Einmal wären wir beinahe von der Straße abgekommen, weil uns ein Hirsch im Weg stand, gebannt von den Scheinwerfern des Plymouth. Ich schätze, letztendlich begriff er, was abging, als wir ihn beinahe rammten, und flüchtete in den Wald.
Gleich danach bog Leslie scharf rechts ab in so ein Monster von einem Wald, und ich hielt, in angemessener Ehrfurcht vor meiner Umgebung, den Mund.
Ich weiß nicht, ob es sich bei den Bäumen um Ahorn oder Eiche oder sonst was handelte – ich hatte die Arten noch nie besonders gut auseinander halten können –, aber sie waren beeindruckend. Die Stämme hatten einen Umfang von locker eins achtzig, und ihre Wurzeln waren wie dicke Zehen miteinander verflochten, tanzten zusammen, bevor sie in die Erde eintauchten. Die Bäume waren außerdem gigantisch hoch, echte, natürliche Wolkenkratzer. Ich dachte mir, die Natur weiß eben, was abgeht, falls ihr wisst, was ich meine. Also, diese Bäume waren so alt, so weise, sahen auf uns Menschen herab, wie wir mit unserer kümmerlichen Lebenszeit auf der Erde herumkrochen und alles zerstörten, was uns in den Weg kam. Die Felsen und die Bäume und die Vögel haben alles über Jahrmillionen bewahrt und dann kommen wir daher und machen es in knapp hundert Jahren kaputt. Ich dachte über die Lebenserwartung nach, wie viel Zeit diesen Bäumen wohl bliebe, bis jemand auf die Idee käme, dass das hier ein großartiger Platz für ein Einkaufszentrum wäre. Ich fühlte mich den Bäumen sogar verbunden. Ich wusste, was es hieß, gleichzeitig überragend und zerbrechlich zu sein. Ich kannte die Gefahr und den Wettlauf mit der Zeit. Der Wald und ich, wir beide.
Eine Weile rollten und zuckelten wir so einen alten, versifften Weg hinab, ich ganz betäubt von dem Anblick um mich herum, während Leslie sich darauf konzentrierte, den Plymouth über die gefährliche Route zu navigieren, und Billy seelenruhig auf dem Rücksitz schnarchte, was er schon tat, seit wir die Stadt hinter uns gelassen und die eintönigen Felder erreicht hatten. Ich machte ihm keinen Vorwurf. Es war, zumindest für meinen Teil, ein langer, beschissener Tag gewesen. Schließlich kam der große Wagen an einer Waldlichtung zum Stehen. Ich stieg aus und reckte mich, indem ich meine Arme gen Himmel ausstreckte. Den Blick nach oben gewandt, sah ich, wie sich die Bäume über unseren Köpfen zusammenschlossen und uns vor der Außenwelt schützten. Selbst wenn ein Flugzeug vorübergeflogen wäre, hätten wir es nicht sehen können.
Eigentlich waren solche dunklen, einsamen Wälder zum Fürchten, aber ich glaube nicht, dass ich mich in meinem Leben jemals so sicher fühlte wie unter den Zweigen dieser uralten Bäume in der kühlen Nachtluft.
Leslie stellte den Motor ab, stieg aus und stellte sich neben mich. Als sie mir so nah war, überkam mich so ein Gefühl – ihr wisst schon, dieses Gefühl an genau der Stelle, wo sich angeblich das Herz befindet, Angst und Sehnsucht und Hoffnung und Verlangen, in einem Knäuel hinter den Rippen eingeklemmt, und, wie jeder weiß, an einer Stelle, wo man nicht drankommt, um sich zu kratzen. Sie war auch nahe, so nahe, dass ich sie ein- und ausatmen hörte, im gleichen Rhythmus wie ich.
»Wo zur Hölle sind wir denn bloß?«, brummelte Billy, während er sich die Augen rieb und damit versuchte, sie zum Leben zu erwecken. Leslie lächelte ihr verschmitztes, wissendes Lächeln. »Kommt schon, Jungs. Mir nach.«
Sie ging auf die Lichtung zu. Unter ihren Füßen knackten Äste und raschelten Blätter. Ich sah Billy an. Er wusste ungefähr genauso gut Bescheid, wo wir waren, wie ich. Wir schnappten uns die Angelruten, die Billy neben dem Auto abgestellt hatte, und folgten ihr.
Wir gingen eine ganze Weile den Weg entlang. Bei jedem Schritt schlug mir etwas ins Gesicht oder zerkratzte meine nackten Arme, und wir kamen vor allem wegen der Angelruten, die alle paar Schritte an Zweigen hängen blieben, nur langsam voran. Der asthmatisch pfeifende Atem meines Bruders hinter mir brachte mich an einer Stelle dazu, mich umzudrehen und ihn zu fragen, ob er vorhätte, sich in Kürze Nachwuchs zuzulegen. Leslie blieb, kaum noch in Sichtweite, immer vor uns, wartete jedoch nie auf uns, verlor uns aber auch nicht. Ich glaube nicht, dass sie auf der ganzen Strecke einen einzigen Kratzer abbekam.
Ziemlich bald hörte ich weiter vorne Wasser rauschen, und unser Weg öffnete sich zu einem Bach, der durch den Wald lief und etwa drei Meter breit und vielleicht ein bis anderthalb Meter tief war. Direkt am Ufer standen mehrere verrottete Baumstümpfe, die aussahen wie ideale Sitzplätze zum Angeln. Genau das war es, was ich gewollt hatte. Leslie stand schon seit ein, zwei Minuten dort, als wir aus dem Gestrüpp auftauchten. Ich trat hinter sie, legte einen Arm um ihre Taille, den anderen um Billys Schultern. An dieser Stelle bahnte sich der Mond einen Weg zwischen den Zweigen. Das Licht spiegelte sich im Wasser und ergoss sich über uns, gerade hell genug, um die nächste Umgebung zu erkennen, mehr aber auch nicht. Dieser Ort machte mich sprachlos, nur ein leises, angestrengt geflüstertes »Danke« in Leslies Ohr brachte ich zustande. Das war wahrscheinlich nicht genug, aber sie muss das Zittern meines Körpers und die tränenerstickte Liebe in meiner Stimme gespürt haben. Sie muss meine Dankbarkeit bemerkt haben, die ich noch immer nicht in Worte fassen kann, ohne dass es platt und hohl klingt.
Dann seufzte Billy laut und sagte: »Jungs und Mädels, wir haben den Köder vergessen.«
Ich wusste, dass er sich ärgerte, und brach in unkontrolliertes Gekicher aus. Kurz darauf hatte ich mich in einen mordsmäßigen Lachanfall hineingesteigert, der die Kaninchen und Eichhörnchen meilenweit im Umkreis wahrscheinlich zu Tode erschreckte. Meine Güte, ich wälzte mich am Boden. Soweit ich mich erinnern kann, war es das erste Mal, dass ich lachte, ich meine, so richtig, bis mir der Bauch platzte.
Als ich endlich wieder Luft bekam, half mir Leslie hoch und klopfte mir den Dreck vom Rücken. Sie sah mich nur an und grinste, weil ich so albern war. »Na ja, Scheiße«, sagte ich, hustete und sah zu Billy hinüber. Er war ziemlich frustriert, das sah ich. Er saß auf einem der alten Stümpfe und ließ mit gekreuzten Armen und dem Kinn auf der Brust seine Füße im trüben Wasser baumeln. »Komm schon, Kopf hoch, Kid«, sagte ich, ging zu ihm hinüber und setzte mich neben ihn. »So schlimm ist das nicht. Sieh dich mal um, Mann. Der Platz hier ist riesig. Absolut und volle Kanne riesig. He, hör mal.« Eine Eule schrie in der Nähe, praktisch direkt in unsere Trommelfelle.
Ich sah eine Spur von Interesse über Billys Gesicht huschen. »Was für eine Eule das wohl gewesen ist«, sagte er leise mit einem Anflug von Ehrgeiz in der Stimme. »Wahrscheinlich eine verflucht große gehörnte, wette ich.«
»He, pass auf, was du sagst, Kid«, ermahnte ich ihn, mehr aus Reflex als aus echter Sorge.
»Ist doch wie verzaubert, oder?«, sinnierte Leslie vor sich hin.
»Der Ort ist echt verzaubert. Das spürt man.«
»Genau.«
Dann sah sie mich mit aufrichtiger Trauer an, falls es so was gibt. »Eure Schwester hätte diesen Ort geliebt, Jungs. Wenigstens genauso wie wir drei, vielleicht sogar noch mehr. Sie wär barfuß herumgerannt, in den Bach gehüpft, egal wie dreckig er ist. Immer wenn ich hier bin, denk ich an sie. Wie sehr sie diesen Ort geliebt hätte. Er erinnert mich jedes Mal an sie.« Wenn jemand so über Mandy redete, war das für mich jedes Mal, als ob ich einen gottverdammten Backstein mitten in die Fresse bekäme. Meine Knie gaben nach. Die Geräusche des Waldes waren weg. Alles außerhalb meines Körpers war unerreichbar. Wieder und wieder schwammen mir diese Worte durchs Hirn. Die Stille außerhalb meines Kopfes wurde nur durch das Piepsen und Glucksen von Billys unterdrückten Schluchzern unterbrochen. Leslie fing dann auch an zu heulen, und wir drei, die wir nicht in der Lage waren, die Begeisterung meiner toten Schwester nachzuempfinden, sanken zusammen, klammerten uns aneinander, als ob es kein morgen gäbe. Jeder für sich, klammerten wir uns an die Reste von Normalität, die uns geblieben waren. Und Leslies Worte traktierten unablässig mein Hirn, mein Herz, sogar meine Seele, falls es so etwas gibt.
»Komm schon, Jim, fahr los!«
Ich sah nach unten, höllisch weit runter.
»Ich weiß nicht, Mandy, der Hügel ist ganz schön hoch. Weißt du, vielleicht hat das einen Grund, dass sie ihn Selbstmörderhügel nennen. Ich meine, vielleicht könnten wir uns nach einem anderen umsehen, einem kleinen Hügel.«
Mandy bedrängte mich, mit ihr zusammen den schrecklichen Selbstmörderhügel zu bezwingen, den Hügel, von dem jeder redete, aber niemand dachte auch nur daran, ihn hinunterzufahren.
»Komm schon, Jim, so wird Geschichte gemacht. Wir werden Helden sein!«
Ich war nicht davon überzeugt. »Das geht hier steil bergab. Neunzig Grad. Scheiße, wozu überhaupt der Schlitten? Wir könnten uns einfach fallen lassen, ein Stück gutes, buntes Plastik sparen.«
Mandy verdrehte die Augen. »Oh Mann, der Schlitten wird schon nicht kaputtgehen …« »Aber wir«, protestierte ich.
»Denk doch mal nach, Jimmy.« Sie schenkte mir jetzt einen ihrer Hundeblicke, weil sie genau wusste, wie ich darauf abfuhr. Das ging eigentlich allen so. »Immer wenn von jetzt an jemand hierher kommt, dann werden sie denken: ›Erinnert ihr euch an das großartige Duo Amanda und James Drake? Die Ersten …‹«
Ich hatte genug von dem Gequatsche. »Die ersten Idioten, die auf einem Schlitten umgekommen sind. Ich seh die Schlagzeile vor mir: ›Blödes Geschwisterpaar stirbt beim Schlittenfahren. Muss in der Familie liegen.‹ Vielleicht bringen sie eine Tafel für uns an. Sie werden sie genau zwischen unseren Gräbern am Fuß des Hügels anbringen.«
Sie stand auf, und ich konnte an dem Lächeln, das sich seinen Weg über ihr Gesicht bahnte (obwohl sie es offensichtlich zu unterdrücken versuchte), erkennen, dass sie etwas Witziges in petto hatte. Aber ich war schon immer eher schwach gewesen und Mandy genau das Gegenteil. Bis mir also klar wurde, was sie vorhatte, war es längst zu spät – es gab kein Entrinnen mehr.
»Halt deine Mütze fest.« Sie lachte, drückte mich vorne auf den Schlitten und setzte sich hinter mich. Dann stieß sie sich mit einer einzigen eleganten Bewegung mit den Füßen ab, während meinem Mund ein ohrenbetäubender Schrei entfuhr.
Wir fuhren nicht. Wir flogen. Stürzen ist vielleicht das bessere Wort, wenn ich so darüber nachdenke. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so schnell gefahren. Schnee und Eis flogen mir ins Gesicht. Ich schätze, deshalb hatte sich Mandy nach hinten gesetzt; ich hatte unfreiwillig den Job als menschlicher Gesichtsschutz übernommen.
Der Versuch lohnt sich nicht, zu beschreiben, wie sich das anfühlte, als ich an jenem Tag durch die Luft flog mit meiner noch lebenden, atmenden Schwester, die sich an mir festklammerte. Man kann dem wirklich nicht gerecht werden. Rückblickend wird mir klar, dass wir für die Abfahrt nicht länger als zehn Sekunden gebraucht haben können. Aber zu dem Zeitpunkt schien die Fahrt bis in alle Ewigkeit zu dauern. Es war völlig verrückt, wir schossen dahin wie eine Kugel aus Schneeanzug und Plastik, ein rasendes Geschwisterpaar ohne jede Kontrolle über seine unmittelbare Zukunft.
Plötzlich – so plötzlich, dass mir keine Zeit blieb, vor Schreck aufzuschreien – hoben wir von einer gut kaschierten Bodenwelle ab, flogen knapp fünf Meter weit, bis wir hart aufschlugen und mit einem Plumps auf unseren zitternden Hinterteilen landeten: ich im posttraumatischen Schock, Mandy unter wildem, irrsinnigem Gelächter.
»Jim! Jim, das war absolute Spitzenklasse! Ich meine, jetzt mal im Ernst«, sagte sie, rollte sich herum und kam direkt vor meiner Nase auf die Füße, »hast du bis jetzt nur ein einziges Mal so etwas erlebt? O Mann«, sagte sie mit einem ehrfürchtigen Blick gen Himmel. »Wir haben es vollbracht. Wir haben den Selbstmörder auf einem verdammten Schlitten bezwungen. Einem Scheißschlitten!« Sie sprang auf, trommelte sich wie ein Affe auf die Brust und brüllte, so laut sie konnte: »Wir haben es vollbracht! He, Welt! Jim und Mandy haben vor nichts Angst! Wir sind unbesiegbar!« Dann brach sie, außer Atem und völlig von Sinnen, wieder neben mir zusammen. Ihr kastanienbraun gefärbter Pony fiel ihr vor die Augen. Sie strich ihn zurück und hielt ihn zur Seite, während sie mich ansah. Und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber mir kam es so vor, als würde sie diesen Moment für sich beiseite legen, indem sie ihn weit über alles andere erhob. »Ich und du, Jim«, erklärte sie großartig. »Ich und du.«
Vielleicht bin ich es, der diesen Augenblick bewahrt hat. Später, in den Wochen, Monaten, Jahren nach ihrem Tod, würde ich mich an jenen Augenblick häufiger erinnern als an alle anderen gemeinsamen Erlebnisse. Es war Glück, Unschuld und Wärme. Dieses Erlebnis werde ich nie vergessen, es verfolgt mich immer noch, ist unverbrüchlich mit meinem Herzen verbunden.
Es war der Tag, an dem ich Leslie kennen lernte.
»He, gehen wir«, sagte Mandy, nahm ihre Hand vom Gesicht und berührte die meine. Bewegt. Besiegelte den Augenblick. Sie kam wieder auf die Füße und half mir dann behutsam hoch. Sie ging immer behutsam mit mir um. Sogar oben auf dem Hügel, als sie mich auf den Schlitten drückte, hatte sie das auf ihre eigene, sanfte Weise getan. Ich mochte das. Ich fühlte mich umsorgt, versteht ihr? Als ob ich einen Beschützer hätte. Jemand, der mich ganz wirklich liebte. Und das tat sie auch. Auf eine Art und Weise, die mir manchmal fast verbissen vorkam.
Ich denke, hätte sie weitergelebt, sie hätte nicht zugelassen, dass mir auch nur ein Teil von dieser furchtbaren Scheiße passiert wäre. Die Wahrheit ist, dass sie immer ein Auge auf mich gehabt hat, wo sie auch war und was sie auch tat.
An unserem Schlitten hing ein Seil, und ich band mir das lose Ende um das Handgelenk, um ihn auf dem kurzen Weg nach Hause hinter mir herzuziehen. Vom Selbstmörderhügel zu uns nach Hause waren es nur wenige Blocks, nur ein paar neu gepflasterte Wege für die gehobene Mittelschicht.
»Das hier, Jim«, brach es aus Mandy in ihrer komischen Art, mit der sie welterschütternde Eröffnungen anzukündigen pflegte, unvermittelt heraus, »ist das Weißbrotland. Ehrlich. Ich meine, glaubst du, dass irgendjemand von diesen Leuten weiß, wie es ist, wenn nicht alles selbstverständlich ist? Nein, wissen sie nicht und wir auch nicht. Wir sollten glücklich sein, schätze ich. Das ist die Vorstadt. Zivilisation erster Güte. Alle Häuser sind gleich korrekt gebaut, farbkodiert und Scheiße … keine Abwechslung, keine Fantasie. Das ist das Viertel der Geklonten, der normalen Leute, genau wie all die anderen in all den anderen dämlichen Vororten. Es macht mich krank.«
Ich nickte bloß schweigend. In der Regel antwortete ich nicht, wenn Mandy so anfing. Normalerweise brachte sie mich auch zum Nachdenken, und ich war zu beschäftigt mit dem Grübeln über das, was sie gesagt hatte, um etwas dazu beizutragen. »Wir verpassen so viel, weil wir hier aufwachsen.« Sie war ganz langsam gegangen, während sie auf ihre Füße achtete und darauf, wo sie am besten hintreten sollte. Aber dann sah sie mit dem berühmten Lächeln, das sich seinen Weg über ihr Gesicht bahnte, zu mir auf. Das stimmte mich fröhlich, denn für mich gab es nichts Schöneres, als meine Schwester glücklich zu sehen. Die Momente wurden immer seltener.
»He, Jim«, sagte sie, »es gibt da jemanden, den du kennen lernen musst.« Dann rannte sie einfach in die entgegengesetzte Richtung los. Allein gelassen mitten auf dem einsamen, schneebedeckten Weg, sah ich, wie meine Schwester Gott weiß wohin rannte, und mir fiel nichts Besseres ein, als ihr nachzurennen. So ganz einfach war es nicht, in meinen Schneehosen mit ihr mitzuhalten, während der Schlitten hinter mir an jedem zweiten Auto auf der Straße hängen blieb und Mandy mit perverser Geschwindigkeit auf die nächste Bushaltestelle zuhielt. Irgendwann hatte ich sie eingeholt. Da lag sie ausgestreckt auf dem Gehweg neben einem Wartehäuschen mit lauter kaputten Fenstern an der Sherman Avenue, sah in den wolkenverhangenen Himmel und machte einen halbherzigen Versuch, die Luft anzuhalten. Ich ließ mich neben sie fallen, setzte mich auf den Randstein und streckte die Füße auf die Straße, obwohl ich wusste, dass um diese Zeit ziemlich viel Verkehr war. Ich machte ziemlich oft so fahrlässige Sachen. Mandy rastete oft aus, weil ich nicht bei der Sache war. Ich glaube allerdings, dass ich mich meistens einen Dreck darum scherte, auf mich selbst aufzupassen.
»Wo zum Teufel fahren wir hin? Es wäre besser, wir würden unseren Arsch in Bewegung setzen. Du weißt, dass wir richtig in der Scheiße sitzen, wenn wir das Abendessen verpassen.« Es gelang mir, das alles zwischen lauter Hustenanfällen hervorzuwürgen; damals war mein Asthma ziemlich schlimm, und wenn ich über weite Strecken rannte, dann bekam ich ziemlich schlimme Anfälle. Außerdem dachte ich wie alle Genies nie daran, einen Inhalator mit mir herumzuschleppen.
»Kein Problem, es ist ganz in der Nähe«, versicherte Mandy und klopfte mir durch die dicke rote Jacke auf den Rücken. »Ist eine echt starke Type. Du musst einfach mitkommen, um sie kennen zu lernen. Es ist sehr wichtig, sie ist schon ganz scharf drauf, dich kennen zu lernen.«
»Scharf drauf, mich kennen zu lernen? Woher zum Teufel weiß sie überhaupt, wer ich bin?«
»Na ja, ich hab ihr alles über dich erzählt.« Wenn es nicht Mandy gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich ziemlich darüber geärgert, dass irgendjemand losgeht und alles über mich ausplaudert. Aber bei Mandy, da konnte ich einfach nur lachen. Wenn man ständig mit ihr zusammen war, lernte man entweder, mit ihr mitzuhalten, oder man drehte durch.
Nebenbei, ich für mein Teil finde, wenn man nicht Bescheid weiß oder in der Luft hängt, so was ist die größte Scheiße von der Welt. Also blieb ich da auf dem Bordstein sitzen, die Schultern hochgezogen und den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Anschlag zu – alles, um die Kälte abzuhalten –, und wartete, immer mit dem Reißverschluss im Mund.
Als ich endlich den Bus aus der Ferne anrollen hörte, war ich fast erfroren. Meine Nase fühlte sich an, als ob sie gleich zusammenschrumpeln und abfallen würde, und ich hatte den Eindruck, als hätten meine Füße den Geist aufgegeben. Mandy bot das Bild eines recht ansehnlichen Eiszapfens, und ich glaube, auch sie hätte sich das Ganze noch einmal überlegt, wenn sie der Besuch bei dieser fantastischen Person nicht so angetörnt hätte. Ich fing allmählich an zu glauben, dass dieses Mädchen so was wie eine Heilige sein musste. Witzig – es stellte sich heraus, dass das auf etwas verdrehte Art und Weise der Wahrheit ziemlich nahe kam.
Ich saß neben einem Heizungsschacht im Bus und taute in null Komma nichts auf. Sogar ein Bus kann gemütlich sein, wenn man lange genug in der Kälte gewesen ist. Mandy kuschelte sich neben mich und wir richteten uns für die Fahrt ein. Ich wusste nicht, wie weit wir fahren würden, machte mir aber auch nicht die Mühe zu fragen. Ich war einigermaßen froh, im Warmen zu sitzen.
Mandy sang, während wir fuhren. Meine Schwester sang immer. Bei anderen würde mir das wahrscheinlich auf die Nerven gehen, aber ich schwöre, sie hatte die schönste Singstimme von der Welt. Sie hörte sich wie von einem anderen Stern an, weich und weiblich und kräftig und tröstend. Ich habe ihr immer gesagt, dass sie berühmt werden könnte. Wir witzelten immer darüber, wie ein Gesangsstar aus ihr werden würde, nur in unserer Vorstellung war das in den Zwanzigern, und wir stellten sie uns in diesen schicken Bars mit lauter Ganoven vor, in einem cremeweißen Samtkleid. Mandy in einem Kleid war jedenfalls ein echter Witz. Ich habe sie immer nur in Bluejeans gesehen. Sie meinte, in einem Kleid komme sie sich komisch vor. Ich schätze, sie hatte vielleicht Angst, sie würde darin nicht so heiß aussehen. Das war auch ein Witz, denn meine Schwester war sehr hübsch, echt wahr. Ich will ja nicht behaupten, unsere Familie bestehe aus lauter Models oder so. Ich meine, ich habe immer geglaubt, dass ich auch ein bisschen in die Ecke der Schönlinge gehöre, im Gegensatz zu den attraktiven oder den männlichen Typen jedenfalls. Es hört sich schnulzig an, aber ich habe immer davon geträumt, ich hätte mehr von so einem harten Typen. Immer wenn meine Haare ein bisschen länger wurden, redeten mich die Leute mit Fräulein an und so. Das regte mich mit der Zeit einigermaßen auf, weshalb ich meine Haare normalerweise ziemlich kurz trage. Wie dem auch sei, was ich sagen will, ist, dass meine Schwester wirklich eine wunderbare Sängerin war.
Ich schätze, ich muss eingenickt sein, erschöpft und warm und neben Mandy und ihren Songs, denn als Nächstes erinnere ich mich daran, dass sie mich leicht mit dem Ellbogen anstieß, mich zu wecken versuchte und mir sagte, dass wir beim nächsten Block aussteigen müssten. Ich rieb mir die Augen, sah durch die getönten Scheiben hinaus und versuchte zu erraten, wo wir gelandet waren.
»Wir sind drüben an der Mary Street«, klärte Mandy mich auf und zog an der Schnur, damit der Fahrer wusste, dass das unsere Haltestelle war.
»Okay«, sagte ich, immer noch ziemlich verschlafen, als Mandy mir auf die Füße half und wir aus dem Bus ausstiegen. Ich hielt mich nicht an die Warnung vor den Stufen, die über meinem Kopf hing, und wäre beinahe kopfüber in dem grauen Matsch gelandet, der die Straße bedeckte. Wir erreichten den Gehweg und gingen nach rechts, während der Bus hinter uns mit lautem Getöse davonfuhr.
»Das Gebäude da ist es, das vierte von der Ecke aus da drüben auf der anderen Seite.« Mandy deutete in die entsprechende Richtung. »Du musst dir die Wohnung ansehen, in der sie wohnt. Ich finde sie Klasse.«
»Eine Wohnung?« Meine Freunde wohnten alle in zwei- oder dreistöckigen Häusern, wie sie in unserer Gegend üblicherweise herumstanden.
»Genau, die mit dem Turm an der Ecke, wie bei einem Schloss«, sagte sie, hüpfte schnell voraus und wirbelte herum, um mir zu bedeuten, dass ich mich beeilen sollte. Mandy rannte, achtlos durch die Pfützen platschend, in null Komma nichts über die Straße. Ich blieb immer hinter ihr, um den Schlammspritzern auszuweichen. »Komm schon, lahme Krücke«, rief sie, nahm mich bei der Hand und galoppierte los. Wenn man vor dem Eingang des Gebäudes stand, war es nicht mehr so beeindruckend wie aus der dämmrigen Ferne.
Überall blätterte die Farbe ab und eine der Stufen war schon ganz bröckelig. Die Briefkästen befanden sich auch in einem ziemlich traurigen Zustand, zwei von den dreien hingen krumm und schief an einem einzigen Nagel. Mandy schob die fensterlose Tür auf; sie sah aus, als ob sie aus sämtlichen Angeln gerissen wäre, und wenn man eingetreten war, musste man sie hochheben und an ihren Platz zurückstellen. »Meine Güte«, flüsterte ich. »Das ist vielleicht ein armseliges Schloss.« Mandy warf mir einen melancholischen Blick zu. »Die Häuser hier in der Gegend sehen alle so aus. Die Stadt kümmert sich einfach nicht drum, sie wieder instand zu setzen, und die Leute, die hier wohnen, können es sich nicht leisten. Aber Leslie gefällt es hier. Sie sagt, das Haus habe eine Seele.«
»Leslie?«
»So heißt sie, Dummkopf. Komm schon, sie wohnt ganz oben.« Und weg war sie, kletterte im Dunkeln drei Etagen hoch, ich ihr immer auf den Fersen. Das Treppenhaus war schrecklich eng; man konnte sich kaum bewegen, und nirgends gab es mehr Licht, nachdem wir den Wirkungskreis der flackernden Leuchtschrift über der Eingangstür im Erdgeschoss hinter uns gelassen hatten.
Der Lärm eines Zeichentrickfilms dröhnte uns penetrant entgegen, und das in einer solchen Lautstärke, dass hinter der Tür unmöglich irgendjemand einen Gedanken fassen konnte. Mandy trat näher und klopfte. Der Lärm des Zeichentrickfilms erstarb augenblicklich und ich hörte die Stimme einer alten Frau. »Wer ist da?«
Dann die Stimme eines jüngeren Mädchens: »Lass nur, Oma, bleib, wo du bist, ich geh schon. Wer ist da?« Ich weiß nicht, was es mit der Stimme auf sich hatte, aber jedes einzelne Wort hallte in meinem Herzen wider. Ich weiß, dass es sich schnulzig anhört, aber genau so ist es gewesen.
»Ich bin’s, Mandy.«
Hinter der Tür war ein freudiger Aufschrei zu hören und dann flog die Tür auf.
Vor einer knappen Stunde hatte ich mich gefragt, was für eine Art Heilige Leslie wohl sein musste, weil Mandy so einen Aufstand wegen ihr machte. Jetzt flog der Gedanke zu mir zurück; anders konnte man nicht beschreiben, wie Leslie mir an diesem Abend vorkam. Ihr Kopf war total kahl rasiert; sie hatte ein weißes Kleid an und in dem blauen Licht des Fernsehers hinter ihr sah sie unbestreitbar geisterhaft, engelsgleich aus. Mit den anderen Mädchen, die ich kannte, hatte sie überhaupt keine Ähnlichkeit. Mir verschlug es die Sprache. Sie war die Vision eines Mädchens ohne Haare. Die Zigarette, die sie in der Hand hielt, sah aus, als würde sie zu ihr gehören, nicht, als ob sie damit angeben wollte. Sie hatte ein wunderbares Lächeln, ein blasses, geisterhaftes Gesicht, traurige, wissende Augen. So sah ich Leslie und so würde ich sie immer sehen. Ich verliebte mich in sie, weshalb sie mich mit Leichtigkeit über den Haufen rennen oder mir über die Wange streicheln konnte. Was sie nicht tat.
Obwohl ich das im Laufe der nächsten paar Jahre vergaß, wusste ich an jenem Abend, dass ich, wenn ich nur bei dieser seltsamen, wunderbaren Seele bleiben würde, die uns da im Türrahmen gegenüberstand, umgeben von jenem leuchtenden blauen Licht, das für einen Moment nichts mit dem Fernseher zu tun hatte – wenn ich einfach in Leslies Nähe bleiben würde, käme alles in Ordnung.
Als ich zum ersten Mal sah, wie sie ihre Lippen bewegte, sagte sie den Namen meiner Schwester. »Mandy! Wunderbar! Wo bist du gewesen? Ich dachte, du magst mich nicht mehr.« Sie umarmte meine Schwester mit geschlossenen Augen, während sie sie an sich drückte. »Komm rein. Ich hab mein Zimmer umgeräumt. Das musst du dir ansehen.«
Mandy lachte. »Dein Zimmer sieht immer anders aus, wenn ich vorbeikomme.«
»Natürlich. Ich muss es mindestens einmal pro Woche umräumen. Wer ist das? Dein Bruder, wie ich vermute?« Letzteres sagte sie mit einem aufgesetzten, sehr britischen Akzent und hob die Nase, um darüber hinweg auf mich hinunterzusehen.
Mandy sah zu mir hinüber, aber ich war immer noch ziemlich sprachlos, also redete sie für mich. Irgendwie neigte ich dazu, mich in der Nähe von Leuten, die ich nicht kannte, zu verschließen, selbst wenn sie die großartigsten Leute der Welt waren, und Mandy wusste das. Sie war daran gewöhnt, mich aus Situationen wie dieser rauszuhauen.
»Genau, das ist Jim. Jim, Leslie.« »Hi«, murmelte ich.
»Schön, dich kennen zu lernen, Jim. Obwohl ich dich schon kenne.« Sie lächelte hinterhältig. »Mandy hat mir alles über dich erzählt. Sogar deine größten Geheimnisse. Soll nur ein Witz sein. Jedenfalls hat sie mir nicht erzählt, dass du so ein süßer Fratz bist.« Ich wurde rot und trat von einem Fuß auf den anderen in dem Versuch, das Thema zu wechseln, ohne den Mund aufzumachen. »Ups. Wie unhöflich von mir. Ich bin so unaufmerksam, kommt rein, kommt rein.« Wir gingen hinein und sie schloss die Tür hinter uns. Wir standen in dem Turmzimmer, das man von draußen sehen konnte. Eine alte Frau saß auf einer braunen, klapprigen Couch und strickte an einem Pullover oder einer Decke. Jetzt konnte ich den Zeichentrickfilm im Fernseher sehen. Irgendwie nahm das ein bisschen den Zauber von der ganzen Sache, aber das war vielleicht besser so. »Das ist meine Oma. Sie ist in Ordnung.« Ihre Großmutter wandte sich uns zu und sah uns mit ziemlich leerem Blick an. »Oma, das ist Jim und das ist Mandy. Du erinnerst dich doch an Mandy, oder?«
Für mich sah Oma echt nicht so aus, als ob sie eine Ahnung hätte, wovon Leslie da redete. »Hmm. Du brauchst heut Abend ein bisschen Ruhe, Leslie. Deine Mom hat gesagt, ich soll zusehen, dass du genügend Schlaf bekommst.«
»Ich weiß. Ich werd schlafen gehen, sobald meine Freunde gegangen sind, okay?« Leslie redete mit ihr wie mit einem kleinen Kind, aber ich hatte das Gefühl, dass Leslie keineswegs vorhatte, ihre Oma zu verarschen, wie man das mit Kindern macht. Genau genommen hatte ich ein Problem damit, mir vorzustellen, dass Leslie irgendjemanden anlog. »Kommt schon, Kumpels, seht euch mein Zimmer an.« Sie hüpfte den kurzen Flur hinunter und bog scharf in ihr Zimmer ab. Wieder folgten wir ihr schweigend.
Hier war es wesentlich wärmer als im Wohnzimmer. Ein riesiger weißer Radiator in einer Ecke gab Hitzewellen von sich, an denen man beinahe erstickte. Die Wände ihres Zimmers waren weiß gekalkt und mit Bildern, Fotos, Postern und getrocknetem Kaugummi in diversen Farben verziert. Der Fußboden und erst recht das Bett soffen ab unter Kleidern, Notizbüchern, Kassetten, der Tonskulptur eines Frauenkopfes, einem demontierten Plattenspieler, der wie ein Schatzkästchen aussah, und zahllosen Zeichnungen und Papieren, die über und über mit verrückten Mustern und Formen bekritzelt waren. Unter dem Bett befand sich eine teilweise verborgene kleine Nische, die ihr offensichtlich als von der Außenwelt abgeschirmte Schlafstatt diente. Es gab ein einzelnes Fenster, vor dem ein Schreibtisch stand. Als ich hinaussah, verstand ich, warum Leslie dort gerne schrieb. Die altertümlichen, verfallenen Gebäude warfen ihre verlängerten Schatten übereinander und sorgten für einen ziemlich beeindruckenden Blick. »Gefällt es euch?«, fragte sie uns hoffnungsvoll.
»Äh … ja. Es ist ehrlich, äh … hübsch.«
»Genau«, platzte Mandy heraus. »Es ist wirklich wunderschön.« Sie war in Leslie genauso verliebt wie ich, das war mir klar.
»Setzt euch«, sagte Leslie und schaffte Platz auf dem Boden, indem sie mit dem Fuß alles auf eine Seite schob, und setzte sich auf einen schwarzen Hocker in einer Ecke neben einem riesigen Aschenbecher, einem zerbrochenen und zum Kreis zusammengesetzten Spiegel und einem Stück gespannter Leinwand. »Ich mal mein Bild fertig, während wir reden, okay?«
Mandy sagte, das wäre cool, und ich nickte.
»Du redest nicht besonders viel, oder?«, fragte mich Leslie mit leicht enttäuschtem Unterton in der Stimme.
Das war das Letzte, was ich gewollt hätte, also gab ich mir größte Mühe, mich mit ihr zu unterhalten. »Nicht sonderlich viel, wenn neue Leute da sind, nein. Aber …«
»Ach, so ein Blödsinn«, sagte sie und beugte sich anmutig, aber auch sehr schnell zu mir hinab, sodass ich weniger aus Furcht, sondern rein instinktiv den Kopf einzog. »Ich beiß nicht«, flüsterte sie mir ins Ohr und drückte mir in der Nähe meiner Lippen einen Kuss auf. Das war ziemlich beängstigend; obwohl ich gerade fünfzehn geworden war und so, hatte ich noch nie ein Mädchen geküsst, nicht einmal auf die Backe.
Ich grinste wider Willen. Ihre Lippen waren das Weichste, was ich je gespürt hatte. Ich meine, ich weiß, dass das kein richtiger Kuss-Kuss war, auf den Mund und so, aber es war etwas in der Mitte zwischen Wangenkuss und Lippenkuss, und das zählte natürlich schon irgendwie. Ich weiß, das hört sich schon wieder schnulzig an, und es war auch nur ein Kuss, aber irgendwie wusste ich, dass dies der Anfang von etwas Großartigem war, etwas Schönem. Die Art, wie sie mich innen drin auf den Kopf stellte, wie ich mich in alles verliebte, was sie tat, wie sie sich bewegte, wie sie redete, wie sie lächelte mit ihren Augen und ihren Schultern und ihren Lippen. Der helle Wahnsinn, diese Lippen. Ich konnte meine Augen einfach nicht von ihnen abwenden. Bei jedem anderen hätte ich die Sache voll albern gefunden und mich dazu gezwungen, wegzusehen, aber bei ihr war ich schamlos. Ich hatte keine Angst, sie anzustarren. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Angst, mich aus dem Stand verzweifelt, hoffnungslos, sinnlos zu verlieben. Das fühlte ich in meinem Herzen, ohne mich darüber zu wundern oder daran zu zweifeln, und ich wusste, auch wenn ich ewig dazu brauchen würde, es ihr zu sagen, bliebe es für immer und unerschütterlich wahr. Und ich wusste, sie würde nicht beißen. »Okay«, sagte ich und sammelte Mut. »Ich bin einfach ein bisschen schüchtern bei Fremden. Aber, ähm … das heißt nicht, dass ich dich nicht mag.«
Leslie schlug überschwänglich die Hände vor den Mund. »Ihr Jungs seid so großartig! Komm mich besuchen, wann immer du willst. Ich bin hier oben oft einsam und ich darf nicht raus. Oma lässt mich ab und zu rausgehen, weil sie manchmal vergisst, dass ich nicht rausdarf. Sie ist süß. Wenn meine Mom da ist, darf ich noch nicht mal frische Luft schnappen. Was schlecht ist, weil sie nachts arbeitet, also den ganzen Tag über zu Hause ist. Ich würd lieber rausgehen, wenn die Sonne scheint. Aber ich hab immer noch mein Fenster. Fenster sind gut.«
Sie sprang auf und schob das Fenster hoch, steckte den Kopf hinaus und atmete tief ein. Dann setzte sie sich wieder auf ihren Hocker, das Fenster ließ sie offen. Es zog ziemlich kalt herein, aber mir war die frische Luft in dem überheizten Zimmer recht.
»Warum darfst du nicht raus?«
»Mein Dad hat so ’ne blöde alte Tante geheiratet und ich hätt mir am Tag davor die Beine rasieren sollen und hab mir auch den Kopf rasiert. Er war ziemlich sauer, und meine Mom hat mir Hausarrest erteilt, bis mein Haar wieder drei Zentimeter lang ist.«
»Ganz schön stark«, sagte Mandy bewundernd und lachte. »Ach, ich hab das nicht wegen der Hochzeit von meinem Vater gemacht; mir war bloß langweilig.« »Schade«, sagte Mandy etwas enttäuscht.
Aber Leslie ging schnell darüber hinweg. Mandys Enttäuschung hatte sie entweder nicht bemerkt oder sie kümmerte sich nicht darum. Leslie war unberechenbar, zumindest in jenen Tagen, als sie noch jung war. Später musste sie schneller erwachsen werden als wir anderen.
Sie erzählte mir viel später einmal, was sie nach Mandys Tod getan hatte. Sie sagte, sie sei nach Hause gegangen und habe sich für den Rest des Tages unter die Dusche gestellt, bis kein heißes Wasser mehr kam, und sie sei noch länger, stundenlang und frierend, druntergeblieben. Habe sich stundenlang gewaschen, eingeseift von Kopf bis Fuß, wieder und wieder. Sie erzählte, dass sie Mandys Geruch danach immer noch an ihrem Körper riechen konnte. Sie konnte Mandy immer noch an sich spüren. Ich glaube, sie tut es immer noch.
Damals jedenfalls wusste man nie, wie sie reagieren würde. Das nervte ein bisschen, aber sie hielt einen wenigstens in Bewegung. Sie griff nach dem Gemälde neben sich und betrachtete es kritisch. »Kinder, gefällt euch dieser Hintergrund?« Sie zeigte es uns. Es war eine Mischung aus verschiedenen Grau- und Blautönen, die ineinanderliefen, weshalb man die Farben schwer unterscheiden konnte. Wir sagten ihr, dass es gut aussehe, was ich so meinte und Mandy auch, das wusste ich. Mandy hätte es gesagt, wenn sie es schlecht gefunden hätte. Sie konnte brutal ehrlich sein. Zumindest anderen Leuten gegenüber.
»Ich bin noch nicht fertig«, erklärte Leslie sachlich, nahm das Gemälde wieder auf ihren Schoß und griff nach einem leuchtend gelben Pinsel, von dem rote Farbe tropfte und mit dem sie in schnellen, entschlossenen Strichen über das Bild fuhr, als ob sie genau wüsste, was sie wollte, und völlig außer Frage stünde, um was es auf dem Bild ging. »Ich hab auf euch gewartet.«
»Wieso das?«, fragte ich sie.
»Das ist mein Drake-Porträt. Ich werde in Zukunft nur noch daran arbeiten, wenn ihr beiden vor mir sitzt. He, Jim, hast du letzte Nacht von mir geträumt?«
Was für eine seltsame Frage. So was fragten einen die Leute normalerweise nicht. Stichwort für den heimlichen Seufzer verzweifelter Sehnsüchte. »Nein, warum?«
»Die Leute träumen normalerweise von mir, bevor sie mich kennen lernen. Mandy zum Beispiel.«