Noah will nach Hause - Sharon Guskin - E-Book

Noah will nach Hause E-Book

Sharon Guskin

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Beschreibung

Die alleinerziehende Janie ist ratlos. Ihr vierjähriger Sohn Noah jammert immer wieder, dass er zu seiner Mama will. Aber ist er das nicht? Die verzweifelte Mutter sucht Hilfe bei Jerome Anderson, einem Psychologieprofessor, der das Phänomen der Wiedergeburt erforscht. Sie machen sich mit nur wenigen Anhaltspunkten detektivisch auf die Suche nach dem Ort, dem Haus, der Familie, der Mutter, nach der Noah sich so sehr sehnt ... »Fesselnd, dicht und bewegend.« New York Times »Unwiderstehlich ... Dieses kluge, ans Herz gehende Buch hat mich gefesselt bis spät in die Nacht.« Kate Morton

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Das Buch

Die alleinerziehende Janie ist ratlos. Ihr vierjähriger Sohn Noah hat Albträume. Immer wieder jammert er, dass er zu seiner Mama will. Aber genau da ist er doch, oder etwa nicht? Janie ist verzweifelt und konsultiert verschiedene Ärzte. Schließlich nimmt sie Kontakt zu einem Psychologieprofessor auf, der das Phänomen der Wiedergeburt erforscht. Kann er Noah helfen? Mit nur wenigen Anhaltspunkten machen sie sich detektivisch auf die Suche nach dem Ort, dem Haus, der Familie, der Mutter, nach der Noah sich so sehr sehnt. Werden sie sie finden?

Die Autorin

Sharon Guskin studierte an der Yale University und der Columbia University School of the Arts. Sie ist Autorin und Produzentin preisgekrönter Dokumentarfilme. Mit ihrem Mann und zwei Söhnen lebt sie in Brooklyn, NY.

Die Idee zu ihrem Roman hatte sie erstmals während eines Praktikums in einem Hospiz in Thailand und später kurz nach der Geburt ihres ersten Sohnes. Noah will nach Hause ist ihr erster Roman.

Noah will nach Hause

Roman

Aus dem Amerikanischen von Carina Tessari

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Forgetting Timeim Verlag Flatiron Books, New York, NY, USACopyright © 2016 Sharon Guskin

Auszüge aus dem Buch Life Before Life: Children’s Memories of Previous Livesvon Jim B. Tucker mit freundlicher Genehmigung des Verlags St.Martin’s Press, NY, USA

Copyright © 2005 Jim B. Tucker. Alle Rechte vorbehalten.

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ISBN: 978-3-8437-1445-7

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Übersetzung: Carina Tessari

Lektorat: Ulla Mothes

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München nach einer Vorlage von: © Mantle/Pan Macmillan.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Doug, Eli und Ben.

EINS

Kurz vor ihrem neununddreißigsten Geburtstag, am trostlosesten Tag im trübsten Februar aller Zeiten, beschloss Janie, etwas zu tun, das sich als die wichtigste Entscheidung ihres Lebens herausstellen sollte: Sie beschloss, Urlaub zu machen.

Trinidad war vielleicht nicht das Nonplusultra. Wenn sie schon so weit flog, dann sollte es wenigstens Tobago oder Venezuela sein, aber Janie gefiel der Name, Tri-ni-dad. Er klang für sie wie ein Versprechen. Sie buchte den günstigsten Flug, den sie finden konnte, und kam direkt zum Ende des Karnevals dort an. In den Rinnsteinen türmte sich der schönste Müll, den sie je gesehen hatte, die Straßen selbst waren wie leergefegt, alle erholten sich von den tagelangen Partys. Einzig die Straßenkehrer schlurften langsam, aber zufrieden, ihrer Wege. Janie hob Händevoll Konfetti, glitzernde Federn und Plastikschmuck von der Straße auf und stopfte sich alles in die Taschen, als hoffte sie, sich damit etwas Frivoles einhauchen zu können.

In ihrem Hotel fand eine mehrtägige Hochzeit statt, eine Amerikanerin heiratete einen Mann aus Trinidad, und die meisten der Hotelgäste gehörten der Hochzeitsgesellschaft an. Janie beobachtete, wie die beiden Familien einander umkreisten: die in der Sonne dahinwelkenden Tanten und Onkel und Cousinen der Braut, die mit ihren sonnenverbrannten Wangen glücklicher wirkten, als sie waren, und die vergnügten Trinis, die immer in Gruppen zusammenstanden, pausenlos lachten und schnellen Trini-Slang sprachen.

Die Luftfeuchtigkeit war enorm, aber die warme Umarmung des Meeres machte alles wieder gut, war wie ein Trostpreis für all jene, die nicht vor Liebe platzten. Der Strand sah genauso aus wie auf den Bildern, überall Palmen, blaues Wasser und grüne Hügel, und jede Menge Sandmücken, die einen in die Knöchel stachen und daran erinnerten, dass all das kein Traum war. Zwischen den Palmen standen immer mal wieder kleine Stände, an denen Bake & Shark verkauft wurde: frittierter Hai im ebenfalls frittierten Brot, der beste Snack, den Janie je gegessen hatte. Aus der Dusche im Hotel kam manchmal warmes Wasser, manchmal nur kaltes und bisweilen gar keins.

Die Tage vergingen wie im Flug. Sie lag am Strand, blätterte in jener Sorte Hochglanzmagazinen, die sie sich normalerweise nicht gönnte, tankte Sonne und genoss die Meeresbrise. Es war ein schrecklich langer Winter gewesen. Ein Schneesturm hatte den nächsten gejagt wie eine Lawine von Katastrophen, auf die New York alles andere als vorbereitet gewesen war. Sie war mit der Aufgabe betraut worden, die Toiletten eines Museums zu planen, das ihre Firma entwarf, und oft war sie an ihrem Schreibtisch eingeschlafen und hatte von blauen Fliesen geträumt oder war erst nach Mitternacht in ihre stille Wohnung zurückgekommen, wo sie so erschöpft ins Bett gefallen war, dass sie sich nicht einmal mehr fragen konnte, wie es so weit hatte kommen können in ihrem Leben.

An ihrem vorletzten Abend in Trinidad wurde sie neununddreißig. Sie saß allein auf der Terrasse an der Bar und lauschte der Kennenlernparty der Hochzeitsgesellschaft, die im Bankettsaal nebenan stattfand. Sie war froh, um den obligatorischen Geburtstagsbrunch zu Hause herumzukommen, jenem Aufmarsch von Freundinnen mitsamt all ihrer Ehemänner und Kinder und überschwänglicher Glückwunschkarten, auf denen ihr versichert wurde Das ist dein Jahr!

Das Jahr für was? hatte sie immer fragen wollen.

Aber natürlich war ihr klar, was sie damit meinten: das Jahr für einen Mann. Was ziemlich unwahrscheinlich schien. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie kein einziges Date mehr gehabt, was nicht zuletzt daran lag, dass sie die Abende anschließend nicht mehr haarklein zusammen analysieren konnten; jene endlosen, unverzichtbaren Telefonate, die manchmal länger dauerten als die Verabredungen selbst. Männer waren in Janies Leben immer wieder gekommen und gegangen; sie hatte gespürt, wie sie sich davonstahlen, lange bevor sie es tatsächlich taten. Ihre Mutter hingegen war immer da gewesen – ihre Liebe so elementar und unentbehrlich wie die Schwerkraft –, bis sie eines Tages fort war.

Janie bestellte sich einen Drink, warf einen Blick in die Speisekarte und entschied sich für das Ziegencurry, aus dem einfachen Grund, dass sie es nicht kannte.

»Sind Sie sicher?«, fragte der Barkeeper. Er war fast noch ein Junge, nicht älter als zwanzig, gertenschlank, mit großen lachenden Augen. »Es ist scharf.«

»Kein Problem«, antwortete sie lächelnd und fragte sich, ob sie sich an ihrem vorletzten Abend vielleicht auf ein Abenteuer einlassen sollte, und wie es wohl wäre, nach all der Zeit wieder einen anderen Körper zu berühren. Doch der Junge nickte nur und servierte ihr kurz darauf das Essen, ohne sich darum zu kümmern, wie es ihr damit erging.

Das Curry brannte wie Feuer in ihrem Mund.

»Ich bin beeindruckt. Ich würde das nicht runterkriegen«, sagte der Mann, der zwei Stühle weiter an der Bar saß. Er war mittleren Alters, ein Schrank von einem Kerl, mit blonden, struppigen Haaren, die kreisförmig von seinem Kopf abstanden wie der Lorbeerkranz von Julius Cäsar. Über seiner Boxernase blitzten zwei freche Augen. Er war der einzige andere Gast, der nicht zur Hochzeitsgesellschaft gehörte. Sie hatte ihn schon ein paarmal im Hotel und am Strand gesehen und war von seinen Wirtschaftsmagazinen ebenso wenig angetan gewesen wie von seinem Ehering.

Sie nickte ihm zu und nahm einen besonders großen Löffel von dem Curry. Die Schärfe schoss ihr augenblicklich aus jeder Pore.

»Lecker?«

»Und wie«, erwiderte sie, »auf eine verrückte, alles verbrennende Art und Weise.« Sie nahm einen Schluck von der RumCola, die sie bestellt hatte; sie war kühl und belebend nach der Feuersbrunst.

»Wirklich?« Sein Blick wanderte von ihrem Teller hinauf zu ihrem Gesicht. Seine Wangen leuchteten knallpink, als wäre er geradewegs zur Sonne geflogen und ungeschoren davongekommen. »Darf ich mal probieren?«

Sie sah ihn ein wenig ratlos an, dann zuckte sie mit den Schultern: Was soll’s.

»Bedienen Sie sich.«

Er sprang von seinem Barhocker, setzte sich auf den Platz neben sie und schnappte sich ihren Löffel. Sie sah zu, wie dieser kurz unschlüssig über ihrem Teller schwebte, dann hinabstürzte und eine mundgerechte Portion des Currys aufschaufelte, das dann zwischen seinen Lippen verschwand.

»Jee-sus, Maria und Josef!«, stieß er hervor. Er stürzte ein Glas Wasser hinunter. »Grundgüü-tiger!« Doch er lachte und sah sie mit seinen braunen Augen bewundernd über den Rand des Wasserglases an. Bestimmt hatte er beobachtet, wie sie den Barkeeper angelächelt hatte, und daraus geschlossen, dass sie auf etwas aus war.

Aber war sie das? Sie sah ihn an und registrierte alles: das Interesse in seinen Augen, die geschmeidige Bewegung, mit der er seine linke Hand hinter dem Körbchen mit dem Roti-Brot verschwinden ließ, um den Finger mit dem Ehering zu verstecken.

Er war geschäftlich in Port of Spain, ein Unternehmer, der einen lukrativen Deal abgeschlossen und anschließend beschlossen hatte, sich zur Belohnung eine kleine »Faulenzeritis« zu gönnen. Er nannte es tatsächlich so, »Faulenzeritis«, und sie konnte gerade noch verhindern, dass sie zurückzuckte: Wer bitte benutzte so ein Wort? Niemand, den sie kannte. Er kam aus Houston, wo sie noch nie gewesen war und auch noch nie hatte hinfahren wollen. Er trug eine Rolex aus Weißgold um sein sonnengebräuntes Handgelenk, die erste, die sie je aus der Nähe sah. Als sie ihm das sagte, nahm er die Uhr ab und legte sie ihr um ihr feuchtes Handgelenk, an dem sie schwer und funkelnd hängenblieb. Janie gefiel das seltsam fremde Gefühl, das die Uhr auf ihrer sommersprossigen Haut auslöste, gefiel der Anblick, wie sie wie ein diamantenbesetzter Hubschrauber über ihrem Ziegencurry schwebte. »Steht Ihnen«, sagte er, blickte von ihrem Handgelenk auf und sah ihr so direkt und unverhohlen in die Augen, dass sie rot wurde und ihm die Uhr zurückgab. Was machte sie hier eigentlich?

»Ich sollte dann mal los.« Die Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren wenig überzeugend.

»Bleiben Sie doch noch ein bisschen und plaudern mit mir.« In seiner Stimme schwang etwas Flehendes mit, doch sein Blick war weiterhin spitzbübisch. »Na los, kommen Sie. Ich habe seit einer Woche keine vernünftige Unterhaltung mehr geführt. Und Sie sind so …«

»So … was?«

»Außergewöhnlich.«

Er warf ihr ein Lächeln zu, das schmeichlerische Grinsen eines Mannes, der ganz genau wusste, wie und wann er seinen Charme einzusetzen hatte. Dieses Instrument aus seiner Trickkiste, das nichtsdestotrotz wie Metall in der Sonne aufblitzte, während er sie ansah, und das irgendwie originell und ungekünstelt wirkte. Sie verspürte eine Welle echter Zuneigung.

»Oh, ich bin ganz und gar gewöhnlich.«

»Keineswegs.« Er sah sie forschend an. »Woher stammen Sie?«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink, der sie leicht benebelte. »Oh, wen kümmert das?« Ihre Lippen waren kalt und brannten zugleich.

»Na, mich.« Noch ein Lächeln: kurz und gewinnend. Kaum da, schon wieder weg. Aber … wirkungsvoll.

»Okay, dann komme ich aus New York.«

»Aber da sind Sie nicht geboren.« Er formulierte es wie eine Feststellung.

»Wieso?«, brauste sie auf. »Halten Sie mich nicht für taff genug, um eine echte New Yorkerin zu sein?«

Sie spürte, wie er sie beäugte, und versuchte, sich unter keinen Umständen anmerken zu lassen, dass ihre Wangen zu glühen begannen.

»Sie sind taff, keine Frage«, sagte er mit schleppendem Südstaatenakzent, »aber ich sehe da auch eine gewisse Verletzlichkeit. Und das ist kein typisches Merkmal für eine New Yorkerin.«

Er sah eine gewisse Verletzlichkeit? Das war ihr neu. Sie wollte ihn fragen, wo, damit sie sie dorthin zurückstecken konnte, wo sie hingehörte.

»Also?« Er lehnte sich ein Stück vor. Er roch nach Kokosnuss-Sonnenmilch und Curry und Schweiß. »Woher stammen Sie wirklich?«

Es war eine schwierige Frage, die sie regelmäßig ins Straucheln brachte. Aus dem Mittleren Westen, antwortete sie meistens. Oder Wisconsin, denn dort hatte sie den größten Teil ihres Lebens verbracht, wenn man das College mit einrechnete. Seitdem war sie allerdings nie wieder dort gewesen.

Sie erzählte nie jemandem die Wahrheit. Außer – aus völlig unerfindlichen Gründen – jetzt. »Ich stamme von nirgendwo her.«

Stirnrunzelnd setzte er sich auf. »Wie meinen Sie das? Wo sind Sie aufgewachsen?«

»Ich –« Sie schüttelte den Kopf. »Das wollen Sie gar nicht hören.«

»O doch. Ich höre.«

Sie sah zu ihm hoch. Und in der Tat, er hörte.

Aber hören war nicht das richtige Wort. Oder vielleicht doch: ein Wort, das für gewöhnlich passiv gebraucht wurde, das eine Art schweigende Aufnahmebereitschaft suggerierte, die Bereitschaft, die Laute eines anderen Menschen aufzunehmen, Ich höre dich, wohingegen sich das, was er gerade mit ihr machte, überraschend kraftvoll und innig anfühlte: entschlossenes Hören, so wie Tiere im Wald lauschten, um zu überleben.

»Also …« Sie holte tief Luft. »Mein Vater hatte einen dieser Jobs im Außendienst, weswegen wir ständig irgendwoandershin geschickt wurden. Vier Jahre hier, zwei Jahre dort. Michigan, Massachusetts, Washington State, Wisconsin. Immer wir drei. Dann zog er irgendwie … allein weiter. Ich weiß nicht, wohin. Irgendwohin ohne uns, auf jeden Fall. Meine Mutter und ich blieben in Wisconsin, bis ich mit dem College fertig war, danach zog sie nach New Jersey, wo sie bis zu ihrem Tod gelebt hat.« Es fühlte sich immer noch seltsam an, das auszusprechen; sie versuchte, sich seinem durchdringenden Blick zu entziehen, doch es war unmöglich. »Wie auch immer, ich bin dann jedenfalls nach New York gezogen, weil wohl die meisten Leute, die dort leben, im Grunde nirgendwohin gehören. Folglich fühle ich mich keinem Ort besonders verbunden. Ich komme aus dem Nichts. Lustig, was?«

Sie zuckte mit den Schultern. Die Worte waren einfach so aus ihr herausgesprudelt. Sie hatte nicht vorgehabt, irgendetwas davon zu sagen.

»Das klingt verdammt einsam«, sagte er immer noch stirnrunzelnd, und das Wort pikte ihr wie ein winziger Zahnstocher in jene weiche Seite, die sie überhaupt nicht hatte zeigen wollen. »Haben Sie nicht irgendwo Familie?«

»Na ja, es gibt eine Tante auf Hawaiii –« Was machte sie hier? Warum erzählte sie ihm das? Erschrocken hielt sie inne. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht. Tut mir leid.«

»Aber wir haben doch überhaupt nichts gemacht«, sagte er, wobei ihm ein unübersehbar gefräßiger Ausdruck übers Gesicht huschte. Ihr schoss eine Zeile von Shakespeare durch den Kopf, etwas, das ihre Mutter ihr immer zugeflüstert hatte, wenn sie im Einkaufszentrum an pubertierenden Jungs vorbeigelaufen waren: »Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.« Ihre Mutter hatte ständig solche Sachen gesagt.

»Was ich damit sagen will«, stammelte Janie. »Ich rede nicht gern darüber. Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles überhaupt erzähle. Es muss am Rum liegen.«

»Aber warum sollten Sie es mir denn nicht erzählen?«

Sie sah ihn an. Sie konnte nicht glauben, dass sie sich ihm geöffnet hatte, dass sie drauf und dran war, dem zugegeben beachtlichen Charme dieses Geschäftsmannes aus Houston zu erliegen, der einen Ehering am Finger trug.

»Weil … Weil Sie …«

»Weil ich was?«

Ein Fremder sind. Doch das klang irgendwie zu kindlich. Also sagte sie das Erstbeste, was ihr einfiel. »Republikaner sind?« Sie versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, und lachte schwach. Sie wusste nicht mal, ob es stimmte.

Er sah sie irritiert an.

»Und das macht mich zu einem was? Einem Primitivling?«

»Was? Nein. Überhaupt nicht.«

»O doch, das denken Sie. Es steht Ihnen regelrecht ins Gesicht geschrieben.« Er saß jetzt kerzengerade auf seinem Barhocker. »Sie denken, wir fühlen nicht das Gleiche wie Sie?« Seine braunen Augen, die sie gerade noch so bewundernd angesehen hatten, durchbohrten sie jetzt mit einer Mischung aus Gekränktheit und Wut.

»Können wir nicht einfach wieder über das Curry reden?«, fragte sie abwiegelnd.

»Sie denken, wir haben kein Herz und brechen nicht weinend zusammen, wenn unsere Kinder auf die Welt kommen, und fragen uns nicht, wo unser Platz im Leben ist?«

»Okay, okay, ich hab’s verstanden. Ihr blutet, wenn man euch sticht.«

Er durchbohrte sie immer noch mit seinem Blick. »›Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?‹ aus DerKaufmann von –«

»Haben Sie es denn verstanden, Shylock? Haben Sie es wirklich verstanden? Ich bin mir da nämlich nicht so sicher.«

»Nennen Sie mich nicht Shylock.«

»Alles klar, Shylock.«

»Hey.«

»Ganz wie Sie meinen, Shylock.«

»Hey!«

Sie mussten beide lachen.

»Also.« Sie sah ihn von der Seite an. »Kinder, hm?«

Er tat die Frage mit einer großen rosafarbenen Handbewegung ab.

»Wie auch immer«, sagte sie, »was spielt es für eine Rolle, wie ich über irgendetwas denke?«

»Eine große.«

»Ach ja? Und warum?«

»Weil Sie klug sind und weil Sie ein menschliches Wesen sind und weil Sie gerade in diesem Moment hier sitzen und weil wir dieses Gespräch führen«, sagte er, lehnte sich mit ernstem Gesichtsausdruck zu ihr vor und berührte dabei ihr Knie. Es hätte sich eigentlich schmierig anfühlen müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Ein angenehmer Schauer durchfuhr sie, noch bevor sie etwas dagegen tun konnte.

Sie sah auf ihren durchpflügten Teller hinunter.

Er wohnt bestimmt in einer protzigen Vorstadtvilla, dachte sie, hat drei Kinder und eine Frau, die Tennis spielt.

Sie hatte schon öfter Männer wie ihn kennengelernt, natürlich, aber sie hatte noch nie mit einem geflirtet – so einem Typ »Country-Club«, mit einem Händchen fürs Geschäft. Und für Frauen. Gleichzeitig spürte sie, dass er etwas an sich hatte, das sie anzog. Sie schrieb es seinen pfeilschnellen Blicken zu, seiner Sprunghaftigkeit und dem Gefühl, dass ihn Gedanken mit einer Geschwindigkeit von einer Million Stundenkilometer durchzuckten.

»Hören Sie. Ich will morgen einen Ausflug ins Asa-Wright-Naturschutzgebiet machen«, sagte er. »Haben Sie Lust mitzukommen?«

»Was ist das?«

Er wippte ungeduldig mit dem Bein. »Ein Naturschutzgebiet.«

»Ist es weit weg?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab mir ein Motorrad gemietet.«

»Ich weiß nicht.«

»Wie Sie meinen.« Er verlangte nach der Rechnung. Sie spürte, wie seine Energie rasant den Kurs änderte, sich von ihr wegbewegte; sie wollte sie zurück.

»Also gut«, sagte sie. »Warum nicht?«

Das Naturschutzgebiet lag Stunden entfernt, aber das war ihr egal. Sie klammerte sich hinten auf dem Motorrad an ihm fest und genoss die Geschwindigkeit, weidete sich an der üppigen Landschaft und ließ die chaotischen Orte ebenso auf sich wirken wie die neuen Betongebäude, die sich an baufällige Holzhäuser reihten und deren Blechdächer in der Sonne um die Wette strahlten. Sie kamen gegen Mittag an und nahmen an einer Führung durch den Regenwald teil, schwiegen vergnügt und kicherten zusammen über die Namen der Vögel: Zuckervogel und Fettschwalm, Flechtenglöckner und Blauscheitelmotmot, Cayennekuckuck und Bauchschnabeltyrann. Ausgelassen saßen sie einige Zeit später auf der großen Veranda des ehemaligen Herrenhauses und beobachteten die Amazilia-Kolibris, wie sie vor den Futterspendern schwebten, die vom Vordach herunterhingen: vier, fünf, sechs Kolibris, die in der Luft auf- und abschwirrten wie bei einem Zaubertrick.

»Ich komme mir vor wie in der Kolonialzeit«, sagte Janie und lehnte sich in ihrem Korbstuhl zurück.

»Die gute alte Zeit, was?« Er sah sie mit unergründlicher Miene an.

»Das soll ein Scherz sein, oder?«

»Ich weiß nicht. Für manche Leute war sie gut.« Er sah sie noch einen Moment lang ausdruckslos an, dann prustete er los. »Für was für ein Arschloch halten Sie mich eigentlich? Ich war Stipendiat in Oxford, sollten Sie wissen.« Er versuchte, es beiläufig klingen zu lassen, aber sie wusste, dass er sie beeindrucken wollte. Und es gelang ihm.

»Ach ja?«

Er nickte langsam, sein sonst so pfeilschneller Blick wirkte gedankenverloren.

»Hat mir einen Master in V-W-L am Bal-li-ol College in Oxford, England, eingebracht.« Er dehnte die Silben, spielte den Hinterwäldler.

Er wollte, dass sie lächelte, und sie tat ihm den Gefallen. »Sollten Sie dann nicht in Harvard unterrichten oder so?«

»Zum einen verdiene ich ungefähr das Zwanzigfache von dem, was ich an der Uni verdienen würde, selbst in Harvard. Und dazu bin ich niemandem verpflichtet. Keinem Dekan oder Unipräsidenten oder verzogenem Rotzlöffel von irgendeinem ach so wichtigen Geldgeber.« Er schüttelte den Kopf.

»Lonely wolf, was?«

Er zog einen gespielten Schmollmund. »Lonely wolf.«

Sie lachten beide. Ein komplizenhaftes Lachen. Sie spürte, wie sich etwas zwischen ihren Schultern zu lösen begann, ein Muskel, den sie fälschlicherweise für einen Knochen gehalten hatte, und eine Leichtigkeit überfiel sie. Ihr Keks zerbrach ihr in der Hand, und sie leckte sich die Krümel von den Fingerspitzen ab.

»Sie sind verdammt süß«, sagte er.

»Süß.« Sie schnitt eine Grimasse.

Er besserte sofort nach. »Schön.«

»Klar.«

»Nein, wirklich.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Sie wissen das nicht, oder?« Er schüttelte den Kopf. »Sie wissen eine Menge Dinge, aber das wissen Sie nicht.«

Sie überlegte kurz, ob sie etwas Schnippisches sagen sollte, entschied sich dann aber für die Wahrheit.

»Nein«, gab sie zu. »Stimmt. Leider. Weil ich …« Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, dass sie fast vierzig war und auf dem besten Weg zu verlieren, was auch immer sie einmal gehabt hatte. Sie wollte ihn auf ihre drei grauen Haare und die immer tiefer werdende Furche zwischen ihren Augenbrauen aufmerksam machen, doch bevor sie irgendetwas sagen konnte, tat er alles mit einer Handbewegung ab.

»Sie könnten hundert Jahre alt sein und wären immer noch schön«, sagte er, als würde er es wirklich meinen, und ob sie wollte oder nicht, der Satz klang so was von gut. Sie lächelte ihn an, genoss den Moment in vollen Zügen, wenn man mal davon absah, dass sie sich fühlte, als würde sie auf eine Küste zugespült werden, mit der sie nicht gerechnet hatte, und jetzt ganz schön in die entgegengesetzte Richtung paddeln musste, um heil nach Hause zu kommen.

Auf der Fahrt zurück ins Hotel klammerte sie sich wieder an ihn. Es war zu laut, um sich zu unterhalten, wofür sie dankbar war. Keine Entscheidung, die getroffen werden musste, nichts, worüber man sich Gedanken machen musste, nur Palmen und Blechdächer so weit das Auge reichte, der Wind, der ihr die Haare ins Gesicht peitschte, und der warme Körper, den sie so nah an ihrem eigenen spürte; ein Moment, dann der nächste. Ein Glücksgefühl wanderte ihr den Rücken hinauf und verteilte sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit in ihrem ganzen Körper. So also fühlte sich das an: das Hier und Jetzt. Es war wie eine Offenbarung.

Und hatte sie sich nicht genau danach gesehnt? Nach dieser Leichtigkeit, die ungebremst auf sie zujagte, sie an der Hüfte packte und einfach mit sich riss? Wie sollte sie da Nein sagen, selbst wenn sie genau wusste, dass es ihr letzten Endes den Boden unter den Füßen wegziehen würde? Sie nahm an, dass es noch einen anderen Weg geben musste, sich derart lebendig zu fühlen – etwas im Innern vielleicht –, doch sie hatte keine Ahnung, was es war oder wie sie es allein herausfinden sollte.

Dann war die Fahrt vorbei, und sie standen etwas unbeholfen vor dem Hotel. Es war spät; sie waren müde. Ihre Haare waren vom Fahrtwind staubig und zerzaust. Dieser Moment war vermutlich das holprigste Stück ihrer Wegstrecke, und es gab keine Möglichkeit, einfach darüber hinwegzubrettern. Ich sollte reingehen und packen, dachte sie, aber im Bankettsaal war die Hochzeit in vollem Gange, und jetzt fing auch noch eine Steel-Pan-Band an zu spielen und ließ ihre unverwechselbar metallisch-glockigen Klänge in die Nacht hinauswehen. Trommeln, die vor Jahrzehnten aus weggeworfenen Ölfässern erfunden worden waren, Musik aus Recycling. Warum sich dagegen zur Wehr setzen? Die schwüle Luft umschmeichelte ihren Körper wie eine große feuchte Hand. »Lust, ein Stück spazieren zu gehen?«, fragten sie gleichzeitig, als ob es so sein sollte.

Gefährlich, gefährlich, gefährlich, sagte sie zu sich selbst, als sie in Richtung Strand liefen, doch ihre Hand lag so schön warm in seiner, und sie überlegte, ob sie sich das nicht vielleicht einfach gönnen sollte. Vielleicht war es in Ordnung. Seine Frau war vermutlich eine dieser Bissgurken mit strengem, perfektem Gesicht und blonden Haaren, die mit riesigen Diamantohrsteckern um die Wette glänzten. Sie trug kurze weiße Röckchen und flirtete mit dem Tennislehrer. Was also kümmerte es Janie? Aber halt, das konnte so nicht stimmen, oder? Dieser Mann hatte so warme, ja ehrliche Augen – auch wenn es wahrscheinlich unmöglich war, berechnend und ehrlich zugleich zu sein. Und er mochte sie, Janie, mit ihrem unvollkommenen Gesicht, ihren schönen blauen Augen, ihrer leichten Hakennase und ihren Locken. War es da nicht ziemlich, ziemlich wahrscheinlich, dass seine Frau bezaubernd war? Sie hatte lange, hin und her schwingende braune Haare und freundliche Augen. Sie war eigentlich Lehrerin, blieb aber jetzt zu Hause, um sich um die Kinder zu kümmern, geduldig und zärtlich und zu klug für die Grausamkeit eines Lebens, das ihr die Energie aussaugte und sie gleichzeitig nährte. Sie war eine liebende Ehefrau, genau das war es: Dieser Mann wurde geliebt (sie erkannte es an der entspannten Art, wie er sich bewegte, an dem Leuchten in seinem Gesicht), und genau in diesem Moment schlief die Frau mit all ihren Kleinen in ihrem großen, weichen Bett, denn es war einfacher so und sie mochte es, die warmen, kleinen Körper an ihrem zu spüren, und sie vermisste ihn so sehr, und vielleicht dachte sie, dass er manchmal auf diesen langen, langen Reisen mit gewissen Gedanken spielte, aber sie vertraute ihm, weil sie ihm vertrauen wollte, weil da dieses Spitzbübische in seinen Augen leuchtete, dieses Leben –

Warum machte sie das? Konnte sie sich gar nichts gönnen?

Er machte sie gerade auf die Krebse aufmerksam, die den Strand bevölkerten, doch sie war ganz in Gedanken vertieft.

Sie nickte abwesend.

»Nein, hier«, sagte er, nahm ihren Kopf zwischen seine großen, warmen Hände und drehte ihn in Richtung Meer. »Da überall.«

Die Krebse wuselten im Sand in Richtung Wasser, als würde das Meer sie mit der Kraft seines Zaubers anlocken.

»Aber … wie?«

»Sandkrabben«, sagte er. Er hielt immer noch ihren Kopf zwischen seinen Händen, sodass es nicht schwer war, ihn zu sich zu drehen und sie zu küssen, einmal, zweimal. Nur zweimal, dachte sie, nur eine Kostprobe, dann würden sie sofort zurückgehen, doch dann küsste er sie ein drittes Mal, und diesmal stieg ein unbändiges Verlangen in ihr auf, wie eine parfümierte Rauchwolke aus einer Flasche, in die seit Hunderten von Jahren ein Geist eingesperrt war, und hüllte diesen Mann ein, den sie kaum kannte – wenngleich ihr Körper ihn zu kennen schien, sich stürmisch an ihn drückte und ihn küsste, als gäbe es kein Morgen mehr. Ihre Zweifel verflüchtigten sich, genau wie ihre Kleider. Und vielleicht war es eine unheimliche Kombination chemischer Stoffe, die Pheromone freisetzten, oder vielleicht waren sie zu Zeiten der Pharaonen schon einmal Liebende gewesen und hatten sich jetzt wiedergefunden, wer wusste das schon? Wer verdammt noch mal wusste das schon?

»Jee-sus, Maria und Josef«, rief er, bäumte sich über ihr auf, und sie stellte zufrieden fest, dass sein selbstsicherer Gesichtsausdruck verschwunden war und dass er genauso überwältigt war wie sie – von dieser gewaltigen Leidenschaft, die hier nichts verloren hatte, die aber trotzdem da war und sie beide erschreckte wie ein paar Kids, die auf einer Pyjamaparty beim Gläserrücken tatsächlich einen Geist heraufbeschworen hatten.

Sex am Strand zu haben (sie musste an den Cocktail denken, Sex on the beach. War das wirklich ihr Leben, ein billiger Cocktail?) mit einem Mann, den sie nicht kannte, der es mit Frauen trieb, die er nicht kannte, ohne Kondom, war eine sehr, sehr dumme Idee. Doch ihr Körper sah das anders. Und sie hatte sich noch nie im Leben einer Sache so ganz und gar hingegeben, und vielleicht war es Zeit. Sie konnte das Trommeln auf den Steel Pans wie metallische Seifenblasen durch die Luft wabern hören, hörte die ausgelassenen Rufe der Gäste, die unter dem hohen Strohdach tanzten, hörte das Lachen der Braut und des Bräutigams, die ebenfalls tanzten. Und sie war fast vierzig und würde vielleicht nie heiraten. Irgendwo schlief diese hübsche Ehefrau gerade mit all ihren pausbackigen Kleinen in dem großen Bett, doch es gab niemanden, zu dem sie zurückkehrte, kein Heim und keine Kinder und keinen Mann, absolut niemanden, der sie liebte, nur diesen warmen Körper mit seinen schnellen, festen Herzschlägen und seiner glühenden Lebenskraft. Es war, als hätte jemand die Seite, auf der sie gelebt hatte, urplötzlich aus dem Einband herausgerissen, und jetzt befand sie sich auf der losen, der ausgerissenen, freien Seite, die auf das sandige Meeresufer hinunterflatterte, über dem hoch oben der Mond schien.

Schließlich sackten sie erschöpft zusammen und klammerten sich keuchend aneinander.

»Du …« Er schüttelte den Kopf, lächelte erstaunt und ließ seinen wachen, bewundernden Blick über ihren glühenden, vom Sand wundgescheuerten Körper wandern. Er beendete den Satz nicht; erstickte seinen Gedanken selbst im Keim, so wie er sich vermutlich sein ganzes Erwachsenenleben lang selbst disziplinierte, und ließ sie damit im Unklaren, was er über sie sagen wollte, wenngleich sie wusste, dass sie den Rest ihres Lebens alle Möglichkeiten würde durchspielen können. Sie verspürte plötzlich den Wunsch, ihm etwas zu erzählen – ihm alles zu erzählen, all ihre Geheimnisse, jetzt, schnell, sofort, bevor ihre Körper sich abkühlten, in der Hoffnung, dass es da vielleicht etwas gab, das sie festhalten konnte, eine Verbindung, die sich aufrechterhalten –

Aufrechterhalten? Sie musste fast über sich selbst lachen. Selbst während ihr das Hier und Jetzt ins Gesicht lachte, konnte sie nicht anders, als sich abzuwenden.

Dann ging alles ganz schnell. Sie war noch ganz damit beschäftigt zu verarbeiten, was da gerade passiert war, ließ in ihrem Kopf alles noch einmal Revue passieren, da liefen sie schon schweigend Seite an Seite zum Hotel zurück. Seine Hand ruhte leicht auf ihrem Rücken, eine Geste, die sowohl zärtlich als auch vorantreibend war.

»Das war’s dann wohl«, sagte er, als sie vor dem Hotel standen. »War mir ein Vergnügen, Zeit mit dir zu verbringen.«

Er sah sie mit einer angemessenen Mischung aus Zuneigung und Melancholie an, doch sie konnte spüren, wie der Wind in ihm auffrischte, wie ein Drängen ihn durchströmte, das genau das Gegenteil von dem war, was sie durchströmte, und sie wusste, ganz ohne Worte, dass ihr Wunsch nach mehr keine Chance hatte gegen sein Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier weg und zurück nach Hause zu kommen.

»Wollen wir … E-Mail-Adressen austauschen oder so? Hey, vielleicht kommst du ja mal beruflich nach New York?« Sie versuchte, unbeschwert zu klingen, doch er sah sie nur traurig an.

Sie biss sich auf die Lippe.

»Na dann«, sagte sie. Sie würde das schaffen. Sie hatte das schon öfter geschafft. Er beugte sich zu ihr runter und gab ihr einen Kuss, einen trockenen Ehemannkuss, der ihr einen winzigen Teil von sich entriss.

Sie wusste nicht einmal, wie er mit Nachnamen hieß. Das fiel ihr erst später auf. Ein Name war nicht nötig gewesen, die Grenzen des Ganzen waren so klar gesteckt, dass sie nicht hatten aufgezeigt werden müssen. Später allerdings wünschte sie, sie wüsste ihn. Nicht für die Geburtsurkunde und auch nicht, um ihn zu kontaktieren und sein Leben zu verkomplizieren, sondern einfach für die Geschichte selbst, um Noah eines Tages sagen zu können: »Eines Abends habe ich diesen Mann kennengelernt, und wir haben die schönste Nacht miteinander verbracht, die ich je hatte. Und sein Name war –«

Jeff. Jeff Irgendwas.

Aber vielleicht hatte sie es genau so gewollt. Vielleicht hatte sie es genau so geplant. Denn es war ganz unmöglich, einen Jeff Irgendwas aus Houston ausfindig zu machen, und das verband sie nur noch stärker mit Noah, machte ihn nur noch mehr zu ihrem Kleinen.

ZWEI

Aber ich bin noch nicht fertig.« Diese Worte entfuhren Jerome Anderson völlig ungewollt, als die Neurologin ihm mitteilte, dass sein Leben praktisch vorbei war.

»Natürlich nicht, Mr. Anderson. Das ist keineswegs ein Todesurteil.«

Er hatte jedoch gar nicht sein Leben gemeint; er hatte seine Arbeit gemeint. Die sein Leben war, wenn man es genau betrachtete.

»Doktor Anderson, bitte«, sagte er und versuchte, seine Panik in den Griff zu bekommen, indem er die Neurologin genauer betrachtete, die ihm am Tisch gegenübersaß und an ihren eleganten Händen herumfummelte, während sie ihm erklärte, woran er erkrankt war.

Seit dem Tod seiner Ehefrau vor einem Jahr war er einfach keiner Frau begegnet, die wie seine Sheila war, Punkt. Doch plötzlich wurden ihm wieder die kleinen Details bewusst, die man nur an lebendigen weiblichen Wesen beobachten konnte: die Art, wie ihre Augen mitfühlend feucht schimmerten, das Heben und Senken ihrer sanften Rundungen, die er unter dem weißen Kittel nur erahnen konnte, während sie atmete. Er sah, wie sich das Sonnenlicht auf ihren glänzenden schwarzen Haaren bündelte, und atmete den Geruch aus antibakterieller Seife und etwas Leichtem, Vertrautem ein: der zitronige Duft von Parfüm.

Er spürte, wie sich etwas in ihm zu regen begann, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Jetzt? Wirklich? Nun, niemand hatte je behauptet, das Gehirn oder auch der Körper seien einfach gestrickt. Und zusammen konnten sie sicher so einigen Unfug treiben. Das wäre mal ein Thema, über das geforscht werden sollte: Erwachen die menschlichen Geschlechtsorgane im Angesicht des Todes zu neuem Leben? Er sollte Clark eine E-Mail schreiben; er hatte einige interessante Studien über die Zusammenhänge zwischen Körper und Geist am Laufen. Man könnte es »Die Eros-Thanatos-Studie« nennen.

»Dr. Anderson?«

Die Uhr auf dem Schreibtisch tickte, dahinter konnte er sie beide atmen hören.

»Dr. Anderson, haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?«

Atmen, ein Wort über das Einsaugen und Ausstoßen von Luft. Verlor man dieses Wort, verlor man alles.

»Dr. –«

»Ob ich Sie verstanden habe? Ja, so weggetreten bin ich nicht. Noch nicht. Wie es scheint, bin ich des gemeinen Satzbaus noch mächtig.« Er merkte, wie ihm die Kontrolle über seine Stimme zu entgleiten drohte, hatte Mühe, sie zu zügeln.

»Geht es Ihnen gut?«

Er tastete seinen Puls. Er schien normal zu sein, doch das beruhigte ihn nicht. »Könnte ich mir kurz Ihr Stethoskop ausleihen?«

»Bitte?«

»Ich würde gern mein Herz abhören. Schauen, wie es mir wirklich geht.« Er lächelte, was ihm einiges abverlangte, eine Aufbietung schwindender Kräfte. »Bitte. Sie bekommen es sofort zurück.« Er zwinkerte ihr zu. Was soll’s. Sie würde ihn ohnehin gleich offiziell für verrückt erklären. »Versprochen.«

Sie nahm das Stethoskop von ihrem langen Hals und reichte es ihm, wobei sie ihn mit einer Mischung aus Irritation und Wachsamkeit ansah. Hatte dieses menschliche Wrack tatsächlich noch einen Rest Sexappeal? In der Fensterscheibe hinter der Ärztin erhaschte er einen Blick auf sein Spiegelbild, das vor dem Hintergrund der metallisch glänzenden Autos draußen auf dem Parkplatz nur schwer zu erkennen war. War dieses hohlwangige Gespenst wirklich er? Er hatte sich nie sonderlich für sein Äußeres interessiert, war sich lediglich bewusst gewesen, dass es ihm bei seinen Studien hin und wieder zugutegekommen war. Doch hier und jetzt zu erkennen, dass er es eingebüßt hatte, versetzte ihm einen Stich. Wenigstens hatte er noch seine Haare, auch wenn die Locken, die den Frauen immer so gefallen hatten, schon lange der Vergangenheit angehörten.

Das Stethoskop roch leicht nach ihr. Ihm wurde bewusst, warum ihm der Duft so vertraut vorkam. Es war das Parfüm, das Sheila immer getragen hatte, wenn sie in ein nettes Lokal zum Essen gegangen waren. Vermutlich hatte er es ihr gekauft. Er wusste nicht, wie es hieß; sie hatte immer aufgeschrieben, was sie sich wünschte, und er hatte es ihr dann pflichtgetreu zu Weihnachten oder zum Geburtstag geschenkt, ohne dabei auf irgendwelche Details zu achten. Dafür war er mit seinen Gedanken immer viel zu sehr woanders gewesen.

Seine Herzfrequenz war etwas hoch, wenn auch nicht so hoch, wie er angenommen hatte.

Sheila hätte ihn ausgelacht – Jetzt komm schon, hör auf, dich selbst zu untersuchen, und spüre es einfach, okay? –, so wie sie ihn in ihrer Hochzeitsnacht ausgelacht hatte (war das schon vierundvierzig Jahre her?), als er sie während des Sex mit Fragen geradezu bombardiert hatte. »Und das … das fühlt sich gut an, ja? Aber das, genau hier, das nicht?« Übereifrig hatte er herausfinden wollen, was funktionierte und was nicht, beflügelt von einer Neugier, die genauso groß war wie sein Verlangen selbst. Und was, bitte, war falsch daran? Sex war, genau wie der Tod, wichtig. Warum also hielt es niemand für nötig, die entscheidenden Fragen zu stellen? Kinsey hatte es getan und Kübler-Ross (und er selbst auch, zumindest hatte er es versucht), aber sie waren die Ausnahme und oft den Anfeindungen eines bornierten, rückständigen wissenschaftlichen Establishments ausgesetzt. Lass es gut sein, Jer, hörte er Sheila sagen. Lass es einfach gut sein.

Es hätte ihm peinlich sein müssen – von seiner Braut in der Hochzeitsnacht ausgelacht zu werden war die reinste Komödie –, doch für ihn war es nur eine Bestätigung dafür, wie klug die Wahl war, die er getroffen hatte. Sie lachte, weil sie begriff, was für ein Geschöpf er war, weil sie erkannte, dass er das menschliche Wesen, diesen menschlichen Fleischklops aus Mängeln und Schwächen mit allem Drum und Dran verstehen musste.

»Dr. Anderson.« Die Ärztin war um den Tisch herumgegangen und legte ihm jetzt eine Hand auf den Arm. Etwas Derartiges, nämlich die Kraft der Berührung, wäre ihm nie eingefallen, damals, vor all den Jahren, als er noch Assistenzarzt gewesen war und selbst hatte schlechte Nachrichten überbringen müssen. Er konnte den zarten Druck ihrer Fingernägel durch den Baumwollstoff seines Hemds spüren. Er begann zu schwitzen bei dem Gedanken, dass sie ihre Hand früher oder später wieder wegnehmen würde, und zog seinen Arm mit einem Ruck zurück. Er sah, wie sie vor Schreck unwillkürlich die Stirn runzelte, als ihr bewusst wurde, dass sie soeben zurückgewiesen worden war. Sie zog sich wieder hinter ihren Schreibtisch zurück, wo ihr die Zeugnisse an der Wand den Rücken stärkten, treue kleine Soldaten in lateinischen Uniformen. »Geht es Ihnen gut? Haben Sie Fragen?«

Er zwang sein Gedächtnis, sich daran zu erinnern, was sie zu ihm gesagt hatte, sich an den Moment zu erinnern, als sie das Wort ausgesprochen hatte: Aphasie. Ein Wort wie ein hübsches Mädchen in einem Sommerkleid, das einen Dolch direkt auf sein Herz richtete.

Aphasie, abgeleitet vom griechischen Wort Aphatos, das so viel bedeutete wie sprachlos.

»Die Diagnose ist eindeutig?«

Draußen rollte jemand einen Geschirrwagen über den Flur, Gläser klirrten.

»Die Diagnose ist eindeutig.«

Natürlich hatte er noch andere Fragen.

»Was ich nicht ganz verstehe: Ich hatte weder ein Schädel-Hirn-Trauma noch einen Schlaganfall.«

»Es handelt sich bei Ihnen um eine seltenere Form der Aphasie. Die primär progrediente Aphasie ist eine Form der Demenz, die das Sprachzentrum des Gehirns angreift.«

Demenz. Das wiederum war ein Wort, das er liebend gern vergessen würde.

»So wie –« Er zwang sich, das Wort auszusprechen. »Alzheimer?« Hatte er das im Studium gelernt? War es bezeichnend, dass er sich nicht daran erinnerte?

»PPA ist eine Sprachstörung, aber ja. Man könnte sagen, die beiden sind Cousins.«

»Was für eine Familie.« Er lachte.

»Dr. Anderson?« Die Neurologin sah ihn an, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen.

»Entspannen Sie sich, Dr. Rothenberg. Mir geht es gut. Mein … Prozessor verarbeitet das gerade, wie man heute so schön sagt. Mein Leben … als solches.« Er seufzte. »Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen, Wenn wir die irdische Verstrickung lösten, Das zwingt uns stillzustehn.« Er lächelte sie an, doch ihre Miene blieb unverändert. »Du liebe Zeit, gute Frau, jetzt schauen Sie nicht so verängstigt – unterrichtet man in Yale keinen Shakespeare mehr?«

Er riss sich das Stethoskop vom Hals und reichte es ihr. Verstehen Sie jetzt, was ich zu verlieren habe? Er raste innerlich. Dinge, die ich nie dachte, verlieren zu können. Gibt es ein Leben nach Shakespeare? Das ist eine Frage, die es sich zu stellen lohnt.

Gibt es ein Leben nach der Arbeit?

Aber er war noch nicht fertig.

»Vielleicht möchten Sie mit jemandem reden … mit einem Sozialarbeiter … oder, wenn Ihnen das lieber ist, mit einem Psychiater –«

»Ich bin Psychiater.«

»Dr. Anderson. Hören Sie.« Er sah die Besorgnis in ihrem Blick, doch er konnte sie nicht spüren. »Viele Menschen mit primär progredienter Aphasie sorgen noch sechs oder sieben Jahre ganz für sich allein. In manchen Fällen sogar länger. Und Sie befinden sich in einem frühen Stadium.«

»Ich werde also in der Lage sein, mich selbst zu füttern und … mir selbst den Hintern abzuwischen? Die nächsten Jahre?«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Ich werde nur nicht reden können. Oder lesen. Oder mich dem Rest der Menschheit verständlich machen.«

»Die Erkrankung verläuft progressiv. Irgendwann, ja, wird die verbale und schriftliche Kommunikation extrem schwierig werden. Das ist jedoch von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. In vielen Fällen verlaufen die Störungen schrittweise.«

»Bis?«

»Es können Parkinson-ähnliche Symptome auftreten, zusammen mit Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistungen, des Urteilsvermögens, der Mobilität et cetera.« Sie machte eine kurze Pause. »Das wiederum kann Auswirkungen auf die Lebenserwartung haben.«

»In Jahren?« Mehr als diese zwei Worte brachte er nicht zustande.

»Die mittlere Lebenserwartung beträgt sieben bis zehn Jahre von der Diagnose bis zum Tod. Aktuelle Studien zeigen allerdings –«

»Und die Behandlung?«

Sie hielt abermals inne.

»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es für PPA keine Behandlung.«

»Ah, verstehe. Na, zum Glück ist das kein Todesurteil.«

So also fühlte sich das an. Er hatte sich das immer gefragt; er wusste, wie es war, auf der anderen Seite des Schreibtisches zu sitzen. Viele, viele Jahre war es inzwischen her, seit er während seiner Facharztausbildung monatelang die schlimmsten Diagnosen hatte überbringen müssen. »Praxis« nannte man das damals, wobei Sadismus es besser traf. Er erinnerte sich, wie er mit zitternden Händen den Raum betreten hatte, in dem die Patienten warteten (Hände in die Taschen, das war damals sein Mantra gewesen: Hände in die Taschen, ruhige Stimme, eine professionelle Maske, die allerdings niemanden täuschte); dann die Erleichterung, wenn es vorbei war. Seine Kollegen und er hatten für diese Fälle immer eine Flasche Wodka unter dem Waschbecken im Arztzimmer deponiert.

Diese Ärztin hier, diese topmoderne Neurologin, zu der man ihn geschickt hatte (topfrisiert, topgestylt – allein das Make-up war heroisch), überbrachte bestimmt ein gutes Dutzend solcher Nachrichten im Monat (es war immerhin eines ihrer Spezialgebiete), und trotzdem wirkte sie etwas blass um die Nase. Er hoffte, dass irgendwer irgendwo eine Flasche für sie deponiert hatte, sobald das hier vorbei war.

»Dr. Anderson …«

»Jerry.«

»Gibt es jemanden, den wir für Sie anrufen sollen? Kinder vielleicht? Geschwister? Oder Ihre Frau?«

Er hielt ihrem Blick stand. »Ich bin allein.«

»Oh.« Das Mitgefühl in ihrem Blick war unerträglich.

Er nahm alles in sich auf und wies es im gleichen Augenblick zurück. Er war noch nicht fertig. Er würde nicht zulassen, dass er schon fertig war. Es war immer noch möglich, das Buch fertigzuschreiben. Er würde schnell schreiben; nichts anderes mehr tun. In ein bis zwei Jahren konnte er damit fertig sein, bevor einfache Substantive und schließlich die gesamte Sprache Fremdwörter für ihn werden würden.

Er hatte gemerkt, dass er müde geworden war. Er war davon ausgegangen, dass das der Lauf der Zeit war. Warum ihm manchmal nicht die richtigen Worte für Dinge einfallen wollten, von denen er ganz genau wusste, dass er sie kannte. Sie wollten ihm einfach nicht über die Lippen oder in den Sinn kommen. Er hatte es für Erschöpfung gehalten. Er wurde nicht jünger und hatte immer viel gearbeitet. Oder aber, er hatte sich bei seiner letzten Reise nach Indien etwas eingefangen. Also ging er zum Arzt, und eins führte zum anderen, ein Arzt schickte ihn zum nächsten, und trotzdem blieb er entspannt. Er war ein Mann, der keine Angst vor dem Tod hatte, der sich von Schmerzen nie hatte unterkriegen lassen, ein Mann, der Hepatitis und Malaria überstanden hatte, der kleinere Krankheiten ignorierte und stets weiterarbeitete, es gab also nichts, wovor er sich fürchten musste – und trotzdem war er irgendwie hier gelandet, am Rande dieses Abgrunds. Aber noch nicht darüber hinaus, noch nicht.

So viele Wörter. Oh, er war nicht bereit, auch nur ein einziges davon aufzugeben. Er liebte sie alle. Shakespeare. Salzstreuer. Sheila.

Was würde Sheila sagen, wenn sie jetzt hier wäre? Sie war immer die Klügere von ihnen beiden gewesen, auch wenn die Leute immer gelacht hatten, wenn er das sagte. Die Kindergärtnerin klüger als der Psychiater? Aber die Leute waren Idioten, mal ehrlich. Sie sahen nur ihre blonden Haare und seinen Doktortitel, wohingegen jeder auch nur halbwegs intelligente Mensch erkennen konnte, wie klug sie war, wie viel sie begriff, wie viel sie sich eingestand.

Wenn Sheila jetzt hier wäre –?

War sie das vielleicht sogar? Konnte sie ihn in Zeiten der Not aufsuchen? Ihr Duft war hier. Er hatte keine besonderen Erfahrungen mit Geistern, aber er bestritt auch nicht, dass es sie gab. Es war ein Thema, zu dem es zu wenig wissenschaftlich fundierte Studien gab, trotz einiger mutiger Vorstöße hier und da, wie Ducasses Butler-Fall oder Myers’ Geist von Cheltenham. Nicht zu vergessen die Untersuchungen von William James zu seinem Medium Leonora Piper Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.

Er schloss kurz die Augen und versuchte, Sheilas Gegenwart zu spüren. Er ersehnte irgendetwas. Eine Regung. Oh, Sheil.

»Jerry.« Dr. Rothenberg sprach jetzt ganz leise. »Ich denke, Sie sollten mit jemandem sprechen.«

Er öffnete die Augen. »Bitte, keinen Psychiater. Es geht mir gut. Wirklich.«

»Okay«, sagte sie sanft.

Sie saßen einen Moment lang schweigend da, sahen sich über den Schreibtisch hinweg an, als stünden sie auf gegenüberliegenden Seiten eines reißenden Flusses. Welch seltsame Geschöpfe andere Menschen doch sind, dachte er. Erstaunlich, dass sie sich jemals einander anschließen.

Genug. Er lehnte sich vor, atmete tief durch. »Sind wir fertig?« Betrachten Sie es als einen Gefallen, dachte er. Hiermit werden Sie von den schiefen Blicken eines sich auflösenden Mannes befreit.

»Haben Sie noch weitere Fragen? Zum Verlauf der Krankheit?«

Was wollte sie von ihm? Panik erfasste ihn wieder. Er klammerte sich rechts und links an der Stuhllehne fest und konnte sehen, wie sie sich bei diesem Zeichen von Schwäche endlich entspannte. Er zwang sich, die Lehnen wieder loszulassen.

»Keine, die Sie beantworten könnten. Keine, die nicht schon bald beantwortet wird.« Er war in der Lage aufzustehen, ohne zu schwanken. Verabschiedete sich kurz und knapp.

Er merkte, wie sie ihn dabei beobachtete, wie er seine Tasche und seine Jacke zusammenraffte, sah das Unbehagen, das ihr ihre Bestürzung verursachte. Alles in allem war das nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.

Lassen Sie sich das eine Lehre sein, dachte er, als er die Tür hinter sich schloss, sich gegen die Wand lehnte und versuchte, in dem viel zu grellen Neonröhrenlicht des Flurs wieder zu Atem zu kommen, während um ihn herum das Leben und der Tod tobten. Erwarte nie etwas.

Es war die Lektion seines Lebens gewesen.

DREI

Janie kniete in ihrem besten schwarzen Kleid auf den rosafarbenen Fliesen und versuchte, sich zu beruhigen. Schmutziges Badewasser lief über den Boden, durchtränkte ihre Strumpfhose und ihren samtenen Rocksaum. Sie hatte das Kleid immer besonders gemocht, weil die hohe Taille ihrer Figur schmeichelte und weil ihm der Samt etwas Festliches, Bohemehaftes verlieh, doch so, wie es jetzt aussah, übersät mit Eigelbschlieren und schäumenden, wie Spucke glänzenden Shampooflecken, hing es an ihr herunter wie der letzte Lumpen.

Sie rappelte sich auf und warf einen Blick in den Spiegel.

Sie sah furchtbar aus. Ihre Wimperntusche klebte in schwarzen Ringen unter ihren Augen wie bei einem Footballspieler. Ihr bronzefarbener Lidschatten war quer über beide Schläfen verschmiert, und ihr linkes Ohr blutete. Einzig ihre Frisur war noch einigermaßen in Ordnung, die Locken bauschten sich um ihr Gesicht, als hätten sie nichts mitbekommen.

Es war die gerechte Strafe dafür, dass sie geglaubt hatte, einen Abend ohne Noah verbringen zu können.

Und sie hatte sich so gefreut.

Janie war bewusst gewesen, wie absurd es war, sich dermaßen in eine Verabredung mit jemandem hineinzusteigern, den sie noch nie gesehen hatte. Aber ihr gefiel Bobs Foto, seine offene Ausstrahlung, seine freundlichen, leicht zusammengekniffenen Augen, und sie mochte seine lustige Stimme am Telefon, die etwas in ihrem Innern zum Vibrieren brachte, ihren Körper zum Leben erweckte. Über eine Stunde hatten sie miteinander telefoniert und begeistert eine Gemeinsamkeit nach der nächsten festgestellt: Sie waren beide im Mittleren Westen aufgewachsen und nach dem College nach New York gezogen; sie waren beide die einzigen Sprösslinge respekteinflößender Mütter; sie sahen beide ganz passabel aus und kamen gut mit anderen Menschen zurecht, weshalb sie sich wunderten, warum sie in ihrer heißgeliebten Stadt noch immer allein waren. Sie fragten sich (nicht direkt, es schwang eher unterschwellig in ihren Stimmen mit, in ihrem unbeschwerten Lachen), ob diese ewige Sehnsucht nun bald ein Ende finden würde.

Und sie würden zusammen essen gehen! Eine Verabredung zum Abendessen war eindeutig vielversprechend.

Sie musste nur den Tag überstehen. Es war ein anstrengender Vormittag, mehr Paartherapie als Architektur. Mr. und Mrs. Ferdinand überlegten schier endlos hin und her, ob ihr drittes Schlafzimmer nun ein Fitnessraum oder eine Männerhöhle werden sollte, und die Williams’ gestanden ihr in letzter Minute, dass sie das Kinderzimmer in der Mitte teilen wollten, weil sie lieber zwei Schlafzimmer hätten statt nur eins, was für Janie in Ordnung war. Es war ihr egal, ob sie zusammen schliefen oder nicht, nur warum hatten sie ihr das nicht gesagt, bevor sie die Pläne fertiggestellt hatte? Den ganzen Tag über hatte sie sich dabei erwischt, wie sie auf ihr Handy schielte, wo eine vorfreudige Nachricht von Bob die nächste jagte: Kann es kaum erwarten! Sie stellte sich vor, wie er (war er groß oder klein? Eher groß …) in seiner Arbeitsnische saß (oder wo auch immer Programmierer arbeiteten) und ganz aufgeregt wurde, wenn ihre Antwort auf seinem Handy aufleuchtete. Geht mir genauso! Sie schrieben einander wie zwei Teenager, überstanden so ihren Tag, denn brauchte nicht jeder Mensch etwas, das ihm durch den Tag half?

Und wenn sie ganz ehrlich war, freute sie sich auf einen Abend ohne Noah. Sie hatte seit fast einem Jahr kein Date mehr gehabt. Das Abendessen mit Bob hatte sie beflügelt und daran erinnert, dass sie nicht das Leben führte, das sie sich vorgestellt hatte.

Sie hatte die Opfer, die eine alleinerziehende Mutter brachte, während ihrer gesamten Kindheit vor Augen gehabt, hatte sie in dem immer gleichen, leicht betrübten Lächeln ihrer Mutter gesehen, als wäre der Preis, den man für die schönste Sache der Welt zahlen musste, sein Leben aufgeben zu müssen. Sosehr Janie es auch versuchte, sie schaffte es nicht, sich ihre Mutter anders vorzustellen als so, wie sie gewesen war: in ihrer fein säuberlichen, eng geschnürten Schwesternkleidung und den weißen Schuhen, mit ihrem graublauen Bob und dem scharfen, wissenden Blick, der zeitlebens völlig unberührt blieb von Alter, Make-up oder irgendeinem spürbaren Bedauern (bedauert hatte ihre Mutter bestimmt nichts).

Man legte sich nicht mit Ruthie Zimmerman an. Sogar die Chirurgen, mit denen sie zusammenarbeitete, schienen sich vor ihr zu fürchten und zuckten jedes Mal nervös zusammen, wenn sie ihr und Janie im Supermarkt über den Weg liefen und Ruths Blick unmissverständlich von ihrem mit Gemüse und Tofu bestückten Einkaufswagen zu deren Chipstüten, Sixpacks und Jumbopackungen Speck wanderte. Darüber hinaus war es unmöglich, sich vorzustellen, dass sie je eine Verabredung hatte oder in etwas anderem schlief als in ihren karierten Flanellpyjamas.

Als Janie entschieden hatte, Noah zu bekommen, war sie fest entschlossen gewesen, alles ganz anders zu machen. Weshalb sie an diesem Abend vermutlich so beharrlich an ihrem Plan festhielt, selbst als die Dinge so offensichtlich schiefzulaufen begannen.

Sie war zehn Minuten zu früh in Noahs Kindergarten gewesen und hatte die Zeit damit verbracht, abwechselnd auf ihr Handy zu schauen und heimlich Noah durch die Scheibe zu dem Raum mit den Vierjährigen zu beobachten. Die anderen Kinder waren fieberhaft damit beschäftigt, blau angemalte Makkaroni auf Pappteller zu kleben, während ihr Sohn, wie immer, an Sondras Seite klebte, sich einen Knetball von einer Hand in die andere warf und seiner Erzieherin dabei zusah, wie sie die anderen Kinder beaufsichtigte. Janie schluckte einen Anflug von Eifersucht hinunter; seit seinem ersten Tag im Kindergarten war Noah aus unerfindlichen Gründen völlig vernarrt in die fröhliche jamaikanische Frau. Wenn er doch nur eine seiner Babysitterinnen halb so sehr mögen würde, es wäre so viel einfacher für sie, auszugehen …

Marissa, die Gruppenleiterin, eine Frau, die vor angeborener Fröhlichkeit oder einer Dauerüberdosis Koffein nur so sprudelte, entdeckte sie jenseits der Scheibe, winkte ihr zu, als wollte sie ein Flugzeug einweisen, und formte mit den Lippen die Worte Können wir reden?

Janie seufzte – schon wieder? – und ließ sich auf die Bank fallen, die unter einer Girlande aus selbstgebastelten Kürbislaternen stand.

»Wie läuft es mit dem Händewaschen? Schon besser?« Marissa warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu.

»Ein bisschen«, sagte sie, was gelogen war, aber immerhin besser klang als »Kein bisschen«.

»Er musste heute nämlich schon wieder in Kunst aussetzen.«

»Das ist schade.« Janie zuckte mit den Achseln, wobei sie hoffte, das Makkaroniprojekt damit nicht allzu sehr herabzuwürdigen. »Aber ich glaube, das ist okay für ihn.«

»Und er wirkt ein bisschen …« Sie rümpfte die Nase, zu höflich, das Wort auszusprechen. Sagen Sie’s nur, dachte Janie. Schmutzig. Ihr Sohn war schmutzig. Jedes noch so kleine, unverdeckte Stück Haut klebte entweder oder war mit Tinte, Kreide oder Farbe beschmiert. An seinem Hals leuchtete seit fast zwei Wochen ein rot verschmierter Fleck von einem Magic Marker. Janie gab wirklich ihr Bestes, versuchte es mit Feuchttüchern und besprühte seine Hände und Handgelenke mit Händedesinfektionsmittel, was den Schmutz jedoch nur zu versiegeln schien, als würde man ihn imprägnieren.

Manche Kinder konnten ihre Hände gar nicht oft genug waschen; ihr Sohn näherte sich keinem Tropfen Wasser kampflos. Gott sei Dank war er noch nicht in der Pubertät und fing an zu stinken wie ein Obdachloser in der U-Bahn, den man schon riechen konnte, lange bevor man ihn sah.

»Und, äh, wir wollen alle zusammen backen. Morgen. Blaubeermuffins. Es wäre total schade, wenn er das verpasst!«

»Ich rede mit ihm.«

»Gut. Weil –« Sie legte den Kopf schief, ihre braunen Augen quollen über vor Sorge.

»Was?«

Die Gruppenleiterin schüttelte den Kopf. »Es wäre einfach schön, wenn er mitmachen würde, das ist alles.«

Es sind doch nur Muffins, dachte Janie, sagte aber nichts. Sie stand auf; sie konnte Noah durch das kleine Fenster sehen. Er war jetzt mit Sondra in der Kostümecke und half ihr dabei, Hüte aufzuheben. Sondra setzte ihm zum Spaß einen Filzhut auf den Kopf, und Janie zuckte zusammen. Er sah goldig aus, aber das Letzte, was sie gebrauchen konnten, waren Kopfläuse.

Nimm den Hut ab, Noah, beschwor sie ihn stumm.

Marissa schnatterte weiter. »Und, äh, da wäre noch etwas … Könnten Sie ihn bitten, in der Gruppe nicht so viel über Voldemort zu sprechen? Ein paar Kinder verstört das.«

»Okay.« Nimm. Ihn. Ab. »Wer ist Voldemort?«

»Aus den Harry-Potter-Büchern. Ich verstehe natürlich, dass Sie ihm daraus vorlesen möchten, ich selbst liebe Harry Potter auch, es ist nur … Noah ist schon sehr weit für sein Alter, natürlich, aber für die anderen Kinder ist das noch nicht ganz das Richtige.«

Janie seufzte. Sie hatten immer völlig falsche Vorstellungen, wenn es um ihren Sohn ging. Er hatte einen erstaunlichen Verstand, schnappte Informationen scheinbar aus der Luft auf – irgendeine Bemerkung, die er vielleicht irgendwo hörte, wer wusste das schon? –, aber hier mussten sie dem Ganzen immer gleich eine Bedeutung beimessen.

»Noah kennt Harry Potter überhaupt nicht. Ich habe die Bücher nicht einmal selbst gelesen. Und ich würde ihn nie die Filme schauen lassen. Vielleicht hat ihm ein anderes Kind davon erzählt, eines mit älteren Geschwistern eventuell?«

»Aber –« Die Gruppenleiterin zwinkerte irritiert. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien ihre Antwort dann jedoch noch einmal zu überdenken. »Na gut, dann sagen Sie ihm bitte einfach, dass er keine düsteren Geschichten mehr erzählen soll, ja? Vielen Dank«, schloss sie und öffnete die Tür zu einer Horde Vierjähriger, die über und über mit blauer Farbe beschmiert und mit Makkaroni beklebt waren.

Janie stellte sich in den Türrahmen und wartete, bis Noah sie sah.

Ah, das war immer der schönste Moment des Tages: zu sehen, wie seine Augen aufleuchteten, wenn er sie entdeckte, wie er sie schief übers ganze Gesicht anstrahlte, während er losstolperte, quer durch den Raum stürmte und sich ihr in die Arme warf. Er klammerte seine Beine um ihre Hüften wie ein Äffchen, legte seine Stirn an ihre und sah sie auf seine ihm völlig eigene Weise fröhlich und doch ernst an, als wollte er sagen: Oh, ja, ich erinnere mich an dich. Es waren die Augen ihrer Mutter, in die sie da blickte, und auch ihre eigenen, ein klares Blau, für das sie gern mal ein Kompliment einheimste, bei Noah jedoch, dessen Gesicht von einer Wolke blonder Ringellöckchen umgeben war, nahm es eine ganz andere Dimension an. Die meisten Leute sahen immer zweimal hin, als wäre ein Junge von himmlischer Schönheit eine Halluzination.

Seine Fähigkeit, sich zu freuen, verblüffte sie immer wieder aufs Neue. Es war etwas, das er ihr beibrachte, indem er sie einfach nur ansah.

Ein paar Minuten später trat sie mit ihm in die Dämmerung des Oktobernachmittags hinaus und spürte augenblicklich, wie ihre Welt auf die kleine Person zusammenschrumpfte, die neben ihr herhüpfte. Hand in Hand liefen sie unter den Bäumen entlang, Sandsteinhäuser säumten die Bürgersteige, so weit das Auge reichte.

Das Handy in ihrer Tasche vibrierte, und plötzlich war sie wieder bei Bob, bei jener unsichtbaren Ansammlung von Eigenschaften (tiefe Stimme, fröhliches Lachen), die sich noch nicht zu einem ganzen Menschen zusammengefügt hatten.

Hab das Gefühl, dich schon ewig zu kennen. Verrückt?

Nein!, schrieb sie zurück. Geht mir genauso. (Stimmte das? Vielleicht.) Sollte sie ihm ein XO schicken? Oder war es zu früh dafür? Sie entschied sich für ein einzelnes X. Er antwortete sofort: XXX!

Oh! Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper, als würde sie in einem kühlen See durch eine warme Stelle schwimmen.

Sie liefen an dem Café an ihrer Ecke vorbei. Der Duft war unwiderstehlich, und sie entschied, dass sie eine Stärkung für das bevorstehende Gespräch brauchte.

»Wohin gehen wir, Mommy-Mom?«

»Ich will mir nur schnell einen Kaffee holen, geht ganz schnell.«

»Mom, wenn du jetzt Kaffee trinkst, bist du bis zum Morgengrauen wach.«

Sie musste lachen; das hätte auch ein Erwachsener sagen können. »Du hast recht, Noey. Ich trinke einen koffeinfreien. Okay?«

»Kann ich einen koffeinfreien Muffin haben?«

»Na gut.« Es war eigentlich bald Abendessenzeit, aber – hey, was soll’s.

»Und einen koffeinfreien Smoothie?«

Sie wuschelte ihm durch die Haare. »Du kriegst ein koffeinfreies Wasser, kleiner Mann.«

Kurz darauf ließen sie sich mit ihrer Beute auf der Treppe vor ihrer Wohnung nieder. Der Kaffee duftete herrlich. Hinter den Häuserreihen ging gerade die Sonne unter. Das Licht, rosig und weich, tauchte die Back- und Sandsteinhäuser in rötlichen Glanz und ließ die herabfallenden Blätter der Bäume aufleuchten. Die Gaslaterne vor ihrem Haus flackerte. Sie war der Grund gewesen, warum sie die Wohnung gemietet hatte, obwohl sie teuer war, im Erdgeschoss lag und kein direktes Sonnenlicht hineinfiel. Doch das Mahagoniholz im Innern, die schöne Hecke vor der Tür und eben die Gaslampe verliehen ihr etwas Gemütliches, als könnten sie und Noah sich hier gefahrlos zusammen verkriechen, jenseits von Raum und Zeit. Sie hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass ihr die permanent flackernde Laterne vor dem Fenster tagsüber ständig ins Auge springen und sich nachts hinten im Küchenfenster spiegeln würde, sodass sie mehr als einmal hochfuhr, weil sie glaubte, dass Haus stünde in Flammen.

Sie wischte Noah die schmutzigen Hände mit einem antibakteriellen Tuch ab und gab ihm seinen Muffin.

»Morgen backt ihr im Kindergarten selbst Muffins. Wie findest du das?«

Er nahm einen Bissen, Krümel regneten in seinen Schoß.

»Muss ich danach abspülen?«

»Na ja, backen macht Schmutz. Man braucht Mehl und rohe Eier …«

»Oh.« Er leckte sich die Finger ab. »Dann nicht.«

»Wir können nicht ewig so weitermachen, Süßer.«

»Warum nicht?«

Sie machte sich nicht die Mühe, ihm zu antworten – sie hatten das immer und immer wieder besprochen, und es gab andere Dinge, über die sie mit ihm reden musste.

»Hey.« Sie stupste ihn an.

Er war vollkommen mit seinem Muffin beschäftigt. Wie hatte sie ihm erlauben können, sich dieses Trumm zu bestellen? Das Ding war riesig. »Hör mal, ich werde heute Abend ausgehen.«

Er starrte sie an. Ließ beinahe den Muffin fallen. »Nein, wirst du nicht.«

Sie atmete tief durch. »Tut mir leid, Süßer.«

Seine Augen sprühten wilde Funken. »Aber ich will nicht, dass du weggehst.«

»Ich weiß, aber manchmal muss Mommy ausgehen.«

»Dann nimm mich mit.«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

Weil es Mommy nicht umbringen würde, wenigstens einmal flachgelegt zu werden, bevor du aufs College kommst. »Das ist nur etwas für Erwachsene.«

Er setzte ihr mit einem verzweifelten, schiefen Lächeln zu. »Aber ich bin frühreif.«

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