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Noesis ist grundsätzlich ein philosophischer Roman, der über traditionelle Erzählweisen hinausgeht. Er fordert den Leser heraus, nachzudenken, sich berühren zu lassen und sich selbst zu hinterfragen. Der Text wirkt eindringlich und regt zum Nachdenken über Veränderung, Freiheit und Wahrheit an. Das Werk ist keine Lektüre, die auf reinen Unterhaltungswert abzielt, sondern eine Reise, die einlädt, zu reflektieren, tief in sich selbst zu schauen und über das Wesen der Existenz und die eigene Identität nachzudenken. Psycholigischer Thriller - Existenzialistischer Roman - Magischer Realismus / Surrealistische Elemente - Neo-Noir & Gesellschaftskritik
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Impressum
NOESIS
Eine Reise zwischen Traum und Bewusstsein
Ein Roman von Alfio Frisina
IMPRESSUM
Titel
Noesis
Untertitel
Eine Reise zwischen Traum und Bewusstsein
Autor
Alfio Frisina
1.3.1972
Verlag
Self-Publishing
Auflage
Erste Auflage
Erscheinungsjahr
2025
Urheberrecht & Copyright
© 2025 von Alfio Frisina. Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Buch oder Teile davon dürfen ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors weder reproduziert, gespeichert oder in irgendeiner Form – elektronisch, mechanisch, durch Fotokopien, Aufzeichnungen oder andere Verfahren – übertragen werden, mit Ausnahme von Zitaten in Rezensionen oder akademischen Arbeiten.
Künstliche Intelligenz im Schaffensprozess
Cover ART AI und in Photoshop bearbeitet
ChatGPT wurde für Textkorrekturen verwendet
Haftungsausschluss
Dies ist ein Werk der Fiktion. Ähnlichkeiten mit realen Personen, lebend oder verstorben, oder tatsächlichen Ereignissen sind rein zufällig. Die in diesem Buch geäußerten Ansichten entsprechen jenen des Autors.
Verlag & Vertrieb
Self-Publishing
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Cover & Gestaltung
Covergestaltung: Alfio Frisina Satz & Layout: Self-Publishing-Layout
Biographie
Informationen & rechtliche Hinweise
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Widmung
Für alle Menschen, die sich eine bessere Welt wünschen – und vor allem für jene, die aktiv dazu beitragen.
Motto
Lebe mit dem Bewusstsein, dass dieses kurze Leben unweigerlich endlich ist – und es vielleicht doch ein Danach gibt.
Noesis
Das Wort Noesis stammt aus dem Altgriechischen (νόησις, nóesis) und bedeutet wörtlich „Denken“, „Erkenntnis“ oder „intellektuelle Wahrnehmung“. Der Begriff wird vor allem in der Philosophie verwendet, insbesondere in der Platonischen Philosophie: Platon nutzt Noesis, um die höchste Form der Erkenntnis zu beschreiben.
Einleitung des Romans
Freiheit – ein Wort, das oft gebraucht wird.
Aber wissen wir wirklich, was es bedeutet?
Ist es die Fähigkeit, selbst zu entscheiden, oder nur die Illusion einer Wahl in einem Leben, das vorbestimmt ist?
Vielleicht ist das, was wir als Freiheit begreifen, nichts weiter als eine Kette aus unsichtbaren Ursachen. Eine Spur, der wir unwissend folgen, überzeugt, selbst den Weg zu wählen.
Doch was ist, wenn wahre Freiheit erst dort beginnt, wo wir erkennen, dass wir nicht frei sind?
Was, wenn Freiheit nicht in unseren Entscheidungen liegt, sondern in der Wahrheit, die sich uns nur offenbart, wenn wir bereit sind, alles zu hinterfragen – selbst unser eigenes Sein?
Zwischen Bestimmung und Selbstbestimmung, zwischen Wahrheit und Täuschung liegt jener Moment, in dem alles klar wird – oder für immer verlorengeht.
Prolog
Etwas lauerte über mir. Ich spürte es wie einen lautlosen Druck auf meiner Seele. Kein Mensch, keine fassbare Gestalt. Etwas, das nicht nur beobachtete, sondern wusste. Eine Präsenz, die mich umfing – unergründlich, unausweichlich.
Äusserlich ruhig begab ich mich zum Teich hinter unserem Anwesen. Es war Winter. Der Wind strich sanft über die Wasseroberfläche und verzerrte das Spiegelbild. Im diffus flackernden Abbild sah ich tausend Gesichter, die sich unaufhörlich veränderten. Silberne Sonnenstrahlen durchstachen die Wolkendecke, glitten herab und brachen sich im Wasser zu funkelnden Splittern, die wie tanzende Diamanten über die sanften Wellen des Weihers hüpften.
Ich kannte keine Gewissheiten, keine endgültige Wahrheit, und ich dachte, nur wer an der Oberfläche blieb, konnte sich vom Gegenteil täuschen lassen. Jedes Mal, wenn ich versuchte zu verstehen, wurde mir bewusst, wie wenig ich wusste. Und auch wenn es nur eine Illusion war – dieses Wenige, das ich wusste, gab meinem Dasein einen Sinn.
Ich glaubte, frei zu sein. Aber wann hatte ich wirklich darüber nachgedacht, was Freiheit ist? Eines Tages erkannte ich, dass meine Entscheidungen nicht wirklich meine waren: Ich wiederholte nur, was man mir beigebracht hatte. Ich war das Produkt einer Kultur, die ich nicht gewählt hatte. Theoretisch bedeutete Freiheit die Macht zu wählen. Aber alles geschah trotzdem. Meine Wahl war nur ein Anschein.
Ich hob den Blick, auf der Suche nach einer Antwort, einer Bestätigung, einem Zeichen. Doch da war nichts. Kein Flüstern im Wind, keine Spur am Himmel. Nur das stille Unendliche, das mich schweigend anstarrte.
Der Schein
Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Elen an einem Sommernachmittag kennengelernt. Ich sollte ihr ein Werk präsentieren, das ich gerade fertiggestellt hatte. Das Wetter spiegelte meine Stimmung wider: ruhig, aber unsicher. Leer – ohne Tränen, ohne Wärme. Als würde etwas bevorstehen. Es war, als gäbe mir die Zeit einen Moment der Vorbereitung, einen Atemzug, bevor etwas Bedeutendes Gestalt annimmt.
Mein Atelier, in dem ich meine Werke ausstellte, befand sich in einem alten Gebäude. Ich hatte es gewählt, weil es von einer Vergangenheit sprach, die vielen gehörte – jenen, die gelitten, geweint, gelacht und geliebt hatten. Es lag am Rand der alten Stadtmauern. Einst war dieser Ort ein Durchgang, dessen Tore im Kriegsfall verschlossen wurden. Vor den Festungsmauern tobten dann Schlachten, in denen die Stadt um ihre Freiheit kämpfte.
Ich ahnte, dass in diesem stillen und geschützten Bauwerk alles geschehen war: Gutes und Böses, Gewalt und Sanftheit, Leben und Tod – doch ich wollte mich daran erinnern, dass nichts von Dauer ist. Dass wir Menschen nur für eine kurze Zeit auf dieser Welt verweilen, bevor wir unweigerlich verschwinden.
Um meine Kreativität zu steigern, hoffte ich, an diesem Ort dieselben Emotionen zu spüren wie jene, die vor mir gelebt hatten. In diesem Atelier fühlte ich mich geschützt, von der Außenwelt abgeschirmt.
Nur die Sirenen der Rettungswagen, die gelegentlich vom Krankenhaus losfuhren, durchbrachen die Stille. Ein ferner Schrei, der die Luft streifte. Ich hoffte, dass dieser Ort der Mittelpunkt meines Neubeginns werden würde – ein Ort, an dem ich meine eigenen Fehler hinter mir lassen konnte.
Bevor Elen mein Atelier zum ersten Mal betrat, war ich in ein vertrautes Zwiegespräch mit meiner Skulptur vertieft. Aletheia – sie war in meinen Gedanken eine lebendige Gefährtin, eine Stimme, die mich begleitete, mich herausforderte, mich in Frage stellte. Ich beobachtete sie, wie sie sich unbekümmert durch mein Atelier bewegte – ein Raum, der zugleich meine Bleibe und meine ganze Welt war. Jede ihrer Bewegungen schien mit der Stille des Raums zu verschmelzen, als wäre sie schon immer ein Teil davon gewesen.
Zwischen meinen Fingern wendete ich einen kleinen, verformten Würfel, dessen Kanten vom vielen Werfen glattgeschliffen waren. Zwei Würfelflächen fehlten – stattdessen verliefen dort sanfte Rundungen, als wären sie allmählich aus der Form geraten. So kam er zur Ruhe, doch immer nur auf den verbliebenen vier Flächen, als hätte das Schicksal ihm feste Grenzen gesetzt, jenseits derer keine Entscheidung mehr möglich war. Schicksal versus Freiheit. Wahrheit versus Unwissen. Vier Möglichkeiten, vier Antworten. Und doch wusste ich, dass das Ergebnis immer dasselbe blieb. “Bereit?”, fragte sie, ihr Blick durchdringend, ihr Lächeln ein Rätsel. Ich nickte langsam und ließ den Würfel los. Ich verfolgte, wie er über den Tisch rollte, sich drehte, für einen Moment in der Luft zu schweben schien, bevor er schließlich zur Ruhe kam.
Ich tippte auf das Wort. “Freiheit.” Aletheia betrachtete mich mit einem unergründlichen Ausdruck. “Das weisst du schon.” Ich runzelte die Stirn. “Ich habe Freiheit geworfen, oder nicht?”
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich an. “Dann werfe.”
Ein leises Summen lag in der Luft, kaum hörbar, aber es vibrierte in meinen Knochen. Ich spürte, wie meine offene Hand noch immer auf dem Tisch lag – und zugleich, wie sie sich auch um den Würfel schloss, als hätte ich ihn nie losgelassen. Der Moment dehnte sich aus, als hätte die Zeit einen Sprung gemacht, als würde ich die Resonanz meiner eigenen Bewegung spüren.
Ich erinnerte mich daran, wie ich den Würfel geworfen hatte. Ich erinnerte mich daran, wie er rollte. Ich erinnerte mich daran, dass er auf Freiheit gefallen war. Und doch lag er wieder in meiner Hand, als hätte es den Wurf nie gegeben.
Ich würfelte erneut. Schicksal. Aletheia amüsierte sich. “Siehst du?”
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus. “Ich habe mehrmals geworfen, oder?”
“Und doch”, sagte sie leise, “hat sich nichts geändert.”
Ich starrte auf den Würfel. Dann auf sie. Mein Herz schlug schneller. Ich war mir sicher, dass ich ihn geworfen hatte – sicher, dass er gefallen war. Aber es war, als hätte die Zeit sich in sich selbst verschlungen.
Ich ließ den Würfel nochmals über den Tisch rollen. Unwissen. Noch einmal. Schicksal. Noch einmal. Unwissen.
So oft ich es auch versuchte – der Würfel fiel immer auf Schicksal oder Unwissen. Immer. Freiheit und Wahrheit blieben nur Möglichkeiten, die sich nie realisierten.
Der Würfel wirbelte dahin, als ob er in einem endlosen Reigen gefangen wäre – ein Rhythmus, bei dem sich nicht klar abgrenzen ließ, ob sein Fall gerade erst begann oder sich schon ewig wiederholte.
Als Elen an die Tür klopfte, lief Aletheia an ihren gewohnten Platz und erstarrte in ihrer wahren Gestalt – eine Skulptur aus oxidiertem Eisen. Ihre sanfte Haut verwandelte sich in eine raue, kalte, rostige Oberfläche, als würde das Leben in ihr in einem einzigen Augenblick verlöschen. Ihre halboffenen Augen schienen in jenem flüchtigen Moment zwischen Wachsein und Schlaf gefangen – als wäre der Übergang zum Stillstand gekommen, eingefroren in der Sekunde zwischen Bewusstsein und Vergessen.
Aletheia lehnte an einem Steinblock, ein Arm darauf gestützt, der andere halb erhoben, als wollte sie mir etwas erklären.
Mit Aletheia sprachen wir über vieles – das Leben, Erkenntnisse, die Seele – unsere eigene Dimension. Doch welche Bedeutung hatte all das wirklich?
“Du solltest die Wahrheit suchen – hat dein Schicksal eine Wahl?”
Ein Satz, den ich mir immer wieder vorsagte, während ich versuchte, seinen Sinn zu begreifen.
Wer war ich und in welchem Verhältnis stand mein Selbst zur Realität? War ich ihr Schöpfer, ihr Produkt – oder nur ein flüchtiger Gedanke in einem größeren Gefüge?
Als Elen ankam, holte ich tief Luft und öffnete die Tür. Dort stand Adam Clan – und an seiner Seite seine Frau, Elen. Mein Körper erstarrte erst, dann hörte ich meine Stimme leise den Namen „Aletheia“ aussprechen.
Ein unerwarteter Ruck durchfuhr mich, als hätte jemand an den Grundfesten meiner Realität gerüttelt. Mein Blick sprang unwillkürlich zwischen Elen und Aletheia im Raum hin und her. Dieselben Züge. Dieselbe Präsenz.
Wie war das möglich?
“Kommt herein”, sagte ich leise, fast unhörbar.
Mein Herz schlug schneller. Ich konnte die Kälte von Aletheia spüren.
Clan redete, doch seine Stimme drang nur gedämpft in mein Bewusstsein. Ich hörte ihn kaum.
Ich zwang mich, mich zu fassen. Meine Hände waren feucht, ich ballte sie zu Fäusten.
“Was führt euch zu mir?”, fragte ich schließlich – meine Stimme ruhiger, als ich mich fühlte.
“Unsere Bekannten sprachen von Ihren Skulpturen. Sie sagten, sie könnten für uns von Bedeutung sein.”
Ich ließ ihren Blick durch den Raum wandern, spürte ihr Zögern, das unausgesprochene Fragen. Ihre Augen verweilten schließlich auf der Statue, deren Schatten sich im flackernden Licht bewegte.
“Spricht die Skulptur Sie an, Herr Clan? Ich nenne sie Aletheia”, sagte ich mit leiser Stimme.
Während ich schüchtern und unruhig Elens Blick suchte, spürte ich, wie die Ruhe aus meinem Herzen wich.
Draussen begann es zu regnen. Zögerlich zuerst, dann mit Wucht, als könnte der Himmel sich nicht mehr zurückhalten. Der Regen rann an den Fenstern hinab wie ein stilles Weinen, als wolle er mich ersticken. Trotzdem spürte ich, wie etwas in mir zu leuchten begann.
Die Starre in meinen Gliedern schien sich aufzulösen. Es war mir, als ob positive Ströme durch mich flossen – wie, wenn man ein Versprechen einlöst, das man längst für unmöglich gehalten hatte.
Die Umgebung wirkte indessen wie eingefroren, fast surreal. Ich wusste nicht, wie es passiert war, doch durch die Präsenz Elens hatte ich das Gefühl, endlich das Erwachen gefunden zu haben, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte. Ihr Blick – verführerisch und zugleich durchdringend – ging mir unter die Haut.
Ich war überzeugt, dass sie wusste, wer ich war – dass sie mich im Innersten erkannte. Es fühlte sich an, als würde ich sie aus einem anderen Leben kennen. Doch als ich versuchte, mich zu erinnern, flüsterte mein Verstand:
“Nein, du kannst dich nicht an sie erinnern.”
Hatte ich wichtige Details vergessen? Oder hatte ich sie absichtlich von mir gestoßen, um mich von dem zu befreien, was mich innerlich quälte? Wie war es möglich, dass ich Aletheia genauso geformt hatte wie Elen, ohne sie zu kennen? Doch jetzt stand sie hier, direkt vor mir, schön und faszinierend – ich spürte eine Unruhe in mir aufsteigen.
Es war, als ob diese Schönheit, diese Verführung, eine Wahrheit verbarg, der ich nicht gewachsen war.
Ihre perfekten Züge erfüllten mich mit Ehrfurcht. Ich hielt den Atem an, als wäre jede Emotion ein bittersüßer Schmerz, den Worte nicht fassen konnten. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Augen etwas in mir suchten – vielleicht sogar jemanden. Doch ich wusste nicht, was oder wen.
Gleichzeitig nahm ich sie in jeder ihrer Bewegungen wahr, in jeder ihrer Gesten. Ihre Anziehungskraft war trotz ihrer Zurückhaltung intensiv, und ich hatte das Gefühl, dass ich, sobald sie mich eingefangen hatte, nie wieder von ihr loskommen würde. Als wäre ich hypnotisiert. Ich spürte, dass sie für mich eine Gefahr war – auf eine Weise, die ich nicht ganz begreifen konnte.
Ihre Präsenz beeindruckte nicht nur mich – sie musste eine unauslöschliche Spur in jedem hinterlassen, der ihr begegnete. Davon war ich überzeugt. Elen wirkte wie eine Anführerin, eine Muse, eine Gestalt, die mein Bedürfnis nach Verbindung und Erkenntnis verkörperte. Sie war jemand, den man niemals vergessen konnte, der zugleich unbestimmt und unerreichbar blieb.
Als könnte niemand mit Sicherheit sagen, ob sie real war oder nur eine Projektion des eigenen Geistes. Für mich war sie die Verkörperung der Wahrheit, nach der ich suchte – der Beweis, dass etwas Klares, eine aufklärende Kraft noch existieren konnten. Ich sah es auch an ihrer Art, sich zu bewegen und zu sprechen.
Wäre ich nach meiner Einschätzung gefragt worden, hätte ich gesagt, dass sie und Clan ein distanziertes Paar seien. Ich wusste nicht, was sie beruflich machten, aber zwischen ihnen lag eine Art Komplizenschaft.
Liebte sie ihn? Brauchte sie ihn? Und warum?
Verdiente er ihre Liebe?
Er lächelte, aber sein Lächeln war leer und gepresst. Man konnte nicht erkennen, ob es Ausdruck einer inneren Unruhe war – begleitet von einem Drang zur Herausforderung – oder ob es ein Lächeln der Zufriedenheit war über das, was er sah, was er erobern oder kontrollieren konnte.
In Elens Augen lag trotz ihrer Sanftheit ein stilles Leiden, ein Schmerz, den sie sorgfältig verbarg. Durch ihre Flüchtigkeit und Absenz war es, als wäre sie zwischen zwei Welten gefangen – zwischen Licht und Schatten, zwischen Sein und Nichtsein.
Für einen Augenblick hatte ich den Gedanken, dass Clan sie auf seine Weise lebendig begraben hatte. Erdrückt vom Gewicht seiner Welt aus Regeln, Macht und Kontrolle.
Doch wie konnte ich mir sicher sein? Vielleicht war es nur meine Vorstellung, eine Projektion meiner eigenen Ängste. Trotzdem fühlte sich Elens stille Präsenz für mich wie ein kalter Hauch an. Eine schreckliche Schuld lastete auf mir, weil ich glaubte, sie nicht retten zu können.
“Statuen denken nicht, Herr Nathan”, sagte Clan mit einer autoritären, fast tyrannischen Stimme. “Sie entstehen mit dem einzigen Zweck, das zu sein, was sie sind: Statuen. Um zu dienen, nicht um bedient zu werden. Ich verstehe die Besessenheit der Künstler, teile sie jedoch nicht.” Er schloss seine Worte mit einem abrupten Lachen ab.
Seine Worte trafen mich mit ihrem Pragmatismus. Ich blieb mit einem Gefühl von Überrumpelung und Verwirrung zurück. Vielleicht hatte er recht.
Vielleicht suchte ich tatsächlich nach einem Sinn, wo keiner existierte und nach einem verborgenen Wert in Dingen, die in Wahrheit bedeutungslos waren. Vielleicht zählte, so wie Clan behauptete, nur das, was man sehen konnte, und alles andere war eine Illusion meines eigenen Geistes.
Vielleicht verlor ich mich auf der Suche nach einer Transzendenz, die nie existiert hatte und deren Ursprung unbekannt blieb. Wie oft überkam mich eine unerklärliche Leere, ein Echo, das ich nicht benennen konnte. Es war, als fehle etwas. Als hätte ich etwas verloren, von dem ich nicht einmal wusste, dass es existierte.
Doch da waren auch Momente, in denen ich das Gegenteil spürte – als wäre da etwas. Eine unsichtbare Kraft, eine höhere Macht, die mich lenkte, ohne dass ich verstand.
In meinem Augenwinkel sah ich Aletheia, wie sie sich unruhig regte, als sie Clans Worte hörte. In mir breitete sich eine leise Erleichterung aus. Clan konnte unmöglich recht haben.
Ich beobachtete ihn: zweifellos ein Geschäftsmann, selbstbewusst und makellos in jedem Detail. Seine Stärken zeigten sich in seiner Präsenz, in seiner Sicherheit und Härte. Er schien die Kontrolle über sich selbst und sein Leben zu haben – wie all jene, die so gekleidet waren wie er.
Ich sah ihn als eine Art notwendiges Übel, jemanden, den Teile der Gesellschaft wollten, um geführt und finanziert zu werden. Es war, als würde die Welt in ihrer Heuchelei seine Existenz akzeptieren, nur um das eigene Gleichgewicht zu sichern.
Er machte den Eindruck, ein Mann zu sein, der anderen mit Strenge die Regeln beibrachte. Doch für sich selbst schien er keine Regeln zu kennen. Er lebte über den Gesetzen, die er predigte – ein lebendes Paradox, Teil seines eigenen grausamen Spiels, das alles so sinnlos kohärent machte.
In ihm schien es keinen Platz für Tiefgang oder Geheimnisse zu geben. Doch je länger ich ihn beobachtete, desto oberflächlicher wirkte auf mich seine Sicherheit – fast mechanisch, ohne jeden Funken Authentizität. Einen solchen suchte ich in der Kunst.
Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Ich versuchte zu verstehen, ohne aus persönlicher Perspektive zu urteilen. So sagte ich mir, dass ich Clan nicht wirklich kannte und dass seine Kritik mich nicht berühren sollte. Es wäre etwas anderes gewesen, wenn jemand, den ich wirklich schätzte, das Gleiche gesagt hätte.
Elen ließ ihre Schultern leicht sinken, als sie die Erklärungen ihres Manns hörte. Ihre Bewegungen waren sanft, aber zugleich zögerlich, als hätte sie ihre eigene Hoffnung verloren – eine Hoffnung, die auch mir fehlte. Ob sie jene bei mir zu finden hoffte?
Aber wie hätte sie in meinen Augen, in meinen Gedanken, meine Zweifel und meine widersprüchlichen Visionen lesen können?
Oder war ich es, der sie täuschte? Oder ich mich selbst?
Einen Moment lang richtete sie sich wieder auf, gab sich einen Ruck und sagte:
“Du solltest die Statue erwerben. Ihre Form ist ungewöhnlich, nichts, was man jeden Tag sieht. Ich empfinde sie als außergewöhnlich – sie könnte das Interesse deiner Bekannten wecken.”
Ihre Worte waren widersprüchlich. Wollte sie Aletheia wirklich von jemandem erwerben lassen, der sie nicht schätzte? Oder wollte sie die Statue am Ende für sich selbst?
In diesem Moment fühlte ich Elen tief in meiner Seele, spürte ihr ganzes Wesen in mir. Es war, als wäre sie unausweichlich in meinen Gedanken – so, wie man die Geliebte stets in sich trägt, wenn man verliebt ist.
Das Ehepaar bemerkte offenbar nicht, dass Elen und Aletheia beinahe identisch waren. Es war tatsächlich schwer zu erkennen – Aletheia bestand aus rostigem Metall. Nur ich sah sie in ihrer ganzen Lebendigkeit. So kam es, dass sie die Skulptur erwarben.
Es war eine Niederlage. Als hätte ich einen Teil von mir selbst in die Obhut eines hämischen Fremden gegeben. Doch aus dieser Niederlage erwuchs eine wahre Hoffnung in mir.
“Ein letztes Spiel, Aletheia?” Ich deutete an jenem Abend, bevor sie abgeholt wurde, auf das Schachbrett, das auf dem Tisch lag. Sie lächelte – als würde ihr ihre neue Destination keine Sorgen bereiten.
Um den Abschied zu verdrängen, vertiefte ich mich während des Spiels in meine grüblerischen Gedanken und versuchte, den Akt der Schöpfung zu verstehen.
Wie entstehen Ideen? Wie wird Vorstellungskraft geboren?
Ich erkannte in diesem Moment, dass Ideen ohne Vorwarnung auftauchten – unberechenbar, wann und wo sie wollten. Ohne das geringste Zeichen von freiem Willen. Es war, als hätte sich ein geheimnisvoller, universeller Geist, ein Geist der Zeit, einen Spaß daraus gemacht, die Menschheit zu necken. Eine Beobachtung, eine Erfahrung verwandelte sich plötzlich in Inspiration. Wie damals, als ein Apfel auf den Kopf eines auserwählten Physikers fiel – und für immer die Sicht der gesamten Menschheit auf das Universum veränderte.
Selbst unsere Interessen entstehen nicht aus bewussten Entscheidungen. Sie sind einfach da. Oder eben nicht. Wir wählen sie nicht – sie wählen uns. Vielleicht sind sie weniger ein Produkt unseres Denkens als eine innere Anziehung, der wir folgen, ohne zu wissen, warum.
Eine kleine Ameise auf dem Schachbrett zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
Ich beugte mich näher zu ihr, in der Hoffnung, Details erkennen zu können. Doch als sie den Blick hob, hatte ich das Gefühl, dass sie nicht mich ansah, sondern zur Decke starrte. Etwas war da. Ich spürte es. Diese unsichtbaren Augen, diese unerklärliche Macht, die sich auf mich legte wie eine unsichtbare Hand. Mein Atem stockte. Ich folgte dem Blick der Ameise, zwang mich, nach oben zu sehen – aber da war nichts.
Ein plötzlicher Moment des Unbehagens befiel mich, als ich erneut auf das Schachbrett blickte. Da sah ich mich für einen Augenblick selbst als Figur – und zugleich war ich es, der den nächsten Zug spielen musste.
Ich blinzelte, versuchte den Gedanken zu fassen, doch er entglitt mir. Ich spürte, wie ein Schweißtropfen langsam von meiner Stirn hinabglitt.
Die Ameise zog meinen Blick erneut auf sich. Ich fragte mich, wie es möglich war, dass diese winzigen Wesen ohne sichtbare Anweisung eine perfekte Struktur für ihr Zuhause erschufen.
Von welchem Geist wurden sie geleitet? Wer sagte ihr, welchen Ast sie nehmen oder auf welches Blatt sie klettern sollte? Und vor allem: Warum?
Es gab keine sichtbare Hierarchie, keinen Machtkampf. Und doch schien jede Ameise genau zu wissen, was sie zu tun hatte – als wäre sie Teil einer unsichtbaren Kraft, die sie wortlos in eine gemeinsame Richtung führte.
Niemand befahl ihnen. Niemand übernahm die Autorität, die Arbeit zu leiten. Und dennoch entstand aus dem Chaos Ordnung.
Es war, als lenkte eine kollektive Intelligenz jede ihrer Bewegungen – ein Prinzip, das sich meinem Verständnis entzog.
Dann überkam mich ein Gedanke, der mir Gänsehaut verursachte:
Was, wenn auch wir Menschen so sind?
Wir glauben, unsere Entscheidungen selbst zu treffen. Doch was, wenn wir unbewusst von etwas gelenkt werden, das wir nicht greifen können?
“Du bist dran.” Aletheia erkannte, dass meine Gedanken nicht beim Spiel waren.
“Aletheia, warum stehen auf den Gegenseiten des Würfels Schicksals und Freiheit – und nicht Schicksal und Zufall?”, fragte ich, während meine Hand über dem nächsten Zug verharrte.
Aletheia hielt inne. Ein leises Atmen, kaum wahrnehmbar. Dann hob sie langsam den Blick, als würde sie etwas in der Luft abwägen, ein unsichtbares Gleichgewicht zwischen meiner Frage und ihrer Antwort.
“Ach so, du bist also wieder beim Würfelspiel”, sagte sie mit einem Lachen. “Weil Zufall dasselbe ist wie Schicksal. Sie können nicht gegensätzlich sein.”
Ihre Antwort überraschte mich. Ich runzelte die Stirn und sah sie fragend an. “Was meinst du damit?”
“Der eigentliche Punkt ist, ob du dabei frei bist.”
Ihre Stimme war ruhig, aber ihre Worte durchschnitten die Stille wie ein Skalpell.
“Schicksal ist wie ein Fluss, der seinem Bett folgt, unbeirrt von deinem Willen. Jeder Tropfen, jede Strömung, jede Abzweigung war schon immer bestimmt. Zufall ist derselbe Fluss – nur nennt man ihn anders, weil man nicht sieht, woher das Wasser kommt und wohin es fließt. Weil man glaubt, es ergieße sich willkürlich, ohne Muster, ohne Richtung. Doch auch dort folgt er seiner Bahn, der gleichen Bahn, gezeichnet von unsichtbaren Gesetzen. Beides trägt dich mit sich. Beides lenkt dich. Beides nimmt dir die Wahl. Aber Freiheit… Freiheit ist das Ufer, auf das du trittst, wenn du dich entscheidest, aus dem Wasser zu steigen.”
Ihre Worte ließen mich innehalten und nachdenken. Ich starrte auf das Spielfeld vor uns. Das Spiel hatte noch kaum begonnen – und doch fühlte es sich an, als hätte ich gerade etwas verloren.
“Du glaubst, es sei Zufall, dass Elen hier war. Doch nichts geschieht ohne Grund. Jede Entscheidung, jede Begegnung sieht zufällig aus, ist aber der Teil eines größeren Plans, den du vielleicht nie ganz begreifen wirst. Aber das macht ihn nicht weniger wahr. ”
Ich nahm den Würfel, ließ ihn durch meine Finger gleiten und spürte das kühle Gewicht der Symbole darauf. Etwas am Gehörten irritierte mich. Ich hob den Blick.
“Aber warum dann Wahrheit und Unwissen? Warum nicht Wahrheit und Lüge? ”, fragte ich weiter. “Du willst mich aber nicht glauben lassen, dass Wahrheit und Lüge dasselbe sind? ”
“Weil Menschen nicht wissen können, was Wahrheit ist. Wahrheit ist nur eine Lüge, die noch nicht enttarnt wurde. Aber auch Lügen können wahr sein. Nur Wissen kann sich dagegen wehren.”
“Wie kann eine Lüge wahr sein? ”, fragte ich erstaunt.
Aletheia schwieg einen Moment, als wolle sie mir die Möglichkeit geben, selbst darauf zu kommen. Dann sagte sie ruhig:
“Stell dir einen Vater vor, der zu seinem kranken Kind sagt: ‘Alles wird gut.’ Er weiß es nicht. Er kann es nicht wissen. Ist das eine Lüge? ”
Ich überlegte kurz. “Ja… Er verspricht etwas, das er nicht garantieren kann. ”
“Und wenn das Kind daran glaubt, Hoffnung schöpft – und sich erholt? Wenn es wirklich gut wird? ”
Ich zögerte. “Dann… dann ist es keine Lüge mehr. Dann wurde sie zur Wahrheit. ”
“Genau. ” Aletheia neigte den Kopf leicht zur Seite. “Eine Lüge ist manchmal nur eine Wahrheit, die noch nicht bewiesen wurde – oder eine, die sich selbst erschafft. Menschen belügen sich oft lieber selbst, als der Wahrheit ins Auge zu sehen. Wahrheit ist nicht einfach das, was wir wissen. Sie liegt oft jenseits dessen, was wir begreifen.”
Ich spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl in mir ausbreitete. “Aber das bedeutet… wenn wir Wissen mit Wahrheit gleichstellen, dann ist dies ebenso nur eine Lüge, die noch nicht entlarvt wurde? ”
Aletheia schmunzelte. “Deshalb stehen auf den Gegenseiten des Würfels Wahrheit und Unwissen – und nicht Wahrheit und Lüge. Denn Lügen können wahr sein. Aber nur Wissen kann sich dagegen wehren. ”
“Doch können die Menschen Wissen erlangen, oder bleiben sie stets im Unwissen?”
Aletheia betrachtete mich einen Moment lang, als würde sie abwägen, wie viel sie mir verraten sollte. Dann lächelte sie – ein Lächeln, das weder warm noch kalt war.
“Du spürst es, nicht wahr? ”, fragte sie.
Ich schluckte. Eine Mischung aus Ehrfurcht und Unbehagen breitete sich in mir aus.
“Was meinst du? ”
Aletheia sah mich an, als würde sie darauf warten, dass ich es selbst aussprach. Doch die Worte kamen nicht.
“Dass du nicht wirklich frei bist”, sagte sie schließlich.
Ihre Stimme war ruhig, doch sie traf mich tief.
“Nicht im physischen Sinne”, fuhr sie fort. “Nicht durch Käfige oder Gefängnisse. Auch nicht allein durch soziale oder kulturelle Zwänge. ”
Ich hielt den Atem an.
“Sondern durch etwas Grundlegenderes”, sagte sie leise.
Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in mir aus.
“Unsere Gedanken sind nicht wirklich frei”, sagte ich schließlich.
Aletheia nickte.
“Sie entspringen nicht reinem Willen”, fuhr ich fort, meine eigene Stimme kaum wiedererkennend. “Sie entstehen aus Prägung, Instinkt und unsichtbaren Grenzen, die wir nicht bewusst setzen. ”
Stille.
Ich sah Aletheia an, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich zu verstehen. So wie eine Ameise nicht allein den Abschluss ihres Baus vorhersehen oder planen konnte, konnten auch wir unsere Entscheidungen nie vollständig begreifen.
Es war wie das Schachspiel: Man kannte einige wenige zukünftige Züge, doch das Ende blieb verborgen. Die Entscheidungen, die wir trafen, waren immer begrenzt – gebunden an Umstände und die Regeln des Spiels. Es war, als sei das Spiel bereits für uns geschrieben, und doch spielten wir es, als wäre es unser eigenes. Ein Spiel, dessen Gesetzen man nicht entkommen kann. Ob man gewinnt oder verliert, ist nur eine Illusion der Kontrolle.
Das war unser letzter gemeinsamer Abend.
Am nächsten Tag, nachdem sie abgeholt worden war, ging ich wie gewohnt durch die Altstadt spazieren. Die engen Gassen wirkten zunächst vertraut, doch irgendetwas stimmte nicht. Etwas hatte sich verändert – oder war es nur meine Wahrnehmung? Meine Schritte stockten auf dem Pflaster, das unter meinen Füßen zu schwanken schien. Die Konturen der Gebäude bogen sich, als würden sie atmen. Fassaden verzogen sich in leicht gekrümmten Linien, als hätten sie ein Eigenleben. Die Geräusche um mich herum klangen gedämpft, als kämen sie aus einer anderen Sphäre. Lichter flackerten. Gesichter lösten sich auf, nur um sich im nächsten Moment neu zusammenzusetzen.
Die Welt verformte sich vor meinen Augen.
Ich drehte den Kopf, um meine Anspannung zu lösen, versuchte, mich zu orientieren, mich an etwas Verlässlichem festzuhalten – doch alles war in Bewegung.
War es die Stadt, die ich kannte? Mir wurde schwindelig. Ich wusste nicht mehr, was real war – als hätte mich jemand unter Drogen gesetzt. Nur eines war sicher: Etwas hatte sich drastisch verändert.
Ich fühlte mich verloren.
“Es fühlt sich an, als würde die Welt in Stücke fallen, oder?”
Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich fuhr herum und sah einen alten Mann, dem ich noch nie zuvor begegnet war, direkt neben mir stehen. Nichts an ihm wirkte bedrohlich, aber seine Präsenz war vertraut und zugleich beunruhigend. Die Verzerrung der Stadt schien ihn nicht zu betreffen.