Nordseedämmerung - Christian Kuhn - E-Book
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Nordseedämmerung E-Book

Christian Kuhn

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Beschreibung

Die Zukunft des Landes entscheidet sich auf einer kleinen Insel im Wattenmeer

Sommerpause. Der Bundespräsident macht Urlaub auf Juist. Doch es mehren sich die Hinweise, dass ein Mörder auf ihn angesetzt wurde. Kriminalhauptkommissar Tobias Velten wird von Berlin auf die ostfriesische Insel entsandt, um das Sicherheitsteam vor Ort zu unterstützen. Und er hat noch einen zweiten, geheimen Auftrag: Offenbar gibt es einen Spitzel in den eigenen Reihen. Velten muss ihn so schnell wie möglich überführen - sonst wird sein erster Einsatz an der Nordsee tödlich enden.

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Das Buch

Manchmal ist Tobias Velten nicht mehr sicher, ob er sich für den richtigen Lebensentwurf entschieden hat. Mit Mitte vierzig ist er Kriminalhauptkommissar in der Abteilung Polizeilicher Staatsschutz, Gefahrenabwehr und Terrorismusbekämpfung. Aber Velten ist ausgebrannt, ohne Elan. Ein wenig Luftveränderung kommt ihm da nur gelegen. Velten wird von seiner Chefin an die Nordsee geschickt. Dort soll er für die Sicherheit des Bundespräsidenten sorgen, der seinen Urlaub auf der wunderschönen ostfriesischen Insel Juist verbringt. Für Velten bedeutet das auch ein Wiedersehen mit seiner alten Freundin Svenja Jenner, die das Team der Personenschützer leitet. Doch offenbar gibt es in ihren Reihen einen Spitzel. Nicht nur der Präsident, auch Velten und Jenner selbst schweben in höchster Gefahr …

Der Autor

Christian Kuhn fuhr schon als Kind mit seiner Familie den Rhein hinab, um die Nordsee und ihre Inseln segelnd zu erkunden. Er liebt den rauen Charme der See, volljährigen Whisky und Geschichten, die in Erinnerung bleiben. Und ebenso wie sein Protagonist hat er sein Faible für das Laufen entdeckt. »Nordseedämmerung« ist sein erster Roman.

CHRISTIAN KUHN

NORDSEE

DÄMMERUNG

KRIMINALROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2020 by Christian Kuhn

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur

EDITIODIALOG, Dr. Michael Wenzel.

Redaktion: Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München,

unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com

(suehling, Thomas Lemmer, Marijus Auruskevicius,

Serg 64, Resul Musulu)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26071-2V001

www.heyne.de

Für Meike

1

Berlin. Montag, 19. Juni

06:15 Uhr

Es war ein Fehler gewesen, direkt nach dem Aufstehen die neuen E-Mails zu lesen. Jetzt machte er sich Gedanken über Dinge, die er noch gar nicht einschätzen konnte. Der kommende Einsatz sei ein wenig speziell, eine Ausnahmesituation, aber wie für ihn gemacht, hatte Dr. Meyer geschrieben. Etwas mehr Informationen hätten es schon sein dürfen.

Graue, ewig gleiche Häuserfassaden zogen an Tobias Velten vorbei. Er beachtete sie nicht. Seine Beine bewegten sich mit trainierter Regelmäßigkeit, er horchte in seinen Körper hinein. Normalerweise tat ihm das Laufen gut, die frühmorgendliche Runde war ein festes Ritual, jeden zweiten Tag, mindestens eine Stunde. Es half ihm, den Kopf freizubekommen und die Lebensgeister zu wecken. Aber heute wehrte sich der Körper noch, weigerte sich, die Müdigkeit abzulegen. Die Beine waren wie taub, jeder Schritt war anstrengend, als würde er durch nassen Sand laufen.

Er erreichte den Streckenabschnitt im Volkspark, den er besonders gerne mochte. Um diese Uhrzeit hatte er die Weite der taubedeckten Wiesen ganz für sich. Die Einsamkeit beruhigte. Als er den Möwensee umrundete, flog im Zwielicht der ersten Dämmerung ein Schwan flach über das Gewässer hinweg und ließ bei seiner Landung das Wasser aufspritzen. Dann kehrte wieder Stille ein. Sie tat ihm gut. Zwei weitere Läufer kamen ihm entgegen. Er grüßte mit einem kurzen Wink, wie es unter Läufern üblich war.

Der Rückweg führte ihn wieder durch die Straßen von Moabit. Je näher er der Stadtmitte kam, desto mehr Nachtschwärmer und Partygänger schwappten noch durch die Straßen, scheinbar ziellos und chaotisch und doch einem unbekannten Muster folgend. Aus einer Tür im Subparterre drangen verzerrte Gitarrenklänge. Erste Frühaufsteher in Anzügen eilten zielstrebig über den Bürgersteig. Der Horizont leuchtete hellrot, übertünchte das blasse Licht der Straßenlaternen, gab dem Leben die Farbe zurück, verdrängte das diffuse Gefühl, zwar über Gott und die Welt nachgedacht zu haben, aber nicht über das, worüber er besser hätte nachdenken sollen. Egal. Angekommen. Duschen, umziehen, losfahren. Die positive Anspannung, auf die er die ganze Zeit gewartet hatte, sie war wieder da.

Endlich wieder arbeiten. Als er gegen acht Uhr auf dem Kasernengelände am Treptower Park eintraf, herrschte dort bereits rege Betriebsamkeit. Das Gelände war eine riesige Baustelle. Mehrere Neubauten mit Glasfassaden wurden neben den altehrwürdigen roten Backsteingebäuden der Kaiserzeit hochgezogen und würden bestimmt einen spannenden architektonischen Kontrast zu ihnen bilden, eines Tages, wenn sie dann endlich fertiggestellt waren.

Sämtliche Funktionen des polizeilichen Staatsschutzes des Bundeskriminalamts würden dann hier gebündelt sein. Und nur wenige Meter weiter lag das gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum von BKA und dem Bundesamt für Verfassungsschutz. Ehemals nur zur Bekämpfung des islamistischen Terrors gegründet, bestand seine Aufgabe inzwischen darin, den Informationsaustausch und die Zusammenarbeit mit den anderen Polizeibehörden sowie den Nachrichtendiensten zu jedweder politisch motivierten Kriminalität zu gewährleisten.

Es wurde immer schwieriger, der stetig unübersichtlicher werdenden Gefährdungslage Herr zu werden. Vor allem am linken Rand brodelte es, mehrere neue linksextremistische Gruppierungen hatten zum Widerstand gegen das System aufgerufen, nachdem die ungerechte Verteilung von Wohlstand, die durch die ewigen Finanzkrisen noch gefördert wurde, wieder einmal von den Medien thematisiert worden war. Im Internet kursierten Mordaufrufe gegen hohe Vertreter aus Wirtschaft und Politik. Aber auch am rechten Rand gab es Probleme, oftmals angeheizt von absurden Verschwörungstheorien. Insbesondere die sogenannte Reichsbürgerszene, die die Bundesrepublik an sich ablehnte und die Fortexistenz des Deutschen Reiches proklamierte, hatte steten Zulauf. Und nicht zuletzt gab es eine steigende Anzahl islamistischer Gefährder, die nach wie vor aus den Bürgerkriegsländern des Nahen Ostens kommend in Europa einsickerten.

Zehntausende Personen standen unter Beobachtung, ihre Kommunikation musste möglichst lückenlos ausgewertet werden, damit man reagieren konnte, bevor es zu spät war. Immer wieder gab es Vorfälle, teils tödliche Anschläge; verübt von bereits zur Fahndung ausgeschriebenen Terroristen, aber auch von Gruppen, die vorher absolut unauffällig gewesen waren, oder von Einzelgängern, die sich vorher nie etwas zuschulden hatten kommen lassen. Das halbe Land schien sich radikalisiert zu haben.

Velten steuerte den einzigen fertiggestellten Neubau an, in dem auch das Büro seiner Chefin untergebracht war. Zusammen mit drei Anzugträgern nahm er den Aufzug in die fünfte Etage.

»Da sind Sie ja«, begrüßte ihn im Vorzimmer eine blasse Frau in einem grauen Kostüm, ohne dabei vom Bildschirm aufzuschauen. Eine neue Referentin, offensichtlich zu Höherem berufen. »Warten Sie bitte einen Moment, ich mache nur noch das hier fertig. Sie können da vorne Platz nehmen, wenn Sie es wünschen.« Sie zeigte auf eine flache schwarze Polstergarnitur, die genau so auch im Wartezimmer einer Arztpraxis hätte stehen können.

Doch Dr. Meyer winkte bereits aus ihrem Büro. »Herr Velten. Kommen Sie herein, und schließen Sie bitte die Tür.«

Dr. Meyer koordinierte unter anderem die Einsätze des Staatsschutzes mit denen der anderen Abteilungen des Bundeskriminalamtes. Bei ihr liefen zahlreiche Fäden zusammen, und an jedem dieser Fäden hingen vertrauliche Informationen. Nicht wenige hielten sie für die mächtigste Beamtin des gesamten Sicherheitsapparates. Man munkelte, dass nicht einmal die Mitarbeiter ihres eigenen Stabes so ganz genau wussten, wann sie sich wo mit wem und zu welchem Zweck traf. Besprechungen, bei denen die Tür offen blieb, gab es bei ihr grundsätzlich nicht.

Bodentiefe Fenster und leere, strahlend weiße Wände ließen ihr neues Büro seltsam steril wirken. Sie deutete mit der Hand auf die beiden Stühle vor ihrem Schreibtisch.

»Haben Sie Ihren Urlaub gut genutzt?«

»So gut wie möglich«, antwortete Velten ausweichend.

Sie beließ es dabei, nahm die Brille ab, putzte sie umständlich, setzte sie wieder auf. Ihre Haare waren grau geworden, beinahe weiß. Vor zehn Jahren, als Velten seine Stelle angetreten hatte, waren sie noch blond gewesen.

»Wir haben in den nächsten Wochen eine besondere Situation. Mehrere Gefahrenfelder mit ungünstigen Überschneidungen. Ich war in der Sache auch schon eine Etage weiter unten.«

Im 4. Stock wurden die Einsätze und Teams der Abteilung Sicherungsgruppe geplant, die für den Personenschutz bestimmter Mandatsträger zuständig war – den Bundespräsidenten, die Mitglieder des Bundestags und des Bundesrats, des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesregierung.

»Aber fangen wir vorne an. Es geht um Bramberger.«

»Der Bramberger?« Der Bundespräsident? Velten war überrascht.

»Ja. Bramberger macht Urlaub. Einer der Gründe, weshalb wir offiziell mit im Spiel sind. Gefahrenabwehr.«

Urlaube der Schutzpersonen waren besondere Situationen. In Berlin waren die Sicherheitsvorkehrungen eingespielt und erprobt, an Urlaubsorten dagegen mussten entsprechende Konzepte neu aufgebaut werden. Es war nicht unüblich, dass die Sicherungsgruppe bei diesen Gelegenheiten Unterstützung aus anderen Abteilungen bekam.

Soweit Velten wusste, wurde das Team der Personenschützer von Bramberger doch noch immer von Svenja Jenner geleitet. Er hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

»Ihn zieht es in den Norden, auf eine Insel. Juist. Heute in einer Woche wird er dort eintreffen.«

»Ah, Juist. Das ist Nordsee, oder?«

»Ja, eine der Inseln im Wattenmeer, ziemlich weit oben links auf der Karte, fast in den Niederlanden. Sehr ruhig, soll landschaftlich nett sein.« Sie machte eine Kunstpause. »Sie werden es bestimmt mögen.«

Ostfriesland. Spötter behaupteten, Bramberger bleibe im Urlaub am liebsten in Deutschland, weil seine Englischkenntnisse zu schlecht seien, um sich im Ausland zu verständigen.

Ein Reiseziel in Deutschland hatte den grundsätzlichen Vorteil, dass die Sicherheitsmaßnahmen deutlich einfacher zu organisieren waren als bei Urlauben im Ausland. Kein Abstimmungsaufwand mit ausländischen Behörden, weniger Verwaltung und Diplomatie.

Allerdings besaßen Urlaubsziele im Ausland den Vorteil, dass sie sich besser vor den Medien verbergen ließen. Auch wenn die offiziellen Stellen grundsätzlich keine Informationen über Urlaubsziele herausgaben, wurden die Politiker im eigenen Land vor Ort meistens schnell erkannt. Im Zeitalter der Leserreporter waren oft schon nach wenigen Tagen Paparazzifotos in den üblichen Zeitschriften zu finden, was die Sicherheitsmaßnahmen immer aufwendiger machte.

»Bramberger hat vor Jahren schon mal seinen Sommerurlaub dort verbracht, jetzt möchte er wieder dorthin, wahrscheinlich will er in Erinnerungen schwelgen. Er besteht darauf, in dasselbe Hotel wie damals einzuziehen, warum auch immer, es geht uns nichts an. Es ist nicht ideal für uns, aber ich denke, es sollte machbar sein. Sie wissen, dass eine Diskussion mit ihm zu nichts führt.«

Bramberger war innerhalb der Organisation als launische Persönlichkeit bekannt.

»Wir arbeiten mit zwei Teams. Svenja Jenner führt wie bisher das Kernteam, also die unmittelbaren Personenschützer, ihr obliegt die Verantwortung für Bramberger und die direkte Sicherung des Hotels. Sie wird am Samstag mit ihrem Team auf der Insel eintreffen und ab diesem Zeitpunkt die Sicherheitsvorkehrungen koordinieren und verantworten. Sie, Velten, führen ein zweites Team. Ein Unterstützungsteam, um der Urlaubssituation gerecht zu werden. Ihnen obliegen Planung und Konzeption der Sicherheitsmaßnahmen, was die weitere Umgebung vor Ort betrifft. Sie werden bereits morgen nach Juist reisen. Die ersten Tage sind Sie auf sich gestellt. Die Mitglieder Ihres Teams werden im Lauf der Woche zu Ihnen stoßen, sobald es ihre aktuellen Einsätze zulassen.«

»Aha.«

Warum zwei Teams? Da lag noch etwas in der Luft. Die Chefin kramte in ihren Unterlagen.

Svenja Jenner. Es war schade, dass sie sich so aus den Augen verloren hatten. Ihre Karrieren waren eine Zeit lang praktisch im Gleichschritt verlaufen, sogar ihre Beförderungen hatten sie anfangs stets zum gleichen Datum erhalten. Und Svenja war eine gute Polizistin, richtig gut. Sie hatten einige brenzlige Situationen gemeinsam überstanden. Vor allem war es mit ihr nie langweilig gewesen. Mit Bramberger oblag ihr mittlerweile einer der wichtigsten und prestigeträchtigsten Einsätze innerhalb der Organisation. Mit Sicherheit würde sie bald die nächste Karrierestufe erklimmen.

Dr. Meyer skizzierte ihm das Aufgabenspektrum seines Teams: Erfassung möglicher Gefährdungspunkte auf der Insel, Planung möglicher Gegenmaßnahmen, Bewertung der allgemeinen Auffälligkeiten. Kommunikation mit den Kollegen in Uniform vor Ort.

Warum sollte das zuständige Team das nicht selbst übernehmen? Ohne Probleme wäre das Team von Svenja um vier bis fünf Leute zu erweitern gewesen, damit es diese Aufgaben erledigen konnte. Es gab eigentlich keinen Grund, ein zweites separates Team dort hinzuschicken. Das war, vorsichtig formuliert, alles etwas ungewöhnlich. Und, ohne sich selbst zu wichtig zu nehmen, dafür hätte es nicht jemanden mit seinem Dienstgrad gebraucht. Das ergab keinen Sinn.

»Die Vorgehensweise ist … besonders«, bemerkte Velten zögerlich.

»Lassen Sie mich erklären«, entgegnete seine Vorgesetzte. »Manchmal ist es besser, wenn Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt wird. Die Situation ist angespannt, aus zwei Gründen.« Sie sah ihm direkt in die Augen.

»Wie gesagt, Gefahrenabwehr ist einer der Gründe, warum wir den Einsatz mitgestalten. Denn es sind gewisse Hinweise eingegangen. Das tun sie immer, das wissen Sie, aber diese haben eine besondere Qualität. Die Amerikaner haben was abgefangen.«

»Hinweise konkreter Art?«

Informationen abfangen, das taten die Amerikaner andauernd. Aber sie verstanden in der Regel nicht, was sie abgefangen hatten. Schon aufgrund der Sprache. In neunundneunzig von hundert Fällen entpuppte sich ein vermeintliches Issue als Fehler des Übersetzungsprogramms oder als falsche Interpretation einer Redewendung.

»Offenbar hat eine Quelle einen Tipp gegeben«, erläuterte Dr. Meyer. »Dieser Tipp hat zu einer Adresse im Darknet geführt.« Das Darknet war eine Art Untergrundwelt im Internet, das nicht ohne Weiteres zugänglich und weitestgehend anonym war und daher von Kriminellen, aber auch von Oppositionellen in autokratischen Staaten genutzt wurde. »Dort haben die Amis auf einige Nachrichten zugreifen können. Sie waren durch einen Verschlüsselungsalgorithmus gesichert, der jedoch durch die NSA geknackt wurde. Ein Teil dieser Korrespondenz war auf Deutsch und wurde an uns weitergegeben. Darin fand sich das.«

Sie reichte ihm den Ausdruck einer E-Mail. Die Adressen von Absender und Empfänger bestanden aus wirren Folgen von Zahlen und Buchstaben, es handelte sich offensichtlich um Einmal-E-Mail-Accounts.

Die Nachricht bestand aus wenigen Zeilen:

Auftrag Jochen Bramberger schnellstmöglich durchführen. Entgelt wurde akzeptiert und angewiesen. Zweite Hälfte nach Bestätigung seines Todes durch Presseberichte.

»Ein Attentat? Auf den Bundespräsidenten?«

»Vielleicht. Insgesamt müssen wir die Information als potenziell valide einstufen«, erklärte Dr. Meyer. »Es besteht die realistische Möglichkeit, dass ein Auftragsmörder auf Bramberger angesetzt wurde. Weder Absender noch Empfänger haben Zeit- oder Ortsangaben gemacht. Es kann also sein, dass dieser Auftragsmörder während Brambergers Urlaub zuschlagen möchte.«

Ja, in der Gesamtbetrachtung sah das nicht nach einer dieser misslungenen Scherznachrichten aus, die mit großer Regelmäßigkeit eingingen. Dr. Meyer musste auf diese Information reagieren, alles andere wäre eine Pflichtverletzung gewesen.

Aber das war noch kein Grund dafür, dass Verantwortung auf mehrere Schultern verteilt werden musste, wie seine Vorgesetzte sich ausgedrückt hatte.

»Es gibt da noch einen zweiten Punkt, der mir ehrlich gesagt mehr Magenschmerzen bereitet«, fuhr sie etwas leiser fort. »Damit kommen wir zum inoffiziellen Teil Ihres Einsatzes. Sie sollen eine Ermittlung durchführen. Ich habe volles Vertrauen in jede Frau und jeden Mann des Bundeskriminalamts. Aber ich möchte, dass Sie als ein zweiter Teamführer einen unbefangenen Blick auf die Gesamtsituation vor Ort werfen.«

Es war nie gut, wenn die Chefin jemandem so demonstrativ ihr Vertrauen aussprechen musste, denn dann gab es gute Gründe, daran zu zweifeln. Er hatte ein ungutes Gefühl, in welche Richtung das jetzt gehen würde.

»Jenner hat mich angesprochen. Ihr ist seit längerer Zeit aufgefallen, dass die Presse ungewöhnlich gut informiert ist, was Brambergers Aktivitäten angeht. Als Bramberger zum Beispiel um Ostern ein paar freie Tage in den Alpen verbrachte, wurde das schon am ersten Tag in den Medien gemeldet. Erst hatte sie die Hotelleitung im Verdacht, die Information lanciert zu haben, zu Werbezwecken. Das konnte sie damals aber nicht beweisen. Inzwischen ist sie sich sicher, dass Informationen aus internen Quellen abfließen. Und es sind viele Informationen, Informationen unterschiedlicher Art und Qualität, Informationen, die das Sicherheitskonzept betreffen.«

»Sie vermutet eine undichte Stelle? In ihrer eigenen Truppe?«

»Sie sagt, sie würde ihre Hand für ihre Leute ins Feuer legen. Natürlich, das sagen wir alle, und das meinen wir auch so, das müssen wir. Wenn wir einander nicht mehr vertrauen können, fehlt uns die Basis für unsere Arbeit. Jenner vermutet das Leck woanders. Vielleicht Mitarbeiter in der Zentrale, eine Schwachstelle in der Technik, wie auch immer. Tatsache ist, dass sie unter erschwerten Bedingungen arbeiten muss.«

Velten lehnte sich zurück. Seine Ahnung bestätigte sich. Die Chefin sprach das Offensichtliche aus.

»Die Integrität unserer Teams ist entscheidend für unseren Erfolg. Ich möchte, dass Sie Jenners Team einmal unauffällig unter die Lupe nehmen. Nur Sie alleine, Ihr Team wird nicht in diese Aufgabe eingeweiht. Das ist der Kern dieses Einsatzes. Brambergers Urlaub gibt uns für eine begrenzte Zeit die ideale Gelegenheit dazu. Sie, Jenner und ich sind die einzigen Personen, die davon Kenntnis haben. Sie berichten in dieser Angelegenheit aber nur an mich. Informieren Sie niemanden sonst über Ihre Erkenntnisse, nicht einmal Jenner. Sie bittet im Übrigen auch darum, nicht eingebunden zu werden, sie will ihre Leute nicht unnötig verdächtigen. Mit der Ausnahme bei Gefahr im Verzug, natürlich.«

Dr. Meyer schob Velten eine Klarsichthülle mit Unterlagen zu. »Alles Weitere findet sich hier drin. Ihre Fähre geht Morgen um halb elf. Seien Sie pünktlich, das Schiff macht sich nur einmal täglich auf den Weg.«

Ein pelziger Geschmack lag auf Veltens Zunge, ihm war nach einem Schluck Wasser. Kollegen zu bespitzeln hieß, sie zu hintergehen.

»Es soll dort wirklich schön sein. Wenn alles glattläuft, betrachten Sie den Einsatz einfach als eine Verlängerung Ihres Urlaubs.« Zum Schluss lachte Dr. Meyer doch noch, ganz unvermittelt, vielleicht, weil er zu lange nachdenklich geschwiegen hatte. »Aber übertreiben Sie es nicht.«

2

Dienstag, 20. Juni

Die Insel verstecktesich vor ihm. Er stand auf einer lang gezogenen Mole, von deren linker Seite die Fähren nach Juist ablegten, die rechte Seite war für die Fähren zur Nachbarinsel Norderney reserviert. Kalter Wind peitschte die Wellen gegen die Küstenbefestigungen. Tiefe graue Wolken über dem Meer kündigten Regen an. Sommer an der Nordsee.

»Selbst wenn jetzt kein Nebel wäre, könnten Sie Juist kaum erkennen, so flach wie es ist«, erklärte ihm ungefragt eine Frau, die neben ihm stand und auf das Meer hinausblickte. Ihre Sprachmelodie verriet sie als Rheinländerin, ihre Kleidung als wohlhabend. Neben ihr stapelte sich eine große Menge Gepäck.

»Tatsächlich?«

»Sie fahren das erste Mal dorthin, oder?« Sie wartete seine Antwort nicht ab. »Sie werden sich in sie verlieben. Wir sind jedes Jahr dort. Der Werbeslogan der Insel passt da schon echt gut: Es liegt ein Zauber auf ihr.«

»Na dann bin ich mal gespannt«, wich er der rhetorischen Frage, die er jetzt eigentlich hätte stellen müssen, und damit dem weiteren Gespräch aus, fügte aber der Höflichkeit halber an, dass sie sich bestimmt noch einmal über den Weg laufen würden. Verlieben war nicht so seine Sache, nicht in Landschaften, erst recht nicht bei diesem Wetter. Nachdem er seinen Koffer in einem der Gepäckwagen untergebracht hatte, die von der Schiffsbesatzung separat ein- und ausgeladen wurden – ja, ganz sicher, seien Sie mal unbesorgt, hatte der Hafenarbeiter gebrummt –, beeilte er sich, auf die Fähre zu kommen.

Es war erst Mittag, aber hinter ihm lagen bereits sieben Stunden Autofahrt. Er war wie jeden Tag pünktlich um 5:30 Uhr wach geworden. Körperlich wach. Geistig blieb er ohne Sport weiter in einer Art Halbschlaf.

Die Fahrt war weitgehend ereignislos verlaufen. Bei Hannover hatte es einen Stau gegeben und danach noch einen bei Bremen. Der Rest der norddeutschen Tiefebene war mangels Konturen unbemerkt an ihm vorübergezogen.

In den Nachrichten war die Meldung gekommen, dass am Vorabend eine Handvoll Autonome auf einer Demonstration in Münster Autos in Brand gesetzt hatte und dass die Vorsitzende der Partei Rechtsstaat Deutschland daraufhin einmal mehr striktere Sicherheitsgesetze gefordert hatte. Velten sympathisierte mit diesem Vorstoß. Viel zu oft hatte er in den letzten Jahren Sonderbefugnisse einzeln beantragen und richterlich genehmigen lassen müssen. Dennoch war er unsicher, was er von Rechtsstaat Deutschland selbst halten sollte. Die Partei gab es schon länger, aber sie war lange Zeit klein und unbedeutend geblieben. Viele ihrer Mitglieder waren die üblichen Wirrköpfe, wie sie sich in nahezu allen Kleinstparteien finden.

Doch seit knapp zwei Jahren hatte die Partei mit provokanten und öffentlichkeitswirksamen Aktionen massiv Aufmerksamkeit auf sich gezogen und damit die etablierten konservativen Parteien in der Innenpolitik geradezu vor sich her getrieben. Für ihre populistischen Methoden hatte Velten nicht viel übrig. Etwas weniger Alarmismus täte der Sicherheitsdebatte auf jeden Fall gut.

Dann hatte er Musik gehört. Sieben Stunden Autofahrt, sieben Stunden Dire Straits. Die Band seiner Jugend. Endlose Gitarrensoli, die mehr Inhalt transportierten, als Textzeilen es je vermocht hätten. Wenn Mark Knopfler das Tempo immer weiter anzog, war Velten wieder achtzehn Jahre alt, spürte den Glauben von damals, dass es keine Grenzen gab, die Träumer nicht überwinden konnten, dass die Welt eines Tages ein besserer Ort sein würde. In den letzten Wochen hatte er die Musik von damals wiederentdeckt, er hatte ja Zeit genug gehabt, nachdem die Chefin ihn angewiesen hatte, wenigstens die ungenutzten Urlaubstage der Vorjahre in Anspruch zu nehmen. Und die Musik berührte ihn noch immer.

Dr. Meyers Frage ging ihm durch den Kopf. Hatte er den Urlaub gut genutzt? Nein, er war nur froh, irgendwann doch noch die Kurve bekommen zu haben.

Jetzt hatte er ein Burn-out. Das sah jedenfalls die Identität vor, mit der er vorläufig auf Juist arbeiten würde. Demnach war er Manager eines Technologiekonzerns aus dem Westen der Republik, verheiratet, aber in Trennung lebend, keine Kinder. Das war nah genug an der Wirklichkeit dran, dass er sich nicht allzu sehr verstellen musste, und lieferte ihm genug Spielraum, die Rolle bei Bedarf ausbauen zu können.

Bei seinen Außeneinsätzen arbeitete er regelmäßig mit falschen Identitäten. Es war eine Standard-Sicherheitsmaßnahme, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen und sich und den Auftrag besser schützen zu können. Auch bei der Sicherungsgruppe agierte nur ein Teil des Teams als offizielle Personenschützer, der andere Teil verwendete ebenfalls Scheinidentitäten, um einen weiteren, für Außenstehende unsichtbaren Sicherheitsring um die jeweilige Schutzperson aufzubauen.

Genauso würden auch die anderen Mitglieder seines Teams nicht unter ihrem bürgerlichen Namen arbeiten, sobald sie auf Juist ankamen. Dr. Meyer hatte ihm wirklich gute Leute zugeordnet: Für Freitag hatten sich die Techniker angekündigt, Maxi Holmann und Mark Cramer, auch M&M genannt. Am Sonntag würde Bent Gustavson mit seiner Sprengstoffspürhündin Trönje eintreffen, ebenso wie Tom Martin und Jan Singer, zwei Kollegen, die früher bei den Spezialeinsatzkräften gedient hatten. Sie waren nicht nur mit dem Umgang von Sonderausrüstungen vertraut, sondern auch erfahrene Ermittler. Singer war außerdem innerhalb des BKA im Flurfunk relativ bekannt, da er, aufgrund seiner somalischen Wurzeln und regelmäßiger Familienbesuche, der am häufigsten einer Sicherheitsüberprüfung unterzogene BKA-Beamte war.

Die ersten Tage, Mittwoch bis Donnerstag, würde er dagegen allein auf der Insel sein. Das war genug Zeit, um den offiziellen Teil des Einsatzes vorzubereiten. Freitag, wenn M&M ankamen, konnten sie mit der Platzierung der Sicherheitstechnik anfangen. Am Samstagnachmittag würde er mit Svenja die Einzelheiten des Einsatzes besprechen. Montag begann bereits Brambergers Urlaub, zwei Wochen wollte der Bundespräsident auf der Insel bleiben.

Velten war unter den Ersten, die die Fähre betraten, und bekam einen netten Fensterplatz im vorderen Bereich des Schiffes. Unter ihm platschte es an die Bordwand. Feine Wasserperlen benetzten das Fenster, wurden sekündlich größer, bis schließlich schwere Tropfen gegen die Scheibe schlugen. Das Unwetter war angekommen. Über dem Meer wurden die segelnden Möwen von den Windböen hin und her getrieben. Es sah nicht so aus, als störten sie sich daran.

Die Überfahrt sollte bis zu zwei Stunden dauern. Velten hatte sich vorgenommen, währenddessen zu arbeiten. Gerade als er sich von dem Naturschauspiel gelöst und dazu durchgerungen hatte, das Notebook aus der Tasche zu nehmen, hörte er die Stimme der Frau, die ihn bereits an der Mole angesprochen hatte.

»Sind die Plätze noch frei?« Gerne hätte er gelogen, aber ihm fiel keine plausible Ausrede ein.

»Ja klar, nur zu.«

Sie und ihre Kinder, eine Tochter im Teenager- und ein Sohn im Grundschulalter, nahmen auf der Sitzbank auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz, der Vater setzte sich neben ihn. Spätestens jetzt hatte sich die Idee mit dem Arbeiten erledigt. Was soll’s, man muss es so nehmen, wie es kommt, dachte er.

Der Familie war die Vorfreude auf den Urlaub anzumerken. Sie waren unbeschwert, fröhlich und freundlich, aber auf unbestimmte Art weltfremd. Bestimmt eine Lehrerfamilie.

»Und, wohnen Sie im Dorf oder im Loog?«

»Entschuldigung, was?«

»Auf Juist. Haben Sie was im Loog oder im Dorf genommen?«

»Äh … ich wohne im Hotel«, antwortete Velten ausweichend.

Die Familie lachte.

»Wusste ich doch, dass Sie neu hier sind.«

»Ertappt«, entgegnete Velten und hob scherzhaft die Hände, als wolle er sich ergeben. »Ich bin zum ersten Mal überhaupt an der Nordsee. Was sollte man denn sonst noch so über die Insel wissen?«

Die Frau klärte ihn über die grobe Aufteilung der Insel auf. Juist war im Prinzip eine große, sehr schmale Sandbank, von Westen nach Osten fast 20 Kilometer lang, bei einer maximalen Breite von knapp 900 Metern auf Höhe des Dorfes. Die Insulaner teilten ihr Dorf in einen westlichen Teil, das sogenannte Loog, und den östlichen Teil, den sie einfach nur Dorf nannten. Loog und Dorf, ursprünglich getrennte Siedlungen, waren inzwischen über die dicht bebaute Billstraße miteinander verbunden.

Jetzt übernahm der Vater die Rolle des Fremdenführers: »Eigentlich beschreibt man alle Wege vom Dorf oder Loog aus. Wenn man nach Westen geht, kommt man hinter dem Loog erst einmal an einen großen See, den Hammersee. Auf ihn folgt ein kleines Waldgebiet, sehr niedlich, viele gedrungene, beinahe verwunschen aussehende Bäume, und dann, ganz am Westende, die sogenannte Domäne Bill. Dort war früher einmal das Hauptdorf, das aber vor Jahrhunderten bei einer Flut zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Heute befindet sich dort nur noch ein Ausflugslokal. Da gibt es übrigens tolle selbst gemachte Stuten. Die müssen Sie probieren!«

»Papa ist Geschichtslehrer. Nur für den Fall, dass Sie sich über den Unterricht wundern sollten«, erklärte die Tochter, ohne vom Display ihres Handys aufzuschauen. Sie hatte blonde Haare, Sommersprossen und die aufgesetzte Coolness einer Vierzehnjährigen.

»Vorsicht, was Sie sagen, junge Dame«, warnte die Mutter.

»Sie hat ja recht. Ich sage immer, ich bin ein beruflicher Besserwisser«, beschwichtigte der Vater. »Ich habe halt die Lehrerkrankheit. Meine Frau ist übrigens auch Lehrerin. Grundschule. Unsere Kinder haben es wirklich nicht leicht.«

Das stimmte sicherlich, der Mann war aber trotzdem sympathisch.

»Wenn man von der Mitte der Insel, also vom Dorf aus nach Osten geht, kommt man nach ein paar Kilometern zum Flughafen. Dahinter kommt dann noch ein großes Naturschutzgebiet, das nicht betreten werden darf. Nur am Strand kann man noch weiter bis zum Ostende der Insel gehen, zum sogenannten Kalfamer, allerdings erst wieder ab August, wenn das Ende der Brutzeit erreicht ist. Ja, und das wären auch schon die wichtigen Ecken der Insel. Es gibt nicht viele Wege, Juist zu erkunden. Dafür ist die Insel schlicht zu schmal.«

»Danke«, sagte Velten. Sehr gut, dachte er. Das würde den Einsatz einfacher machen.

»Aber die Wege sind alle sehr lang, sehr lang«, warf die Tochter sarkastisch ein. Der Vater streckte ihr wortlos die Zunge raus, sie grinste.

Die Mutter ging nicht darauf ein, sondern pries erneut die Vorzüge der Insel, wo das Aufkommen von Hektik nahezu unmöglich sei. Da Autos auf Juist nicht erlaubt waren, war man entweder zu Fuß unterwegs, oder man mietete sich ein Fahrrad. Nicht einmal für schwere Lasten wurden Ausnahmen vom Autoverbot gemacht. Dafür gab es Pferdefuhrwerke, die auch als öffentliche Transportmittel zwischen Dorf, Loog und Domäne Bill sowie Dorf und Flughafen pendelten. »Man lernt zu akzeptieren, dass alles seine Zeit braucht, jeder Weg, jede Besorgung. Zeit ist eben ein Wert an sich, und auf Juist kann man diesen Wert genießen.«

Das waren Velten eigentlich zu viele Lebensweisheiten, aber er hörte trotzdem interessiert zu. Die beiden wussten eine Menge über die Insel, was für seinen Einsatz wichtig werden konnte. Hin und wieder schaltete sich auch die Tochter ein und gab einen spitzen Kommentar zu ihren Eltern ab, den diese aber an sich abprallen ließen.

»Wir sind übrigens die Florians. Wie der Vorname, aber zu viert«, sagte der Vater. Unverkennbar schwang eine gehörige Portion Stolz mit. Eine richtig heile Familie. Dass es so etwas tatsächlich gab, sinnierte Velten. Wie es wohl wäre, Familienvater zu sein? Könnte er das auch? Er scheiterte bereits bei dem Versuch, sich das vorzustellen.

Plötzlich knirschte es unter dem Kiel der Fähre, eine Bodenberührung mit dem Schlick des Wattenmeeres. Langsam rutschte das Schiff wieder in die Fahrrinne zurück. Die Florians erzählten, dass vor einigen Jahren tatsächlich einmal eine Fähre stecken geblieben war und die Passagiere zwölf Stunden auf die nächste Flut warten mussten, bis es weitergehen konnte. Das Wattenmeer zwischen Juist und dem Festland war tückisch. Nur bei Flut konnte die Fähre die schmale und gewundene Fahrrinne nutzen, und die Kapitäne mussten dabei möglichst exakt innerhalb der Begrenzungskennzeichen bleiben.

»Ich denke, ein wenig ist das von den Insulanern so gewollt«, sagte Florian. »Es fühlt sich so an, als reise man zu einer eigenen, abgeschiedenen Welt, die mit allem anderen gar nicht so viel zu tun haben möchte.«

Die Mutter lächelte selig, die Tochter verdrehte die Augen.

Als sie den Hafen erreichten, reihte Velten sich in die Schlange der übrigen Passagiere vor der schmalen Landungsbrücke ein. Die zehn Minuten hätte ich auch noch sitzen bleiben können, dachte er, während er sich im Pulk mit den Entspannungsurlaubern einen weiteren Meter nach vorne schob und die Absurdität seiner Situation erkannte. Na ja, so fiel er wenigstens nicht auf.

An Land wuchtete er seinen Koffer aus einem der Gepäckwagen heraus, die tatsächlich direkt nach dem Anlegen an Land gebracht worden waren, und hob ihn in einen bereitstehenden Handkarren, die hier, warum auch immer, Wippen genannt wurden. Ein lustiges Völkchen, diese Ostfriesen. Die Wippe ließ sich erstaunlich leicht ziehen, und bereits nach zehn Minuten erreichte Velten das Haus am Meer. Das größte Hotel der Insel thronte malerisch auf den großen Dünen und überragte wie ein Schloss das unter ihm liegende Dorf. Kein Wunder, dass Bramberger genau dieses Hotel haben wollte.

Veltens Zimmer war ein schmaler Schlauch, aber für eine Person ausreichend groß. Gegenüber dem Bett stand ein kleiner Schreibtisch samt Stuhl, ein Flachbildfernseher war an die Wand gedübelt, den Rest des freien Platzes beanspruchte eine überdimensionierte Standleuchte. Das Fenster bot einen fantastischen Blick auf die freie Nordsee. Wenn er von hier aus immer nach Norden segelte, käme er direkt in Norwegen an, oder aber, wenn er sich beim Kurs um wenige Grad verrechnete, am Nordpol.

Die Suite des Bundespräsidenten war eine Etage über ihm, in der obersten der drei Etagen. Mit seinem Stab und den Personenschützern würde Bramberger die Zimmer des gesamten Flures in Anspruch nehmen.

Es wurde Zeit, mit der Arbeit anzufangen. Bramberger würde sich sicherlich viel im öffentlichen Raum aufhalten, der nur schwer zu hundert Prozent kontrollierbar war. Die Abwehr spontaner Störer, also von Leuten, die ihn erkannten und bedrohten oder vielleicht sogar körperlich angriffen, war eine Routineaufgabe des operativen Personenschutzes, damit musste er sich nicht befassen.

Das Erkennen und Vereiteln echter Attentatspläne war ungleich komplexer. Dabei waren die Möglichkeiten der Prävention leider nach wie vor überschaubar, da hatten es die Dienste anderer Staaten deutlich einfacher. Wenn der amerikanische Präsident unterwegs war, sperrte der Secret Service die anliegenden Straßen und schweißte sämtliche Kanaldeckel zu, um mögliche Bombenanschläge zu vereiteln. So weit gingen die Befugnisse der Personenschützer in Deutschland bei Weitem nicht.

Aber ob man ein Attentat so wirklich verhindern konnte? Das Attentat durch einen fanatisierten Einzeltäter, der auf eigene Faust und aus persönlichem Groll handelt, lässt sich im Vorhinein nur schwer erkennen. Viele dieser Laien scheiterten zwar an der Umsetzung ihrer Pläne, weil sie den operativen Personenschutz nicht überwinden konnten, oder schlicht aufgrund fehlenden Know-hows. Trotzdem waren sie gefährlich, da sie teilweise ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit agierten. Die schlimmsten Beispiele dieser Art, und nicht nur deshalb der Horror aller Sicherheitsbehörden, waren Selbstmordattentäter.

Den gezielten Anschlag eines professionellen Killers, oder vielleicht gar eines Killerkommandos, konnte man schlicht nicht verhindern, da war sich Velten sicher. Und bei der abgefangenen Nachricht, die Dr. Meyer erwähnt hatte, sprachen allein die Rahmenbedingungen schonfür einen Profi: Dark Web, Verschlüsselung, Einmal-E-Mail-Adressen, vereinbartes Entgelt. Darum wählte er einen anderen Ansatz.

Ein Profi benötigte nicht nur einen Anschlags-, sondern auch einen Fluchtplan. Es galt also, die Chance einer unbemerkten Flucht von Juist oder eines erfolgreichen Untertauchens dort auf nahezu null zu drücken. Dafür war Juist als Insel nahezu perfekt: Eine Insel konnte man abschirmen, kontrollieren, die Anzahl der zu beachtenden Parameter war eingeschränkt.

Velten breitete die Inselkarte aus, die er am Vortag mit einem Plotter auf DIN A0 hatte vergrößern lassen. Die Insel war zwar übersichtlich, aber ohne Auto waren die zurückzulegenden Entfernungen in der Tat nicht zu unterschätzen. Er würde je einen Tag für den Westen und Osten der Insel brauchen, um sich einen groben Überblick zu verschaffen. Dann blieb am Freitag noch genug Zeit, die Ergebnisse zusammenzufassen und sich tiefer gehende Gedanken zum Sicherheitskonzept zu machen. Drei Tage intensiv eine Urlaubsinsel erkunden: kein übler Einstieg in einen Einsatz.

Für den heutigen Tag war neben der Erkundung des Dorfes nur ein Termin bei Kommissar Jepsen geplant, der die kleine Polizeiwache in der Carl-Stegmann-Straße leitete. Es wurde Zeit, ihn in die Urlaubsplanung des Staatsoberhauptes mit einzuweihen.

Velten ging zu Fuß, natürlich. Es war ja nur knapp ein halber Kilometer. Der Spaziergang führte ihn wieder mitten durch das Zentrum des Dorfes. Die Leute, die ihm entgegenkamen, waren meist mittleren Alters, einige Familien, dazu ein paar wenige, meist sportliche Rentner. Man trug Windjacken über dem Hemd oder der Bluse, gerne kombiniert mit einer Sonnenbrille.

Velten passierte die Inselkirche mitsamt ihrem separaten Turm, der ihn wegen seines seltsamen Betonunterbaus irritierenderweise an eine Rakete erinnerte, und konnte am Ende der Straße bereits sein Ziel sehen. Ein roter Backsteinbau, wie eigentlich alle Häuser hier, nur das unauffällige blaue Schild verriet, dass es sich um eine Polizeiwache handelte.

»Moin.«

Als sich Velten dem Inselsheriff vorstellte, war dieser alleine auf der Wache. Sein Kollege sei mit dem Fahrrad im Loog, wo ein Pferdefuhrwerk mit einem Fahrrad kollidiert sei. Klaus Jepsen sah aus, wie Velten sich einen typischen Inselsheriff vorgestellt hatte: zwei Meter groß, strohblonde Haare, ein wettergegerbtes Gesicht. Er strahlte eine natürliche Autorität aus, die man in keinem Führungsseminar erlernen konnte.

Der Hüne führte ihn in ein karges Büro. Auf den beiden Schreibtischen lag je ein Notebook, an der Wand hing eine schwarz-weiße Bahnhofsuhr, darunter ein Kalender. Das Fenster bot einen Blick auf eine Wildwiese, dahinter lag der dem Wattenmeer zugewandte Deich.

»Ein Kriminalhauptkommissar. Aus der Hauptstadt. Na schau mal einer an.«

Bei der Bemerkung kam sich Velten vor wie ins 19. Jahrhundert zurückversetzt, wo er als preußischer Bote der Provinz die Ankunft des Kaisers ankündigte. Na ja, die Wirklichkeit war nicht weit davon entfernt.

»Wir möchten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich«, erklärte Velten. »Wenn es gut läuft, erfährt die Öffentlichkeit erst nach Brambergers Abreise durch eine Presseerklärung, dass er seinen Urlaub auf Juist verbracht hat. Der Personenschutz wird sich um alles Notwendige kümmern. Es ist uns nur wichtig, dass Sie schon einmal grundsätzlich Bescheid wissen, falls wir doch Ihre Unterstützung benötigen sollten.«

Jepsen hörte aufmerksam zu, die Arme blieben vor der Brust verschränkt. »Wie ist das genau von Ihnen vorgesehen? Wir tun so, als wäre nichts, sind aber für Sie eine Art Hilfspolizei auf Abruf? «

Genau. Aber er hatte es freundlicher verpacken wollen.

»Wir machen unseren Job, Sie machen Ihren Job«, antwortete Velten freundlich. »Die nächsten zwei Wochen werden so ablaufen wie immer. Abgesehen davon, dass Sie temporär einige Kollegen vom Festland bekommen, offiziell als allgemeine Unterstützung.«

»Also kein Ausnahmezustand?« Jepsen griff nach seiner großen Teetasse.

»Wie gesagt, wenn alles gut läuft.« Velten skizzierte Jepsen die abgefangene E-Mail. Diese Information sei vertraulich zu behandeln. Hoffentlich nahm Jepsen den Vertrauensbeweis an. »Sie kennen die Insel am besten. Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Ihnen etwas Ungewöhnliches auffällt. Egal was.«

»Okay.« Jepsen legte beide Hände um seine Tasse. »Ich weiß, dass das nicht die Liga ist, in der wir vom Dorf mitspielen können. Wir machen das mal so, wie Sie vorschlagen.«

Gerne hätte er die Gedanken seines Gegenübers gelesen, doch Jepsen verzog keine Miene. Velten dachte, dass er gegen ihn niemals Poker spielen wollte. Der Handschlag zum Abschied war kurz und kräftig.

Am Nachmittag stand für Velten das Erkunden der näheren Umgebung auf dem Programm. Er ließ sich durch das Städtchen treiben, wie er das Hauptdorf für sich nannte. Ja, es war nett anzuschauen. Kleine Gassen, viel roter Klinker, rote oder dunkle Dachziegel. An vielen Häuserwänden fanden sich Schaukästen mit Angeboten für Ferienwohnungen, meistens mit dem Hinweis, dass alle Zimmer zurzeit belegt waren. Zwei Mini-Supermärkte, einige Tante-Emma-Läden, in denen man morgens Brötchen und die Zeitung holte. Im Souterrain eines Wohnhauses wurden gemäß Aushang wochentags zwischen acht und zehn Uhr Deichkäse, Sanddornmarmelade, Nordseeschinken und andere kulinarische Spezialitäten verkauft. Rund um das Zentrum wechselten sich Nippesläden, die Teetassen mit Leuchtturm- oder Möwenmotiven, Plüschrobben oder hölzerne Dekoartikel mit maritimen Sinnsprüchen anboten, mit Geschäften für hochpreisige Mode ab.

Nur wenige flache, gedrungene Friesenhäuser erinnerten an eine Zeit, in der das Leben auf Juist noch arm und entbehrungsreich gewesen war, und verströmten gleichzeitig das wohlige Flair einer Art Nordseeidylle. Die Straßen waren sauber, die Grünflächen gepflegt. Inzwischen lebten die Insulaner eindeutig ganz gut vom Tourismus.

Am Kurplatz befand sich ein mit einer steinernen Brüstung versehener Teich, an dem Kinder mit ihren Vätern Modellschiffe fahren ließen. Gegenüber lächelte einladend eine Kneipe, als ob sie auf ihn gewartet hätte.

Warum denn nicht?