Not My Problem - Ciara Smyth - E-Book

Not My Problem E-Book

Ciara Smyth

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Beschreibung

Young-Adult mit Coming-of-Age und Slow-Burn-Romance: queer, bissig und voller Humor. Aideen hat viele Probleme, die sie nicht lösen kann. Doch als sie die Musterschülerin Meabh Kowalska bei einem Zusammenbruch beobachtet, sieht sie eines, das sie tatsächlich lösen kann: Sie kann ihr dabei helfen, ihrem erdrückenden Stapel außerschulischen Aktivitäten zu entkommen – indem sie Maebh die Treppe runterschubst. Problem? Gelöst! Der verstauchte Knöchel ist die perfekte Ausrede, um etwas kürzer zu treten. Doch diese "gute Tat" bleibt nicht unentdeckt und nach und nach bitten immer mehr um Aideens Hilfe – doch die Probleme anderer zu klären, wird ihre eigenen nicht lösen. Dieses Schuljahr voller gegenseitiger Gefallen, unüberlegter Scherze und einer unerwarteten Chance auf Liebe könnte aber der Anstoß für sie sein, um endlich damit anzufangen. Derry Girls trifft Sex Education: Diese queere Coming-of-Age-Geschichte der Autorin von "Küsse im Sommerregen sind auch nur nass" ist ironisch, vielschichtig und unbeirrbar ehrlich. Perfekt für Fans von Becky Albertalli und Nina LaCour.    

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Seitenzahl: 476

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Ein Hinweis zu Beginn

Not my Problem ist ein fiktives Werk, doch es behandelt Themen,die potenziell triggernd wirken können.

Eine Auflistung dieser Themen (Achtung, Spoiler!)sowie mögliche Hilfestellen findet ihr hinten im Buch.

Euer Magellan Verlag

CIARA SMYTH

NOT MY PROBLEM

Aus dem Englischen vonJessika Komina und Sandra Knuffinke

Für Darren – für alles.

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Danksagung

Content Note

1

Alles fing mit Meabh Kowalskas Ausraster in der Mädchenumkleide an. Glaubt mir, ihr kennt alle eine Meabh Kowalska. Eine Ober-Streberin, die keine anderen Hobbys hat, als überall die Beste zu sein. Ein Mädchen, das später entweder mal die Welt regiert oder zur Superschurkin wird und sie komplett in die Luft jagt.

Oder beides.

Sie weinte. Oder nein, weinen trifft es nicht ganz. Sie wälzte sich heulend und fluchend auf dem Boden. Ihr blasses Gesicht hatte rote Flecken bekommen und sie hämmerte mit beiden Fäusten auf die Fliesen. Ein richtiger Ausraster eben, das volle Programm. Anscheinend dachte sie, sie wäre allein.

Aber Moment, ich greife zu weit vor. Eigentlich ging es nämlich schon eine Stunde vorher in der Turnhalle los, wo unsere Stufenleiterin Ms Devlin, die Englisch und Sport unterrichtete (und Letzterem galt ihre wahre Liebe, da zogen Emily Dickinson und Shakespeare einfach den Kürzeren), nach der Anwesenheitskontrolle noch ein paar organisatorische Ankündigungen machte und wir dabei wie immer auf diesen riesigen Gymnastikbällen sitzen mussten. Wozu waren diese Dinger eigentlich ursprünglich mal gedacht? Für den Fall, dass eine Horde Riesen Lust auf Völkerball kriegt?

»– und darum findet Mrs McKeevers Unterricht ausnahmsweise in Raum 103 statt, nicht 207. Wenn ihr für das Musical im nächsten Halbjahr vorsingen wollt, könnt ihr euch in die Liste eintragen, die … na, irgendwo wird sie schon hängen. Fragt am besten Mr Smith, der weiß normalerweise Bescheid in diesen –«

Ich rollte den Ball unter meinem Hintern hin und her und stieß damit auf der linken Seite jedes Mal gegen Hollys. Anstatt zuzuhören, grübelte ich hauptsächlich darüber nach, wie seltsam Mum an diesem Morgen drauf gewesen war. Sollte ich ihr vielleicht schreiben und fragen, ob alles in Ordnung war?

»Ich glaube, ich geb Jill mal meinen Artikel zu lesen, vielleicht hat sie ja noch ein paar Verbesserungsvorschläge«, sagte Holly. »Falls sie sich lange genug von diesem schmierigen Neandertaler losreißen kann, den sie als ihren Freund bezeichnet.«

Wir spähten rüber zu Jill und Ronan, der geschätzte zwei Sekunden davon entfernt war, ihr seine Zunge ins Ohr zu stecken. Die beiden waren seit drei Wochen zusammen, und ich hatte keine Ahnung, was sie an dem Typen fand. Das ging Holly offenbar genauso. Im Grunde hatte ich aber gar nichts dagegen, dass Jill dadurch weniger Zeit mit dem einzigen Menschen verbrachte, der mich tatsächlich mochte. Jill konnte schließlich mit jedem rumhängen. Ich hatte nur Holly.

Ich hüpfte ein bisschen mit meinem Ball auf und ab, bis Ms Devlin mir einen von ihren berüchtigten »Gleich setzt’s was«-Blicken zuwarf, also hielt ich lieber still und presste stattdessen so fest die Finger auf das Gummi, dass die Kuppen weiß wurden.

Ob ich es hinkriegen würde, in meinem Rucksack eine Nachricht zu schreiben? Verstohlen schob ich die Hand durch den offenen Reißverschluss und wühlte nach meinem Handy.

»Und zu guter Letzt: Wie ihr ja alle wisst, wird – Aideen? Suchst du was Bestimmtes in deinem Rucksack?«

Ms Devlin konnte echt so eine sarkastische blöde Kuh sein.

»Ja, mein Handy, aber ich dachte, es wäre vielleicht unangebracht, es jetzt rauszuholen.«

Neben mir hörte ich Holly verhalten prusten.

»In der Tat. Ich würde sagen, die eine Minute kann dein Handy noch warten. Und euer Vorspiel übrigens auch, Ronan.« Betont angewidert schüttelte sie den Kopf, während Ronan mit seinem Ball ein paar Zentimeter von Jill wegrollte und beleidigt die Hände in die Taschen schob. »Was ich jedenfalls sagen wollte, ist, dass in drei Wochen die neue Schülervertretung gewählt wird und ihr unbedingt eure demokratische Pflicht erfüllen solltet, liebe Mädels. Immerhin sind für euer Wahlrecht jede Menge mutige Frauen gestorben, also ist es ja wohl das Mindeste, dass ihr es auch wahrnehmt. Und was euch angeht, liebe Jungs: Da ihr ja nun mal mit einem ziemlichen Vorsprung ins Rennen gestartet seid, dürft ihr meinetwegen auch gern mal eine Runde aussetzen.«

Ein paar Jungs warfen einander entrüstete Blicke zu.

»Ms Devlin! So was können Sie doch nicht sagen!«, protestierte Ronan.

Ms Devlin sah ihn einfach nur an und wartete auf eine Erklärung, warum sie so was denn nicht sagen könne.

»Das ist … voll unfair.«

Ms Devlin schien nicht überzeugt von seiner stichhaltigen Argumentation.

»Tja, hoffen wir, dass wenigstens die Kandidatinnen ein gewisses Maß an Eloquenz mitbringen. Ich weiß auch nicht, das kam mir gerade so in den Sinn.«

Ronan schluckte widerwillig seine Retourkutsche runter und schmollte. Hallo? Der müsste doch wissen, wie Ms Devlin tickt!

»Wo war ich? Ach ja, also die Wahl findet Ende des Monats statt, und die Schulsprecherin, für die ihr euch entscheidet, wird euch bis zu eurem Abschluss begleiten, also denkt bitte erst mal nach, bevor ihr euer Kreuzchen macht. Ich will nicht irgendeine Dumpfbacke in der Konferenz sitzen haben, die schulfreie Freitage fordert, ist das klar? Nur, weil jemand euch weiszumachen versucht, er könnte etwas durchsetzen, was sich in euren Ohren ganz gut anhört, heißt das nämlich noch lange nicht, dass es auch nur ansatzweise möglich ist. Und am Ende steht ihr dann da und habt eine Nulpe gewählt, die auch sonst nichts auf die Reihe kriegt.«

Meabh Kowalskas Hand schoss in die Höhe.

Holly lehnte sich zu mir rüber und flüsterte: »Die armen mutigen Frauen, die gestorben sind, damit wir Meabh Kowalska dazu auserwählen können, unseren Lehrern noch zwei weitere Jahre in den Arsch zu kriechen.«

Ich kicherte. Aber echt. Diese ganze Wahl war doch sowieso reine Formsache. Erstens war Meabhs Vater der Schulleiter von der St. Louise’s und zweitens könnte ich ums Verrecken niemanden beim Namen nennen, der, seit ich an dieser Schule bin, in der Schülervertretung war. Diese Wahl interessierte einfach niemanden. Meistens meldete sich sowieso nur eine einzige Person freiwillig für den Posten. So viel zusätzliche Arbeit, die sich kein bisschen auszahlte, außer dass man vielleicht ein paar Unterrichtsstunden verpasste – und was hatte man wiederum davon, wenn man in dieser Zeit trotzdem mit Lehrern rumhängen musste?

»Ja, Meabh?«, sagte Ms Devlin ganz ohne den resignierten Blick, den viele andere Lehrer bekamen, wenn sie Meabh aufriefen.

Meabh stand auf.

»Achtung, jetzt kommt wieder ’ne Ansprache«, raunte Holly mir ins Ohr, und ich konnte förmlich hören, wie sie dabei die Augen verdrehte.

»Ich würde nur gerne kurz ein paar Worte sagen.«

Allgemeines Aufstöhnen.

»Mund halten, allesamt«, blaffte Ms Devlin. »Sonst lasse ich euch direkt vor der ersten Stunde noch ein paar Runden joggen und dann sitzt ihr gleich neben eurem Schwarm und müffelt nach Schweiß.«

Auf einen Schlag fiel uns allen wieder ein, wie sehr wir Ms Devlins Zorn fürchteten, und es wurde so abrupt still, als hätte sie eine Stummtaste gedrückt. Sie war eine von diesen Lehrerinnen, mit denen man durchaus Spaß haben konnte, aber sobald man es zu weit trieb … tja, was dann passierte, hatte sich noch nie jemand auszutesten getraut. Die vorangehenden Drohungen jedenfalls prognostizierten stets ein unmenschliches Ausmaß an sportlicher Betätigung.

Meabh, die kurz in sich zusammengesackt war, richtete sich wieder auf.

»Ich kandidiere dieses Jahr als Schulsprecherin, darum würde ich euch gern um Unterstützung bitten und euch über meine Wahlziele informieren. Erstens möchte ich mit einer Umweltinitiative unter anderem die Unmengen an Müll reduzieren, den wir hier an der Schule verursachen. Zweitens plädiere ich dafür, dass in der Oberstufe Polnisch als Fremdsprache eingeführt wird – wie ihr ja wisst, hat meine Familie polnische Wurzeln und außerdem gibt es eine große polnische Gemeinde in dieser Stadt. Ganz abgesehen davon, dass polnischstämmige Menschen insgesamt 2,57 Prozent der Bevölkerung Irlands ausmachen. Und drittens möchte ich ein paar Kernprobleme beim Aufnahmeverfahren unserer Schule ansprechen, die zu einer besorgniserregend homogenen Schülerschaft geführt haben. Ich würde mich jedenfalls sehr über eure Stimme freuen, damit ich mich um die Themen kümmern kann, die uns allen wirklich am Herzen liegen. Meine Tür steht euch immer offen, aber falls ihr direkt noch Fragen habt, beantworte ich sie auch gerne sofort.«

Erwartungsvoll sah sie sich um und wirkte dabei in etwa so geduldig wie eine Mutter, die darauf wartet, dass ihr vierjähriges Kind sich selbst die Schuhe zubindet. Ms Devlin hatte zwar für Ruhe gesorgt, aber sogar sie konnte niemanden zum Zuhören zwingen. Ich folgte Meabhs Blick von einem Nägelkauer zu einer Haarsträhnenzwirblerin und sah, wie sich ihre Augenbrauen zusammenzogen. Sie hatte sich in ihrer Ansprache merklich um Lockerheit bemüht, was mich hauptsächlich deswegen beeindruckte, weil ich genau wusste, dass sie unsere Zustimmung am liebsten aus uns rausgeprügelt hätte.

»Diese Ideen sind bewundernswert ambitioniert und dabei trotzdem kein absurder Scheiß, Meabh. Danke.« Mit diesem Kraftausdruck riss Ms Devlin die gesamte Stufe aus ihrer Trance und erntete leises Gekicher. Meabh ließ sich zähneknirschend zurück auf ihren Ball plumpsen, zog einen Block aus der Tasche und fing an, wild darauf rumzukritzeln, während Ms Devlin uns entließ.

»Wir sehen uns in der zweiten Stunde. Samt Helmen und Schienbeinschonern. Ausreden lasse ich nicht gelten.«

Beim letzten Satz sah sie mich an, und ich deutete fragend auf mich, bevor ich mich übertrieben umblickte, als müsste sie mich doch ganz sicher verwechseln. Ms Devlin verdrehte die Augen.

Ich packte Holly beim Arm und zerrte sie mit nach draußen in die Kälte.

»Mann, da ist Queen Meabh ja mal wieder zur Höchstform aufgelaufen«, schnaubte sie, während wir über den Sportplatz Richtung Hauptgebäude stapften. »Damit ich mich um die Themen kümmern kann, die uns allen wirklich am Herzen liegen«, äffte sie sie mit schriller Piepsstimme nach. »Also, wenn sie das ernst meinen würde, müsste sie uns ja wohl mindestens gefälschte Ausweise und Festival-Tickets fürs Electric Picnic besorgen.«

»Das wär doch mal ’ne Idee«, stimmte ich ihr zu. »Statt Flugblättern und Buttons könnte sie Klausurenlösungen und kleine Tütchen mit Gras verteilen.«

Ich holte mein Handy raus und guckte nach, ob Mum mir inzwischen geschrieben hatte. Nein. Ich presste von beiden Seiten die Fingerspitzen gegen meinen Unterkiefer, wo die ganze Anspannung saß, und fand einen schmerzhaften Knoten. Wer hätte gedacht, dass es so was wie Gesichtsknoten überhaupt gibt?

Holly griff nach meiner Hand, drückte sie und sah mit ihren großen blauen Augen auf mich runter.

»Hältst du mir in Erdkunde einen Platz frei?«, bat sie. »Jill hat sich anscheinend mal kurz aus Ronans Fängen befreit.«

»Als ich dir das letzte Mal einen Platz freigehalten hab, hast du dich am Ende doch neben Jennifer Murphy gesetzt und ich war komplett alleine.«

Dieses Jahr hatten wir ziemlich viele Stunden zusammen, weil wir in der zehnten Klasse, die hauptsächlich der Orientierung diente, noch nicht nach Grund- und Leistungskursen eingeteilt worden waren. Trotzdem hatten wir bislang noch nicht mehr Zeit miteinander verbracht als im Jahr davor.

»Die hat doch gar nicht mit uns Erdkunde«, erwiderte Holly schmollend.

Darum ging es ja mal so gar nicht. Aber es spielte auch keine Rolle. Ich musste Holly keinen Platz neben mir freihalten, weil sich da sowieso niemand freiwillig hinsetzte.

»Danke, danke, danke«, trällerte sie und drückte mir ein Küsschen auf die Hand. Für eine Sekunde erhob sich ein Flattern in meinem Bauch, das allerdings gleich darauf von dem vertrauten Dämpfer abgelöst wurde, während ich ihrem wunderschön gewellten roten Pferdeschwanz hinterhersah, der im Laufen hin und her schwang.

Ich nahm mein Handy und schrieb Mum.

AIDEEN

Alles ok?

Wie erwartet tauchte Holly erst auf den letzten Drücker bei Erdkunde auf und plapperte immer noch mit Jill über ihren blöden Artikel, als die beiden reingehuscht kamen und sich auf zwei freie Plätze in der ersten Reihe setzten. Unter dem Tisch schrieb sie mir eine Nachricht: Sie hätte keinen großen Aufriss veranstalten wollen und es unhöflich gefunden, Jill einfach stehen zu lassen. Nachvollziehbar.

Mum meldete sich nicht.

Eigentlich sollten wir im Buch einen Absatz über Plattentektonik lesen und Fragen dazu beantworten. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit versuchte, mir all die völlig normalen Sachen vor Augen zu führen, die Mum bestimmt gerade machte, und beruhigte mich damit, dass diese Liste viel länger war als die der Sachen, von denen ich hoffte, dass sie sie nicht machte. Womit es statistisch wahrscheinlicher war, dass sie irgendwelche von den Sachen machte, die in Ordnung waren. Spätestens in ihrer Kaffeepause würde sie mir schon antworten.

Sogar du mit deinem beschränkten Wissen über Statistik solltest wissen, dass es so nicht funktioniert.

Ich ignorierte die fiese Stimme in meinem Kopf, behielt mein Handy aber die gesamte Stunde über in den Rockbund geklemmt, damit ich es vibrieren fühlte, sobald Mum sich meldete.

Mum meldete sich nicht.

Und ich beantwortete alle Fragen aus dem Buch falsch.

2

Eine Stunde später stand ich schon wieder vor Ms Devlin. Diesmal hatte ich einen Zettel in der Hand und sie einen Holzstock. Na schön, wenn man’s genau nimmt, heißt das Ding Camán und kommt beim Camogie zum Einsatz. Für alle diejenigen von euch, die wie ich Sport langweilig finden, weil es eigentlich immer nur um irgendwelche Stöcke und/oder Bälle geht: Auch das ist wieder so ein Stock-und-Ball-Spiel. Für Ms Devlin und ihre Mädchenmeute ging es dabei allerdings um Leben und Tod.

»Das lese ich nicht«, verkündete Ms Devlin. Kurzgewachsen, käseweiß und kompakt stand sie in ihrer typischen »Komm mir ja nicht mit deinem Blödsinn«-Haltung vor mir, was ich jedoch ignorierte.

»Okay, dann nicht.« Schulterzuckend steckte ich meine Entschuldigung in die Tasche.

»Du spielst heute mit«, sagte sie und ließ keinen Zweifel daran, dass das keine Bitte war, sondern ein Befehl.

»Nee, ich hab nämlich eine Entschuldigung«, erwiderte ich fröhlich, zog den Zettel wieder aus der Tasche und klappte ihn auseinander.

Sie schloss die Augen und atmete geräuschvoll aus. Dann riss sie mir den Zettel aus der Hand.

»Hiermit bitte ich Sie, Aideen Cleary für heute vom Sportunterricht zu befreien. Sie hat die Bubonenpest.«

Ich hüstelte.

»Du hast keine Bubonenpest.«

»Doch.«

»Ich könnte deine Mutter anrufen.«

»Das könnten Sie.«

Das hatte sie mir seit September bestimmt schon zehnmal angedroht, es aber nie durchgezogen. Ich hegte ja den Verdacht, meine letzte Klassenlehrerin könnte sie vorgewarnt haben, dass das sowieso sinnlos wäre, weil Mum sich nicht dafür interessierte. Dabei würde Mum mir ins Gesicht springen, wenn sie wüsste, dass ich Sport schwänzte, aber für dieses Problem hatte ich schon seit Längerem eine wunderbare Lösung gefunden. Nur leider beschlich mich bei Ms Devlin das ungute Gefühl, sie könnte mir früher oder später doch die Tour vermasseln.

Der Rest der Gruppe rannte schon in Shorts und Trikots auf dem Spielfeld rum, als wäre es nicht mitten im kackekalten Winter. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Holly sich dehnte, wobei der Saum ihres Oberteils hochrutschte und einen Streifen nackter Haut entblößte. Holly gehörte zu den Mädchen, die Camogie sehr ernst nahmen.

Ms Devlin musterte mich aus schmal zusammengekniffenen Augen und hob schließlich resigniert die Hände.

»Na schön, mir soll’s egal sein. Aber dann mach wenigstens irgendwas Produktives. Deine letzten beiden Englischhausaufgaben fehlen und die nächste ist Freitag fällig. Ich warne dich, wenn da wieder nichts kommt, heißt es Nachsitzen.«

»Aha, jetzt tratschen Sie also schon mit meiner Englischlehrerin über mich. Ich hätte ja gedacht, so was wäre unter Ihrem Niveau.«

Ms Devlin lief knallrot an und schien kurz vor dem Explodieren. »Ich bin deine Englischlehrerin, du Pappnase.«

»Ach, deshalb kamen Sie mir so bekannt vor.«

Sie seufzte und massierte sich für einen Moment die Schläfen.

»Ist bei dir zu Hause alles in Ordnung, Aideen? Gibt es irgendeinen Grund, warum du deine Arbeit nicht erledigst?«

Ein Kribbeln überlief mich.

»Nee, alles super.«

»Wenn du nicht mit mir redest, dann kann ich dir auch nicht helfen. Ich versuche wirklich nicht, dir das Leben schwer zu machen, ich würde mir bloß wünschen, dass du mal für irgendwas Begeisterung aufbringst. Egal, was. Das könnte dir Halt geben.«

»Sie wollen mich zum Camogie zwingen, um ein imaginäres Problem zu lösen. Aber ich hab nun mal kein Problem. Von meinen Bubonen mal abgesehen.«

»Deinen was?«

»Meinen Bubonen. Ich hab doch die Bubonenpest. Mein ganzer Körper voller Bubonenpocken. Also, unter den Klamotten.«

»Weißt du, wenn du schon mit so einer Krankheit kommst, dann informier dich wenigstens ein bisschen darüber, anstatt dir einfach blindlings eine rauszupicken.«

»Das klingt ja fast wie Hausaufgaben.«

Ms Devlin schüttelte nur den Kopf, aber da hatte ich ihr schon wieder den Rücken zugekehrt und war unterwegs Richtung Sporthalle. Eigentlich konnte ich es also gar nicht sehen, aber ich spürte es, ganz deutlich.

Schnurstracks hielt ich auf meinen gewohnten Platz zu, eine Art Empore mit Blick über die ganze Halle. Da oben hatte man hervorragenden Empfang, und letztes Jahr hatte ich einer Referendarin geholfen, sich ins Lehrer-WLAN einzuloggen, und sie dazu bequatscht, mir ihr Passwort zu geben. Seitdem saß ich während des Sportunterrichts gerne oben auf der Empore und netflixte vor mich hin.

Heute versuchte ich als Erstes noch mal, Mum anzurufen, aber sie ging nicht dran. Okay, mittlerweile müsste sie sowieso im Salon sein. Sie arbeitete bei einem Friseur, der um zehn aufmachte. Alles in Ordnung also, ganz bestimmt. Sie hatte ihr Handy auf lautlos gestellt, war doch klar. Als ich mir endlich eine Serie rausgesucht hatte, die ich gucken wollte, merkte ich, dass ich pinkeln musste, und stöhnte auf beim Gedanken, wieder ganz nach unten latschen zu müssen. Meine Sachen ließ ich liegen, weil ich sowieso nichts Klauenswertes besaß, nur mein Handy nahm ich mit. Nicht, dass sich das zu klauen gelohnt hätte, aber wäre ja trotzdem ärgerlich, wenn irgendein Blödmannsgehilfe es einsteckte.

Als ich auf die Umkleide zulief, wo sich auch die Toiletten befanden, drang ein absolut schauerliches Geheul an mein Ohr. Es hallte von den Wänden wider und wurde lauter, je näher ich kam. Ich bekreuzigte mich. Das war’s dann wohl. Irgendein Dämon musste da drin sein Unwesen treiben. Die Schule war ein altes Kloster, und auch wenn die Turnhalle neueren Baudatums war, stand sie trotzdem auf uraltem Boden. Obwohl, war streng genommen nicht jeder Boden uralt? Egal, vermutlich handelte es sich um den Geist eines Mädchens, das während irgendeines besonders aggressiven Exorzismus den Löffel abgegeben hatte – entweder, weil sie einen unnatürlichen Lebensstil geführt hatte (sprich: lesbisch gewesen war), verstörende Gedanken gehegt (sprich: eine eigene Meinung vertreten) hatte oder schlicht vom Teufel besessen (sprich: ein bisschen horny) gewesen war.

Fast war ich enttäuscht, als ich dann doch nur auf ein stinknormales, quicklebendiges, extrem angepisstes Teenie-Mädchen traf.

Okay, »angepisst« ist vielleicht nicht die glücklichste Wortwahl, wenn man bedenkt, dass sich das Ganze auf dem Klo abspielte – jedenfalls schien sie wegen irgendwas tierisch aufgebracht zu sein. Richtig interessant wurde das Theater allerdings erst, als mir klar wurde, wen ich da vor mir hatte. Meabh Kowalska. Einen Moment lang starrte ich sie einfach bloß an, fasziniert von diesem seltenen Naturschauspiel.

Hier erleben wir eine Perfektionista maxima bei dem für ihre Art typischen rituellen Tanz. Sehen Sie, wie sie mit Armen und Beinen rudert? Im nächsten Schritt folgt dann das traditionelle Haareausreißen.

Trotz ihres Gehampels hatte Meabh mich offenbar bemerkt und erstarrte. Wie in Zeitlupe drehte sie den Kopf und guckte mich an. Ihre Augen waren rot unterlaufen und verquollen. Ich malte mir aus, wie ich in diesem Moment der Schwäche auf sie wirken musste und war dabei mehr als großzügig: Meine wirren braunen Locken wurden in meiner Vorstellung zu üppigen, glänzenden Wellen und meine blauen Augen blitzten amüsiert.

Meabh stieß ein ersticktes Stöhnen aus. »Du.«

»Jepp.« Breit grinsend wiegte ich mich auf den Fersen vor und zurück. Wenn das hier mal nicht der beste Tag meines Lebens war.

Ich habe zwei Lieblingsfantasien. In der einen erwische ich meine Feinde bei irgendwas Todpeinlichem, was mir, die natürlich total lässig und cool reagiert, auf ewig die Oberhand verleiht. Und in der anderen habe ich irgendwas total Großartiges aus meinem Leben gemacht und reibe es beim Klassentreffen allen unter die Nase. Zum Beispiel habe ich eine App erfunden, die absolut jeder benutzt, und wenn ich auf der Party ankomme, hängen die anderen über ihren Handys. Ach, hi, Aideen, schön dich nach zehn Jahren wiederzusehen. Bist du eigentlich auch auf Flubberblubber?, fragen sie, und ich zucke ganz bescheiden mit den Schultern. Ich hab Flubberblubber erfunden, sage ich dann, woraufhin den anderen natürlich die Kinnladen runterklappen. Ach, und darf ich vorstellen? Das ist Kristen Stewart, meine Frau. Wir haben leider nicht viel Zeit, weil wir gleich noch mit dem Privatjet nach Maui fliegen, wo wir jede Menge Sex haben werdenund sie sich ununterbrochen auf die Unterlippe beißt. Macht’s gut, ihr Arschkrampen.

Die aktuelle Situation fiel unverkennbar in erstere Kategorie, und kurz packte mich die Sorge, das hier könnte tatsächlich schon den Höhepunkt meines Daseins markieren. Dass es von jetzt an steil bergab gehen würde, zumindest, bis mir einfiel, wofür Flubberblubber eigentlich gut war, und Programmieren lernte. Was mir eher unwahrscheinlich vorkam, nachdem ich bereits an Excel gescheitert war, als wir mal in Informatik ein Haushaltsbuch erstellen sollten. Meine Zahlen wollten sich einfach nicht addieren lassen und mir wurde immer nur dieses Symbol angezeigt: Σ.

Okay, Meabh Kowalska als meine Feindin zu bezeichnen, war vielleicht ein klitzekleines bisschen übertrieben. Von Feinden zu reden klingt immer gleich nach verwickelten Masterplänen und epischen Showdowns, bei denen man versucht, einander ins Verderben zu reißen, dabei war die Realität viel schlichter. Meabh und ich kannten uns schon seit der Grundschule und »kamen nicht sonderlich gut miteinander aus«, um es mal in blumigem Lehrer-Sprech auszudrücken. Ungefähr so blumig wie die »Du hast dir Mühe gegeben!«-Mäuse damals unter meinen Hausaufgaben, die mir wohl schonend beibringen sollten, dass ich ein bisschen dumm war, während alle anderen »Besser geht’s nicht!«-Bären oder wenigstens »Gut gemacht!«-Gorillas bekamen. Nach ein paar Jahren spielt es gar keine Rolle mehr, warum man sich nicht mag, es wird einfach zum Fakt. Ist ja nicht so, als würde ich mich bis ins Detail an den einen Moment erinnern, in dem Meabh mir mal ein schlimmeres Gefühl der Unzulänglichkeit gegeben hat als diese ganzen bescheuerten Mäusesticker zusammen.

Ich weiß nur noch, dass es der 17. November 2013 um elf Uhr vormittags war und es draußen regnete. Nicht wie aus Eimern, sondern bloß so ein feuchtes Gefissel, wisst ihr? Wir hatten so ein Schulprojekt, bei dem wir eine Buchszene als Schaukasten darstellen sollten. Ich hatte das Buch gelesen und alles und es hatte mir sogar richtig gut gefallen, darum machte mir die Aufgabe ausnahmsweise mal richtig Spaß. Wir hatten uns die Arbeit aufgeteilt. Meabh war für die Stühle und das Publikum zuständig und ich für die Bühne. Tja, ich schlage also sonntags mit dem Schuhkarton bei ihr auf und hatte bei der Bühne wirklich mein Bestes gegeben. Aus einem Einrichtungskatalog hatte ich zwei Fotos von roten Vorhängen ausgeschnitten und sie links und rechts neben die Bühne geklebt, was ich eigentlich ziemlich clever von mir fand. Aber Meabh warf nur einen einzigen Blick auf mein Werk und wurde knallrot wie ein verprügelter Hintern.

»Was soll das denn sein?«, kreischte sie und hielt den Karton mit spitzen Fingern hoch, als hätte sie Angst, meine Unfähigkeit könnte ansteckend sein.

Heute ärgere ich mich, dass ich ihr nicht gesagt habe, sie solle sich mal wieder einkriegen, es sei schließlich nur ein Schulprojekt, aber damals war ich noch so schüchtern und gehemmt, dass ich bloß auf meine Schuhe starrte und schluckte.

»Würdest du sagen, die hier« – sie deutete auf hundert winzige, makellose, mit echtem roten Samt bezogene Holzstühlchen – »passen dazu?« Wie eine Besessene fuchtelte sie mit dem Karton vor mir durch die Luft. »Meins sind originalgetreue Nachbauten viktorianischer Sitzmöbel im Maßstab 1:24 und du kommst mir mit ein paar eingeklebten Katalogseiten? Du hast ja nicht mal Klebstoff benutzt.«

Wir hatten keinen Klebstoff dagehabt. Ich war ja schon erleichtert gewesen, als ich in unserer Kramschublade einen Rest Tesafilm gefunden hatte, weil mir klar gewesen war, dass Mum für so was wie das hier nie im Leben einkaufen gegangen wäre.

Im Laufe der Jahre musste ich oft an diesen Moment denken. Klassischerweise kurz vor dem Einschlafen, und obwohl mir heute klar ist, dass Meabh sich damals absolut arschig benommen hat, schäme ich mich trotzdem jedes Mal in Grund und Boden. Es ist, als würde in meinem Magen irgendeine abgrundtief böse Kreatur schlummern, die hin und wieder aufwacht und mir die Kehle hochkriecht, um mir die Luft abzuschnüren.

Jetzt jedoch, in der Umkleide, kam mir beim Anblick von Meabhs roten Augen und fleckigen Wangen noch eine andere Erinnerung: Daran, wie Meabh sich an dem Tag damals alle zehn Fingerspitzen so fest an den Kopf gepresst hatte, als wollte sie den Schädelknochen durchstoßen. Und wie sie zusammengezuckt war, als ihr Dad reinkam und ihr den Schuhkarton aus der Hand nahm.

»Wir schreien hier nicht, Meabh«, wies ihr Dad sie zurecht und sie entschuldigte sich. Mr Kowalski sagte, ich solle meine Mutter anrufen und mich abholen lassen, weil Meabh noch Hausaufgaben machen müsse. Er schien mir nicht der Typ zu sein, der ausfallend wurde, aber irgendwie machte ihn das fast noch unheimlicher. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit dieser stillen Enttäuschung umgehen sollte. Und außerdem traute ich mich nicht einzuwenden, dass ich gar kein Handy hatte. Und Mum kein Auto. Sie hatte gesagt, ich solle den Bus nehmen. Allerdings hatte sie mir dafür auch nicht genug Geld mitgegeben, was ich genauso wenig erwähnte, und am Ende ging ich einfach zu Fuß. Mum war nicht da, und ich hatte keinen Wohnungsschlüssel, also setzte ich mich im Flur auf die Treppe, bis sie endlich kam, schlaff die Arme um mich legte und mir einen schlabbrigen Kuss auf die Stirn drückte. Ihr Atem trieb mir die Tränen in die Augen.

Am Montag in der Schule hatte Meabh einen komplett neuen Schuhkarton dabei. Mit echten kleinen Stoffvorhängen und einem Seil, an dem man sie auf- und zuziehen konnte. Natürlich kriegte unsere Lehrerin sich gar nicht mehr ein vor Entzücken. Meabh verriet mit keinem Wort, dass ich kein bisschen daran mitgearbeitet hatte, aber das war auch so allen klar. Trotzdem bekamen wir beide eine Eins und ich zum ersten Mal so einen dämlichen Bärensticker. Ich knibbelte ihn aus dem Heft und klebte ihn auf die Innenseite meines Federmäppchens. Ich wollte zwar nicht die ganze Zeit draufgucken, aber wegschmeißen wollte ich ihn auch nicht.

Zum Glück bin ich nicht nachtragend. Meabh ist halt, wie sie ist. Eine absolute Nervensäge. Ich mochte sie zwar nicht mit ihren ständigen Klugscheißervorträgen, aber ich hasste sie auch nicht aus tiefster Seele so wie Holly. Die beiden waren erbitterte Konkurrentinnen. Holly hatte sich mit sechs den Knöchel verstaucht, nachdem Meabh ihr vor irgendeinem Gymnastikwettkampf ein Bein gestellt hatte. Seitdem war sie überzeugt, Meabh wäre ihre ganz persönliche Tonya Harding. Ich habe meine Zweifel daran, weil ich mir nämlich nicht vorstellen kann, dass Meabh auf so eine Art hätte gewinnen wollen. Meabh wollte wirklich die Beste sein, um Holly dann schön unter die Nase zu reiben, dass sie alles gegeben und trotzdem verloren hatte. Letztes Jahr nach den Abschlussprüfungen hatte Meabh eine Party gefeiert, und ihr Dad wollte, dass sie die ganze Klasse einlädt, obwohl sie mit niemandem wirklich befreundet war – ich glaube, die komplette Party war seine Idee gewesen. Holly hatte daraufhin ein paar von uns Mädels für denselben Abend in die U-18-Disco im Hotel eingeladen. Ihre Mum hatte den Eintritt für uns alle übernommen. Dass Meabh nun schon zum dritten Mal in Folge zur Camogie-Teamkapitänin ernannt worden war, obwohl Holly scharf auf den Posten war, machte das Ganze natürlich nicht besser.

»Das ist jetzt natürlich peinlich«, merkte ich an. »Ich dachte, diese Ausraster hättest du dir mittlerweile mal abgewöhnt, aber anscheinend hältst du dich bloß in der Öffentlichkeit zurück.«

»Wir sind hier in einer Schulumkleide. Die ist öffentlich«, erwiderte sie und rappelte sich hoch in den Schneidersitz.

»Lustig, dass du hier lieber Erbsen zählst, anstatt mir mal zu erklären, wieso du dich mit sechzehn immer noch vor Wut auf den Boden schmeißt wie ein Kleinkind an der Supermarktkasse.«

»Was gibt’s da zu erklären?«

»Auch wieder wahr. Aber so versaust du mir den ganzen Spaß. Wie soll ich denn da angemessen in deiner Schmach schwelgen?«

Anstatt zurückzugiften, saß sie einfach nur da und eine Träne rann ihr über die Wange. Widerwillig musste ich mir eingestehen, dass sie mir irgendwie leidtat. Ich sah zu, wie die kümmerliche kleine Träne weiter abwärtsrollte, als –

»Hast du etwa gerade –?« Schockiert deutete ich mit dem Zeigefinger auf sie.

»Was?« Sie blinzelte verwirrt.

»Du … du hast gerade die Träne aufgeleckt. Als sie in deinem Mundwinkel angekommen ist, hast du die Zunge rausgestreckt und schlapp.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Schmeckt halt salzig.«

Ich schüttelte den Kopf. »Äh, das ist jetzt nicht so logisch, wie du vielleicht denkst. Schmeckt halt salzig ist noch lange kein Grund, eine Flüssigkeit aufzuschlürfen, die dein Auge produziert. Gibt ’ne Menge Sachen, die salzig sind und an denen man trotzdem nicht einfach so leckt.«

»Ach ja, und welche?«

Fieberhaft suchte ich nach Beispielen.

»Äh … STREUSALZ!«, stieß ich schließlich triumphierend hervor. »Sand.«

»Eine verschwitzte Achselhöhle«, steuerte sie bei.

»Schwänze.«

»Bah, Aideen, das war jetzt echt widerlich.« Sie zog angewidert die Nase kraus, aber sie lachte dabei, und ich vergaß kurz, dass ich doch eigentlich in ihrer Schmach schwelgen wollte.

Es gab noch eine zweite Sache, mit der Meabh mich regelmäßig auf die Palme brachte. Auch wenn sie in diesem Fall eigentlich gar nichts dafürkonnte. Als wir mit zwölf auf die weiterführende Schule kamen, haben mich alle Lesbe genannt, weil ich immer nur mit Holly rumhing. Holly hatte natürlich jede Menge Freunde aus ihren ganzen Clubs und AGs, aber ich nicht. Und mit den anderen kam ich auch nie so wirklich klar. Es gab einfach Dinge, die nur Holly über mich wusste, und ich wollte, dass das so blieb. Weswegen es mir allerdings schwerfiel, echte Verbindungen zu anderen aufzubauen. Ich hatte immer das Gefühl, alle zu belügen. Nur ein einziges Mal habe ich mich dazu durchgerungen, einem anderen Mädchen, das ich damals für meine Freundin hielt, gegenüber zu erwähnen, dass ich vielleicht tatsächlich lesbisch war. Am Ende tratschte sie es überall rum und ich wurde ewig deswegen gehänselt.

Bis ein paar Jahre später plötzlich alle total woke wurden und sich noch ein paar andere Leute outeten, darunter auch Meabh. Und die ganzen Arschlöcher, die sich früher über mich lustig gemacht hatten, taten so, als wäre das alles nie passiert. Nicht mal Meabh, die an unserer Schule mit Sicherheit keinen Beliebtheitswettbewerb gewinnen würde, zog irgendwer mit ihrer Sexualität auf, weil Homophobie einfach total von gestern war. Was natürlich eine super Sache ist! Es machte mir bloß deutlich, dass ich, was das Timing anging, absolut ins Klo gegriffen hatte. Ich fand es einfach unfair, dass Meabh, Orla und Katia es jetzt so leicht hatten. Während ich den ganzen Mist abbekommen hatte, durften sie sich wie mutige Vorreiterinnen fühlen und alle anderen sich vormachen, unsere Schule wäre schon immer das reinste Regenbogenwunderland gewesen.

»Willst du mir jetzt vielleicht mal erzählen, was das Geflenne überhaupt soll? Hast du irgendwo ’ne Eins minus gekriegt oder so?«, witzelte ich.

Meabh presste die Lippen zusammen. »Ich verliere bestimmt.«

»Was, die Wahl? Du warst doch auch immer Klassensprecherin, da machst du das hier ja wohl mit links. Und außerdem hast du nicht mal irgendwelche Gegenkandidaten.«

»Bis jetzt. Aber irgendein Vollidiot lässt sich ganz sicher noch aufstellen. Und es gibt noch so viel zu tun. Ich muss jede Menge Konzepte ausarbeiten und habe noch tausend andere Sachen um die Ohren. Ich kriege überhaupt nichts auf die Reihe – einfach, weil ich keine Ahnung habe, wo ich anfangen soll.«

Wieder begannen die Tränen zu fließen. Seit wann war Meabh denn so ein Jammerlappen?

»Für den Quatsch musst du doch keine Konzepte vorlegen. Echt jetzt, das interessiert kein Schwein. Und selbst wenn du verlierst, was soll’s? Du machst schon so viel anderen Kram, wäre es denn da so schlimm, wenn mal eine Sache nicht klappt?« Meabh war nämlich nicht nur Camogie-Kapitänin, sondern mischte so ziemlich überall mit. Ständig sammelte sie Spenden, erstellte Petitionen oder trat bei irgendwelchen Wettbewerben an. Es verging kaum eine Woche, in der sie den Lehrern nicht mit irgendwelchen Verbesserungsvorschlägen in den Ohren lag. Zuletzt war sie so lange unserem alten Hausmeister auf den Wecker gefallen, bis er versprochen hatte, in Zukunft nur noch Energiesparlampen einzusetzen.

»Du verstehst das nicht«, seufzte sie. Sie schien es nicht böse zu meinen, also in dem Sinne, dass ich leider ein bisschen langsam in der Birne sei, obwohl das natürlich zutraf, sondern eher wehmütig, als wünschte sie sich ernsthaft, ich würde es verstehen.

»Ich verstehe das Allermeiste nicht«, erwiderte ich, »Aber wie wär’s, wenn du mir einfach mal erklärst, wie das so ist, wenn man schlauer ist als alle anderen?«

Meabh, die nach ihrem Ausraster offenbar noch nicht wieder ganz zurechnungsfähig war, fing tatsächlich an, es mir zu erklären. Mir. Dem Mädchen, das Vorhänge aus dem Katalog ausschnitt, anstatt selbst welche zu nähen. Das musste doch der reinste Niveaulimbo für sie sein.

»Ich habe mich nun mal für diese ganzen Sachen gemeldet und jetzt darf ich nicht versagen. Ich darf einfach nicht.« Das Ganze schien ihr ernsthaft zuzusetzen, was ich nun wirklich nicht verstand. Ich kramte tief in meinem Empathiezentrum, fand aber nur eine ausgetrocknete alte Rosine. Meabh hatte doch ungelogen alles. Sie war das totale Superhirn und lebte in einem Haus mit zwei Wohnzimmern, verdammt noch mal. Trotzdem bemühte ich mich nach Kräften.

»Pass auf«, sagte ich nüchtern. »Ich mache die ganze Zeit nicht viel anderes als zu versagen und ich verspreche dir, dass das absolut null Konsequenzen hat. Das bringt dich nicht um.«

»Genau das macht mir ja Sorgen.«

»Dass es dich nicht umbringt?« Oh Mann, der konnte man es aber wirklich nicht rechtmachen. »Okay, ich sag dir was: Wenn du die Wahl verlierst, murkse ich dich eigenhändig ab. Einverstanden?«

Meabh stand auf und ihr Blick wurde beängstigend ernst. Es war die Art von Blick, wie ich ihn mir bei Serienkillern vorstellte, kurz, bevor sie einem den Kopf abhackten, um ihn als Hut zu tragen. Ich wich ein paar Schritte zurück, aber sie kam hinterher. Na toll, das hatte ich jetzt von meinen Samariteranwandlungen. Ich würde durch die Hand einer durchgeknallten Streberin in einer Mädchenumkleide sterben.

»Hast du eine Ahnung, was passiert, wenn ich versage? Was ich daraus lerne?«

Sie kam immer weiter auf mich zu, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß, an der das Wasser aus den Duschen kondensierte. Meabhs verlaufene Wimperntusche unterstrich effektvoll ihren bedrohlichen Gesichtsausdruck. Fast hätte ich gelacht, hatte aber doch zu viel Angst, dass sie daraufhin ihren Unterkiefer aushaken und ich mich in den dunklen Tiefen ihres Schlunds wiederfinden würde.

»Daraus lerne ich, dass Versagen nicht das Ende der Welt bedeutet.«

Ehe ich heiser anmerken konnte, dass das ja im Grunde nicht die verkehrteste Lektion wäre, weil sich dadurch möglicherweise die Ausraster reduzieren würden, hielt sie mir den Mund zu.

»Und dann fange ich vielleicht an, alles etwas entspannter zu sehen. Nicht mehr so besessen von meinen Hausaufgaben zu sein. Mir zu denken, Meabh, lass doch ruhig mal Fünfe gerade sein. Koch den Hummeln in deinem Hintern ’ne schöne Tasse Baldriantee.«

Ich lachte in ihre Hand. Die Hummeln in ihrem Hintern hatten in der Tat den Turbo eingeschaltet und ich fand die Formulierung ziemlich witzig. Meabh jedoch redete weiter, ohne mein Gekicher zu beachten.

»Irgendwann sage ich mir dann, das Schlimmste ist ja eh schon eingetreten und du hast es überlebt. Du hast Jahre mit deinem Perfektionismus verschwendet.«

Ich nickte, ihre Hand noch immer auf meinem Mund. Ja. Sie schüttelte den Kopf, langsam, eindringlich. Nein.

»Es fängt ganz schleichend an. Damit, dass ich mir nur zwei Stunden statt drei für die Comhrá-Vorbereitung nehme, was Múinteoir Nic Gabhann aber gar nicht merkt, weil mein mündliches Gälisch sowieso schon hervorragend ist.«

Ihre Hand verrutschte leicht, sodass sie meine Nasenlöcher blockierte, und ich hätte ihr gern gesagt, dass sie mir die Atemluft abschnitt und ich ohne schlecht leben konnte, aber ihr Griff war so eisern, dass ich mich schließlich gezwungen sah, ihre Handfläche anzulecken. Sie zog eine Grimasse und wischte sich die Hand an ihrem Rock ab.

»Uäh, spinnst du?«, schimpfte sie, was die Gesamtsituation ein wenig auflockerte.

»Wieso? Da waren vielleicht noch Tränen dran.«

Ohne auch nur zu lächeln, setzte sie ihre ulkige Tirade fort.

»Und dann werde ich ganz langsam immer bequemer und fange an, mich ans Versagen zu gewöhnen. Rede mir ein, es wäre völlig okay, sich einen lauen Lenz zu machen. Ist schließlich bloß die Orientierungsstufe. Die zählt nicht. Und dann: Ist doch bloß die elfte Klasse. Bis zum Abschluss habe ich noch ein Jahr Zeit. Sind doch bloß Hausaufgaben. Ist doch bloß eine Zwei. Mensch, wieso nicht mal ein bisschen Druck rausnehmen und in Mathe nur den Grundkurs belegen? Ich brauche doch nicht zwingend die volle Punktzahl.«

Ich war ja der Meinung, dass niemand zwingend die volle Punktzahl brauchte. Aber Meabh würde sich wahrscheinlich ihre Abschlussnoten in den Grabstein meißeln lassen, und wie sähe das dann aus? Sie trat ein paar Schritte zurück.

»Wenn ich mich vom Mathe-Leistungskurs verabschiedet habe, denke ich mir vielleicht, dann kann ich jetzt auch genauso gut auf diese Party gehen.«

Welche Party denn jetzt?

»Da bietet mir jemand Crack an. Und ich denke mir, hey, warum eigentlich nicht, ich muss zwar ein Bioreferat vorbereiten, aber das hat ja auch noch Zeit bis morgen früh.«

»Moment, da hast du jetzt irgendwie ’ne Stufe übersprungen. Wen kennen wir denn bitte, der Crack zu Partys mitbringt?«

»Ich weiß, wie so was läuft, ich leb ja nicht hinterm Mond!«, verkündete sie, als wäre die Diskussion damit beendet. »Wenn man einmal Meth geschnieft hat, gibt’s kein Zurück mehr.«

Kopfschüttelnd arrangierte ich mich damit, dass Meabh offenbar Meth und Crack für dieselbe Droge hielt und außerdem nicht den blassesten Schimmer hatte, wie man beides konsumierte.

»In ein paar Jahren wirst du dich dann fragen, was eigentlich aus diesem Mädchen geworden ist, das damals mit dir zur Schule gegangen ist? Die hat doch bestimmt eine Riesenkarriere hingelegt. Und dann kommst du an einer Frau vorbei, die in der Gosse liegt, mit ’ner Spritze im Arm und total weggetreten. Und du denkst, ach Mensch, ist das traurig. Wie sie da wohl gelandet ist? Sie ist doch noch so jung. Muss ungefähr so alt sein wie ich.«

Sie verstummte und wirkte einen Moment lang fast so weggetreten wie die imaginäre Frau in der Gosse.

»Und das bist dann du?«, fragte ich.

Sie stöhnte entnervt auf. »Natürlich, wer denn sonst? Was hätte die Geschichte denn bitte für einen Sinn, wenn da jetzt irgendeine Fremde läge, während ich dabei wäre, eine frische Quelle für erneuerbare Energie zu entdecken oder dem globalen Kapitalismus ein Ende zu setzen?«

Ich dachte ein Weilchen nach.

»Deine Geschichte hat aber ein paar dicke Schwachstellen«, wandte ich schließlich ein. »Erstens: Ich garantiere dir, dass ich mich in ein paar Jahren ganz bestimmt nicht frage, was aus dir geworden ist.«

Dafür werde ich nämlich viel zu beschäftigt damit sein, mich mit meiner Frau Kristen Stewart nackt auf einem Bett voller Flubberblubber™-Zaster zu wälzen.

»Zweitens: Du weißt ganz offensichtlich nicht mal, wie man Crack überhaupt nimmt, und wenn du’s trotzdem irgendwie schaffen würdest, bist du immer noch aus so gutem Hause, dass du nicht in der Gosse landen würdest, sondern in irgendeiner schicken Entzugsklinik, glaub mir. Und drittens: Bevor das alles passieren kann, bist du sowieso vor lauter Stress an ’nem Herzinfarkt gestorben, darum brauchst du dir um so was echt keine Sorgen zu machen.«

Zuerst reagierte sie nicht, und ich dachte schon, meine besonnene Argumentation hätte sie überzeugt.

Dann brach sie in Tränen aus. Und diesmal waren es zu viele, um sie sich vom Gesicht zu lecken.

»NA SCHÖN«, schrie ich über ihr Sirenengeheul hinweg. »ICH HELF DIR!«

Sie unterbrach ihre Performance und musterte mich skeptisch. »Und wie?«

»Na ja«, erwiderte ich nachdenklich. »Sag du’s mir.«

Und so fing alles an.

3

Zeit«, seufzte Meabh resigniert. »Ich brauche mehr Zeit. Mein Terminplan platzt aus allen Nähten.« Sie deutete auf ein paar lose Zettel, die auf dem Boden verstreut lagen, als hätte sie sie wutentbrannt von sich geschleudert. »Das schaffe ich nie im Leben alles, außer ich höre mit dem Schlafen auf. Und das habe ich schon mal versucht – definitiv keine gute Idee.« Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Ich sah sie förmlich vor mir, wie sie mit zerzaustem Haar vor ihrem Bett auf und ab tigerte. Ihre Zimmerwände waren vollgekritzelt und mit einem Gewirr roter Schnüre bespannt. Kein gänzlich unrealistisches Szenario.

»Okay, du Irre. Dann lass deinen Terminplan mal sehen. Irgendwo musst du doch kürzertreten können.«

Meabh rappelte sich hoch, sammelte die Zettel ein und reichte sie mir. Sie waren feucht und verschmiert, weil sie in der Nähe der Duschen gelegen hatten, und ich musste ein langes blondes Haar herunterklauben.

Meabh hatte einen praktischen dunklen Bob und ich einen explodierten, ebenfalls dunklen Lockenwust, der sich weder durch Profis noch Produkte bezähmen ließ, weshalb ich ihn stets mühsam in einen Dutt zwang, um überhaupt etwas sehen zu können. Es handelte sich also um ein fremdes Haar. Ein Duschhaar. Mich überlief ein Schauder.

»Okay, was ist denn zum Beispiel mit … dem Cellounterricht?«

»Nein. Damit kann ich nicht aufhören.«

»Aber musst du denn wirklich zweieinhalb Stunden pro Tag dafür üben?«

»Ja.«

»Na komm, einigen wir uns auf zwei Stunden?«, fing ich an zu feilschen. »Obwohl ich ja finde, dass anderthalb dicke reichen müssten.«

»Es gibt Studien, die behaupten, dass es bei mehr als zwei Stunden Übungszeit keine weiteren Lernfortschritte gibt, aber ich wechsle ganz gewissenhaft zwischen Tonleitern, Etüden und Wiederholungen aus dem Repertoire ab, außerdem würde ich diese Art von Forschung nicht gerade als empirisch bezeichnen, verstehst du?«

Ich verstand nur eins: Bahnhof. Aber mir dämmerte, dass ich in puncto Cello wohl auf Granit beißen würde.

»Und was ist hiermit, wofür steht das?« Jeweils am Montag, Mittwoch und Freitag waren mit gelbem Textmarker neunzig Minuten geblockt.

Ihre Miene verdüsterte sich. »Yoga.«

»Ah, klar, hätte ich auch selbst drauf kommen können. Dafür bist du genau der Typ.«

»Mum zwingt mich dazu. Sie findet, ich muss mich mehr entspannen.«

»Vielleicht sollte sie dir dann lieber mal ein bisschen Freizeit in den Terminplan packen.«

»Nee, wenn ich Freizeit habe, grüble ich sowieso nur über alles nach, was ich noch erledigen muss. Und das ist kein bisschen entspannend, glaub mir.«

»Na gut. Immerhin bist du dann schön gelenkig.«

»Ich komme kaum an meine Zehen ran«, winkte sie ab. »Mein Yogalehrer sagt immer ›Kein flexibler Körper ohne flexiblen Geist‹. Dabei habe ich ihm schon x-mal erklärt, dass Muskeln gar nicht so funktionieren.«

»Wie lange machst du das denn schon?«

»Seit mir letztes Jahr nach der Klausurenphase mal sämtliche Wimpern ausgefallen sind.«

»Oh … und da kommst du immer noch nicht an deine Zehen?«

Sie demonstrierte es mir. Zugegeben, es fehlte nicht viel, aber sie machte wirklich einen extrem hüftsteifen Eindruck.

»Vielleicht hat dein Yogalehrer ja doch nicht so ganz unrecht, hm?«

»Mum lässt mich sowieso nicht mit dem Yoga aufhören.« Meabh presste die Lippen aufeinander.

Wenn meiner Tochter wegen ein paar Klausuren die Wimpern ausgefallen wären, würde ich ihr wahrscheinlich jeden Morgen Beruhigungstabletten über die Cornflakes krümeln, aber gut, meine Familie ist in Bezug auf solcherlei Hilfsmittel vielleicht auch etwas speziell.

»Was ist das hier?« Aus diesen ganzen Abkürzungen und Farbcodes sollte mal eine schlau werden.

»Fitnessstudio.«

»Aber du machst doch schon Yoga!«, protestierte ich.

»Im Fitnessstudio arbeite ich an meiner Kraft und Ausdauer. Fürs Camogie.«

Ich verdrehte die Augen. Zumindest begriff ich jetzt, warum Holly keine Chance auf den Kapitäninnenposten hatte.

»Das da ist polnische Lesekompetenz«, erläuterte Meabh mir weiter ihren Terminplan. »Und das aktuelles Zeitgeschehen. Was? Wenn ich mal in die Politik gehen will, muss ich mich ja wohl auf dem Laufenden halten. Und das hier ist Duschen.«

»Duschen nach Plan?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe halt viel zu tun. Darum geht’s ja.«

»Weiß ich, aber wir sind doch gerade mal im Orientierungsjahr, da kann man’s doch mal ein bisschen langsamer angehen lassen.«

Das Orientierungsjahr ist mit Abstand das Beste an unserem ganzen Bildungssystem. Wenn man die Mittelschulprüfungen nach der neunten Klasse überstanden hat, kommt die zehnte, die hauptsächlich der »persönlichen Entwicklung« gewidmet ist, bevor es dann in der elften und zwölften wieder ernst wird. Wenn Erwachsene sich an die Oberstufe zurückerinnern, kriegen sie immer so einen gehetzten Blick, als hätten sie in dieser Zeit unaussprechliche Qualen gelitten. Also ist es ja wohl das Mindeste, dass sie uns vorher ein Jahr zum Rumtrödeln zugestehen.

»Das Orientierungsjahr ist eine hervorragende Gelegenheit, seine bereits erworbenen Fähigkeiten abzurunden und sich einen Startvorteil für die Oberstufe zu erarbeiten.«

Ihre Unterlippe fing an zu wobbeln und schon wieder kamen ihr die Tränen. Sie presste sich die Fäuste auf die Augen, und zwar ziemlich fest.

»Okay, jetzt kann ich mir vorstellen, wieso dir die Wimpern ausgefallen sind.« Ich ergriff ihre Handgelenke und zog daran.

Meabh war schon immer ein totales Nervenbündel gewesen, aber das hatte ich einfach für ihre Persönlichkeit gehalten und angenommen, dass sie so mit sich zufrieden war. Jetzt allerdings fing ich langsam an, mir Sorgen zu machen, während ich gleichzeitig insgeheim Berechnungen anstellte, wie viel diese ganzen Trainings und Kurse zusammengenommen wohl kosten mochten. Verdiente man als Schulleiter denn so schweineviel? Oder war es Meabhs Mum, die säckeweise Geld nach Hause schaffte? Ich hatte keine Ahnung, was so ein Cellolehrer verlangte oder wie viel man im Yogastudio abdrücken musste. Was ich allerdings wusste, war, dass es auch Yogatutorials bei YouTube gab, und zwar gratis.

»Dann haben wir jetzt zwei Möglichkeiten.« Ich strich mir nachdenklich übers Kinn. »Entweder wir brechen dir einen Arm oder ein Bein.«

Ich wartete darauf, dass sie lachte. Was sie nicht tat, also redete ich weiter. »Also, wenn du mich fragst, wäre ein gebrochener Arm effektiver. Kein Cello, keine Hausaufgaben, kein Yoga!«

Meabh hörte auf zu weinen und zog die Nase hoch, aus der sich ein Rotzfaden selbstständig gemacht hatte. »Hast recht.«

Ich schnitt eine Grimasse. Jammer-Meabh war ganz schön eklig. »Häh?«

»Na, nicht mit dem Arm, das ist ja wohl klar. Ich kann mir doch nicht den Arm brechen.«

»Oh Mann, ein Glück, für ’nen Moment dachte ich echt, jetzt wärst du komplett durchge–«

»Aber das mit dem Bein könnte funktionieren. Dann müsste ich keinen Sport mehr machen, das wären schon mal zwei Doppelstunden pro Woche in der Schule plus Yoga und Fitnessstudio …« Es war, als würde sie gar nicht mehr mit mir reden, sondern hätte sich bereits ihren Tagträumen über all die freie Zeit hingegeben, die sie mit noch mehr Arbeit füllen könnte.

»Äh … Dir ist aber schon klar, dass das ein Scherz war, oder?«, schritt ich rasch ein. Dabei konnte ich ihr vom Gesicht ablesen, dass sie es todernst meinte, und bekam langsam wirklich Bammel. Schwer zu sagen, ob aus Sorge um Meabh oder mich selbst, weil ich keinen Ärger kriegen wollte. Und erst recht wollte ich niemandem erklären müssen, dass das Ganze meine Idee gewesen war, klar, aber doch nicht mein Ernst.

Meabh ließ mich nicht mehr vom Haken. »Nein, du bist genial. Genauso machen wir’s.«

»Oder du könntest mal mit deinen Eltern reden«, schlug ich halbherzig vor. Nicht, dass ich das an ihrer Stelle gemacht hätte. Außerdem muss ich gestehen, dass ich mich auf geradezu bescheuerte Weise durch ihr Lob für meine Genialität gebauchpinselt fühlte. Hatte so was überhaupt schon mal irgendwer zu mir gesagt? Das hätte ich doch sicher nicht vergessen.

Sie lachte laut los, zum ersten Mal, vielleicht sogar in ihrem ganzen Leben. Ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, ob ich sie jemals zuvor hatte lachen sehen.

»Nur wie?«, murmelte sie vor sich hin. »Das ist die Frage.«

Wieder fing sie an, auf und ab zu tigern, dann marschierte sie raus auf den Flur. Ich folgte ihr.

»Wir könnten uns einen Hammer aus der Werkzeugkammer ausleihen.« Hastig klappte ich den Mund wieder zu. Nachher hörte sie noch auf mich. »Ich meine, jetzt mal im Ernst, Meabh. Nein.«

Doch sie beachtete mich gar nicht und sah sich suchend um. Dann rannte sie die Treppe hoch.

»Eins, zwei, drei … siebzehn, achtzehn, neunzehn.«

»Meabh, nicht.«

»Das wird mich jetzt wieder ewig beschäftigen«, grummelte sie, als sie den oberen Absatz erreichte. »Neunzehn. Warum denn neunzehn? Welcher anständige Architekt plant denn eine Treppe mit einer ungeraden Anzahl Stufen?«

»Meabh, du kannst dich doch nicht da runterstürzen.«

Meabh legte die Hände zusammen, als wollte sie einen Kopfsprung ins Schwimmbecken machen, und wich ein paar Schritte zurück, um eine Art Probeanlauf zu nehmen. Im letzten Moment drehte sie mir sogar den Rücken zu und stand gefährlich schwankend an der Kante.

»Meabh, so holst du dir einen Schädelbruch. Das kannst du nicht machen.«

»Stimmt«, pflichtete sie mir bei. »Mein Hirn wehrt sich. Wusstest du, dass man sich auch nicht selber ertränken kann? Sobald der Kohlendioxidgehalt im Blut zu hoch wird, lassen deine körperlichen Instinkte einfach nicht mehr zu, dass du freiwillig Wasser einatmest oder untergetaucht bleibst.«

»Woher weißt du das?« Es war faszinierend. Sogar während sie überlegte, wie sie sich am besten eine schlimme Verletzung zufügen konnte, fand sie immer noch eine Gelegenheit, sich aufzuspielen.

»Ich weiß alles«, antwortete sie abwesend.

»Komm runter, dann denken wir uns was anderes aus.«

»Komm du doch rauf.«

»Komm du runter.«

»Komm du rauf.«

»Nein.«

»Doch.«

»Du liebst es echt, Leute rumzukommandieren«, seufzte ich und gab mich geschlagen. Es schien mir unklug, mich mit jemandem zu streiten, der am Rand des Wahnsinns stand. Beziehungsweise am Rand einer neunzehnstufigen Treppe.

»Wie wär’s denn übrigens, wenn du deinen Dad fragst, ob du wenigstens bis zur Wahl mit dem Cello aussetzen darfst, damit du Zeit hast, dich um die Kandidatur und dein Umweltdings und so zu kümmern.«

»Auf keinen Fall. Mein Dad darf nicht erfahren, dass ich solche Schwierigkeiten habe. Niemand darf das erfahren.« Da hatte ich’s also, ganz offiziell: Ich war ein Niemand. »Nein. Du musst mich schubsen.« So nüchtern, als wäre es die einzig vernünftige Lösung.

Sie drängelte sich vor mich und schien sich zu wappnen, als erwartete sie ernsthaft, dass ich ihr einen Stoß versetzte. Mir kam kurz der Gedanke, dass wir jetzt Holly gebraucht hätten. Natürlich ging Meabh auch mir auf die Nerven, aber ich war einfach nicht abgebrüht genug, um ihr ernsthaft Schaden zuzufügen. Andererseits würde Holly ihre Erzfeindin wohl kaum die Treppe runterschubsen, wenn auch nur der geringste Verdacht bestünde, dass Meabh davon profitieren könnte.

»Vergiss es, ich mach das nicht. Geh mal beiseite.«

»Nö.« Sie versperrte mir mit beiden Armen den Weg.

»Das wird dir auch nichts bringen. Dann gucke ich eben meine Serie weiter.« Ich deutete auf die Sitzbänke entlang der Empore. »Ewig kannst du da jedenfalls nicht stehen bleiben. Wahrscheinlich kommt Ms Devlin dich sowieso jeden Moment suchen.«

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte sie protestieren, aber dann schien ihr gesamter Körper zu kapitulieren. Sie ließ die Schultern sinken, den Kopf hängen, ging sogar ein bisschen in die Knie. Lautlose Tränen rollten ihr über die Wangen. Wie konnte eine einzelne Person nur so viel weinen?

»Bitte.« Sie krallte die Hände in meinen Pullover und zog mich so dicht an sich ran, dass ich ihren Atem riechen konnte. Immer noch minzfrisch vom morgendlichen Zähneputzen, was auch sonst? Natürlich schüttete Meabh sich vor dem Unterricht keinen Kaffee rein. Wahrscheinlich hielt sie den für eine Einstiegsdroge, Endstation Kokain.

»Mir ist klar, dass du glaubst, ich hab sie nicht mehr alle, aber anders geht es nun mal nicht. Ich bin dir dann auch was schuldig, was immer du willst. Ich kann dir Nachhilfe geben!«

Ich runzelte die Stirn. Das klang jetzt nicht gerade wie die ultimative Belohnung.

Oh Mann, das war doch alles nicht normal. Es lag ja wohl auf der Hand, dass Meabhs Eltern viel zu streng mit ihr waren. Wenn ich mir ihren Terminplan noch mal genauer ansah, würde ich wahrscheinlich sogar noch Slots fürs Pinkeln entdecken, drei Minuten, zweimal am Tag. Klar, Meabh ging uns allen tierisch auf den Keks, aber Alter, die Arme hatte sich schon mal komplett die Wimpern weggerubbelt. Wenn ich ihr jetzt nicht half, würde sie bloß weiter versuchen, ihren ganzen hirnrissigen Terminplan und die Wahl unter einen Hut zu bringen. Mit dem sehr wahrscheinlichen Ergebnis, dass sie dann komplett überschnappte, und dann würde ich mir Vorwürfe machen, dass ich es hätte verhindern können.

Indem ich etwas vollkommen Bizarres und möglicherweise sogar Illegales tat. Durfte man jemandem vorsätzlich eine Verletzung zufügen, wenn dieser Jemand darauf bestand?

»Na schön.«

Sie merkte auf.

»Im Ernst?«

»Ja«, sagte ich und konnte selbst kaum glauben, was da aus meinem Mund kam. »Ich schubse dich. Aber wehe, du bist sauer, wenn es mir am Ende Spaß macht. Oder du dir dabei irgendwie anders wehtust als geplant. Ich übernehme keinerlei Verantwortung, falls dir das Hirn aus dem Schädel quillt oder so.«

Irgendwo schlug eine Tür zu und wir wechselten einen panischen Blick. Meabh rannte nach unten und kam kurz darauf zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Keiner da.«

Dann ging sie wieder auf Position an der Kante der obersten Stufe, die Arme angewinkelt erhoben, sodass ihr Gesicht geschützt war und sie nicht mit den Händen zuerst aufkam. Ich stellte mich hinter sie, legte die Hände auf ihre Schulterblätter und holte tief Luft. Man kann mir ja so einiges nachsagen, aber nicht, dass ich zu Gewalt neige. Ich schloss die Augen. Und dabei blieb es dann auch für eine ganze Weile, ohne dass ich mich regte.

»JETZT SCHUBS ENDLICH«, schrie Meabh.

»Ich kann nicht.«

»Doch, kannst du.«

»Nein.«

»Doch.«

»Aaaahhhhhhhhhhh!«

Ich schubste sie.

Poltern, Rummsen, bonkbonkbonk und ganz am Schluss ein schriller Schmerzensschrei. Als ich die Augen wieder aufriss, lag Meabh zusammengekrümmt unten vor der Treppe.

»Alles in Ordnung?«, rief ich.

»Nein! Irgendwas ist mit meinem Knöchel, ganz bestimmt«, stöhnte sie, klang dabei jedoch hochzufrieden. »Hilf mir mal hoch.«

Kein Bitte, kein Danke, kein gar nichts. Was wohl ein Benimmkurs kostete?

Ich rannte die Treppe runter, doch bevor ich Meabh erreichte, hörte ich etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Warte, ich helf dir.« Kavi Thakrar ging neben Meabh in die Hocke und hob sie auf seine Arme.

4

Ein paar Sekunden lang regte sich keiner von uns. Ich war wie versteinert auf der untersten Treppenstufe stehen geblieben, und Meabh hing mit entsetzter Miene in Kavis Armen, während er uns fröhlich anstrahlte – was ich nicht so wirklich kapierte.

Kavi war in unserer Stufe, aber wir hatten kaum miteinander zu tun. Er war groß, mit brauner Haut, schwarzen Locken und einer scharf geschnittenen Kieferpartie. Im Grunde wirkte er ganz nett, aber ich kannte ihn einfach nicht gut genug, um ihm zu vertrauen.

»Also«, fing ich darum vorsichtig an, »keine Ahnung, was du glaubst, was hier passiert ist –«

»Ich hab gehört, wie Meabh dich angeschrien hat, du sollst sie endlich schubsen, und dann kam sie auch schon runtergepurzelt.« Er grinste. »Bisschen verrückt, wenn man mal drüber nachdenkt, aber na ja, so was kommt halt vor. Mein kleiner Bruder ist mit sechs mal aus unserem Baumhaus gefallen und hat sich dabei kein bisschen wehgetan, darum haben wir beschlossen, dass er Superkräfte haben muss, und wollten das mit einem richtig coolen Stunt austesten. Ein Sprung mit dem Skateboard vom Garagendach. Mein Dad ist ausgeflippt, als er uns da oben gesehen hat, und wollte, dass wir runterkommen, aber wir waren überzeugt, dass das schon alles gut gehen würde, und am Ende musste Dad meinen Bruder auffangen. Deshalb meine ich ja, manche Sachen wirken oberflächlich betrachtet vielleicht verrückt, ergeben aber total Sinn, wenn man die Hintergründe kennt.«

»Ah.« Was sollte man dazu auch sagen?

Meabh und ich warfen einander einen Blick zu. Ich versuchte, sie telepathisch zu einer plausiblen Erklärung zu bewegen. Immerhin war sie die Clevere von uns, da würde ihr ja wohl was einfallen.

»Äh, also, wir wollten eigentlich nur –«

»Nee, schon gut, euer Gespräch davor hab ich auch mitgekriegt«, unterbrach Kavi Meabh und versuchte, mit der Hand abzuwinken, über der ihre Beine hingen.

»Oh.« Zum ersten Mal in ihrem überaus redseligen Dasein schienen Meabh die Worte zu fehlen.

Langsam beschlich mich der Verdacht, dass Kavi irgendetwas von uns wollte, so wie er mich anlächelte und keine Anstalten machte zu verschwinden. Ich wusste nur nicht, was.

»Und jetzt?«, forderte ich ihn heraus. »Wenn du ins Lehrerzimmer rennst und petzt, streitet Meabh sowieso alles ab. Das ist viel zu bescheuert, als dass es dir irgendwer abkaufen würde.«

Ich war nicht mal selbst ganz überzeugt von dem, was ich da sagte. Jeder, der sich Meabhs Terminplan mal näher anguckte, würde ziemlich schnell kapieren, dass sie allen Grund hätte, sich selbst zu sabotieren, um mal durchatmen zu können.

Aber Kavi riss bloß die Augen auf. »Glaubt ihr, ich will euch Stress machen?«

Wieder wechselte ich einen Blick mit Meabh, die sich vor lauter Unbehagen wand wie ein Kätzchen, das nicht auf dem Arm gehalten werden will. Sie wollte offensichtlich einfach nur runtergelassen werden und auf ihrem ramponierten Bein von dannen humpeln.