Notfallseelsorge -  - E-Book

Notfallseelsorge E-Book

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Beschreibung

Die Bedeutung Notfallseelsorge wird zunehmend erkannt. Inzwischen gehört der Bereich zu den meist spezialisierten Gebieten der Pastoral. Dem will das völlig neu konzipierte, kompakte Handbuch entsprechen. In fast 30 Beiträgen gibt es Auskunft zu unterschiedlichsten Aspekten der seelsorglichen Krisenbegleitung. Die Autoren des Bandes stammen fachübergreifend aus den Bereichen Theologie, Jura, Medizin, Psychologie und Philologie. Damit bietet der Band allen, die ehren- und hauptamtlich mit Notfallsituationen konfrontiert werden oder hier begleitend engagiert sind, eine Fülle an hilfreicher und solider Handreichung.

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Seitenzahl: 560

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Christof Breitsameter (Hg.)

Notfallseelsorge

Ein Handbuch

 

Mit freundlicher Unterstützung des Verbandes der Diözesen Deutschlands und des Bistums Essen

Vollständige Ebook-Ausgabe des im Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG erschienenen Werkes Originalausgabe

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2012/2013 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-402-19684-7

ISBN der Druckausgabe: 978-3-402-12940-1

Sie finden uns im Internet unter www.aschendorff-buchverlag.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort Christof Breitsameter

Einleitung Notfallseelsorge: Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft Ulrich Slatosch

THEOLOGIE

Franz-Heinrich Beyer Tod im häuslichen Bereich: Verabschiedung, rituelle Hilfen

Franz-Heinrich Beyer Notfallseelsorge: Seelsorgerliche und liturgische Begleitung von Betroffenen

Stefan Böntert Rituale, Zeichen und Gebet im Dienst der Notfallseelsorge

Christof Breitsameter Der Patientenwille zwischen Autonomie und Fürsorge

Christof Breitsameter Freiheit und Schuldfähigkeit

Christof Breitsameter Organtransplantation

Judith Hahn Kirchenrechtliche Anmerkungen zu Seelsorge und Sakramentenspendung im Notfall

Susanne Hegger Warum lässt Gott das zu? Fragen der Theodizee

Traugott Jähnichen Von Gott reden angesichts von Leiden und Tod Die Theodizee in der Notfallseelsorge

Franz-Josef Nocke Tod eines Kindes

Petra Freudenberger-Lötz Kind und Tod

Mirjam Schambeck sf Zum Umgang mit Tod und Sterben bei Jugendlichen

JURA

Klaus Bernsmann Notfallseelsorge durch ‚Geistliche’ aus strafrechtlicher Sicht

Udo Branahl Der Sensation entfliehen. Rechtliche Grundlagen des Umgangs mit den Medien in Krisensituationen

Thomas Feltes Gewalt in der Schule Ergebnisse der Bochumer Studie

MEDIZIN / PSYCHOLOGIE

Monika Bormann Sexueller Missbrauch an Kindern Wie kann das geschehen und was ist zu tun?

Frank Lasogga Kinder in Notfällen

Werner Meyer-Deters Sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen: Zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung

Georg Juckel Suizidales Verhalten: Hintergrundwissen und Möglichkeiten für ein strukturiertes Vorgehen

Franciska Illes Amok und erweiterter Suizid

Rebecca Bondü & Axel Schölmerich Gewalthaltige Computer- und Videospiele und ihre Effekte

Theo Payk Psychiatrische Notfälle

Michael Zenz Medizinethische Überlegungen zur Notfallmedizin

Christian Bellebaum Lernen und Gedächtnis: Grundlagen und Einflussfaktoren

PHILOLOGIE

Harro Müller-Michaels Kathastrophen in der Literatur

Harro Müller-Michaels Schmerz und Tod in der Literatur

Jan Boelmann Gewaltübertragung durch Ego-Shooter: Computerspiele mit gewalthaltigem Inhalt und ihre Auswirkungen auf Jugendliche

Jan Boelmann Neonazis online Rechtsextremismus im weltweiten Netz

 

Autorenverzeichnis

Register

Vorwort

Vielerorts sind mittlerweile zahlreiche Initiativen der Notfallseelsorge entstanden. Damit stellt sich die Frage nach Qualifizierungsmöglichkeiten, die neben der praktischen-seelsorgerlichen Arbeit auch die theoretisch-wissenschaftliche Reflexion des Alltags von Notfallseelsorgenden berücksichtigen.

An diesem Punkt setzt die Veranstaltung Notfallseelsorge und Krisenintervention an, die seit fast zehn Jahren an der Katholisch-Theologischen der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit der Konferenz der Beauftragten für Notfallseelsorge und Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdiensten in den Bistümern und Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wird. Sie versteht sich als wissenschaftliche Fortbildung für Notfallseelsorgende, Fachberatende der Feuerwehr und PSU-Teams und setzt sich grundlegend mit wichtigen Facetten der praktischen Arbeit Notfallseelsorgender auseinander, indem sie ein Forum des Austauschs zwischen Mitarbeitenden aus der Praxis und Lehrenden verschiedener Fakultäten an der Ruhr-Universität Bochum bietet.

Die Initiative zur Fortbildungsreihe Notfallseelsorge und Krisenintervention ergriff im Jahre 2002 Prof. Dr. Heinrich J. F. Reinhardt, der sich die Frage nach der nebenberuflichen Qualifizierung und Fortbildung Notfallseelsorgender stellte und an den beiden theologischen Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum die Aufgaben der interdisziplinären Koordination und Integration von Veranstaltungen verankerte. So sollte, wie Prof. Reinhardt formuliert hat, „die Theologie aus den Sträuchern kommen“. Zusammen mit Herrn Diakon Ulrich Slatosch, der die Veranstaltung seitens des Bistums Essen bis heute mit außerordentlichem Engagement begleitet, sowie dem damaligen Lehrstuhlinhaber für Moraltheologie, Prof. Dr. Udo Zelinka, organisierte Prof Reinhardt mit tatkräftiger Unterstützung durch Frau Karin Kuhl für den 5. November 2003 die erste Veranstaltung zur Notfallseelsorge und Krisenintervention. Sie alle haben maßgeblich zum Entstehen und zur Etablierung der Reihe beigetragen. Zwischen 2006 und 2010 wurde die Fortbildung durch Herrn Prof. Dr. Christian Frevel unterstützt. Seit 2010 wird die Initiative Notfallseelsorge und Krisenintervention durch den Lehrstuhl für Moraltheologie in konzeptioneller Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Dr. Stefan Böntert betreut.

Mit der vorliegenden Publikation, die den Titel Notfallseelsorge – Ein Handbuch trägt, sollen nun erstmals ausgewählte Beiträge der Veranstaltungsreihe einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Damit möchten wir dem über die Jahre stetig gewachsenen Interesse an den Veranstaltungen der Reihe Notfallseelsorge und Krisenintervention und vor allem der Nachfrage nach der Veröffentlichung der Beiträge Rechnung tragen.

Der Band folgt in seinem Aufbau einem Grundsatz der Fortbildungsreihe, insofern er ein möglichst breites Themenspektrum, insbesondere die Disziplinen der Theologie, der Rechtswissenschaften, der Medizin, der Psychologie und der Philologie berücksichtigt. Besonders freut uns, dass wir auch Referenten der ersten Stunde für die Publikation haben gewinnen können; sie sind der Fortbildungsreihe nun schon über Jahre verbunden und haben mit großem Engagement zum Gelingen und Werden der Veranstaltung beigetragen. Ihnen sowie allen Autorinnen und Autoren des Handbuchs sei an dieser Stelle für das Verfassen der Texte und die gute Zusammenarbeit aufrichtig gedankt.

Sehr herzlich danke ich Frau Monika Konik, Frau Simone Horstmann, Herrn Christian Berkenkopf, Herrn Kai Kämper sowie Herrn Lukas Brand für die Mitarbeit bei der Publikation des vorliegenden Bandes. Für die umsichtige Betreuung der Drucklegung danke ich Herrn Dr. Bernward Kröger. Ein besonderer Dank gilt auch Herrn Dr. Thomas Roddey (Deutsche Bischofskonferenz) und Herrn Dr. Hans-Werner Thönnes (Bistum Essen) für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses.

Bochum im Juni 2012

Christof Breitsameter

01.Einleitung

Notfallseelsorge Entwicklungen – Gegenwart – offene Zukunft

1. Definition und Kontext

„Notfallseelsorge ist ein seelsorgliches Angebot für Menschen, die in Momenten schwersten Leids und existentiellen Krisen mit dem nahen und plötzlichen Tod konfrontiert sind.“ (Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 21) Wir sprechen an dieser Stelle auch gerne von ‚Lebenswenden‘ und ‚Schnittstellen‘, an denen sich der Weg eines Menschen so einschneidend verändert, dass von einem Moment auf den anderen nichts mehr so ist, wie es vorher einmal war.

„Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche an den Lebenswegen der Menschen“ schreiben Bischof Dr. Wolfgang Huber und Erzbischof Dr. Robert Zollitsch in einem Geleitwort einer Handreichung der Akademie Bruderhilfe (ebd. 2009, 3). Sie beziehen diese Aussage auch auf Notfälle und Krisensituationen. In solchen Momenten ist die Notfallseelsorge als „Erste Hilfe für die Seele“ mit verlässlicher Präsenz und Begleitung bei den betroffenen Menschen und deren Angehörigen. Notfallseelsorgende sind da, um nach Wegen zu suchen, Gefühlen Ausdruck zu geben, zuzuhören, zu beten und zu bezeugen, Riten des Abschieds und der Trauer anzubieten oder auch manchmal ‚nur‘ still für die Menschen da zu sein.

Für Bischof Huber und Erzbischof Zollitsch ist Notfallseelsorge als organisierter Bereitschaftsdienst der Kirchen in ökumenischer Verbundenheit zur Selbstverständlichkeit geworden.

Notfallseelsorge ist keine neue Erfindung unserer Zeit. Es gibt die Sorge um die Seele des Menschen sicherlich schon so lange, wie es Menschen gibt.

2. Unheilssituationen im Alten Testament

In Gen 4,1–24 erschlägt Kain seinen Bruder Abel. Gott greift ein, verflucht ihn und verbannt ihn vom Ackerboden (Vers 11). Kain erkennt seine Lage: „Zu groß ist meine Strafe (Schuld?, Anm. d. Verf.), als dass ich sie tragen könnte. Siehe du treibst mich heute vom Ackerboden weg, und vor deinem Angesicht muss ich mich verbergen. Ich muss mich verbergen. Ich muss unstet und flüchtig auf Erden sein, und jeder, der mich findet, wird mich töten.“ (Vers 13f). Gott rechtfertigt den Mörder nicht, sondern hört ihm zu, unterbricht die Spirale der Gewalt und spricht das Gesetz gegen den Mord aus – womit ein kultureller Entwicklungsstart der Menschheit beginnt.

In Gen 6,1–7 wird eine Katastrophe beschrieben. Mensch und Tier sollen vom Erdboden vertilgt werden (Vers 7). In Vers 8 heißt es aber: „Noah hatte in den Augen Jahwes Gnade gefunden.“ Er wird von Gott gesegnet und mit ihm und seiner Familie beginnt ein neuer Start, ein Bündnis zwischen Gott und den Menschen (vgl. Guballa 2004).

3. Neutestamentliche Beispiele ‚notfallseelsorglicher‘ Tätigkeit

Der ‚Barmherzige Samariter‘ (Lk 10,25–37) steht an erster Stelle für die Veranschaulichung der notfallseelsorglichen Tätigkeit. „Ein Samariter aber, der des Weges zog, kam in die Nähe, sah ihn und wurde von Mitleid bewegt. Er trat hinzu, verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf. Dann setzte er ihn auf sein Lasttier, brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn.“ (Vers 33–35). Dieses Beispiel für Hilfe an einem Menschen, der überfallen worden ist, zeigt uns sehr schön den Weg der Handlung in der Notfallseelsorge auf. Der helfende Samariter a) hält an, b) schaut hin, c) lässt sich berühren von der Situation, d) hört zu, was gebraucht wird und e) veranlasst das ‚Not-wendigste‘. Er ist zugleich jemand, der nicht dem religiösen Establishment angehört, sondern ein Fremder, der zu einem Fremden geht. – Weil Gott uns liebt.

Dieses Gleichnis endet so mit der Aufforderung Jesu an die damaligen Zuhörer, aber auch an uns Christen heute „Geh hin, und tu desgleichen.“ (Vers 37)

Die Heilungsgeschichten Jesu dienen als Ermutigung für uns, ebenfalls für die von Notfällen betroffenen Menschen tätig zu werden und ‚heilsam‘ zu wirken. Diese Geschichten von Jesu Tätigkeit haben schließlich einen konkreten Hintergrund. Sie sollen uns und damit auch den Betroffenen aufzeigen, dass Leiden nach Gottes Willen nicht sein soll. Die Beispiele helfen uns auch, eine mögliche Antwort auf die immer wieder gestellte Theodizee-Frage zu finden: Warum kann Gott das zulassen?

Hervorzuheben ist schließlich auch das Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31–36). Die dort erwähnten ‚Werke der Barmherzigkeit‘: Hungernde zu speisen, Durstigen zu trinken zu geben, Nackte zu kleiden, Fremde aufzunehmen, Gefangene und Kranke zu besuchen, werden in Tob1,16f durch: die Bestattung der Toten und den Besuch der Trauernden (Sir 7, 34) ergänzt.

Die ‚geistlichen Werke der Barmherzigkeit‘: zu belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben und Unrecht geduldig zu ertragen, finden sich zusätzlich im Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 2447)(Vgl. Zippert 2006, 33).

Im Laufe der letzten Jahrhunderte haben sich Christen immer wieder besonders in der Begleitung von Kranken und Sterbenden engagiert. Neben dem Gebet und Ritualen (z. B. Berührung und Segen) ist auch das Sakrament der Krankensalbung in der Katholischen Kirche zu erwähnen, dass dem Kranken zur Stärkung und zur Linderung der Schmerzen gespendet wird.

Bis heute ist das Sakrament der ‚Kranken‘ (nicht der Verstorbenen)-Salbung in der Bevölkerung als ‚letzte Ölung‘ im Bewusstsein der Betroffenen, wenn ein Angehöriger plötzlich verstorben ist, und wird immer wieder mit der Tätigkeit der Notfallseelsorge gleichgesetzt. Hier bedarf es der entsprechenden Erklärung und Aufklärung, welches breite und differenzierte Angebot des Beistands Notfallseelsorge auf die jeweilige Situation hin leisten kann (vgl. zu biblischen Wurzeln auch Waterstraat 2006).

4. Notfallseelsorge seit Ende der 1980er Jahre

Die Notfallseelsorge – wie wir sie heute kennen – ist Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in einer organisierten Form in Deutschland an verschiedenen Orten durch Einzelinitiativen entstanden. Einige dieser Initiativen verstanden ihre Arbeit als ‚grundpastorale Aufgabe der Gemeindeseelsorge‘, wohingegen andere sie klar als ‚Kategorialseelsorge‘ etablieren wollten. Beide Sichtweisen bestehen bis heute.

Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten: Notfallseelsorge wird durch Einsatzkräfte des Krankentransportes, Rettungsdienstes, der Feuerwehr oder Polizei über eine Leitstelle angefordert. Im Laufe der Jahre hat sich der Notfalldienst mit seinem Blickwinkel der medizinisch-technischen Versorgung oder Rettung auch dem Angehörigen oder ‚unverletzten‘ Unfallbeteiligten zugewandt, der menschliches Leid und plötzlichen Tod persönlich und direkt erlebt hat. In diesen Situationen wird das Angebot einer ‚Seel-Sorge‘ gemacht, die speziell auf den Ablauf eines Einsatzes ausgerichtet ist, als eigenverantwortliche Tätigkeit von den Einsatzkräften vorgeschlagen und von den Betroffenen oder deren Angehörigen gewünscht wird. Notfallseelsorge wird in ökumenischer Verantwortung wahrgenommen und durch Beauftragungen der Bistümer und Landeskirchen an vielen Orten in Deutschland abgesichert. (An einigen Orten heißen Systeme in nicht kirchlicher Trägerschaft beispielsweise ‚Notfallbegleitung‘ oder ‚Krisenintervention‘ und werden von Kommunen oder Hilfsorganisationen getragen.)

5. Stabilität und Mobilität der Kirchen

Kirche hat in Zeiten großer Mobilität der Menschen neben der Stabilität im Bereich der Gemeinden und Pfarreien, auch auf die Mobilität der Menschen zu reagieren. Wenn Menschen nicht mehr unsere Orte der Verkündigung aufsuchen, müssen wir die Orte aufsuchen, an denen Menschen sich befinden (Heming 2002, 201). In der akuten Krise der Menschen kommt Kirche mit der Notfallseelsorge an den Ort des Geschehens, und zwar ohne lange nach Gründen für die Bitte zu fragen oder Terminen zu suchen, sondern hic et nunc.

Getreu dem Namen Gottes ‚Ich-bin-da für dich‘ (vgl. Ex 3,13–15) reichen die Notfallseelsorgenden dem Menschen in seiner Krise, seinem Notfall, die Hand, begleiten ihn eine begrenzte Zeit und schaffen Raum für das ‚Not-wendigste‘. An diesen ‚Schnittstellen‘ lassen die Menschen ahnen, dass im Letzten nicht alles von uns und durch uns zu planen ist, dass wir moderne Menschen nicht alles im Griff haben oder regeln können.

„An diesen ‚Schnittstellen‘ menschlicher Lebensläufe sind Beistand und Zuspruch, Orientierung und Deutung, nicht zuletzt Sinngebung gefragt. Das alles wird nicht mehr selbstverständlich vom christlichen Glauben erwartet oder bei den Kirchen gesucht. Dennoch wird gerade in diesen Lebensfragen den Kirchen immer noch und wieder mehr hohe Kompetenz zuerkannt. Dies trifft auch auf Menschen zu, die keine Beziehung mehr zur Kirche haben.“ (Heming 2001, 202f). Es zeigt die Erfahrung der letzten Jahre die Chance, dass diese ‚Schnittstellen‘ möglicherweise auch Ausgangspunkte für den persönlichen Neubeginn mit Gott, mit Glaube und mit Kirche sind oder ein Grund, nicht aus der Kirche auszutreten.

6. Fünf Prinzipien der Notfallseelsorge

Damit Notfallseelsorge auch wirklich nach den Anforderungen in einem modernen System des ‚Notfallmanagements‘ funktionieren kann, sind fünf Prinzipien der NFS im Rahmen der Pastoraltheologie eine wichtige Orientierung (vgl. Zippert 2006, 68ff).

6.1 Das Prinzip der KooperationNotfallseelsorge muss jeweils in kirchlichen Strukturen und in den Strukturen der Feuerwehr und des Rettungsdienstes eingebunden sein. Nur dann, wenn beide an einem Tisch sitzen, abfragen was der Wunsch der einen Seite und die Möglichkeit der anderen Seite ist, kann vor Ort, i. e. in einer Stadt, einer Region, ein realistisches Angebot und eine erfolgreiche Notfallseelsorge gelingen. Auch die Kooperation mit anderen Diensten (Caritas, Diakonie, Sozialer Dienst der Kommune, …) ist zwingend erforderlich. Es darf nicht nebeneinander gearbeitet werden, sondern alle Beteiligten müssen miteinander an einem Strang ziehen und für den Menschen da sein.

6.2 Kollegialität und Regionalität zur Sicherstellung der ErreichbarkeitSeelsorgende können nicht immer erreichbar sein. Trotzdem heißt es zu überlegen, wie es möglich sein kann, dass an einem Ort, in einer Region, immer ein Seelsorgender zu erreichen ist. Hier ist ein Kreis gefordert zu überlegen, wie Erreichbarkeiten organisiert und gewährleistet werden.

6.3 Das Prinzip der Gemeindebezogenheit und ÖkumeneNotfallseelsorge soll Gemeindeseelsorge nicht ersetzen, sondern von ihr ausgehen und wieder in sie münden. Je nach Alarmierungsweg in einem NFS-System wird als Erstes versucht, den Gemeindeseelsorgenden zu erreichen. Sollte diese / / r nicht anzutreffen sein, macht sich der Notfallseelsorgende auf den Weg. Nach dem akuten Einsatz ist immer die schnellstmögliche Rückmeldung an den Gemeindeseelsorgenden angesagt. Sie ist auch deshalb wichtig, weil eine weitere Begleitung der Betroffenen, z. B. durch Trauergruppen u. a. erforderlich sein kann.

Die Zusammenarbeit geschieht in ökumenischer Offenheit und beinhaltet, dass erst einmal die Kontaktkette nach dem Rettungsdiensteinsatz nicht unterbrochen wird. Sollte dann z. B. die Vertreterin / der Vertreter einer bestimmten Konfession gefordert sein, so wird dem Wunsch des betroffenen Menschen gerne nachgegangen.

6.4 Das Prinzip der FreiwilligkeitSeelsorge in Notfällen ist eigentlich Teil des ‚normalen‘ Seelsorgeauftrages der Kirchen. Es ist allerdings nicht jedem Menschen gegeben, sich von jetzt auf gleich in außergewöhnliche Situationen zu begeben und das noch zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Um trotzdem an möglichst vielen Orten die Dienste anzubieten ist es nötig, unterschiedliche Fähigkeiten zu erkennen und evtl., in Zeiten von Rufbereitschaften, sich gegenseitig zu unterstützen. Wer sich mit einer konkreten seelsorgerlichen Aufgabe überfordert fühlt, soll wissen, wen er um Hilfe bitten kann. Die Teilnahme sollte unbedingt freiwillig sein, denn Aufgaben, die von ‚oben‘ verordnet werden zeigen eine andere Qualität als eine, von der ich überzeugt bin und die ich gerne vollziehe.

6.5 Das Prinzip der ProfessionalitätNotfallseelsorge erfordert bei Mitarbeit in einem bestimmten System immer eine Aus- und Fortbildung. Wie in anderen Bereichen (z. B. Krankenhaus- / Telefonseelsorge) zeigt es sich als sehr hilfreich, auf bestimmte Situationen vorbereitet zu werden oder Hintergründe eines Einsatzgeschehens bei Feuerwehr und Rettungsdienst und Polizei zu kennen. Dies dient einerseits dazu, mich gelassener in eine Situation zu begeben, der ich mich gewachsen fühle, andererseits dient es auch der Qualität meines Seelsorgeangebotes. Im Einsatz erscheinen die Notfallseelsorgenden nicht als ‚unbeholfene‘ Fremdkörper, sondern als geschätzte Fachkraft mit speziellen Fähigkeiten.

7. Indikationen für einen Einsatz

Neben den Prinzipien der NFS benötigen Alarmierungssysteme auch einen Indikationskatalog für den Einsatz der Notfallseelsorge. Unklare Definitionen des Tätigkeitsfeldes und des dahinter stehenden Angebotes zeigten bei den ersten Initiativen die Problematik auf, dass Rettungskräfte sich nicht sicher waren, ob sie für diese Situation die seelsorgliche Unterstützung anfordern können. Die Seelsorgenden wiederum fühlten sich durch fehlende Aus- und Fortbildung nicht immer kompetent für den angefragten außergewöhnlichen Einsatz.

Eine der klassischen und häufigsten Anfragen wird im Zusammenhang mit der ‚ natürlichen Todesursache im häuslichen Bereich‘ gestellt. In dieser Situation des plötzlichen Todes erfahren Angehörige, dass die Rettungsdienstkräfte sie nicht allein mit den Verstorbenen zurücklassen, sondern dass jemand kommt, ihnen ‚bei-steht‘ und sich Zeit nimmt für die Bedürfnisse der Menschen.

„Durch die Notfallseelsorge ist die Kirche diakonisch präsent als Trost für Trauernde.“ (Müller-Cyran 2009, 238). Sie bezieht sich in diesen Momenten auf die Erkenntnisse der Psychotraumatologie, wobei die seelsorgliche Identität nach außen überall dort sichtbar wird, wo die Seelsorgenden im Notfall Menschen begegnen, die christlich-religiöse Bedürfnisse äußern. Falls die Anwesenden es wünschen, wird gemeinsam gebetet und der Segen gespendet. Die Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen zeigt aber auch bei denjenigen, die eher selten oder gar nicht christlich-religiös orientiert sind, dass dort eine spezifische seelsorgliche Identität nicht immer direkt sichtbar ist.

In der Veröffentlichung der deutschen Bischöfe zur Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht unter dem Titel ‚Tote begraben und Trauernde trösten‘ (2005) steht unter dem Kapitel ‚Pastorales Verhalten bei plötzlichen Todesfällen‘: „An der Schnittstelle von Leben und oft ‚unzeitigem‘ Tod drängen häufig die Fragen von Sinn, Schuld und Vergebung an die Oberfläche, droht der Verlust an Lebenskraft und Glaubenszuversicht, stehen die Würde des Menschen und zuweilen auch das Selbstverständnis der Seelsorger auf dem Prüfstand und muss sich in der Auferstehungshoffnung bewähren.“ (41)

Die deutschen Bischöfe weisen in diesem Zusammenhang auf ein differenziertes pastorales Handeln hin. Die Situation und psychische Verfassung erfordert ein flexibles pastorales Handeln. Das Angebot der Notfallseelsorge ist aus ihrer Sicht ein fachkundiger, achtsamer und bewährter Beistand. Aufgabe ist in diesen Momenten primär: Menschen zu stabilisieren, zu beruhigen; das Chaos durch Informationen zu strukturieren; den Bezug zur Realität und deren Wahrnehmung möglich zu machen (vgl. Kast 1982, Trauerphase 1: Realisierung des Todes); Worte für das Erlebte zu finden und der Emotionalität Raum zu geben (vgl. ebd., Trauerphase 2: Aufbrechen der Gefühle); Abschied zu nehmen und wenn gewünscht, da zu sein mit Gebet und Segen. Dabei heißt es, das soziale Umfeld mit ein zu beziehen und bei Bedarf auf weiterführende Einrichtungen (auf kirchlicher und kommunaler Ebene) hinzuweisen (vgl. Die deutschen Bischöfe 2005, 41f).

Zu einem Einsatz ‚ungeklärter Todesursache im häuslichen Bereich‘ gehören alle Situationen, in denen der Arzt vor Ort die Todesursache nicht direkt feststellen kann, der Suizid und auch der Verdacht auf einen ‚Plötzlichen Säuglingstod‘. In diesen Momenten des Verlustes kommt neben den Kräften des Rettungsdienstes zusätzlich die Polizei mit ihrem Ermittlungsdienst ins Haus, um herauszufinden, woran der oder die Tote verstorben ist. Während dieser Rechtsakt abläuft, haben die Angehörigen keine Möglichkeit, in das Zimmer zu gehen und Abschied zu nehmen. Zusätzlich stehen sie unter potentiellem Verdacht, für die Tat verantwortlich zu sein.

In dieser ‚spannungsgeladenen‘ Situation ist den Seelsorgenden eine zweifache Aufgabe gestellt: a) zu helfen, den Verlust zu realisieren und b) zu erläutern, was gerade zu welchem Zweck ermittelt wird. An dieser Stelle ist deutlich erkennbar, dass die Tätigkeit in der Notfallseelsorge unbedingt entsprechender Kenntnisse einer solchen Einsatzlage bedarf, um qualifiziert den Dienst zu tun.

Auch bei der Einsatzindikation: Verdacht auf den ‚Plötzlichen Säuglingstod‘ ist die Ermittlung durch Polizei und Staatsanwaltschaft in den meisten Städten grundsätzlich vorgesehen. Eltern können sich oft nicht von ihrem Säugling vor Ort verabschieden und müssen bis nach einer Obduktion und Freigabe durch den Staatsanwalt warten. Diese seelsorgliche Herausforderung ist in der Regel nicht nach 2–4 Stunden beendet, sondern beinhaltet weitere Kontakte und Weitervermittlung, beispielsweise an die ‚Gemeinsame Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod‘ (GEPS). Die Organisation ist ein Zusammenschluss von betroffenen Eltern, die sich um die Erforschung der Ursachen und die Begleitung von Eltern engagieren. Sie haben enge Kontakte zu Seelsorgenden und sind eine wertvolle Unterstützung in der Notfallseelsorge.

Im außerhäuslichen Bereich sind es häufig Einsätze im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, in denen es um die Betreuung von Menschen geht, die keine medizinisch-technische Hilfe benötigen, aber beispielsweise mit in einem Fahrzeug gesessen haben oder Augenzeugen eines schweren Unfalls waren. Eindrücke, die Betroffene oft schildern, sprechen davon, dass alles wie in einem Traum oder Film erlebt wurde. Sie stehen nicht selten ‚neben sich‘ und brauchen jemanden, der ihnen zur Seite steht und zuhört, was jetzt gebraucht wird.

Der Bei-Stand gilt in dieser Situation allen Beteiligten des Unfalls, sowohl den Opfern, als auch den Verursachern. Die Frage der Schuld lastet schwer auf den Schultern der Menschen, und auch sie haben, wie Opfer und Augenzeugen, es nötig, unterstützt zu werden. Notfallseelsorge hat nicht die Aufgabe der Verurteilung, sondern den Menschen in Not im Blick zu haben, unabhängig von Religion, Geschlecht oder Herkunft.

Menschen, die beispielsweise durch einen Wohnhausbrand oder eine Explosion ihr Hab und Gut verloren haben, werden sicherlich vorläufig durch das Ordnungsamt eine Unterkunft erhalten. Aber wer begleitet diese Menschen, die all ihre Dinge verloren haben, die ihnen persönlich etwas bedeutet haben und die sich nicht materiell ersetzen lassen? Wir Christen haben die Möglichkeit, die in Mt 25,31–46 beschriebene Szene des Jüngsten Gerichtes auf diese Einsatzindikation zu übertragen und als einen Auftrag zum Handeln zu sehen.

Schließlich gehört die Überbringung einer Todesnachricht in Zusammenarbeit mit der Polizei in den Indikationskatalog. Es ist originäre Aufgabe der Polizei, eine Todesnachricht zu überbringen. Zur Unterstützung des anschließenden persönlichen Gespräches kann die Aufgabe an einen Seelsorgenden übertragen werden.

Hintergrund ist, dass derjenige, der eine negative Nachricht überbracht hat, in der Regel aufgrund der situativen Dynamik ohne persönlichen Anteil anschließend nicht die Ebene des persönlichen Kontaktes treffen kann und spontan eher abgelehnt wird, obwohl ein Gespräch, ein Beistand, Abschiednahme oder Weitervermittlung unbedingt nötig wären.

Theologisch ist für die Notfallseelsorge damit ein Aspekt im Raum, der in der Eucharistiefeier mit der Akklamation verbunden ist, die der Diakon oder Priester spricht: ‚Geheimnis des Glaubens‘, worauf die Gemeinde antwortet: ‚Deinen Tod, oh Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir ...‘ Wer um den Prozess der Trauer Hinterbliebener weiß, der kann sich vorstellen, was es heißt, wenn der Tod nicht verkündet wurde, nicht realisiert wurde, dass ein Angehöriger ‚end-gültig‘ nicht mehr – deutlicher gesagt: nie wieder – nach Hause kommt. Sie stellt eine unverzichtbare, dialektische Komponente des Preisens von Auferstehung dar. Nur dort, wo Tod verkündet wurde, kann das spätere Preisen der Auferstehung erfolgen. Übergeht man den Schritt der Verkündigung des Todes, bleibt das Preisen der Auferstehung psychisch wie liturgisch in der Luft hängen, weil seine Voraussetzung fehlt. Seelsorge im Notfall des Todes bringt seine Verkündigung zur konkreten Darstellung (vgl. Müller-Cyran 2009, 241f).

Katastrophen oder Großschadensereignisse in Ramstein, Eschede, Winnenden oder Duisburg haben über die oben genannten Beispiele hinaus noch einmal eine besondere Stellung. Sie zeigen während und nach dem Geschehen die besondere Bedeutung der Notfallseelsorge in der gesamten Geschehensbearbeitung auf. Ohne die Unterstützung der Einsatzkräfte von Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei durch die NFS würde sicherlich ein nicht unerheblicher Teil der Versorgung der betroffenen Menschen fehlen. Das gilt auch umgekehrt.

Der Einsatz im Großschadensereignis bedarf einer zusätzlichen Vorbereitung (Aus- und Fortbildung) und ist auch für die Seelsorgenden nicht ohne erhöhtes Risiko einer eigenen Betroffenheit. Ebenfalls ist die Dauer der Begleitung eines solchen Trauerprozesses zu beachten, der durchaus über die akute Phase hinaus organisiert und evtl. durchgeführt werden muss.

8. Essentials

Die Konferenz der Evangelischen Notfallseelsorge verabschiedete am 12. September 2007 die Hamburger Thesen als Aktualisierung der über die ersten Jahre geltenden Kasseler Thesen von 1997. Das Selbstverständnis wird neu beschrieben und die NFS als ein Grundbestandteil des Seelsorgeauftrages der Kirchen bezeichnet mit ökumenischer Ausrichtung. Handlungsraum und Anlässe werden aufgeführt sowie besondere Arbeitsfelder beschrieben. Hier finden die Großschadenslagen / Katastrophen Erwähnung, ebenso wie der Hinweis auf die seelsorgliche Begleitung von Einsatzkräften, die als eigenes seelsorgliches Angebot der Kirchen mit zusätzlicher Qualifikation, Ressourcen und Beauftragungen geschaffen werden soll. In den Anfangsjahren wurden diese Bereiche nicht differenziert, so dass Notfallseelsorgende leicht mit dem Wunsch der Begleitung einer traumatisierten Einsatzkraft überfordert sein konnten. Auch die Rahmenbedingungen zeigen in diesem Papier auf, welche Anbindung an Einsatzstrukturen zu erfolgen hat und wie die Beauftragungen auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen durchgeführt werden sollen.

Auf Bundesebene ist für entstandene ‚Konferenz der Landeskirchlich Beauftragten für die Notfallseelsorge‘ erwähnt, die analog zur ‚Konferenz der Diözesanbeauftragten der (Erz-)Bistümer‘ besteht. Neu ist weiter, dass neben hauptamtlichen Seelsorgenden auch Ehrenamtliche ‚Mitarbeitende in der Notfall- und Feuerwehrseelsorge’ werden können. Ferner soll ein enger Austausch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen durchgeführt werden (vgl. Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 25f).

Zwei Jahre später erschien das ‚Proprium Notfallseelsorge‘ als Ergebnis zweier Studientagungen der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge in den deutschen (Erz-)Bistümern. Theologische Begründung und Darstellung des pastoralen Arbeitsfeldes und Orientierung der Mitarbeitenden stehen im Vordergrund. Dadurch soll außerhalb des katholischkirchlichen Rahmens das Selbstverständnis der NFS für Kooperationspartner im Bereich der psychosozialen Unterstützungssysteme erkennbar und verlässlich gemacht werden (vgl. Die Akademie Bruderhilfe et al. 2009, 21).

Auch in diesem Papier wird auf die Beauftragungen hingewiesen, die konfessionelle Zusammenarbeit als bewährt hervorgehoben und die Vernetzung mit den Strukturen der Gefahrenabwehr im Kontext der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) angeregt. Ebenso ist die Rolle der NFS bei Großschadenslagen / Katastrophen beschrieben sowie die Differenzierung der Betreuung von Betroffenen im Vergleich zur Begleitung von Einsatzkräften, die als (kategoriale) Fachseelsorge gesehen wird.

9. Neue Herausforderungen

In der Psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) der Bundesrepublik Deutschland zeigt sich um die Jahrtausendwende das Erfordernis des strukturellen Ausbaus und die wissenschaftliche Unterfütterung des Arbeitsfeldes. Standardisierung, Strukturierung und Qualitätssicherung stehen dabei im Vordergrund.

„Ein Team um Prof. Dr. Irmtraud Berlage (FH Magdeburg-Stendal) arbeitete an der ‚Entwicklung von Standards, Empfehlungen und Umsetzungsplänen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung‘ sowie zu ‚Organisationsprofilen, Gesundheit und Engagement im Einsatzwesen‘, während Prof. Dr. Willi Butollo (Ludwig-Maximilians-Universität München) mit seinen Mitarbeitern zur ‚Primären und sekundären Prävention im Einsatzwesen‘ geforscht hat.“ (Blank-Gorki 2011, 22).

In einem Konsensus-Prozess von 2007 bis 2010 wurden gemeinsame Leitlinien und Standards für die PSNV geschaffen. Sechs Themenfelder standen dabei im Blickfeld der Bearbeitung: 1) Informationsmanagement, 2) Psychosoziales Krisenmanagement und strukturelle Regelungen, 3) Einbindung der PSNV in den Einsatzalltag, 4) Zuständigkeiten, Schnittstellen und Vernetzung, 5) Aus- und Fortbildung, 6) PSNV auf der Ebene der Bundesländer. Die Ergebnisse sind von Personen verschiedener Organisationen und Institutionen unterzeichnet worden, die damit die freiwillige Selbstverpflichtung zur Einhaltung und Umsetzung der Leitlinien und Empfehlungen zusicherten.

Die Konferenz der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge in den (Erz-)Bistümern sowie die Konferenz der Landeskirchlich Beauftragten für die Notfallseelsorge gehören neben den Hilfsorganisationen, der AG der Leiter der Berufsfeuerwehren, dem Deutschen Feuerwehrverband, der Bundesärztekammer, der Bundespsychotherapeutenkammer u. a. dazu (Blank-Gorki 2011, 23).

10. Notfallseelsorge heute

Im Bundesland NRW gibt es beispielsweise eine einheitliche Ausbildungsvereinbarung, die die ökumenische Konferenz der Bistums- und Landeskirchlichen Beauftragten für die NFS gemeinsam erarbeitet haben und die regelmäßig auf Aktualität und wissenschaftliche Weiterentwicklung hin überarbeitet wird. Damit wird versucht, die o. g. Standards zu erfüllen und zur Qualitätssicherung beizutragen.

Mit der wissenschaftlichen Fortbildung an der Ruhr-Universität Bochum wird seit dem Wintersemester 2003 / 2004 eine Veranstaltung (zuerst nur für Notfallseelsorgende, später für Fachberater Seelsorge der Feuerwehr und Mitglieder von Teams der psychosozialen Unterstützung erweitert) durchgeführt, die sich ebenfalls zum Ziel gesetzt hat, eine wissenschaftliche Unterfütterung, aber auch eine Anregung zur Forschung in verschiedenen Bereichen zu geben. Die Themen für die Vorträge werden aus der Gruppe der Praktizierenden und dem Vorbereitungsteam (Vertretern der Universität Bochum und der ökumenischen Konferenz NRW) vorgeschlagen. Das Team versucht die kompetenten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Fakultäten der Universität für den Vortrag über das gewünschte Thema zu gewinnen und stellt so ein Programm von Tagesveranstaltungen mit jeweils zwei Themenblöcken zusammen. Das Besondere ist neben dem wissenschaftlichen Input die anschließende Diskussion / das Gespräch, in dem beide Seiten sich gegenseitig über die jeweiligen Themen und Tätigkeiten informieren / aus- und fortbilden lassen.

Aufgrund der Nachfrage von Einsatzkräften zur Unterstützung der Betreuung von Muslimen in Notfällen hat die Christlich-Islamische Gesellschaft 2008 eine Fachtagung in Köln durchgeführt zum Thema: Notfallseelsorge für und mit Muslimen. Daraus entwickelte sich ein Ausbildungsmodell (orientiert an der Vereinbarung der Bistümer und Landeskirchen in NRW), nach dem seit 2009 Musliminnen und Muslime zu ehrenamtlichen Notfallbegleitenden ausgebildet werden. (Der Begriff ‚Notfallbegleitung‘ wird in diesem Zusammenhang bewusst gewählt, weil der Begriff ‚Notfallseelsorge‘ an das christliche Verständnis der Seelsorge gebunden ist, vgl. Lemmen / Yardim / Müller-Lange 2011, 7). Die Resonanz auf die Möglichkeit zur Ausbildung ist so groß, dass bereits zwei Jahre später ca. 100 Frauen und Männer den Kurs belegt haben. Sie werden über die örtlichen Notfallseelsorgesysteme und deren Leitstellen / Einsatzzentralen nach entsprechend festgelegter Indikation eingesetzt.

Die wissenschaftliche Fortbildung an der Bochumer Universität steht auch dieser Personengruppe zur Aus- und Fortbildung zur Verfügung und bietet sowohl Teilnehmenden als auch Referierenden ein Podium für interreligiösen Dialog und Zusammenarbeit.

11. Perspektiven

Bei der Notfallseelsorge handelt es sich um einen schwerpunktmäßig ‚diakonischen‘ und im Akt des ‚Hingehens‘ und ‚Daseins‘ missionarischen Dienst (vgl. Dittscheidt 2009, 278). In den Wandlungsprozessen unserer Kirchen ist dieser Dienst von steigender Bedeutung in unserer Gesellschaft. Die Fragen nach dem Grundauftrag der Kirche sind gestellt und es soll dort ‚wo Seelsorge draufsteht, auch Seelsorge geleistet werden‘. Wir stellen allerdings fest, dass in Zukunft durch Zusammenlegungen von Gemeinden und Diensten immer weniger hauptamtlich Seelsorgende in der Lage sind, diese Unterstützung zu leisten. Hier heißt es heraus zu finden, welche Kompetenz (G. Dittscheidt schreibt: spezifische Charismen) von Ehrenamtlichen bei kirchlich engagierten und eingebundenen psychosozial ausgebildeten Menschen es gibt, die an dieser Stelle eingesetzt werden können. Aber Vorsicht, wenn es darum geht das Schwergewicht zu verlagern. Ehrenamt braucht hauptamtliche Begleitung. Wenn wir in den letzten Jahren an den Standards gearbeitet haben und unsere Qualifikation heute anerkannt und geschätzt wird, dann muss das auch perspektivisch unsere Auswahl und unser Handeln bestimmen.

Gerhard Dittscheidt spricht von der ‚Aktie‘ Notfallseelsorge und äußert in diesem Zusammenhang eine ‚Gewinnwarnung‘ – und meint damit: Es handelt sich um einen tief greifenden Verlust, wenn wir als Kirchen uns möglicherweise aus diesem Aufgabenfeld des Beistandes von Menschen in Not verabschieden.

Für die Wissenschaftliche Fortbildung an der Bochumer Universität wünsche ich mir deshalb, dass aus der Veranstaltung vielleicht einmal ein Lehrstuhl erwächst, der diese Bedürfnisse der Menschen nach Begleitung und Unterstützung in Notfällen und Krisen aus verschiedenen Fakultäten aufgreift und sowohl junge als auch berufserfahrene Menschen qualifiziert.

Abschließend möchte ich nach der ‚Gewinnwarnung‘ auf den ‚Gewinn‘ des Engagements in der Notfallseelsorge hinweisen. Ein Pfarrer beschrieb ihn auf einer Veranstaltung: Mein Einsatz der Begleitung einer jungen Familie, deren Vater plötzlich verstorben ist, hält mir in diesen schwierigen Zeiten vor Augen, warum ich Priester geworden bin – nicht aber die Bearbeitung von Formularen und die Vorbereitung der nächsten Kirchenvorstandssitzung.

Kirche braucht beides: Stabilität und Mobilität. Wie heißt es noch im Evangelium (Lk 10,25–37)? „… Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, mit all deiner Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten sollst du lieben, wie dich selbst. ...Was meinst du: Wer von diesen dreien hat den Mann, der von den Räubern überfallen wurde, wie seinen Nächsten behandelt? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig war und ihm geholfen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh hin und handle genauso.“

Ulrich Slatosch

Literatur

Die Akademie Bruderhilfe-Pax-Familienfürsorge/Konferenz Evangelische Notfallseelsorge in der EKD/Zusammenkunft der Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge (Hrsg.), Notfallseelsorge. Von der Initiative zur Institution, Unna 2009.

Verena Blank-Gorki, Psychosoziale Notfallversorgung, in: Rettungsdienst 34 (2011), 22–25.

Gerhard Dittscheidt, Ist eine „Gewinnwarnung“ für die Notfallseelsorge abwendbar? Ein Plädoyer gegen pragmatische Resignation in der Seelsorge, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 9 (2009), 278–284.

Werner Guballa, Das Angebot kirchlicher Begleitung für Menschen in unheilen Situationen. Vortrag auf dem 7. Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention in Frankfurt 2004. Online verfügbar unter http://www.notfallseelsorge-wetterau.de/fileadmin/user_upload/Guballa_2004_05_14.pdf; verifiziert am 25.03. 2011.

Heinrich Heming, Neue Seelsorge – Inhalte und Schwerpunkte, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Hildesheim, Köln, Osnabrück 7 (2002), 200–208.

Jochen M.Heinecke, Klagen statt bewältigen. Aufgaben von Notfallseelsorge gegen den Trend der Welt. Vortrag auf dem Bundeskongress für Notfallseelsorge und Krisenintervention, Halle/S. am 20.Mai 2005. Online verfügbar unter http://www.fachverband-nkm.de/img/050520_Klage.pdf; verifiziert am 25.03. 2011.

Jochen M.Heinecke, Notfallseelsorge – ständige Vergewisserung der Barmherzigkeit Gottes, in: Doris Hiller/Christine Kress (Hrsg.), Dass Gott eine große Barmherzigkeit habe, Leipzig 2001, 211–222.

Verena Kast, Trauern: Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Freiburg 1982.

Marion Krüsmann/Andreas Müller-Cyran, Trauma und frühe Interventionen. Möglichkeiten und Grenzen von Kriseninterventionen und Notfallpsychologie, Stuttgart 2005.

Thomas Lemmen/Nigar Yardim/Joachim Müller-Lange (Hrsg.), Notfallbegleitung für Muslime und mit Muslimen. Ein Kursbuch zur Ausbildung Ehrenamtlicher, Gütersloh 2011.

Andreas Müller-Cyran, Spiritual Care angesichts des plötzlichen Todes, in: Eckhard Frick/Traugott Roser (Hrsg.), Spiritualität und Medizin. Gemeinsame Sorge für den kranken Menschen, Stuttgart 2009, 237–243.

Joachim Müller-Lange (Hrsg.), Handbuch Notfallseelsorge, Edewecht 2006.

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Tote begraben und Trauernde trösten, Die deutschen Bischöfe 81, 2005.

Ulrich Slatosch, Einsatz – Mosaiksteine eines Notfallseelsorgers, in: Günther Nuth (Hrsg.), Blaulicht im Feuer. Was uns bleibt, sind die Bilder! Vechta 2010, 163–176.

Barbara S. Tarnow/Katharina M. Gladisch, Seele in Not. Notfall-Seelsorge als Hilfe in Grenzsituationen, Gütersloh 2007.

Frank Waterstraat, Wenn plötzlich alles anders ist: Notfallseelsorge im Einsatz. Ein Leitfaden für die Praxis, Hannover 2008.

Thomas Zippert, Notfallseelsorge. Grundlegungen Orientierungen Erfahrungen, Heidelberg 2006.

02.Theologie

Tod im häuslichen Bereich: Verabschiedung, rituelle Hilfen

1. Tod im häuslichen Bereich

Die Konstellationen, in denen Sterben geschieht und in denen Sterben wahrgenommen wird haben sich verändert. Die Entstehung und Entwicklung des modernen Krankenhauses sowie von Einrichtungen zur Pflege und Betreuung alter Menschen hat dazu geführt, dass lediglich 20–25 % der Sterbefälle in der häuslichen Umgebung geschehen. War in prämodernen Gesellschaften Tod und Trauer ein Ereignis, was in der umgebenden Gruppe der Nachbarn etc. seine soziale Abstützung in der Öffentlichkeit fand, so bleibt es heute eine Angelegenheit der engsten Bezugspersonen. Hinzu kommt, „dass aufgrund der höheren Lebenserwartung, begründet im medizinischen Fortschritt und der Verbesserung der Lebensqualität, der Tod im engeren familiären Umfeld nur noch alle 15 bis 20 Jahre erlebt wird“ (Kirsch 2005, 223). Tradierte Rituale und Verhaltensweisen werden prekär. Sie verstehen sich nicht mehr von selbst; sie sind weitgehend unbekannt.

Der häusliche Tod hat seinen Ort in einem Raumkontext, der nicht primär funktional bestimmt ist. Das unterscheidet etwa das Schlaf­zimmer oder das Wohnzimmer der häuslichen Wohnung von einem Krankenhauszimmer. Im Krankenhauszimmer stehen die Funktion – Ermöglichung umfassender medizinischer Betreuung – und ent­sprechend die Funktionalität im Vordergrund. Anders ist es mit einem Zimmer der vertrauten Wohnung.

2. Sterben und Abschied-Nehmen in einem Raum, der biographisch besetzt ist

In der jüngeren Literatur zur Sterbebegleitung wird die bewusste Gestaltung des Sterbezimmers als eine neu ergriffene Aufgabe gesehen und es werden manche Hinweise zur Veränderung der Atmosphäre im Raum gegeben. Nicht die Hilfsmittel zur Versorgung des sterbenden Menschen, sondern vielmehr Kerzen, Blumen und Bilder sollen den Eindruck des Zimmers prägen. Diese Hinweise beziehen sich v.a. auf die Situation des Krankenhauses.

Bei dem Sterben im häuslichen Bereich gibt es eine andere Kon­stellation. Der Raum, vielleicht das Schlaf- oder das Wohnzimmer, stellt die vertraute räumliche Umgebung für den sterbenden Menschen dar.

Räumlichkeit kann philosophisch als Grundbefindlichkeit menschli­chen Daseins beschrieben werden. Die Rede ist hier von der Leiblichkeit. Das Leben des Menschen ist nicht nur durch das körperliche Dasein, also die physiologischen Funktionen des Organismus, bestimmt. Das menschliche Dasein ist ebenso mit der Leiblichkeit des Menschen verbunden. Der Leib als dreidimensionaler Raum ist in einem drei­dimensionalen Raum, z. B. in einem Zimmer. Es gilt also: ‚Der Raum, der ich bin‘, und: ‚Der Raum, in dem ich bin‘. Der Mensch ‚bewohnt‘ seinen Leib und in gleicher Weise auch den ihn umgebenden Raum.

Der den Menschen umgebende Raum ist für diesen nicht eigen­schaftslos und gleichgültig. Die Rede von den vier Wänden, die jeder Mensch braucht, kann verdeutlichen, was der Begriff Raum bezeichnet: Einen abgegrenzten bzw. eingegrenzten, überschaubaren Bereich. Ent­scheidend ist zunächst, dass durch die Abgrenzung unterschieden werden kann zwischen einem besonderen – ‚unserm Raum‘ – und dem allgemeinen, sich unendlich erstreckenden Raum außerhalb. Damit ist zugleich der Gegensatz zwischen drinnen und draußen angesprochen. ‚Draußen‘ empfindet sich der Mensch unbehaust, erlebt sich verloren in einem unübersehbaren Raum. Im Folgenden geht es allein um den umgrenzten, Raum, um das ‚Drinnen-Sein‘, um ‚unsern Raum‘.

Jedes Raumerlebnis ist stets abhängig sowohl von der objektiven Beschaffenheit des Raumes als auch von den Voraussetzungen auf Seiten des Individuums. Raumwahrnehmung ist nie voraussetzungslos. Sie ist mit Bedeutungszuweisungen verbunden, die nur bedingt verall­gemeinbar sind. Solche Bedeutungen entstehen in dem Subjekt in einem Prozess der Enkulturation, d.h. sie beruhen auf Erfahrungen. Dem erlebten Raum, dem durchlebten Raum werden Bedeutungen zu­geschrieben, die aus persönlich bedeutsamen Erlebnissen resultieren.

Aus dem allen ergibt sich: Der den konkreten Menschen umgebende Raum ist ein ‚gestimmter Raum‘. Der Mensch kann sich in diesem Raum „verloren oder geborgen, in der Einheit mit ihm oder im Gefühl der Fremdheit zu ihm finden“ (Bollnow 2004, 220).

Ein Zusammenstimmen von Raumwirkung und von subjektiver Intention lässt ein Gefühl der Sicherheit und des Sich-Wohlfühlens entstehen. Dabei ist ein Wiedererkennungseffekt nicht ohne Bedeutung. Raumerleben kann somit auch eine tröstende Wirkung haben: Im Raumerleben, durch die Beziehung zum umgebenden Raum werden Gefühlsqualitäten wachgerufen, die tröstlich empfunden werden (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 258ff.; Eulenberger 2007, 15ff.). Für einen Menschen in der letzten Lebensphase kann das Sich-Wissen in einem solchen gestimmten Raum Geborgenheitsqualitäten freisetzen.

Das Haus, die Wohnung, ein bestimmtes Zimmer darin können als erweiterter Leib betrachtet werden, mit dem wir unmittelbar identifiziert sind. Dieser Raum gehört zu uns, zu unserer Existenz unmittelbar dazu. Der umgebende, „gestimmte Raum“ ist gleichsam ein Stück des Men­schen. Und das gilt dann umso mehr, wenn dieser Raum nicht mehr selb­ständig und aus eigenem Antrieb verlassen werden kann.

3. Sterben / Abschied-Nehmen und Körperkontakt

Die Körpererfahrung ist für menschliches Bewusstsein grundlegend (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 240ff.; Eulenberger 2007, 146ff.) Der Leib des Menschen ist das Medium, durch welches das Individuum in der Welt verankert ist. Körpererfahrung kann das Individuum sich nicht selbst verschaffen. Dazu bedarf es der Impulse von jenseits des eigenen Körpers.

Die menschliche Haut ist ein lebenswichtiges Sinnesorgan und es ist zugleich das größte Sinnesorgan. Die Haut ist gleichsam die Brücke zwischen Innen und außen. Die Haut ist ebenfalls das wichtigste Organ des Hörens. Das, was die Haut durchdringt und durch-klingt (per-sonare) berührt uns als Person. Und das geschieht auch da, wo sprachliche Verständigung und intellektuelle Ansprache nicht oder nicht mehr möglich sind. Der Wunsch und insbesondere die Fähigkeit zu fühlen und zu hören sind die Sinne des Menschen, die als letzte erlöschen. Der Tastsinn ist aber auch in der menschlichen Entwicklung der erste Sinn, der sich entwickelt.

Zwischenmenschlicher Körperkontakt geschieht meist durch Berüh­ren mit den Fingerspitzen. Die Hände des Menschen sind, so wie auch die Lippen, der wichtigste Bereich taktiler Sensibilität im menschlichen Körper. Kinder erfuhren und erfahren hoffentlich die Hand der er­wachse­nen Bezugsperson als beruhigend, beschützend, bergend. Solche Erfahrungen werden bewahrt und sie werden als Leibgedächtnis ge­speichert. So ist im Menschen das ganze Leben hindurch bei der Empfindung des Berührt-Werdens die Hand immer wieder als schützende und tröstende Hand des Erwachsenen im kind­lichen Leben präsent. Das gilt auch und erst recht in der letzten Lebens­phase. Taktile Reize berühren so tief, weil sie als Orte des Leib­gedächtnisses an ursprüngliche elementare Erfahrungen von Ange­nommen-Sein oder Ablehnung, von Wärme oder Kälte erinnern.

Insofern können dem oder der Sterbenden nahestehende Menschen dazu ermutigt werden körperlichen Beistand zu leisten. Die Hand kann gehalten werden, der Arm oder auch der Kopf kann mit der Hand berührt werden.

Der Mensch in seiner letzten Lebensphase und ebenso der gestorbene Mensch ist leiblich da; der Körper ist im Raum anwesend. Eine taktile Berührung kann dazu beitragen, die Endgültigkeit des Abschieds all­mählich zu verinnerlichen und zu akzeptieren.

4. Texte (Worte) und Musik (Töne) – Hilfen für Sterbende und Beistehende

Klangerleben induziert das Gefühl von Heimat, und zwar vor aller begrifflichen Botschaft. Mit dem Schall, den ein Mensch aus sich heraus lässt hebt er die Grenze zwischen sich und der Umwelt auf. Indem der Mensch einen Laut äußert nimmt er Kontakt zu der Umwelt auf und bewirkt eine Reaktion, etwa das besorgte oder das erleichterte Aufmerksam-Werden und Hinzutreten einer Pflegeperson.

Das Ohr liefert dem Menschen Erlebnisse des Einbezogen-Seins; das Auge dagegen vermittelt Distanzwahrnehmungen. Klänge bewegen Menschen und verwandeln die Seele in unterschiedliche Richtung. Klänge wirken erhebend oder bedrückend, sie wirken heilsam oder zerstörerisch. Im emotional positiven Sinne werden Klänge für Menschen unterschiedlich bedeutungsvoll im Sinne der symbolischen Assoziation an frühere Lusterlebnisse wie vertraute Rhythmen (Herzschlag der Mutter) oder Geborgenheitserfahrungen (bestimmte Liedmelodien in konkreten Situationen). Bedeutsam ist hier also die regressive Wirkung des Klangerlebens, auch wenn es scheinbar unbewusst verläuft (Vgl. Schneider-Harpprecht 1989, 264ff.; Eulenberger 2007, 101ff.)

Solcher klangbezogenen Interaktion eignen daher besondere Mög­lichkeiten. Auf diese Weise kann mit Menschen sinnlich vermittelter Kontakt auch dann erreicht werden, wenn die verbalsprachliche Kom­mu­nikation sie nicht mehr erreicht. Die Fähigkeit zu fühlen und ebenso die Fähigkeit zu hören sind die Sinne des Menschen, die als letzte erlöschen.

Die liturgischen Angebote der Kirchen zur Begleitung Sterbender und andere veröffentlichte Handreichungen verweisen zu Recht auf zahlreiche Möglichkeiten der Ingebrauchnahme von Musik (gesungen oder abgespielt) oder vorgelesenen Texten. So weist die Lutherische Agende auf die Möglichkeit der fortlaufenden Lesung hin. Als geeig­nete Texte werden ausgewählte Psalmen, die Passionsgeschichte, die Abschiedsreden im Johannesevangelium und Stücke aus den Pau­lus­briefen aufgeführt. Der Hinweis auf eine fortlaufende Lesung ist insbesondere auf die Situation der Sterbebegleiter ausgerichtet. „Die geistliche Lesung geschieht auch zum Schutze der Wachenden.“ (Agende III[4] 1994, 114) Die fortlaufende Lesung bindet bzw. kana­lisiert Emo­tionen. Und der Inhalt der Lesungen schafft eine innere Verbindung zu dem Ergehen des sterbenden bzw. bereits gestorbenen Menschen.

Eine Lesung, ein Singen von Liedern oder ein Abspielen von Musik kann durchaus weit über den Moment des Todes hinausreichen. Darin mag für die Beistehenden etwas fühlbar sein von der bleibenden geistigen und geistlichen Verbundenheit mit dem Menschen, der verstorben ist, eine Verbundenheit, die eben nicht mit dem Moment des Todes enden muss.

5. Sterben und Abschied-Nehmen – ein Beziehungsgeschehen

Sterben im Familienkreis ist auch in der Vergangenheit sicher nicht immer die Regel gewesen. Aber richtig ist, dass ein sterbender Mensch nach Möglichkeit nicht ohne Begleitung bleiben sollte. Und ebenso richtig ist es, dass die beim Sterben anwesenden Familienmitglieder selbst ihre Gegenwart als hilfreich empfinden können. Für die Anwesenden geht es hier um ein diakonisches, um ein mitmenschliches Handeln. Die Beziehung zwischen zwei Menschen wird mit dem Eintritt des Todes nicht einfach beendet; so etwas ist unmöglich. Wohl aber kann eine solche Beziehung durch die Begleitung in dem Sterbeprozess verändert werden. Trotzdem bleibt die Spontanreaktion angesichts des eingetretenen Todes, das Nicht-Wahrhaben-Können eine nur zu verständliche Reaktion.

Und gerade daraufhin, dass das Ereignis des Todes auf der Beziehungsebene nicht den entscheidenden Moment darstellt, gerade auch daraufhin sind die liturgisch geprägten rituellen Formen in ihrer Bedeutung und in ihrer Wirkung zu sehen.

6. Liturgisch geprägte Formen in der Sterbebegleitung

6.1 Beten / Gebete In der Situation des Sterbens wird ein geprägtes Gebet einem freien Gebet vorzuziehen sein (Vgl. Friedrichs 2007). Psalmen, aber auch Liedverse können hier als Gebete ihren Ort haben. Die Agende verweist auf die besondere Bedeutung des Vaterunsers: „Es erreicht als letztes verbliebenes Glaubensgut auch ganz vom Glauben Entfremdete. Wir sprechen es langsam oder rufen es [...] Bitte für Bitte ins Ohr.“ (Agende III[4] 1994, 113).

6.2 Die Abendmahlsfeier Das Abendmahl ist nach evangelischem Verständnis kein Sterbesakrament; es besiegelt nicht das Sterben. Allgemein verstanden ist das Abendmahl Weghilfe und Stärkung in jeder konkreten Situation des Lebens. In dem neuen evangelischen Pastorale wird dazu ausgeführt: „Kranke oder sterbende Menschen verlangen heute selten von sich aus das Abendmahl. [...] Manche Kranke begrüßen das Abendmahl als Stärkung und Ermutigung. Anderen wird es Anlass, ihren Tod zu bedenken. Es kann die Auseinandersetzung mit Lebenskonflikten provozieren. Und schließlich ist es für manche zu fremd, oder – als Zeichen des nahenden Todes – zu anstrengend. [...] Das Abendmahl ist Zeichen der stärkenden und heilenden Gegenwart Christi. [...] Als Zeichen der Vergebung gibt das Abendmahl den Kranken und ihren Angehörigen Gelegenheit darüber zu sprechen, was das Leben und Sterben belastet. Als Hinweis auf das eschatologische Mahl besiegelt es die Verbundenheit mit Gott und die Verbundenheit der Menschen untereinander. Diese Gemeinschaft kann bedeutsam sein für Menschen, die an einem Krankenbett – vielleicht zum letzten Mal – zusammenkommen.“ (Neues Pastorale 2005, 146)

Die Feier des Abendmahls setzt eine ansatzweise Vertrautheit damit voraus. Sie kann nur in Absprache mit den Betroffenen angeboten oder auf deren Wunsch hin praktiziert werden.

6.3 Die Krankensalbung Die Salbung von Menschen in Notsituation, insbesondere von Kranken durch Öl ist eine seit apostolischer Zeit bezeugte Praxis in den christlichen Gemeinden. Im Mittelalter wurde sie nur noch als „Salbung in den letzten Augenblicken des Lebens“ verstanden und mit dem Begriff „letzte Ölung“ belegt. Seit dem Vaticanum II wird wieder der ursprüngliche Begriff „Krankensalbung“ für das Sakrament gebraucht. Es wird „jenen gespendet, deren Gesundheitszustand bedrohlich angegriffen ist, indem man sie auf der Stirn und auf den Händen mit ordnungsgemäß geweihtem Olivenöl […] salbt und dabei einmal folgende Worte spricht: Durch dieses heilige Sakrament helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreite rette dich, in seiner Gnade richte er dich auf.“ (Kaczynski 1976, 2922). Das Sakrament kann wiederholt werden.

Im evangelischen Bereich wird die Salbung von Kranken in enger Verbindung mit der Krankensegnung gesehen. Der Segen kann durch eine Salbung mit Öl ergänzt werden. Nach der Handauflegung und unter den Worten: „N. N., du wirst gesegnet [und gesalbt] im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Er richte dich auf durch die heilende Macht seiner Liebe“ wird dem kranken Menschen mit Öl ein Kreuzzeichen auf Stirn und Hände gezeichnet (Agende III[4], 108).

6.4 Die Segnung des sterbenden Menschen Die ausdrückliche Segnung eines sterbenden Menschen hat im Christentum eine lange Geschichte. Die alten überkommenen und noch immer sprechenden Segensformulare machen deutlich, dass es hier um mehr geht als um Situationsadäquatheit. Es handelt sich um tradiertes Lebenswissen, das seine Evidenz selbst ausdrücklich macht. Die anwesenden Verwandten sind häufig durch eine Fremdheit religiösen Ritualen gegenüber geprägt. Erfahrungen zeigen aber, dass gerade die Anwesenden in ihrer durch Hilflosigkeit gekennzeichneten Situation für die geprägte Form der Segnung aufgeschlossen und dankbar sind.

Die Segnung ist eine religiös leibliche Handlung; sie umfasst Wort und Berührung. Das neue evangelische Pastorale bietet dieses Formular: Biblisches Votum – Litanei der Gegenwart Gottes –, dabei Entzünden einer Kerze; Gebetsverse; Psalm; Gebet; Vaterunser; Sterbesegen – wobei je ein Kreuzzeichen auf Stirn und Hände gegeben wird – oder aber der aaronitische Segen mit der Bezeichnung des Kreuzes. (Neues Pastorale 2005, 164ff.)

Die Zeichnung des Sterbenden mit dem Kreuzzeichen auf die Stirn bedeutet eine große Geste der Übergabe. Das Ritual der Segnung ist immer kurz und dicht. Jedes Wort zu viel stört hier. Die Segnung kann von jedem getauften Christen vollzogen werden (Vgl. Lammer 2005).

6.5 Die Aussegnung Der Zeitpunkt für das Ritual der Aussegnung kann gegebenenfalls kurz nach dem letzten Atemzug und dem Schließen der Augen sein, insbesondere dann, wenn keine Segnung des Verstorbenen voranging. Die Aussegnung kann aber auch später erfolgen, dann, wenn der Verstorbene aus der Wohnung gebracht werden soll. Die Grundstruktur der Aussegnung kann je nach Situation erweitert werden.

Die Grundstruktur wird im neuen evangelischen Pastorale so dargelegt: Friedensgruß und Eröffnung; biblisches Votum; Psalm; evtl. Lied; Lesung eines Textes; evtl. Kurzansprache; Abschiedssegen bzw. Sterbesegen: hier kann dem Toten die Hand aufgelegt werden oder er / sie mit dem Kreuzeszeichen versehen werden; Gebet; Vaterunser; Segen über die Anwesenden. „Die gebundene Form der Andacht und die Worte der Tradition sind hilfreich. Sie können dem Unfassbaren Ausdruck geben. […] Das Ritual soll Raum lassen für Reaktionen der Trauernden, für das, was sie noch sagen oder tun möchten, ehe die Tote bzw. der Tote nicht mehr unter ihnen ist.“ (Neues Pastorale 2005, 169)

Bei der Form der Aussegnung wird die dreifache Grundstruktur, die jedem Passage-Ritual eignet sehr deutlich. Phase 1: Trennung von der vertrauten Gruppe, Gemeinschaft; Abschied. Phase 2: Phase des Übergangs. Phase 3: Angliederung bzw. Darstellung der veränderten Konstellation bei den Hinterbliebenen.

Alle drei Momente können in dem Ritual der Aussegnung wieder­gefunden werden: Der Weg von der Erfahrung des Daseins mit dem jetzt verstorbenen Menschen hin zu dem Leben ohne die Gegenwart dieses Menschen wird im Ablauf der Aussegnung anschaubar, und darum möglicherweise beschreibbar, darum nachvollziehbar.

Franz-Heinrich Beyer

Literatur

Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands (Hrsg.), Agende für Evangelisch-Lutherische Kirchen und Gemeinden, Bd. III, Teil 4: Dienst an Kranken, Hannover 1994.

Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, 10. Aufl. Stuttgart 2004.

Klaus Eulenberger/Lutz Friedrichs/Ulrike Wagner-Rau (Hrsg.), Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum neuen evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007.

Lutz Friedrichs, Beten, in: Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 185–192.

Reiner Kaczynski (Hrsg.), Enchiridion documentorum instaurationis liturgicae, Bd. 1, 1976; zitiert nach: Reiner Kaczynski, Krankensalbung, I. Katholizismus, in: RGG 4.Aufl., Bd. 4 2001, 1725f.

Josef Kirsch, Sterben begleiten, in: Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 222–229.

Kerstin Lammer, Segnen, in: Klaus Eulenberger u.a., a.a.O., 229–236.

Ida Lamp/Karolin Küpper-Popp (Hrsg.), Abschied nehmen am Totenbett. Hilfen und Rituale für die Praxis, Gütersloh 2006.

Liturgische Konferenz (Hrsg.), Neues evangelisches Pastorale. Texte Gebete und kleine liturgische Formen für die Seelsorge, 2. Aufl. Gütersloh 2005.

Christoph Schneider-Harpprecht, Trost in der Seelsorge, Stuttgart 1989.

03.Theologie

Notfallseelsorge: Seelsorgerliche und liturgische Begleitung von Betroffenen

Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hatte sich eine ökumenische Initiative zum Aufbau eines deutschlandweiten Netzes von Notfallseelsorgern gebildet. Inzwischen ist Notfallseelsorge als ein Praxisfeld von Seelsorge weitgehend installiert und flächendeckend realisiert. Dabei gibt es in der Praxis eine enge ökumenische Kooperation. Inzwischen ist auch die Frage einer interreligiösen Notfallseelsorge als Herausforderung erkannt und bedacht worden (Müller-Lange 2010). In der Literatur gibt es für das Praxisfeld Notfallseelsorge eigenständige Veröffentlichungen sowohl als Handbuch (Müller-Lange 2006) wie auch in Form von Monographien (Waterstraat 2004; Zippert 2006). Auch in der wissenschaftlichen Literatur, etwa in den Standardwerken zur Seelsorge gehören Ausführungen zur Notfallseelsorge inzwischen selbstverständlich dazu (Ziemer 2008; Roessler 2007; Klessmann 2008; Morgenthaler 2009).

 

1. Notfallseelsorge

„Nach dem Vorbild des barmherzigen Samariters (Lk 10) und als Werk der Barmherzigkeit (Mt 25) immer schon christliche Aufgabe, formierte sich Notfallseelsorge in den 90iger Jahren des 20. Jh. neu als verläßlich organisierter Seeelsorge-Bereitschaftsdienst meist von Pfarrerinnen und Pfarrern […] Sie wendet sich ohne Ansehen der Person an Betroffene und Angehörige.“(Zippert 2003, 397f.) Notfallseelsorge bedeutet für die damit befassten Pfarrerinnen und Pfarrer eine unmittelbare Konfrontation mit Menschen in oder nach existenziellen Extremsituationen. Sie sind dem Leben, der Existenz der Betroffenen in einer Weise nahe, wie es in den sonstigen alltäglichen Amtsverrichtungen kaum oder gar nicht erlebt wird. Notfallseelsorger werden durch Einsatzkräfte von Polizei oder Feuerwehr angefordert. Dahinter steht ein strukturiertes Vorgehen gemäß der Organisationsstruktur; dahinter steht aber auch eine Erwartung, die die Einsatzkräfte an den/die gerufene Notfallseelsorger/in haben, wie konkret oder verschwommen diese Erwartung auch sein mag. Eine solche Erwartung kann unterschiedlich motiviert sein:

• Etwa arbeitsteilig; aus der Sicht der Einsatzkräfte könnte das bedeuten: Wir sind für die äußere Situation und für das tätige Handeln zuständig, für das Retten und für das Bergen betroffener Menschen. Auf den verunglückten Menschen in seiner seelischen Befindlichkeit (oder auf andere Beteiligte) einzugehen, dazu fehlt die Zeit, aber auch die Befähigung.

• Etwa existenziell verunsichert. Der verunglückte Mensch ist nicht ansprechbar. Die routinierte Kommunikationspraxis ist an ihre Grenzen gelangt. Und doch bleibt das Bedürfnis danach, dass dem verunglückten Menschen Beistand und Begleitung zu teil werden möge.

• Durch das Bewusstsein der Endlichkeit. Der verunglückte Mensch ist tot. Die Teile, die als Folge des Unfallgeschehens da sind müssen weggeräumt werden. Wie aber verhält man sich dem oder den geborgenen toten Menschen gegenüber? Ritualisierte Verhaltens- oder Ausdrucksweisen, die ein solches anderes Verhalten zum Ausdruck bringen, sichtbar und erfahrbar machen sind nicht vertraut oder können aus Mangel an Zeit nicht praktiziert werden.

Aus diesem Spektrum von Motivationen ergeben sich, möglicherweise nie­mals verbal artikulierte Erwartungen, die an die Pfarrerinnen und Pfarrer als Notfallseelsorger gerichtet sind. Hier werden Erwartungen sichtbar, die sich natürlich an die Professionalität des Seelsorgers/der Seelsorgerin richten. Aber es schwingen wohl auch immer Erwartungen mit, die an den Pfarrer/ die Pfarrerin als ‚religiöses Symbol‘ gerichtet sind.

2. Pfarrer/Pfarrerin – ‚religiöses Symbol‘ – Notfallseelsorger/in

Der Pfarrer/die Pfarrerin existiert im Übergangsfeld zwischen Leben und Tod; er/sie ist hier an dieser Grenze – anders als andere Betroffene – nicht zum Schweigen verurteilt, sondern zum Reden beauftragt und bevollmächtigt. So hat der evangelische praktische Theologe Manfred Josuttis in einem vor drei Jahrzehnten erschienenen Buch die Besonderheit des Pfarrers/der Pfarrerin beschrieben. Wenigstens der Pfarrer „soll die Sterbenden […] bis an die Grenze des Lebens begleiten. […] Und er soll die Hinterbliebenen mit den kollektiven Symbolen, die die biblische Tradition für die Hoffnung über den Tod hinaus bereitstellt, in ihrem Willen zum Weiterleben bestärken“(Josuttis 1982, 124). Die Voraussetzungen dafür liegen in der Person des Pfarrers selbst, der „ahnt, dass er den sterbenden und trauernden Menschen in seiner Umgebung nur zu helfen vermag, wenn er sich mit seiner ganzen Person gegenüber der Macht des Todes bewährt hat, an dessen Grenze er seinen Beruf versieht.“(125) Josuttis kennzeichnet den Pfarrer als Bürgen für die Wahrheit und für die Relevanz von Religion. Faktisch sei er mit seiner Person zu einem „religiösen Symbol“ geworden.

3. Die Situation der Betroffenen und der Umgang mit ihnen

Es legt sich nahe, aus Gründen der Übersichtlichkeit zwischen den Betroffenen, den Opfern eines Unglücksfalles zu differenzieren und zu unterscheiden zwischen Primär-, Sekundär- und Tertiäropfern. Diese Unterscheidung geschieht aus methodischen Gründen; in der Realität überschneiden sich die jeweiligen Gruppen.

3.1 Primäropfer Hier sind die Menschen im Blick, die unmittelbar leiblich von einem Unfall oder einer Katastrophe betroffen sind.

Bei Verletzten stehen zunächst die Bergung sowie die notfallmedizinische Versorgung im Vordergrund. Die Aufgabe der Notfallseelsorge besteht hier zunächst in der Begleitung der Verletzten während der Rettung und in Wartezeiten. Die Situation des betroffenen Menschen ist bestimmt möglicherweise durch Schmerzen, insbesondere durch Angst angesichts der noch nicht einzuordnenden Verletzungen und deren Konsequenzen, oft auch durch ein Gefühl der Desorientierung (Wo bin ich? Was ist geschehen? Was ist mit mir?). Bereits die personale Präsenz des/der Seelsorgenden kann dem betroffenen Menschen hier ein Stück Vertrauen und Sicherheit vermitteln. Wird der Begleitende durch den Betroffenen als Seelsorger erkannt, in seiner symbolischen Rolle wahrgenommen, so liegt darin die Möglichkeit der Erfahrung, nicht im Stich gelassen zu sein, nicht von den Menschen, auch nicht von Gott. In dieser Situation kann durch den/die Seelsorgende vorsichtig leichter Körperkontakt angeboten werden (Hand halten, Schulter berühren). Schmerzen und Angst können durch Berührung leichter ertragen werden. Zu bedenken ist dabei jedoch, dass Berührungen zwischen Mann und Frau in islamischer Sicht Würde und Integrität verletzen könnten; im Buddhismus wird das Berühren des Kopfes als Tabu empfunden. Inwieweit auch rituelle Elemente angemessen sind und angeboten werden können, wird der/die Seelsorgende angesichts der konkreten Situation (Schwere der Verletzung und Ansprechbarkeit) des betroffenen Menschen sowie der Konstellation am Unfallort entscheiden.

Auch bewusstlose Menschen bzw. nicht ansprechbare Verletzte sind Adressaten der Notfallseelsorge. Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass Menschen auch aufnehmen können, was um sie herum und mit ihnen geschieht, wenn sie nicht ansprechbar scheinen. „Deshalb ist es wichtig, mit Bewusstlosen und für Tote zu beten und sie zu segnen.“ (Morgenthaler, 2009, 345) Der/die Seelsorgende wird für sich zu entscheiden haben, inwieweit er/sie diese rituellen Formen verwenden will, in einer Situation, in der er/sie von dem betroffenen Menschen, insbesondere hinsichtlich seiner religiösen bzw. weltanschaulichen Orientierung nichts weiß. Angesichts eines schwerverletzten oder toten Menschen wird ein Gebet für diesen Menschen immer eine angemessene Geste durch den/die Seelsorgende/n sein. Hinsichtlich der Erteilung des Segens ist eine noch intensivere Abwägung angebracht.

Das gilt vor allem vor dem Hintergrund der Situation, dass in unserer Gesellschaft die von einem Unfall oder einer Katastrophe betroffenen Menschen nicht mehr selbstverständlich Christen, schon gar nicht evangelischer Konfession sind. Es kann sich genauso um Angehörige einer anderen Religion oder auch um nichtreligiöse Menschen handeln. Für die Tätigkeit des/der in der Notfallseelsorge Tätigen ist das ohne Bedeutung. Es ist aber bedeutsam für die Praxis, in der Notfallseelsorge geschieht.

Das Verhalten der Notfallseelsorge gegenüber verstorbenen Menschen an einem Unfallort verlangt eigene Überlegungen. Zum einen daran festzuhalten, dass auch der am Unfallort verstorbene Mensch nach theologischem Verständnis „Bild Gottes“ ist, dem gegenüber gleichermaßen würdevolles Verhalten und angemessene Zuwendung entgegengebracht werden. Dabei ist es verständlich, wenn bei den technischen und medizinischen Einsatzkräften dagegen die Versorgung der Verletzten sowie die Sicherung und Räumung der Unfallstelle vorrangig im Blick sind.

Die Religionsgeschichte und die Geschichte der christlichen Liturgien machen deutlich, dass Menschen schon immer um die Bedeutung von Zeichen wussten, gerade auch von solchen Zeichen, die durch Körpersprache, durch Gebärden ihren Ausdruck finden. Bei den Gebärden wird zwischen Ausdrucks- und Handlungsgebärden unterschieden. Die Ausdrucksgebärde steht gleichsam für sich; sie bringt eine eigenständige Aussage zum Ausdruck, allein durch eine bestimmte Haltung bzw. Bewegung des Körpers. Eine Handlungsgebärde dagegen ist auf eine bzw. mehrere Personen oder auf Gegenstände hin bezogen (Sequeira 1990, 30f.). Das Segnen eines Menschen wäre eine solche Handlungsgebärde. Angesichts der oben beschriebenen Situation kommt aber der Ausdrucksgebärde hier eine vielleicht noch wichtigere Bedeutung zu. Eine solche Ausdrucksgebärde kann das Knien mit gefalteten Händen sein. Hierbei handelt es sich um eine allgemeinmenschliche Gebärde, die für sich spricht. Mit dem Kniefall des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Erinnerungsmal an die Opfer des Aufstands im Warschauer Getto ist die die Symbolkraft dieser Ausdrucksgebärde öffentlich erfahrbar geworden.

Eine solche Ausdrucksgebärde, praktiziert in der Nähe zu einem tödlich verunglückten Menschen vermag auch für andere hilfreich zu sein, weil sie etwas zum Ausdruck bringt:

• dass die bedrängende Konstellation Erschütterung sowie Betroffenheit auslöst und die normalen Verhaltensmuster und Handlungsabfolgen unterbrechen lässt.

• Dass die bedrängende Konstellation zwar sprachlos, aber nicht handlungsunfähig macht. Die Ausdrucksgebärde des Kniens kann von den Anwesenden als stellvertretendes, repräsentatives Handeln wahrgenommen werden, möglicherweise auch als Ermutigung, eine solche Ausdrucksgebärde selbst zu praktizieren.

3.2 Traumatisierte, aber ansprechbare Primär- bzw. Sekundäropfer Die Situation der primär oder sekundär Betroffenen zum Zeitpunkt des Geschehens ist bestimmt von Erfahrungen, die für sie im Augenblick unfassbar sind. Solche traumatische Erfahrungen werden zu Wendepunkten in der Biographie. Nichts ist mehr, wie es war. Der bisherige Lebensentwurf zerbricht möglicherweise von einem Augenblick auf den anderen. Durch einen Unfall gerät die haltgebende vertraute Welt förmlich aus den Fugen. Ohne Übergang ist etwas geschehen, was vorher undenkbar schien. Der betroffene Mensch, der durch das traumatische Erlebnis aus seiner normalen Lebenswelt herausgerissen worden ist, er ist jetzt dazu gezwungen, das bisher Undenkbare zu denken. Entsetzen, Sprachlosigkeit können Reaktionen sein auf solche Erlebnisse, die die Erfahrung emotional überfordern. Wenn es gut geht, findet im Verlauf der Krise eine Bewegung statt, die aus dem Überwältigt-Werden zum aktiven Bewältigen führt. Aber im Augenblick bestimmen Fassungslosigkeit und umfassende Hilflosigkeit das Empfinden. In dieser Konstellation kann der/die Seelsorgende in verschiedener Hinsicht hilfreich sein:

• Die Begleitung des Betroffenen weg von dem Ereignisort hin zu einem für ihn sicheren Ort. Das bedeutet eine räumliche Distanz zu dem Unglücksort und zu der mit den Bergungs- und Aufräumungsarbeiten verbundenen Hektik; das bewirkt aber auch eine psychische Distanz des Betroffenen zu dem Bereich der Erinnerung an das Geschehene. Die Ausgestaltung eines sicheren Ortes und die Präsenz des/der Seelsorgenden ermöglichen dem Betroffenen ein Stück Normalität erfahrbar werden zu lassen.

• Ganz elementare diakonische Handreichungen sind hier sehr wichtig: Das Herrichten eines geschützten Platzes, der Schutz sowohl gegen Witterung als auch vor Zuschauern bietet, ist ganz entscheidend. Das Stützen oder Begleiten der betroffenen Person bei der Ortsveränderung ist hilfreich. Die wahrgenommene persönliche Präsenz des/der Seelsorgenden, aber auch die Wahrnehmung ihrer symbolischen Rolle können Vertrauen ermöglichen.

• Für den betroffenen Menschen in seiner traumatisierten Situation wirkt eine wahrnehmbare Strukturierung stabilisierend. „Sagen Sie, dass sie da sind, wer sie sind und was geschieht. Ruhiges und sicheres Auftreten hilft gegen Angst, Verlangsamung tut gut gegen Überregung.“ (Klessmann 2008, 296)

• Bei sekundär Betroffenen ist deren Aktivierung wichtig, da sie sich häufig unfähig fühlen, die ganz elementaren Verhaltensweisen zu praktizieren. Es geht darum, ihnen Essen und Trinken zu reichen, sie zu ermutigen eigene Schritte zu machen, es ihnen zu ermöglichen, von sich aus Kontakt zu Bekannten oder Bezugspersonen herzustellen. Auch hier ist die Begleitung durch den/die Seelsorgende/n unverzichtbar.