Novel Haven - Match of Fate - Anabelle Stehl - E-Book

Novel Haven - Match of Fate E-Book

Anabelle Stehl

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Beschreibung

Wenn sich das Fake in Fake Dating auf einmal echt anfühlt ...

Um Novel Haven zu vermarkten, geht Nataly das erste Mal in ihrem Leben live — und hat gleich einen berühmten Gamer am Hals, der Kritik an dem einen Charakter übt, den sie beigesteuert hat. Nataly fühlt sich persönlich angegriffen und verstrickt sich in eine Diskussion mit DMRDylan, die viral geht und einen Shitstorm verursacht. Damit nicht genug: Ausgerechnet mit Dylan sitzt sie bei der nächsten Convention in einem Panel, und ihr neuerliches Wortgefecht bringt jetzt alle dazu, eine Romanze zwischen ihnen zu vermuten. Plötzlich steht für Nataly alles auf dem Spiel, und um den PR-Skandal in den Griff zu kriegen, schlägt sie vor zu fakedaten — ohne zu ahnen, dass fake sich schon bald echt anfühlt ...

Band 2 der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anabelle Stehl

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Playlists

Widmung

Leser:innenhinweis

Prolog

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Nachwort und Danksagung

Die Autorin

Die Bücher von Anabelle Stehl bei LYX

Impressum

ANABELLE STEHL

Novel Haven

MATCH OF FATE

Roman

Zu diesem Buch

Um das Cosy Game ihres kleinen Studios zu vermarkten, geht Nataly mit Novel Haven das erste Mal in ihrem Leben live und traut ihren Augen nicht, als sie von einem berühmten Streamer geraidet wird und auf einmal Tausende Zuschauende hat. Was geniales Marketing sein könnte, entwickelt sich jedoch zum Eklat, als DMRDylan Kritik an dem einen Charakter übt, den sie beigesteuert hat. Nataly fühlt sich persönlich angegriffen und verstrickt sich in eine Diskussion mit dem E-Sportler, ohne zu ahnen, wie berühmt er wirklich ist. Ihr Streit geht viral und löst einen Shitstorm aus. Etwas, was Dylan, der gerade kurz vor der wichtigsten Meisterschaft seines Lebens steht, so gar nicht gebrauchen kann. Doch damit nicht genug: Ausgerechnet die beiden sitzen bei der nächsten Convention gemeinsam in einem Panel, und ihr neuerliches Wortgefecht bringt jetzt alle dazu, romantische Gefühle zwischen ihnen zu vermuten. Plötzlich steht für Nataly alles auf dem Spiel, und um den PR-Skandal in den Griff zu kriegen, schlägt sie Dylan vor, sich als Paar auszugeben. Doch was als Fake-Dating begann, fühlt sich schon bald viel zu echt an …

Playlists

Nataly’s Version

Get’cha Head in the Game

Miss London & The Heartbreak Prince

Für Mikkel.

Der Allan in einer Welt voll Kens.

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält Elemente, die triggern können. Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.

Achtung: Dieser enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anabelle und euer LYX Verlag

Prolog

Nataly

right where you left me – Help, ich bin wirklich noch im Restaurant

Taylor Swift (Nataly’s Version)

Zwei Wochen zuvor

Es ist erniedrigend, sitzen gelassen zu werden: die mitleidigen Blicke der anderen Gäste, die sehr viel weniger mitleidigen Blicke der genervten Mitarbeitenden, die den Tisch umsonst eingedeckt haben, das leise Tuscheln, das vielleicht gar nichts mit dir zu tun hat, vielleicht aber doch. Das Restaurant selbst tuschelt auch: Du gehörst hier nicht hin. Eigentlich schreit es mir die Worte eher entgegen mit seinem Wasserfall, der direkt aus der Decke des Lokals fließt, und dem Pianisten davor, der Menschen bespielt, die ihm keine Aufmerksamkeit schenken. Menschen in edlen Anzügen und mit teuren Frisuren. Mein hellblaues Kleid ist von einem Outlet am Spitalfields Market, zweifach heruntergesetzt, während die blonde Frau, die am Eingang sitzt, eine Bottega-Tasche dabeihat. Die Handtaschen hängen hier nicht über Stuhllehnen oder stehen auf dem Boden, wie es üblicherweise der Fall wäre – das Personal bringt ein separates Höckerchen dafür.

Ich wünschte, sie hätten mich bereits rausgeworfen, als mein Siebzehn-Pfund-Parfum von Boots den edlen Geruch nach Chanel N°5 und teuren Ledercouches übertüncht hat. Aber das Personal war unfassbar nett. Zumindest die ersten zwanzig Minuten lang, dann wurde Max, der mir zugewiesene Kellner, zusehends nervös. Und ich mit ihm. Denn sosehr ich mich auch darüber gefreut habe, dass Jack mich in dieses Lokal ausführen wollte: Die Freude sank mit jeder weiteren verstreichenden Minute, und mittlerweile ist sie komplett aus meinem Körper gewichen.

Möglichst unauffällig hole ich mein Smartphone hervor und tippe eine weitere Nachricht an Jack.

Nat: Kannst du wenigstens Bescheid geben, ob du unterwegs bist?

Wie die Messages zuvor wird diese zwar als empfangen, nicht jedoch als gelesen angezeigt, und es erscheint auch nicht das von mir so innig ersehnte online unter Jacks Namen.

Der Pianist stimmt ein neues Lied an – Mendelssohns Sonata No. 3, wie ich dank meiner Mitbewohnerin Aria weiß. Mit jeder verstreichenden Sekunde, mit jedem Tastenschlag des Pianisten, verkrampft mein Magen stärker. So stark, dass ich selbst dann keinen Bissen mehr runterbekäme, wenn Jack doch noch auftauchen würde.

Er kommt nicht. Er kommt schon wieder nicht.

Meine Brust wird eng, dabei habe ich mittlerweile Erfahrung darin, sitzen gelassen zu werden. Ich sollte es abkönnen, oder nicht? Aber es tut immer wieder weh. Max kommt erneut zu meinem Tisch – dieses Mal hat er kein Wasser dabei, um mein Glas nachzufüllen, und sein zuvor freundliches Lächeln ist schmallippig. Er ist etwa in meinem Alter, wirkt aber dennoch, als könnte er mir auf Kommando einen zwanzigminütigen Vortrag über unterschiedliche Kaviarsorten halten, wohingegen ich das maximal über Taylor Swifts Reputation-Era oder die Lore rund um die Sims-Videospiele hinkriege.

»Ma’am, sollte Ihre Begleitung nicht mehr auftauchen, bediene ich auch gern nur Sie. Andernfalls muss ich Sie leider bitten, eine Gebühr von zweihundertfünfzig Pfund zu bezahlen.«

Zweihundertfünfzig Pfund?

Mein Mund klappt genau in dem Moment vor Fassungslosigkeit auf, als mein Handy auf der Tischplatte vibriert.

Jack: Sorry, muss heute verschieben, mir kam was dazwischen. Viel los grad, meld mich bald.

Mein Herz sinkt genauso, wie mein Kontostand es gleich tun wird. Hitze schießt mir in die Wangen, sodass mein gesamter Kopf zu brennen beginnt. Ich wünschte, mein Körper ginge tatsächlich in Flammen auf, denn das würde mit Sicherheit für ausreichend Verwirrung und Ablenkung sorgen, um die Flucht zu ergreifen. Ich warte eine Sekunde hoffnungsvoll ab, doch leider passiert nichts dergleichen, und Max, der Kellner, hebt die Brauen. Seine Kollegin steht am Ausgang und sortiert sorgfältig die Menükarten. Seit drei Minuten. Mit Sicherheit eine Taktik, damit ich nicht wirklich unbemerkt aus der Tür schleiche.

»Möchten Sie etwas bestellen?«

»Ich … Nein danke.« Abgesehen von den Preisen, ist mir der Appetit vergangen. Ich öffne meine Handtasche, die voller alter Quittungen ist, die ich dringend entsorgen sollte.

Sorry, muss heute verschieben, mir kam was dazwischen.

Das ist alles, was ich bekommen habe. Ein Sorry. Per Textnachricht. Nicht einmal einen Anruf habe ich erhalten. Ein kaltes Sorry, schwarz auf weiß in einer kleinen Sprechblase. Kein trauriges Emoji, kein Herz, keine Erklärung. Nichts.

Ich will Jack dafür hassen. Ich will zumindest wütend sein. Will ihm sagen, wie verdammt beschissen es sich anfühlt, mit meinen Secondhand-Heels den edlen Holzboden dieses Restaurants zu betreten, in das ich einfach nicht gehöre. Will ihm entgegenbrüllen, wie sehr viel beschissener es ist, die Sekunden zu zählen und entgegen besseren Wissens zu hoffen, dass er doch noch auftaucht. Wie herzzerschmetternd es ist, sich an eine Hoffnung zu klammern, die er am Leben hält wie ein Feuer, das nie über Glut hinauskommt. Doch ich tue nichts davon. Stattdessen finde ich endlich mein Portemonnaie in dem Chaos, das sich meine Handtasche nennt. Sofort entspannt sich Max’ Miene. Womöglich dachte er tatsächlich, ich würde die Zeche prellen.

Ich kann mir die zweihundertfünfzig Pfund leisten. Problemlos. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Rücklagen. Ich arbeite in einem Softwarestudio in London, mache Marketing für ein Indie-Game, das gerade erst eine renommierte Förderung gewonnen hat. Und doch bricht es etwas in mir, nun meine Karte zu zücken. Weil ich weiß, wie viel Geld zweihundertfünfzig Pfund sind. Weil ich es vor gar nicht allzu langer Zeit nie und nimmer hätte zahlen können. Weil ich das Geld so viel lieber an meine Familie schicken würde, als es hier für nichts auszugeben. Für nichts als eine Erinnerung, die mich noch wochenlang verfolgen wird, mindestens. Auch dafür will ich Jack hassen. Doch ich weiß jetzt schon, dass ich es nicht tun werde. Dass ich zahlen und heimgehen werde. In die WG, wo ich meinen besten Freundinnen nicht berichten werde, wie beschissen dieses Date gelaufen ist, weil ich nicht will, dass sie schlecht von ihm denken. Weil ich tief in mir drin insgeheim weiß, dass das hier nicht okay ist, und weil ich nicht will, dass sie mir das ins Gesicht sagen. Denn so kann ich es ignorieren, kann mich weiter an die Hoffnung klammern, dass das mit uns schon noch wird. Dass er erkennen wird, was er an mir hat.

Also schlucke ich die Wut herunter, wieder einmal, und halte Max meine Karte entgegen. Einen Wimpernschlag, bevor sie das Gerät berührt, schiebt sich eine andere dazwischen.

»Ich übernehme das.«

Seine Stimme ist ebenso dunkel wie seine Kreditkarte. Das Piepen signalisiert, dass der Betrag gezahlt ist, und ich lasse meine Hand perplex sinken.

»Danke, Sir«, sagt Max und nickt dem Mann freundlich zu, den ich erst jetzt richtig wahrnehme. Er trägt Kleidung, die eigentlich zu leger für das Lokal ist – Jeans und ein olivgrünes Shirt –, doch im Gegensatz zu mir wirkt er trotzdem nicht fehl am Platz. Er ist groß, sicher über eins neunzig, und hat gut trainierte Oberarme, die mir nicht auffallen und vor allem nicht dafür sorgen sollten, dass mein Herz so merkwürdig stolpert. Sein Lächeln bringt seine dunkelbraunen Augen zum Funkeln und ein Grübchen in seiner linken Wange zum Vorschein, und die freundliche Art, mit der er mich von oben betrachtet, macht mich wütend.

»Das wäre nicht nötig gewesen«, sage ich und stehe so schnell auf, dass ich an der Tischdecke ziehe und das Besteck zum Klirren bringe. Großartig, nun liegen noch mehr Blicke auf mir. Genau das, was ich gebraucht habe. Immerhin verzieht Max sich endlich, und wie auf Kommando verflüchtigt sich auch seine Kollegin an der Tür. Freie Bahn für mich.

»Du sahst nicht gerade glücklich aus, für dein Glas Leitungswasser zweihundertfünfzig Pfund zu zahlen. Ich wollte nur helfen.« Der Kerl, der nicht viel älter sein kann als ich, sieht mich fragend an, so als verstehe er nicht, wieso ich wütend bin. Kein Wunder, ich verstehe es ja selbst nicht. Immerhin sollte ich nicht wütend auf ihn sein, sondern auf Jack. Doch da dieser gerade nicht hier ist …

»Ich brauche keine Hilfe. Ich hab mein Leben im Griff, okay?« Ich streiche mein hellblaues Kleid glatt, wie um meine Worte zu untermauern, und verstaue mein Portemonnaie in der Tasche.

»Ich hab ja gar nichts anderes be…«

»Gut. Wenn du mich dann bitte durchlassen würdest.« Ich nicke auffordernd an ihm vorbei in Richtung Tür, leider versperrt er mir nämlich den Weg zu meiner Freiheit. Anstatt zur Seite zu gehen, bläst er die Wangen auf, was sein Grübchen verschwinden lässt. Ein verärgertes Funkeln legt sich in seine Augen, und in mir macht sich ein schlechtes Gewissen breit. Dieser Fremde hat gerade zweihundertfünfzig Pfund für mich bezahlt. Einfach so, damit ich es nicht tun muss. Ich sollte mich bei ihm bedanken, anstatt ihn anzufahren, doch aus irgendeinem Grund sorgt seine nette Geste nur dafür, dass mir das Ganze noch peinlicher ist und ich mich noch kleiner fühle. Außerdem hasse ich nichts mehr, als in der Schuld anderer zu stehen. Ich sollte es ihm zurückzahlen, doch wenn er so lapidar mit Geld um sich schmeißt, hat er ganz offensichtlich zu viel davon.

Bevor ich es mir anders überlegen und etwas sagen kann, tritt der Mann zur Seite. Er macht eine ausladende Geste in Richtung Tür.

»Bitte sehr, die Dame.«

Seine Stimme klingt spöttisch, und obwohl ich es nicht anders verdient habe, werfe ich ihm einen letzten wütenden Blick zu, ehe ich auf dem Absatz kehrtmache. Es kostet mich alles, was ich habe, nicht loszurennen. Ich drehe mich nicht um, doch mein heftig wummerndes Herz, das im Takt meiner Kitten Heels schlägt, verrät mir auch so, dass der Kerl mir nachsieht.

1

Dylan

Wake the fuck up, Samurai! We have a city to burn!

Cyberpunk 2077

Ich kann nicht tot sein, denn jede einzelne Zelle meines Körpers tut weh. Es ist auch zu hell. Wenn ich tot wäre, dann würde ich garantiert nicht in einem gut beleuchteten Himmel aufwachen, sondern eher an einem dunkleren Ort. Außerdem rast mein Herz unnormal schnell, ebenfalls ein sicheres Anzeichen dafür, dass ich lebe. Ich will mir die Hand vor die Augen halten, doch irgendetwas steckt in meinem Arm, und – fuck – auch das tut weh.

»Er wacht auf.«

Ich erkenne die Stimme. Mein Hals ist so trocken, dass mein Stöhnen nur als Krächzen über meine Lippen kommt. Vielleicht auch besser so, meine Mum wäre sicher nicht erfreut, wenn ich sie mit einem genervten Stöhnen begrüße. Erst recht nicht, nachdem wir uns eine halbe Ewigkeit nicht gesehen haben.

»Bleib liegen, ich rufe eine Pflegerin.«

Krankenhaus also. Aber warum? Das Klackern von Absätzen verrät mir, dass meine Mum das Zimmer verlässt. Ich blinzle ein paarmal, bis ich endlich mehr als Umrisse erkennen kann. Was ich sehe, ist eher ernüchternd: eine weiße Decke über mir, ein Infusionsgerät zu meiner Linken und ein so wolkenverhangener Himmel hinter dem Fenster zu meiner Rechten, dass ich direkt weiß, dass ich mich nach wie vor in London befinde. Immerhin. Ich bin allein in meinem Zimmer, was ich vor allem der Tatsache zu verdanken habe, dass meine Eltern selbst jetzt, mit meinen neunundzwanzig Jahren, noch darauf bestehen, meine private Krankenversicherung zu zahlen. Dass ich das längst selbst könnte, ignorieren sie geflissentlich. Vermutlich glauben sie mir auch gar nicht, denn wie soll man mit Videospielen bitte Geld verdienen? Es ist ganz egal, wie oft ich ihnen schon erklärt habe, dass ich sehr wohl …

Mein Herz schlägt einen Salto, und ich fahre, die Schmerzen ignorierend, hoch. Das Match.

Panisch sehe ich mich in dem Raum um, suche nach einem Kalender. Es ist heute, oder nicht? Wieso liege ich dann hier, anstatt in der Arena zu sitzen? Wieso befinde ich mich in einem Bett anstatt auf meinem Maxnomic-Stuhl? Wieso ist da ein beschissener Infusionsschlauch in meiner Hand, wenn besagte Hand eigentlich eine Maus halten sollte?

»Hallo, Schatz.« Die kühle Stimme meiner Mum straft ihre liebevollen Worte Lügen. Sie trägt die schulterlangen braunen Haare zu einem Zopf gebunden und ist wie immer schick gekleidet. Doch an den Falten in ihrer Hose und den losen Strähnen, die sich an ihrer Stirn kräuseln, erkenne ich, dass ihr Inneres sehr viel weniger geordnet sein muss. Okay, und an ihrem Blick, denn sie sieht angepisst aus. Meinetwegen, ohne Frage. Kein seltener Anblick, doch ausnahmsweise weiß ich wirklich nicht, was ich verbrochen habe. Als ich ihr gesagt habe, dass ich das Ingenieurstudium abbreche, um Pro-Player zu werden, wusste ich es. Da habe ich es sogar verstanden, immerhin hatte ich den Bachelor fast durch. Jetzt hingegen? Fehlanzeige.

»Wie geht es Ihnen?« Eine Schwester betritt das Zimmer und mustert mich mit prüfendem Blick.

»Ging mir schon mal besser.« Gott, ich klinge, als hätte ich meine Stimmbänder mit Reibeisen bearbeitet. Die Pflegerin scheint ähnlicher Ansicht zu sein, denn sie reicht mir einen Becher mit Wasser.

»Langsame Schlucke bitte. Wir versorgen Sie bereits per Infusion mit Flüssigkeit, aber es ist wichtig, dass Sie Ihren Rachen befeuchten.«

Ich nicke bloß, da meine Zunge seltsam schwer in meinem Mund liegt. Als ich den Becher zu meinen Lippen führe, zittert er in meiner Hand. So kann ich gleich unmöglich spielen. Ich muss mich dringend wieder unter Kontrolle kriegen. Wie viele Stunden bleiben mir überhaupt noch bis zum Match? Vorsichtig trinke ich zwei Schlucke, dann setze ich den Becher auf dem Nachtschrank neben mir ab.

»Was ist passiert?«

»Sie sind mit erheblichen Atembeschwerden eingeliefert worden und hatten einen starken Blutdruckabfall. Wir mussten intubieren.«

Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet, aber da sie auf ihren Hals zeigt, vermute ich, es hat irgendetwas damit zu tun, dass meiner nach nur wenigen Worten in Flammen steht. Dumpfe Erinnerungsfetzen kommen an die Oberfläche, wie mich ein Mann in hellem Kittel auffordert, die Zunge herauszustrecken. Was zur Hölle habe ich angestellt?

»Die Befunde deuten darauf hin, dass es sich um eine allergische Reaktion auf die Aufputschmittel handelt, die wir in Ihrem Blut nachgewiesen haben.«

Ich lache heiser, doch bei dem Blick, den mir meine Mum zuwirft, vergeht mir das Lachen direkt. »Moment, Sie meinen das ernst?«

Die Pflegerin nickt, und auch sie mustert mich aus ihren beinahe schwarzen Augen. Ihr Namensschild weist sie als Pari Gujarati aus. Ein melodisch klingender Name, der in starkem Kontrast zu ihrer sachlichen Miene steht.

»Das ist Quatsch.« Ich schüttle den Kopf und verziehe im selben Moment das Gesicht vor Schmerzen. »Ich hab nichts genommen.«

»Ihr Blut- und Ihr Urintest haben uns etwas anderes verraten.«

Ich hab einen Urintest gemacht? Wann denn das bitte? Ich reibe mir über das Gesicht, als könnte ich so die Erinnerungen in meinem Kopf wachrufen. Was zur Hölle ist passiert?

Wir waren feiern gestern. Anstoßen auf die Saison, nichts Wildes. Unser Stammpub. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich neben Travis, meinem besten Freund und Teamkollegen, auf die Bank habe fallen lassen. Ich hatte ein einziges Bier. Ein alkoholfreies. Ich trinke nicht vor Matchtagen.

»Ich hab nichts eingeworfen. Das würde ich nie tun«, sage ich mehr zu mir als zu Ms Gujarati und meiner Mum. Letztere schnalzt dennoch mit der Zunge. Sie glaubt mir nicht. Natürlich nicht. Weil das nie gelogen war – ich würde es nicht mehr tun.

»Kann ich heim? Wie lange bin ich überhaupt schon hier?« Ich werfe einen erneuten Blick aus dem Fenster, doch bei dem Regenwetter ist unmöglich einzuschätzen, ob wir Morgen, Vormittag oder sogar schon Nachmittag haben.

Bitte, bitte, bitte, lass es morgens sein.

»Seit gestern Abend«, antwortet meine Mum. Ihre Stimme ist immer noch gepresst, doch in ihren dunkelblauen Augen kann ich die Sorge um mich lesen. »Dein Dad war auch da, aber ich hab ihn ins Büro geschickt. Er hätte mich hier nur in den Wahnsinn getrieben.«

Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er aufgeregt durch die Station huscht. Kurz teilen meine Mum und ich ein Lächeln, und ihr Ausdruck wird sanfter. »Wir haben uns große Sorgen gemacht.«

»Wann kann ich heim?«, wiederhole ich die mir viel wichtigere Frage, denn meine Mum macht sich ohnehin immer Sorgen. Das ist wohl der größte Streitpunkt zwischen uns beiden.

»Ich würde einmal Ihren Blutdruck messen«, antwortet Ms Gujarati. »Die Ärztin wirft gleich auch noch einen Blick auf Sie, aber wenn alle Werte in Ordnung sind, können Sie heute nach Hause. Sie sollten sich allerdings schonen, und wenn Sie Herzrasen, lang anhaltende Kopfschmerzen oder Atemnot bemerken, melden Sie sich bitte umgehend.« Sie mustert mich mit zusammengekniffenen Augen. »Ich würde außerdem empfehlen, psychologische Unterstützung in Betracht zu ziehen. Wir haben eine hohe Dosierung an Armodafinil in ihrem Blut gefunden, das Sie, laut Aussage Ihrer Mutter, nicht benötigen.«

Ich schüttle erneut den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, was das sein soll.«

»Ein Medikament, das eigentlich zur Behandlung von Narkolepsie genutzt wird. Es steigert die Konzentration und hält wach.«

Die Lippen meiner Mum verformen sich zu einer dünnen Linie, und ich schüttle den Kopf nun so doll, dass meine Schläfen protestierend pochen und der Raum sich leicht dreht. »Ich habe nicht …«

»Dylan, sie wollen dir helfen. Du bist hier in den besten Händen, du kannst ehrlich sein.«

Ich schnaube. »War ja klar, dass du mir nicht glaubst.«

»Ich kann Ihnen gern einen Arzt aufschreiben«, meint Ms Gujarati, und meine Mum nickt, als wäre ich nicht verdammte neunundzwanzig Jahre alt und somit sehr wohl in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Vielleicht ist es an der Zeit, sie als Notfallkontakt in meinem Handy zu entfernen und meinen besten Freund Travis einzutragen.

»Mit deiner … Vergangenheit ist es keine schlechte Idee, dir professionelle Hilfe zu holen.« Meine Mum taxiert mich, ihr Tonfall hat etwas Rechtfertigendes.

Vergangenheit … Es war nur eine Phase. Eine, aus der ich gelernt habe. Ich habe mir etwas von dem Ritalin mitgenommen, das mein Bruder für seine ADHS verschrieben bekommt – ich war nicht süchtig, lediglich verzweifelt, weil Studium, Erwartungsdruck und der Versuch, mir nebenbei eine E-Sport-Karriere aufzubauen, zu viel waren. Aber das hat anscheinend gereicht, um mich in den Augen meiner Eltern zu einem Drogenabhängigen zu machen.

Es kostet mich den Rest meiner Kräfte, nicht zu widersprechen. Doch ein Streit ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. Nicht, wenn ich hier schleunigst rauswill. Also setze ich ein gezwungenes Lächeln auf, nicke und öffne den Nachtschrank, um nach meinem Handy zu suchen. Tatsächlich finde ich es in der Schublade. Es zeigt mir zwölf Prozent Akku und etliche ungelesene Nachrichten an. Aber viel wichtiger: Es ist neun Uhr morgens. Ich schließe für einen Moment die Augen und seufze erleichtert. Das Match startet um acht Uhr abends in der Red Bull Gaming Sphere in Shoreditch. Wenn ich bis mittags hier raus bin, kann ich es locker schaffen.

»Krieg ich eine Art Schein, der meine Blutwerte bestätigt? Also, dass nichts mehr von den Mitteln in mir ist?«

»Für eine detaillierte toxikologische Analyse benötigt das Labor etwas länger.«

»Gibt es da eine Art Expresslieferung? Ich zahle alles.«

»Nein, die Auswertung braucht einfach Zeit.«

»Okay …«, sage ich, und in meinem Kopf rattert es bereits. Wenn ich Glück habe, weiß niemand, dass ich überhaupt hier bin. Dann müsste ich auch nichts nachweisen. Allerdings lassen die etlichen Nachrichten auf meinem Handy etwas anderes vermuten. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht spielen möchte, wenn sich irgendetwas in meinem Blut befindet. Allein schon, um meinem Team nicht zu schaden.

Ich muss mit Travis reden, herausfinden, was passiert ist. Vielleicht hab ich auf etwas ganz anderes reagiert? Was Schlechtes gegessen? Fest steht: Ich muss hier so schnell wie möglich raus. Heute ist das letzte Match der Gruppenphase. Danach sind es nur noch die Play-offs, und wir haben die Play-ins gewonnen und können nach Stockholm zum EMEA-Tournament. Und dann – hoffentlich – nach Seoul, wo sozusagen die Oversiege-Weltmeisterschaft ausgetragen wird. Das Turnier, auf das es nur die besten acht Teams schaffen. Es winken nicht bloß drei Millionen Dollar Preisgeld für das Siegerteam, es würde auch meinen Namen ein für alle Mal festigen – und mir hoffentlich ein paar weitere Jahre bei den Panthers erkaufen. Vor allem aber würde es meiner Familie beweisen, dass meine Arbeit und Energie kein Luftschloss erbaut haben, sondern eine echte Karriere.

Und so, wie mich meine Mum gerade betrachtet, habe ich das wohl deutlicher nötiger als einen Pokal oder ein volles Konto.

2

Dylan

Be careful who you trust, Sergeant …

Call of Duty: Modern Warfare

Der Weg nach Hause schafft mich mehr, als ich zugeben möchte. Vermutlich hätte ich mich an den Rat der Ärztin halten und noch im Krankenhaus bleiben sollen, aber ich habe mich selbst entlassen – obwohl längst klar ist, dass ich nicht spielen kann. Sie haben mich zwar widerwillig, jedoch mit zwei EpiPens für erneute Notfälle verabschiedet. EpiPens, von denen ich hoffentlich niemals Gebrauch machen muss. Ich schlage die Wohnungstür hinter mir zu und lehne mich einige Atemzüge lang an die Wand, da mir schwummrig ist und meine Brust sich viel zu heftig hebt und senkt. Der bodentiefe Spiegel im Flur zeigt ein erbärmliches Bild: Meine ohnehin sehr helle Haut ist aschfahl, und mein schwarzes Haar, das an den Seiten kürzer ist, klebt mir schweißnass in der Stirn. Meine Uhr zeigt mir einen Puls von einhundertvierzig an, eine Zahl, die ich sonst selbst beim Sport selten erreiche. Irgendetwas stimmt nicht. Im Taxi hierher habe ich Armodafinil gegoogelt und herausgefunden, dass der Wirkstoff verschreibungspflichtig ist. Es ist also unmöglich, dass ich etwas davon genommen habe. Womöglich wurden meine Testergebnisse vertauscht. Allerdings erklärt das die höllischen Kopfschmerzen nicht …

Ich zücke erneut mein Handy und tippe auf Travis’ Namen. Ich habe es gerade in die Küche geschafft, wo ich mir ein Glas Leitungswasser eingieße, als er abnimmt.

»Dylan! Wie geht es dir? Du hast auf keine meiner Nachrichten geantwortet, ich hab mir Sorgen gemacht!«

»Alles gut«, erwidere ich, auch wenn es sich nach einer Lüge anfühlt.

»Sicher?« Travis klingt skeptisch. »Ich wollte eigentlich über Nacht bleiben, aber deine Mum kam und meinte, sie übernimmt. Und, na ja, mit dem Training heute Morgen und der langen Pendelzeit bin ich dann doch heimgegangen.«

»Du warst bei mir im Krankenhaus? Hast du mitbekommen, was passiert ist?«

»War ich, aber keine Ahnung, Mann. Du warst auf dem Klo, und als du wieder rauskamst, warst du völlig neben der Spur. Pierre hat schon gescherzt, dass du dir dadrinnen eine Line gezogen hast.«

Ich versuche, mich daran zu erinnern, kann jedoch abgesehen von den ersten Minuten in der Bar keine klaren Bilder heraufbeschwören. Ich verdränge das mulmige Bauchgefühl und beschließe, mich vorerst auf die Dinge zu konzentrieren, die ich im Griff habe.

»War Ethan sauer, dass ich nicht aufgekreuzt bin?«

Ethan Bouchard, ehemalige kanadische Oversiege-Legende, ist unser Coach, und so nett er privat auch sein mag: Wenn es ums Training geht, versteht er keinen Spaß. Seine Disziplin ist manchmal anstrengend, aber sie hat uns auch dahin gebracht, wo wir heute sind – und der Erfolg spricht für ihn.

»Das ist jetzt nicht so wichtig. Was zählt, ist, dass es dir wieder besser geht. Als du umgekippt bist, dachte ich echt kurz, du hast ’nen Herzinfarkt. Wäre in deinem Alter ja kein Wunder.«

Ich rolle die Augen und verkneife mir eine flapsige Bemerkung. Mit neunundzwanzig bin ich der Älteste im Team und kassiere regelmäßig Sprüche dafür. In einem Magazin hat man mich vor ein paar Monaten als Grandpa der Truppe bezeichnet, und beim letzten Match habe ich den fragwürdigen Titel auf einem der Fanplakate entdeckt. Es ist vermutlich liebevoll gemeint, trifft aber einen wunden Punkt: Mit meinem Alter bin ich im E-Sport im Nachteil. Dass ich erst so spät zum Team dazugestoßen bin und Oversiege – das Game, in dem wir gegen andere antreten – zuvor bloß mein Hobby war, spielt mir auch nicht gerade in die Karten. Alter ist in jedem Sport ein Problem. Doch in einem, in dem deine Reaktionszeit über Sieg und Niederlage eines ganzen Teams entscheidet, in dem eine winzige Mausbewegung das Game Over bedeuten kann? Tödlich.

Bei den Panthers zu sein und das Spiel zu meinem Beruf zu machen war mein Lebenstraum. Doch ich bin immer noch nicht an der Spitze, und so dankbar ich für jedes Match bin, das ich spielen kann: Im Hintergrund höre ich ständig das Ticken der Uhr. Mein dreißigster Geburtstag steht bald bevor, und auch wenn es im Team noch niemand ausgesprochen hat: Ich weiß, dass ich auf Höchstleistung bleiben muss. Dass ich mir keine Fehler erlauben darf. Dass ich mein Bestes geben und die Matches gewinnen muss, wenn ich es bis nach Seoul schaffen will. Denn da draußen warten genug Spieler, die mir in nichts nachstehen – und die einige Jahre jünger sind als ich.

»Hey, das war nur ein Joke«, sagt Travis. »Sorry.«

Anscheinend hat er mein Schweigen als Wut oder Gereiztheit interpretiert. Dabei bin ich viel zu erledigt, um eines von beidem zu sein.

»Hat Ethan mitbekommen, dass ich im Krankenhaus war?«

Travis’ Zögern ist Antwort genug.

»Scheiße.«

»Als du heute Morgen nicht zum Training erschienen bist, meinte Rajesh, dass du einen über den Durst getrunken hast.«

Das ist alles andere als ein Grund zur Freude, aber immerhin scheint Ethan nichts von den angeblichen Aufputschmitteln zu wissen. Ein schwacher Trost, aber ein Trost.

»Wie viel Ärger krieg ich?«

»Also … hast du meine Nachrichten schon gelesen?«

»Ne, wieso?

»Es gibt ein Video …«

Ich stöhne auf, bevor Travis weitersprechen kann. Natürlich gibt es ein verficktes Video. Social Media ist die Hölle.

»Es ging darin gar nicht um dich, aber man sieht im Hintergrund, wie du über einen Barhocker stolperst und ein paar Salzstreuer von der Theke fegst. Und, na ja, jemand in den Kommentaren hat dich erkannt, einige Gaming-Kanäle haben das aufgegriffen und …«

»Hat Ethan es gesehen?«

»Ja.«

»Ich hasse mein Leben.«

Ich lasse mich auf den Küchenstuhl sinken und lehne den Kopf an die Wand, die ich seit dem Einzug streichen will, was ich immer noch nicht getan habe.

»Zeig mir einen Briten, der nicht mal im Pub rumgetorkelt ist«, versucht Travis, mich zu beruhigen. »In ein, zwei Tagen juckt das niemanden mehr.«

»Heute aber schon.« Ich schlucke und massiere mit Daumen und Zeigefinger meine immer noch pulsierende Stirn.

»Tut mir leid, Mann«, sagt Travis. Ich muss es nicht aussprechen, er kennt mich gut genug, um auch so zu checken, dass ich zu dem einzig logischen Schluss gekommen bin: Ich kann heute nicht spielen. Zeitlich mag ich es zum Turnier schaffen, aber mein Herz rast nach wie vor, und ich fühle mich wie überfahren. Keine Chance, dass ich auch nur ansatzweise schnell genug reagiere. Und wir brauchen diesen Sieg, wenn wir weiterkommen wollen.

»Mir tut es leid. Ich wollte euch nicht hängen lassen. Das Ding ist …« Ich lasse die Hand sinken. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was passiert ist. Ich hatte nur was Alkoholfreies. So wie wir alle. Und selbst wenn es ein richtiges Bier gewesen wäre: Ich bin eins fünfundneunzig, das sollte mich nicht so aus dem Leben kicken.«

»Pierre springt nachher für dich ein. Tut mir leid, Mann. Ethan hat heute Morgen direkt mit der Orga telefoniert und es der Turnierplanung mitgeteilt. Auf Social Media haben die Panthers dich mit der Ausrede entschuldigt, dass du krank warst und dir ein Medikament nicht bekommen ist. Beim nächsten Mal bist du dann wieder dabei.«

Ich lache auf. »Ist nicht mal so fernab der Wahrheit. Die im Krankenhaus meinten, sie haben irgendein Mittel gegen Narkolepsie in meinem Blut entdeckt.«

»Narko… Was ist das?«

»Schlafkrankheit. Das Mittel wirkt aufputschend, und ich hatte wohl ’ne ganze Menge davon in mir.« Das ungute Gefühl legt sich wieder in meinen Magen. Wenn die Ärztin recht hat … Ich stehe auf und trete zum Fenster. Die Junisonne hat sich ihren Weg durch die Regenwolken gekämpft und lässt die noch feuchten Straßen glitzern. Draußen läuft gerade eine Gruppe Schülerinnen in Uniformen über die Straße, und ein Coffee-Bike platziert sich am Eingang des kleinen Parks, den ich direkt vor der Haustür habe. Ein Luxus, den ich mir nur dank der Panthers leisten kann.

»Und wie zur Hölle kommt das in deinen Blutkreislauf?«, stellt Travis die eine Frage, die ich bisher gemieden habe und die mein Herz nun zum Stolpern bringt. Jetzt, wo ich zu Hause bin, wo ich nicht mehr die beengenden Wände meines Krankenhauszimmers um mich habe, kann ich die Gedanken nicht länger von mir fernhalten. Doch die Einzigen, die in der Nähe meines Tischs und somit meines Getränks waren, sind meine Teammitglieder. Die Menschen, mit denen ich jeden Tag verbringe, die wie Familie sind und mit denen ich gemeinsam Geschichte schreiben will.

»Gute Frage. Vielleicht habe ich eine falsche Flasche erwischt und jemand anderes wollte bloß seine Medikamente nehmen?«, erwidere ich, doch der hoffnungsvolle, naive Ton schmeckt bitter auf meiner Zunge. Denn wenn der Befund stimmt, dann hatte ich zu viel davon in meinem Blut, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte.

3

Nataly

Welcome To New York My First Stream!

Taylor Swift (Nataly’s Version)

»Und welche Ausrede hatte er diesmal?«

Lara kneift die hellbraunen Augen zusammen und sieht so wütend aus, als hätte ich ihre Ghibli-Sammlung verbrannt. Sie sitzt halb auf meinem Schreibtisch, und obwohl sie ein gutes Stück kleiner ist als ich, wirkt sie fast bedrohlich. Ich weiß, dass sie nicht wütend auf mich, sondern auf Jack ist – Jack, der mir Blumen ins Büro geschickt hat. Jack, der mich tags drauf leider trotzdem versetzen musste, weil ihm etwas Berufliches dazwischengekommen ist. Immerhin hat er mir diesmal fünf Minuten vor dem Treffen Bescheid gesagt, und ich saß lediglich im Bus, nicht im Café.

»Er hatte Training.«

»Ach, und das wusste er nicht früher? Sagtest du nicht, er macht E-Sport beruflich? Dann sollte er seine Arbeitszeiten doch kennen. Du verabredest dich schließlich auch nicht mit ihm zum Frühstück, und dann fällt dir urplötzlich ein, dass du ja berufstätig bist und ins Büro musst. Nat, du bist viel zu gut für ihn! Du bist doch sonst so selbstbewusst, aber von dem lässt du dich hinhalten?«

Ich sehe Hilfe suchend zu Aria, meiner anderen besten Freundin, die sich bislang nicht zu Wort gemeldet hat. Als unsere Blicke sich treffen, räuspert sie sich, dreht ihren Bürostuhl zum Schreibtisch und klickt eilig in OBS herum – der Streaming-Software, die sie mir gerade einrichtet. Gleich findet mein erster Gaming-Stream statt, und im Gegensatz zu Aria habe ich leider keinerlei Ahnung von der Technik dahinter.

»Du könntest mich ruhig mal verteidigen«, murmle ich und ziehe liebevoll an ihren langen, dunklen Haaren. Sie seufzt den Bildschirm an, und als sie den Stuhl wieder in unsere Richtung dreht, sind ihre Lippen zu einer schmalen Linie verzogen.

»Also …« Ihre Stimme ist sanft wie immer. »Du weißt, ich liebe Romance und Drama und all so was. Aber vielleicht hatte Lara von Anfang an recht, und der Typ tut dir nicht gut.«

»Da hast du’s! Er hat selbst unsere Romantikerin mit all ihren toxischen Liebesromanen vergrault. Das ist doch wohl die größte Red Flag von allen.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust, als könnte ich die Worte so abwehren. Lara mochte Jack von Anfang an nicht, doch Aria war dabei, als ich ihn kennengelernt habe. Sie hat bei seinen Nachrichten geseufzt und bei der Blumenlieferung gequiekt, hat uns in der Rollschuh-Disco tanzen sehen – sie liebt die Liebe. Und so hat sie mehrmals Partei für mich ergriffen, wenn Lara nichts von seinen Ausflüchten hören und mir ins Gewissen reden wollte. Dass gerade sie jetzt an ihm zu zweifeln scheint, tut mehr weh, als ich zugeben möchte. Wenn ich ehrlich zu mir bin, dann vor allem deshalb, weil ich tief in mir weiß, dass ich vieles, was er macht, eigentlich genauso verurteilen würde. Mir mehrere Tage am Stück nicht antworten, nur um sich dann irgendwann mitten in der Nacht zu melden, woraufhin ich stundenlang wach bleibe, um zu texten, und am nächsten Morgen gerädert auf der Arbeit auftauche? Nicht okay. Und irgendwie peinlich, immerhin war ich bis vor Kurzem diejenige, die Lara Beziehungstipps gegeben hat. Ich bin diejenige, die feministische Sticker an Londoner Straßenlaternen klebt. Und diejenige, die jetzt fragt: »Wie hoch?«, wenn ein Typ sagt: »Spring.« Aber ich bin eben auch diejenige, die jedes Mal, wenn der Name Jack auf dem Display auftaucht, enormes Kribbeln und Herzrasen hat – so wie noch nie zuvor. Er könnte jede haben, doch er hat sich für mich entschieden.

»Natürlich tut er mir gut«, sage ich daher mit so viel Inbrunst, dass ich es mir beinahe selbst abkaufe. »Immer wenn wir uns treffen, ist es magisch. Wirklich, es ist beinahe gruslig, wie ähnlich wir ticken. Und seine Nachrichten sind so …« Ich hebe die Schultern. »Sie könnten fast aus einem Jane-Austen-Roman stammen. Ich wusste vorher nicht einmal, dass es solche Typen noch gibt.«

Dass er mich bereits vor zwei Wochen versetzt hat und ein wildfremder Mann meine Restaurantgebühr gezahlt hat, verschweige ich. Dass es zwischen den romantischen Nachrichten immer wieder sehr viel explizitere gibt, solche, die nach Fotos fragen, ebenfalls. Es fühlt sich nicht gut an, Geheimnisse vor meinen beiden besten Freundinnen zu haben, doch ich vermute, dass ich Aria dann komplett verlieren würde.

Ich weiß, dass das zwischen Jack und mir was wird. Doch egal, wie wichtig er mir ist: Meine Freundinnen sind mir wichtiger. Und ich will, dass die drei miteinander auskommen. Also halte ich, wie so oft in letzter Zeit, den Mund und setze ein Lächeln auf.

»Mir ist klar, dass ihr euch sorgt«, sage ich mit versöhnlicher Stimme. »Aber das müsst ihr nicht, versprochen.«

Laras Blick wird sanfter. »Tun wir trotzdem. Pass auf dein Herz auf, ja? Du hast jemanden verdient, der dich auf Händen trägt. Jemanden, der dich nicht sitzen lässt, sondern vor Aufregung viel zu früh bei eurem Date erscheint.«

»Gott, seit du mit Luca zusammen bist, bist du richtig kitschig geworden.«

Nun verzieht Lara das Gesicht. »Ich weiß, ekelhaft, oder?«

Wir lachen so laut auf, dass Ramon, der seinen Schreibtisch schräg vor mir hat, sich das Headset von den Ohren schiebt und sich in seinem Stuhl zu uns umdreht. »Seit wann macht Technik einrichten so viel Spaß?« Er fährt sich durch das schwarze Haar, das von den Kopfhörern platt gedrückt ist, und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Aufgeregt vor gleich?«, fragt er dann in meine Richtung, und ich würde ihm vor Dankbarkeit über den Themenwechsel am liebsten in die Arme fallen.

»Ein bisschen«, gebe ich zu. »Aber ich werde einfach jegliche Fehler mit meinem Charme wettmachen. Außerdem spricht das Spiel für sich, sie werden es lieben. Sie haben ja schon die Demo geliebt, wenn sie die ganzen Extras jetzt sehen, wird das ein Selbstläufer.«

Unser Spiel, Novel Haven, hat vor wenigen Wochen bei der renommierten GameChanger nicht nur den ersten Platz belegt und ein saftiges Preisgeld abgeräumt, sondern durch unseren Auftritt dort auch etliche Fans gefunden. Ich muss also keine Sorge haben, gleich im Stream bloß mit mir selbst zu sprechen, denn auf Social Media haben sich bereits Spielende angekündigt, die es kaum erwarten können, mehr zu sehen.

»Klingt gut«, sagt Ramon. »Was haltet ihr von Belohnungsmittagessen im Anschluss? Wir könnten zu dem Libanesen gehen, der auf der Portobello Road aufgemacht hat.«

»Gern! Fragst du die anderen, ob sie mitmöchten?«

»Jap, war eh mein Plan. Vielleicht kriegen wir Sophia dazu, dass sie zahlt. Ist schließlich irgendwie Teambuilding.« Ramon grinst, schiebt sich das Headset wieder über die Ohren und öffnet unseren Gruppenchat. Sophia, unsere Chefin, ist vor dem heutigen Stream deutlich nervöser als ich. Im Rahmen der GameChanger sind ihr ein paar Fauxpas unterlaufen, und seitdem ist sie bei allem, was Novel Haven angeht, das reinste Nervenbündel. Fast so, als erwarte sie immer noch, dass man uns das Spiel jederzeit wegnehmen könnte. Dabei hat sie gemeinsam mit Luca, Laras Freund, dafür gesorgt, dass genau das nicht mehr passieren kann.

»So!«, sagt Aria und steht mit zufriedenem Lächeln von meinem Stuhl auf. »Dein Platz gehört wieder dir, alles ist eingerichtet. Du weißt noch, in welche Szenen du wann wechseln musst?«

»Jap! Hab ich mir notiert«, sage ich und deute auf das pinke Post-it, das an meinem Bildschirm klebt.

»Ein Wunder, dass du in dem Chaos noch was wiederfindest.« Aria hebt die dunklen Brauen und begutachtet die Zettelwirtschaft auf meinem Tisch. Zugegeben, zwischen Notizblöcken, Stiften, Snacks und dem gerahmten Foto von mir und meinem kleinen Bruder Brian ist wirklich kaum noch Platz, aber zum einen behalte ich den Überblick, zum anderen ist das Leben zu kurz, um es an Ordnung zu verschwenden.

»Ich kann den Stream leider nicht komplett im Auge behalten, ich hab gleich einen Call mit einem der potenziellen Sprecher für Novel Haven. Aber melde dich, wenn was ist.«

»Mach ich.«

Aria klopft auffordernd auf meinen Gaming-Stuhl, und nun, wo es ernst wird, merke ich, wie sich mein Herzschlag doch beschleunigt. TikToks oder Instagram-Storys drehe ich jeden Tag problemlos, doch der Stream ist live. Ich kann nichts schneiden und keinen hübschen Filter über die Videos legen.

»Ich flitz noch mal ins Bad«, sage ich und husche an der Kaffeeküche vorbei, wo Kamal sich gerade einen Apfel schneidet. Die Küche ist am Design unseres Spiels orientiert: Die Tapete sieht aus wie ein Bücherregal, überall stehen Pflanzen, und es ist so gemütlich, dass man manchmal vergisst, dass man eigentlich zum Arbeiten hier ist. Ich verbarrikadiere mich in dem kleinen Badezimmer und greife nach Deo und Puder, die ich dort gelagert habe. Kurz darauf erfüllt ein floraler Duft den Raum, der hoffentlich meinen Angstschweiß übertüncht. Mit dem Puder mattiere ich mir Stirn und Nase und fahre mir anschließend durch das blonde Haar, das ich extra für den Stream gelockt habe. Ich zupfe meinen Pony zurecht und nicke meinem Spiegelbild zufrieden zu. Mein Herz schlägt gleich noch einige Takte schneller, denn was ich Aria und Lara ebenfalls verschwiegen habe: Jack wird zusehen.

In meinem Kopf meldet sich eine kleine fiese, zweifelnde Stimme, und ich schließe für einen Moment die Augen.

Er hat es versprochen.

Er hat mir Blumen geschickt.

Er hat mir eine Playlist angelegt mit Songs, die ihn an mich erinnern.

Als ich die Lider wieder aufschlage, liegt Zuversicht in meinen blauen Augen.

4

Dylan

I used to be an adventurer like you.Then I took an arrow to the knee.

Skyrim

»Hey, Crew!«

Ich winke in die Kamera und hoffe, mein Lächeln wirkt zuversichtlich, fröhlich und so, als ob alles in bester Ordnung wäre. Dabei ist es das ganz und gar nicht. Zwar geht es mir besser – zwei Liter Wasser und eine heiße Dusche haben mich wieder lebensfähig gemacht –, doch mein Telefonat mit Ethan war ernüchternd. Dass ich heute nicht spielen konnte, war mir klar. Dass Ethan wütend ist, weil er davon ausgeht, dass ich mich tatsächlich betrunken habe, habe ich zumindest erwartet. Doch dass ich nicht einmal zum Supporten beim Spiel aufkreuzen darf?

»Wir haben allen erzählt, dass du erkältet bist und unter den Nebenwirkungen deiner Medikamente gelitten hast. Wenn du beim Match auftauchst, wirkt das wenig glaubwürdig. Nächstes Mal bist du dann auskuriert und wieder am Start.«

Das ist sein Plan. Und auch wenn ich ihm zustimmen muss, dass das ein tausendmal besseres Bild liefert als Trunkenheit oder – noch schlimmer – Aufputschmittel: Es ist scheiße, nicht dabei sein zu können. Das Match startet in zwei Stunden, also habe ich beschlossen, zu streamen und es gemeinsam mit den Fans zu sehen – live auf Twitch. Immerhin spricht nichts dagegen, bei Erkältung live zu gehen, und so habe ich Ablenkung und laufe nicht Gefahr, zu Hause durchzudrehen.

Thorixx_painting: alles ok bei dir?

dyadra_23: Eben die Pressemeldung gelesen, dass du krank bist. Gute Besserung!

masterspike23: sah mehr nach nem Bier zu viel aus KEKW

blackdiamondwing: reactest du dann heute aufs Match?

mavwy: Zocken wir?

Dome007: Gilt dein Rabattcode auf den Gaming-Chair noch?

petezz22: huh, was macht er denn hier? das game startet doch gleich

Die Zuschauerzahl klettert auf über zweitausend, und ich fahre mir durch das dunkle Haar, während der Chat immer schneller wird und rechts am Bildschirm entlangrast. Zwei meiner Moderatoren sind am Start, um die Kommentare im Zaum zu halten und, wenn nötig, Leute aus dem Stream zu schmeißen. Doch gerade sind die eher irritiert und neugierig als böswillig. Immerhin sehe ich nach wie vor so fertig aus, dass man mir die Erkältung abkaufen kann.

»Schön, dass ihr da seid. Ich bin heute leider nicht beim Match dabei. Wenn ihr wie dyadra die Pressemitteilung gelesen habt, wisst ihr ja, warum: Mich hat eine fiese Erkältung ausgeknockt.« Seltsamerweise geht mir die Lüge leicht über die Lippen, da die Wahrheit – dass ich Aufputschmittel im Blut habe – sich viel eher ausgedacht anfühlt. Wenn das Ergebnis meines Bluttests das morgen jedoch bestätigt … Ich verdränge den Gedanken eilig, bevor mein Lächeln verrutschen kann. »Ich hatte gehofft, dass ich es mit Medikamenten in den Griff kriege, was stattdessen passiert ist, habt ihr ja sicher schon online gesehen.«

Lachende Emojis, aber auch die eine oder andere Beileidsbekundung und Herzen ploppen im Chat auf.

»Ich würde sagen, wir zocken ein wenig Oversiege und stimmen uns so schon mal auf das Match nachher ein, ja?«

Ich wechsle die Szene, sodass man mich nur noch klein unten links im Bild sieht, und öffne Oversiege, das mittlerweile so viel mehr als nur ein Spiel für mich ist. Die Titelmelodie fühlt sich nach Heimkommen an, und als ich meinen Charakter auswähle und den Solo-Modus starte, entspanne ich mich zum ersten Mal an diesem seltsamen Tag. Was auch immer heute vorgefallen ist: Es ist vorbei. Das nächste Match ist bereits in wenigen Tagen auf der LevelUp, der größten Londoner Gaming-Convention. Ich werde gewinnen, allen zeigen, wie ernst es mir ist, und dann ist das hier vergeben und vergessen. Der Counter auf dem Bildschirm läuft herunter, mittlerweile sind es fast dreitausend Zuschauende, und das Spiel startet.

Eine halbe Stunde später würde ich am liebsten einen Ragequit hinlegen und die Maus an die Wand pfeffern. Ob es nun Aufputschmittel, Alkohol oder sonst etwas in meinem Blut ist: Ganz rausgespült haben sie es im Krankenhaus offensichtlich nicht, denn ich spiele, als wäre ich tatsächlich besoffen. Meine Schüsse sitzen nicht, ich reagiere zu langsam, und die letzte Runde hat mein Team wegen meiner Fehler verloren. Ich halte den Atem an, als ich durch das Zielfernrohr einen der Gegner anvisiere, der gerade die Bombe platziert – und werde von hinten erstochen. Erstochen wie ein blutiger Anfänger, denn das bedeutet, dass mein Gegner genug Zeit hatte, sich seelenruhig anzuschleichen, und nicht einmal seine richtige Waffe verwenden musste. Es bedeutet, dass ich mir zu viel Zeit gelassen habe, die Karte und meine Deckung nicht beachtet habe – und dass ich heute auf dem Niveau eines Grundschülers spiele. Wobei, der hätte immerhin Reflexe.

Mein Handy vibriert auf der Tischplatte, und ich lese die Nachricht zähneknirschend.

Alessia: Vielleicht solltest du heute ’ne Pause machen? Es werden schon Clips erstellt, ich glaub, du tust dir damit keinen Gefallen. Fühl dich gedrückt.

Alessia ist eine meiner Moderatorinnen – und sie hat gerade alle Hände voll zu tun, denn natürlich ist es für die Fans unserer Gegnerteams ein gefundenes Fressen, dass ich hier so versage. Ich hätte offline bleiben oder zumindest nicht zocken sollen.

Ethan wird mich umbringen.

Anstatt die Gerüchte zu entkräften, hab ich sie nun nur befeuert.

»Sorry, Leute«, murmle ich, und dieses Mal muss ich gar nicht schauspielern. Denn die Bedrückung in meiner Stimme? Die ist echt. »Ich hatte gehofft, dass ich fit genug bin, wenigstens hier zu spielen, aber das war wohl ein Reinfall. Bevor ich mich vom Champion wieder zurück in den Bronze-Rang befördere, hör ich für heute besser auf.«

Steave_heave: Bei Bronze könnten wir wenigstens mal zusammen zocken, haha

ChrisTaphophilia: gucken wir das match dann doch nicht gemeinsam?

masterchiefx23: Wenn du bei der LevelUp so spielst, machen TriggerLogic dich fertig LUL

analysttactic: Sicher, dass du nicht doch noch dicht bist?

veronsim: hab ein ticket für deine signierstunde bei der levelup, freu mich schon sooo!

nerdypiglet: Wen raiden wir heute?

»Keine Sorge, masterchief«, sage ich. »In zwei, drei Tagen bin ich wieder topfit, und TriggerLogickönnen ihr blaues Wunder erleben. Damit ich bis zur Convention aber wirklich gesund bin, leg ich mich besser hin und guck den Panthers vom Bett aus zu.« Mein Blick verweilt auf der letzten Frage. Am Ende jedes Streams raiden wir jemanden – das heißt, ich schicke all meine Zuschauer und Zuschauerinnen in einen anderen Livestream. In der Regel wähle ich eine Person mit wenig Viewern, um sie zu supporten. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie hart es war, damals zu starten. Ohne Reichweite, ohne teures Equipment, ohne Ahnung und Unterstützung. »Habt ihr Vorschläge, wen wir heute raiden wollen?«

Prompt schreiben alle Namen anderer User in den Chat. Einer davon taucht jedoch gleich mehrmals auf.

veronsim: NovelHaven!!! So ein süßes Game!

Grillpander: NovelHaven – ist ihr erster Stream heute (:

»Novel Haven«, murmle ich. Der Name sagt mir etwas: War das nicht der Gewinner der GameChanger-Convention im Frühjahr? Ich gebe den Namen in der Twitch-Suchleiste ein, und tatsächlich: Es ist das Pixelgame, an dessen Stand ich vor ein paar Wochen noch vorbeigelaufen bin. Anscheinend streamt das Indie-Studio ebenfalls. Gerade pflügt eine kleine blonde Figur einen Garten und pflanzt darin Blumen an. »Das ist mal Kontrastprogramm zu sonst. Aber hey, vielleicht würden meine Reflexe dafür immerhin reichen.« Ich seufze – und halte inne. Denn in diesem Moment sieht die Streamerin in die Kamera.

Ich kenne sie. Das Gesicht könnte ich nicht vergessen. Den flapsigen Ton, der diese engelsgleichen Züge Lügen straft, genauso wenig. »Na gut, dann raiden wir wohl Novel Haven. Viel Spaß euch heute beim Match, feuert die Panthers an. Und macht’s gut!« Ich winke noch einmal in die Kamera, starte den Raid und lehne mich in meinem Stuhl zurück. Das könnte spannend werden.

5

Nataly

invisible string (oder wieso zur hölle ist das internet so klein?)

Taylor Swift (Nataly’s Version)

Er ist nicht da.

Ich pflanze ein paar Tulpen in das Beet neben dem Leuchtturm, laufe zu dem kleinen Teich, fülle die Gießkanne und bewässere sie. Dabei plaudere ich fröhlich mit dem Chat, in dem schon fünfzig Leute sind. Sie alle sind hellauf begeistert von dem Spiel, vor allem da Aria – unsere Pixel Artist – etliche neue Frisuren und Outfits hinzugefügt hat, die es in der Demo noch nicht gibt. Zu streamen ist gar nicht so anstrengend, wie ich dachte. Klar, an das Live-Format werde ich mich noch ein wenig gewöhnen müssen, doch alle sind superlieb und in erster Linie begeistert und gehypt auf das Spiel.

Und doch kann ich nicht aufhören, die Liste der Viewer alle paar Minuten aufzuklappen und nach seinem Namen zu suchen. Auch jetzt tue ich es wieder. Fehlanzeige. Er ist nicht da. Obwohl er es versprochen hat. Die Enttäuschung lastet zentnerschwer auf meinem Magen, und Laras harter Blick steht mir erneut vor Augen. Wären die Rollen vertauscht, ich würde sie genauso ansehen. Himmel, ich sollte mich genauso ansehen. Ich bin sonst nicht so … so schwach.

Ich atme tief ein und wieder aus und wünschte, ich könnte die Gedanken an Jack ebenso leicht loswerden wie meine Atemluft: automatisiert, ohne Energie daran zu verschwenden.

»Die Gießkanne kann in der Stadt übrigens noch aufgewertet werden. Das brauchen wir für den Garten noch nicht, aber – Mini-Spoiler – im geheimen Wald hinter Novel Haven gibt es vielleicht etwas, wofür das nötig werden könnte.«

Ich lächle gerade in die Kamera, als ein Sound ertönt, den ich nicht zuordnen kann. Es kann sich um keinen neuen Follower handeln, denn das Geräusch dafür ist mir mittlerweile bekannt. Mein Blick schweift suchend über das Overlay der Streamingsoftware, doch als im nächsten Moment der Chat explodiert, weiß ich auch so, was geschehen ist: ein Raid. Und nicht irgendein Raid, knapp viertausend Menschen sehen nun zu. Mein Puls schießt in die Höhe. Scheiße, darauf hat Aria mich nicht vorbereitet. Gibt es eine Etikette, die ich beachten muss?

»Hallo! Oh mein Gott, hi!«, sage ich ebenso überrumpelt, wie ich mich fühle. Doch in erster Linie freue ich mich – je mehr Viewer, desto besser das Reporting, das ich Sophia vor die Nase halten kann. Ha! Ich wusste doch, der Stream war eine gute Idee. »Danke für den Raid!« Ich lächle breit in die Kamera und will mir aus Reflex das blonde Haar hinter die Ohren streichen, bis mir wieder einfällt, dass ich ein Gaming-Headset und nicht wie sonst meine Airpods trage.

»Wie geht’s euch? Ich bin Nataly, ich arbeite im Marketing bei Novel Haven, dem Spiel, das ihr hier gerade im Hintergrund seht. Heute ist mein erster Stream, aber definitiv nicht der letzte. Wir wollen euch ein bisschen beim Entstehen des Games mitnehmen. Wenn ihr also Wünsche und Anregungen habt, schreibt sie einfach in den Chat oder kommt auf unseren Discord. Mit Ausrufezeichen Discord erhaltet ihr den Link dafür.«

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie der Arbeitschat aufploppt und die anderen aus dem Team aufgeregte Reaktionen auf den Raid schicken. Meine Konzentration liegt jedoch auf dem Chat, in dem gerade alle auf das Spiel eingehen.

Smallizzy: Das Spiel sieht ja süß aus!

chaosonja: Oh wow, habt ihr niedliche Twitch-Emotes!

byelingual: Ach, cool! Ihr seid das! Hab euch auf der GameChanger gesehen!

vercettiXCI: Ihr Aim mit der Gießkanne ist besser als Dylans mit der Sniper

Dylan ist dann wohl der Streamer, der mich geraidet hat.

»Freut mich, dass euch das Design gefällt. Wir haben heute einen neuen Spielstand gestartet und sind gerade noch dabei, den Leuchtturm und Garten einzurichten, aber ich gebe euch mal eine kleine Tour durch unseren Schauplatz Novel Haven.« Ich steuere Mini-Nataly aus dem Garten in Richtung Stadt und halte noch einmal kurz vor unserem Haus.

»Hier haben wir wie gesagt unseren Leuchtturm, den wir nach und nach zu einer Buchhandlung ausbauen – jetzt zu Beginn haben wir nur fünf Genres, es wird mit der Zeit immer mehr Bücher und Möglichkeiten geben. Links würden wir zum Strand gelangen, hier rechts geht’s ins Stadtzentrum.« Ich laufe einige Schritte weiter und sammle unterwegs noch Holz auf, das wir für den Bau von Bücherregalen benötigen.

»Oh, und hier kommt mein liebster Charakter.« Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich die kleine dunkelblonde Figur sehe, die vom Shop des Dorfs über den Marktplatz gelaufen kommt. »Kaden.«

Ich habe abgesehen von den Brainstormings zwar nichts zum Inhalt des Spiels beigetragen, doch Kaden ist auf meinem Mist gewachsen. Er ist der Bad Boy Novel Havens, weshalb Aria gleich Feuer und Flamme war, ihn zu designen.

»Alle unsere Figuren haben einen ganz eigenen Charakter, Kaden ist eher grumpy angelegt, aber …« Ich sehe mit den Augenbrauen wackelnd in die Kamera. »… harte Schale, weicher Kern – vielleicht steckt ja mehr dahinter. Man kann ihn und einige andere Figuren im Game nämlich romancen. Soll heißen: Ihr könnt Beziehungen führen und später im Spiel auch heiraten und Kinder kriegen, wenn ihr denn möchtet.«

Inkbirdy: uuuh sold!

Aliciahx: Die Häuser sehen so schön aus! Ist das dahinten ein Kino?

mavwy: Gehen auch queere Beziehungen?

»Ja, na klar! Ihr könnt alle erwachsenen Single-Figuren daten, egal ob Mann oder Frau, binär oder nicht. Alle, die keine romantische Beziehung führen wollen, können auch rein freundschaftlich mit einer Figur zusammenziehen.«

Ich spreche Kaden an, wodurch neben dem Textfeld ein Avatar bestehend aus einem Gesicht und Oberkörper erscheint. Allzu viele Details können in einem Pixelgame nicht untergebracht werden, und es könnte genauso gut jeder andere Mann mit blonden Haaren und sportlichem Äußeren sein, aber ich sehe nur Jack darin, und mein Herz zieht sich zusammen. Weil er nach wie vor nicht da ist.

»Hey, du bist neu hier, oder?«, lese ich Kadens Zeilen vor. »Verschwende meine Zeit nicht mit Fragen, ich hab Wichtigeres zu tun.« Ich beende den Dialog, und Kaden tapst weiter über den Markt. »Ich werde auf jeden Fall versuchen, ihn zu romancen. Man kann den Figuren Geschenke geben, alle haben allerdings andere Vorlieben, also …« Ich halte inne, als DMRDylan, der Streamer, der mich geraidet hat, das erste Mal in den Chat schreibt.

DMRDylan: Den willst du romancen? Gibt’s niemand Netteren?

»Er ist am Anfang abweisend, aber da steckt mehr dahinter«, erkläre ich mit Nachdruck. »All unsere Figuren sind sehr komplex angelegt und haben ihre eigenen Hintergrundgeschichten, die ihre Verhaltensweisen und Eigenarten erklären.«

Ich bewege meine Figur weiter dahin, wo Kaden nun bei einem anderen Dorfbewohner am Rand des Platzes steht. Der Dorfbewohner grüßt mich fröhlich, während Kadens Avatar die Brauen spöttisch hebt.

»Oh, die Neue hat was zu sagen? Das wird sicher spannend.«

DMRDylan: Da steckt auf jeden Fall noch mehr dahinter: noch mehr Unhöflichkeit.

Ich beiße die Zähne zusammen, um diesem Dylan keinen schnippischen Kommentar entgegenzuschleudern. Immerhin habe ich ihm die hohe Zahl an Zuschauenden zu verdanken – von denen sich nun aber ein paar auf seine Seite schlagen.

byelingual: Klingt wie der Bully von meiner alten Schule.

heartwork: Können wir nicht jemand anderen romancen? Den Typen daneben? Der war doch normal.

»Nur weil jemand nicht zu jedem Zeitpunkt beste Laune hat, ist er noch lange kein schlechter Mensch«, sage ich so freundlich wie möglich. »Und Menschen können sich ändern. Manchmal lohnt es sich, dranzubleiben, ihnen zu helfen, das Gute im Leben zu sehen – genau wie bei Kaden.«

DMRDylan: Also an die Girls und Gays, die aus meinem Chat mit hier rüberkamen: Lasst euch so bitte von keinem Typen behandeln. Zu keinem Zeitpunkt. Ist ja nicht euer Job, ihn zu fixen und seine Launen auszuhalten.

Ist das sein verdammter Ernst? Ist dieser Kerl mit knapp viertausend Leuten in meinen Stream gekommen, um unser Spiel auseinanderzunehmen?

»Das hat doch nichts mit Fixen zu tun«, protestiere ich. »Manche Menschen brauchen einfach einen Schubser in die richtige Richtung.« Ich steuere meine Figur wieder zurück zu den Häusern, doch meine Finger sind verkrampft, und Dylans Worte kratzen unangenehm in meinem Inneren. Berühren etwas in mir, das nur noch wenig mit Novel Haven, aber umso mehr mit mir selbst zu tun hat. Der Chat bewundert weiter die Landschaft und hat die blauhaarige Besitzerin des Blumenladens als Love Interest erkoren, doch Dylan scheint das Thema ebenso wenig loslassen zu wollen wie ich.

DMRDylan: Ich mein ja nur: Nicht gerade ein positives Bild, das du hier vermittelst. Niemand sollte sich so angehen lassen. Kein Typ der Welt ist es wert, dass man sich seinetwegen minderwertig fühlt.

»Ich dachte, wir sind auf Twitch, nicht in der Drew-Barrymore-Show.« Ich wollte die Worte denken. Wirklich. Doch wie immer war mein Mundwerk schneller als mein Gehirn.

Ich lasse die Maus los, da die etlichen lachenden Emojis im Chat mir zeigen, dass es nun ohnehin zu spät ist. Sophia wird mich umbringen, zumindest, wenn Lara ihr nicht zuvorkommt. Doch das ist mir in diesem Moment egal, denn Dylans Worte treffen einen wunden Punkt in mir. Den, aus dem es seit dem demütigenden Tag im Restaurant blutet. Den, der jedes Mal schmerzt, wenn ich auf die Viewerliste schaue und Jack dort immer noch nicht zu sehen ist.

»Hör mal, Dylan. Ich weiß ja nicht, wie alt du bist, aber in der echten Welt der Erwachsenen ist das Leben nicht schwarz und weiß. Wenn du mal ins Dating-Alter kommst, wirst du verstehen, dass Gefühle komplex sind und eine abweisende Art nicht immer wirklich mit Abweisung gleichzusetzen ist.« Ich lächle zuckersüß in die Linse der Kamera, während der Teamchat der Arbeit orange aufleuchtet, weil Aria und Lara mir Nachrichten schicken.

Ich sollte aufhören. Ich sollte mich wieder auf das Spiel konzentrieren, bevor sie das LAN-Kabel ziehen oder mir den Strom abdrehen. Ich bin zu weit gegangen. Dazu brauche ich die Chat-Nachrichten gar nicht zu lesen, das teilt mir bereits mein heftig pochendes Herz mit. Das hier ist live. Kein Video, das ich im Nachgang editieren kann.

DMRDylan: Lol. Ich bin 29. Und in all diesen 29 Jahren hab ICH noch nie jemanden in einem fancy Restaurant auf einer hohen Rechnung sitzen lassen.

Mir klappt der Mund auf, und ich schwöre, mein Herz setzt aus. Das kann nicht sein, oder? Er kann es nicht sein, oder?

»Ist das dein fucking Ernst?«

6

Dylan

Good men mean well. We just don’t always end up doing well.

Dead Space 3

Es gibt mehrere Arten von Arschlöchern. Die Art der Kaden-Arschlöcher, die Frauen scheiße behandelt, einfach weil sie glaubt, es zu können. Und dann gibt es mich, der behauptet, anders zu sein, und dann trotzdem eine Streamerin zur Weißglut treibt. Live. In ihrem allerersten Stream.

Ich bin ein Arsch. Einer, der zu weit gegangen ist, das erkenne ich an der funkelnden Wut in den Augen der blonden Frau – Nataly, wie ich jetzt weiß. Ich habe sie direkt wiedererkannt, und auch die Wut in ihren Augen erkenne ich wieder, denn es ist die gleiche, die mir im Restaurant entgegengeschlagen ist. Warum auch immer, schließlich wollte ich da wirklich nur helfen.

Ich beginne, eine Entschuldigung zu tippen, auch wenn das jetzt wohl zu spät ist, denn im Chat haben sich bereits zwei Lager gebildet: eines, das Nataly verteidigt, und eines, das auf meiner Seite ist und toxische Verhaltensweisen kritisiert. Bevor ich meine Nachricht abschicken kann, ergreift Nataly wieder das Wort.

»Das DMR in deinem Namen steht doch sicher für Designated Marksman Rifle, oder? Du spielst also vermutlich Shooter? Und, findest du es im echten Leben gut, Leute abzuknallen? Ich wette mit dir, dass die Antwort Nein lautet. Trotzdem macht dir das Spiel Spaß, und das ist voll okay! Also komm mir hier nicht mit der moralischen Keule, weil eine Figur in diesem wirklich aufwendig und vielfältig gestalteten Game dir nicht in den Kram passt.«

Ich beiße mir auf die Zunge, dabei sind es eigentlich meine Finger, die ich im Zaum halten sollte. Denn natürlich ist es nicht dieser Kaden, der mich nervt, sondern die Tatsache, dass alles, was Nataly gesagt hat, wie eine Entschuldigung klang. Nicht für die Figur im Spiel, sondern für die Person, die sie vor wenigen Wochen hat sitzen lassen. Dabei habe ich ihr gute dreißig Minuten dabei zugesehen, wie sie ein ums andere Mal den Kellner vertröstet, nervös an ihren Fingern genestelt und ständig aufs Handy geschaut hat, nur um dann doch sitzen gelassen zu werden.

Natalys Wangen sind gerötet, und mein Blick verharrt eine Sekunde zu lang auf ihrem Gesicht, bevor ich wieder in die Tasten haue. Die anderen sind wesentlich schneller, und der Chat rast rechts neben dem Bildschirm entlang – erste Personen erstellen sogar Clips, also Videoausschnitte des Geschehenen. Großartig, das wird mir dann wohl ein weiteres Gespräch mit Ethan einbringen. Ich hätte einfach ins Bett gehen sollen.

Denizlive_: Dylan hat heute eh nichts abgeknallt, da ging alles daneben

_flower_girl_: Eben! Man kann ja unterscheiden, was in Medien toxisch ist und was im echten Leben

LzzysFreak: