Nur dämlich, lustlos und extrem? - Kurt Möller - E-Book

Nur dämlich, lustlos und extrem? E-Book

Kurt Möller

0,0

Beschreibung

"Wir sind die letzte Generation, die was verändern kann." Es ist die junge Generation, die mit den Folgen der politischen Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, umgehen muss. Und anders als oft vermutet gibt es viele, die sich ein Mitspracherecht wünschen, eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen: "Leider ist das manchmal frustrierend, wenn man probiert, was zu verändern. Alle sagen: 'Das ist wichtig, da muss sich was tun', und dann tut sich doch nur so minimal was. Durch Fridays for Future hat sich ganz, ganz viel schon geändert von wegen Umdenken und so. Aber es muss viel, viel, viel mehr werden." "Wenn wir politische Entscheidungen demokratisch treffen wollen, ist breite politische Beteiligung vonnöten. Daher sind für den Bestand und die Weiterentwicklung von Demokratie Antworten auf die Frage unabdingbar, wie Mitsprache, Mitentscheidung und Mitwirkung für alle, insbesondere aber für die nachwachsenden Generationen, befördert werden können. Dafür müssen Lebensgestaltungsoptionen weiter geöffnet werden, damit diese dann auch in Demokratiegestaltung münden können. Wer sich nicht durch den über 600 Seiten starken Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung quälen will, findet auch im vorliegenden Buch einige Hinweise. Hier kommen sie nicht von titelgeschmückten und mit institutionellen Weihen versehenen Expert:innen, sondern von jungen Leuten selbst. Sie erzählen ihre eigene Geschichte, wie sie Politik für sich entdeckt haben. Die Vielfältigkeit, in der sie dies getan haben und weiterhin tun, zeigt auf, dass Politik(machen) beim Nachrichten gucken oder beim Wählen und Gewähltwerden weder anfängt noch aufhört." Kurt Möller

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 714

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PROJEKTGRUPPE#JUGEND#MACHT#POLITIK

NUR DÄMLICH, LUSTLOS UND EXTREM?

WIE JUGEND POLITIK MACHT

Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

[email protected]; http://www.hirnkost.de/

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage August 2021

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; [email protected]

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout: Conny Agel, Regina Vierkant

Lektorat: Klaus Farin, Gabriele Vogel

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-93-6

PDF: 978-3-948675-95-0

EPUB: 978-3-948675-94-3

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: https://shop.hirnkost.de/

DIE AUTOR*INNEN

Dieses Buch entstand im Zusammenhang eines zweisemestrigen Lehrforschungsprojektes unter der Leitung von Prof. Dr. Kurt Möller an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.

Die Autor*innen dieses Buches sind: Sina Beyer, Johanna Feder, Jan Greifelt, Helen Krause, Kurt Möller, Nadine Natterer, Semra Podbicanin, Claudia Schaller, Yannik Steinhart, Pia Zazzarini und Hanna Zinßer.

Inhalt

Vorwort

Jugend MACHT Politik – Kurt Möller

#bunt, laut und kreativ

»›Kapitalismus ist scheiße‹ ist ein bisschen stumpf«

»Man muss halt manchmal einfach die Leute nerven, damit verstanden wird, warum man wütend ist«

»Was ist Deutschland für dich?«

»Wenn man stickert, kann man seiner Meinung einfach Ausdruck verleihen, ohne dass man was dazu sagen muss«

»Ich find, dass Tattoos schon ’ne Form von Politik sind«

»Der Steppenwolf ist eine schöne Beschreibung der Zerrissenheit des modernen Menschen«

»Es ist wichtig, dass man sich für sich und seine Weltvorstellung einsetzt, obwohl es vielleicht gegen den Strich von anderen läuft«

#online

»Es wird kein Weg daran vorbeiführen, dass ich aktiver werden muss, wenn ich die Gesellschaft mit all ihren freiheitlichen Rechten weiter behalten möchte«

»Du hatest jemanden, ohne dass du mit ihm ein Wort ausgetauscht hast«

»Der Einfluss, den man hat, wenn man Politik beobachtet und darüber berichtet, ist größer als in einer Partei«

»Anstatt soziale Medien wie Instagram für […] Selbstdarstellung zu nutzen, können wir die gerade für politische Interessen und Inhalte auch positiv gebrauchen«

#gemeinsam in Bewegung

»Wie lange soll es noch so weitergehen, dass wir unterdrückt werden durch ein paar Hellhäutige?«

»Der beste Weg ist, zu akzeptieren und zu wissen, was meine Privilegien sind, und sie nicht zu leugnen«

»Du wirst als durchschnittlich abgestempelt, als jemand, der sowieso die Schule abbrechen und heiraten wird«

»Ein Stück weit sind Jugendliche da kompetenter als Erwachsene«

»Eine Gesellschaft, wo man nicht für Geld Menschenleben riskiert, nur damit man noch ein paar Jahre gut wirtschaften kann«

»Wir wollen unsere Stadtgesellschaft selbst in die Hand nehmen«

»Veganismus ist die stärkste politische Entscheidung, um was zu ändern«

»Auf jeden Fall sollten alle so weit wie möglich vegan werden«

»Auch wenn es nur ein banaler Spruch war, ist es eine respektlose Grenzüberschreitung«

»Der Schwangerschaftsabbruch dürfte nicht mehr illegal sein, sondern ganz normal geregelt wie alle anderen medizinischen Eingriffe«

»Ich finde nicht, dass die Welt in ’nem kapitalistischen System leben sollte, in dem es Eigentum an Grundsachen wie Nahrung, Wasser oder Sonstigem gibt«

»Wohnungsnot besiegen, Gartenstraße sieben!«

»Wir stehen zusammen, ob vor Gericht, bei der Strafzahlung oder auf der Straße!«

»Ich würde mir wünschen, dass es kein Deutschland mehr gäbe«

»Meine Utopie ist die Anarchie«

#mit Vertrauen ins System?

»Wenn man sich einbringen kann, merkt man, dass man was ändern kann, gerade als junge Person«

»Es ist nur ein Tuch«

»Ich betitele mich selbst immer als realistische Kommunistin«

»Ich bin halt der Politikdude«

»Der Kapitalismus ist eine gute Sache«

»Irgendeinem dabben wir immer auf die Füße«

»Generell halte ich es schon für effektiver, sich in dieses Bürokratenkorsett zu zwingen«

#demokratisch gebildet?

»Ich finde es nicht richtig, dass man Kindern sagt, was sie machen müssen«

»Wenn man was verändern will, ist der erste Schritt, an sich selbst etwas zu verändern«

»Es geht darum, das Übernehmen von Verantwortung zu lernen«

»Es hilft eben auch im kleinen Maß, denen zu helfen, die bei uns im Ort sind«

»Wir sind die letzte Generation, die was ändern kann«

»Es ist wichtig, dass wir uns um Menschen kümmern, die es vielleicht selbst nicht können, weil sie in einer Position sind, in der sie nicht verhandeln können«

»Dass die Arbeitsbedingungen besser und fairer werden«

#mitmischen und mitgestalten

»Es ist mir wichtig, dass ich meinen Teil zur Gesellschaft beitragen kann«

»Keiner kommt her und fragt uns«

»Wir haben es durch den Gemeinderat geschafft, das ist echt cool«

»Durch die Stimme in einem Verein, in einer Partei kann man viel verändern«

»Pfadfinder sein ist für mich grundsätzlich von den Werten her schon politisch«

Vorwort

»Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen« – schon vor über 2.000 Jahren klagte der griechische Philosoph Aristoteles (469–399 v. u. Z.) über seine jungen Zeitgenoss*innen. Auch heute erhebt sich vielfach ähnliches Gejammer über »die Jugend von heute«. Und darüber, wie unpolitisch sie doch eigentlich sei.

Aber was ist wirklich dran an solchen Beschwerden? Sind junge Menschen wirklich nur lustlos, dämlich und extrem? Oder handelt es sich um ein Vorurteil, das so alt ist wie die Menschheitsgeschichte selbst? Muss sich nicht jede Jugend anhören, dass sie nicht mehr das ist, was sie zu Zeiten der Eltern und Großeltern einmal war? Und gibt es die eigentlich Lustlosen und Unverantwortlichen nicht vielleicht sogar besonders zahlreich in der Vorgängergeneration der gegenwärtigen Jugend, also in der Erwachsenenwelt von heute? Ist es nicht eher sie, die sich wohlstandsverwöhnt auf den fetten Jahren des Wirtschaftswunders ausruht nach dem Motto »Nach mir die Sintflut!«?

Spätestens seit Fridays for Future sollte auch den Letzten aufgefallen sein, dass Jugendliche heute alles andere als naiv, träge und unpolitisch sind. Aber wer denkt, dass die politische Beteiligung der Jugend sich ausschließlich auf Fridays for Future beschränkt, hat weit gefehlt!

Wir, Studierende der Sozialen Arbeit und der Frühkindlichen Bildung und Erziehung an der Hochschule Esslingen, haben uns im Verlauf des Jahres 2020 auf die Suche nach den Ausdrucksformen jugendlicher Politik gemacht: auf die Suche nach guten Gesprächen, spannenden Motiven und vermeintlich blindem Aktivismus für die gute Sache. Dazu trafen wir über 70 Interviewpartner*innen aus dem Großraum Stuttgart und ganz Deutschland, die uns persönlich oder digital über ihre Art, Politik zu machen, berichteten. Dabei fanden wir Weltverbesserer*innen, Gemäßigte und weniger Gemäßigte, auf die Straße Geher*innen und kreative Köpfe. Uns begegneten junge Menschen, die Statements auf die Straße kreiden, weil sie allen Umständen zum Trotz ihren Standpunkt vertreten … Songtexte schreiben, weil sie es nicht ertragen, nur auszusprechen, was sie umtreibt … sich in Gremien und Parteien engagieren, weil sie die Hoffnung auf Mitwirkung im gegebenen politischen System nicht verloren haben … oder ihre Faust in der Tasche ballen, weil ihre Wut so groß ist.

Mit diesem Buch nehmen wir dich, liebe*r Leser*in, mit in die gegenwärtige politische Welt von Jugendlichen. Sie begreifen sich selbst sehr wohl als Teil dieser Gesellschaft, sie wollen und können nicht auf ein Morgen warten, das sich von selbst einstellt. Wir zeigen, warum und wie sie ihren Teil dazu beitragen, dass diese eine gute, ja sogar eine bessere Gesellschaft werden kann … warum und wie sie politisch aktiv sind, selbst wenn sie manchmal ihr Engagement selbst gar nicht als politisches bezeichnen … warum und wie sie sich für eine Gesellschaft einsetzen, für die es sich lohnt, den Mund aufzumachen, den Stift oder die Spraydose anzusetzen und auf die Straße zu gehen.

Wir durften vieles hören, vieles sehen und vieles erleben. Viel Neues entdecken und vieles dazulernen: Unterschiedliche junge Menschen aus unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Gedanken und unterschiedlichen Formen des politischen Ausdrucks. Dafür möchten wir uns bei allen Mitwirkenden an diesem Buch bedanken. Und dafür, dass sie uns die Gelegenheit gegeben haben, Jugend zu zeigen, wie sie wirklich ist: vielfältig und divers, interessiert und engagiert. Aber vor allem eines nicht: mit wenigen Worten zu beschreiben. Statt auf jahrhundertealte Vorurteile über die »Jugend von heute« reinzufallen, mach dir lieber dein eigenes Bild: Blättere in diesem Buch! Lies, was dir unsere Gesprächspartner*innen zu erzählen haben! Und vielleicht entdeckst du ja, dass du politischer bist, als du bisher gedacht hast!

Esslingen, im Januar 2021Projektgruppe #Jugend #Macht #Politik

Kurt Möller

»Wenn jeder denken würde: Wenn ich was mache, dann bringt das was – dann würde die Welt ja ganz anders aussehen«1

Jugend MACHT Politik

Nein, dass der Untertitel dieses Artikels doppeldeutig daherkommt, ist kein Zufall. Er signalisiert zweierlei: Zum Ersten steckt er das Thema grob ab. Es geht im Folgenden darum, wie junge Menschen Politik betreiben. Zum Zweiten lässt er deutlich hervortreten, dass Fragen der Macht im Mittelpunkt stehen, wenn hier die Bestimmung des Verhältnisses von Jugend und Politik zum Gegenstand gemacht wird.

Für alle Begriffe des Untertitels scheint zunächst eine definitorische Klärung angebracht zu sein, bevor wir auf das eingehen, was wir empirisch über politisches Interessiertsein und politisches Handeln von jungen Menschen wissen, um danach auf dieser Grundlage abschließend wenigstens ganz knapp Perspektiven aufzuzeigen, wie einschlägige Aktivität(sbereitschaft)en gesellschaftlich gefördert werden können, um politische Teilhabechancen und Demokratie auf Dauer sichern, ausbauen und weiterentwickeln zu können.

JUGEND, MACHT, POLITIK – DEFINITORISCHE KLÄRUNGEN

JUGEND

Werden in jüngerer Zeit die Relationen von Jugend und Politik öffentlich erörtert, dann stehen sich zumeist zwei Positionen diametral gegenüber: Die einen lamentieren über die angeblich so unpolitische Jugend von heute – zumeist mit einem nicht ganz uneitlen Verweis darauf, dass dies ja in der eigenen Jugend alles ganz anders gewesen sei. Die anderen singen das hohe Lied breiten jugendlichen Engagements oder betonen zumindest das große politische Interesse in der nachwachsenden Generation.

Das Problem an beiden Positionen scheinen die Pauschalisierungen zu sein, die oftmals mitschwingen, wenn undifferenziert von der Jugend oder der jungen Generation die Rede ist. Die Jugend aber gibt es eben nicht – dies weiß die Jugendforschung mindestens seit Ende der 50er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sie unterstreicht dieses Wissen aber in jüngerer Zeit mit Verweisen auf zunehmende Individualisierung und Pluralisierung zu Recht immer häufiger. Jugend ist mannigfaltig und divers, sodass sich knapp formulieren lässt: Jugendliche gibt es, aber nicht die Jugend.

Selbst wer zur Gruppierung der Jugendlichen zu zählen ist, wird seit Längerem jedoch in wachsendem Maße unklar: Dass es nicht nur die 14- bis 18-Jährigen sind, die diese Altersgruppierung bilden, lässt sich allein schon daran erkennen, dass die Adressat*innen der Jugendhilfe laut ihren gesetzlichen Grundlagen bis zu 27 Jahre alt sein können und sogar noch viele Menschen im vierten Lebensjahrzehnt sich in vergleichbaren Lebenslagen befinden oder einen jugendlichen Lebensstil pflegen: z. B. eine (Zweit-)Ausbildung durchlaufen, keinem sozialversicherungspflichtigen »Normalarbeitsverhältnis« nachgehen, (noch) keine Kinder haben, kulturelle Vorlieben pflegen, die denen der Jüngeren gleichen usw. Für jede*n sichtbar dehnt sich auf der anderen Seite die Jugendphase auch »nach unten« hin aus: Wer rechtlich gesehen noch ein Kind ist, zeigt vielfach schon jugendtypische Verhaltensweisen: kleidet sich wie die Älteren, hört »ihre« Musik, nutzt dieselben Medien und geriert sich auch sonst oftmals wie sie. Insofern gibt es ebenso wenig die Jugendlichen wie die Jugend.

Folglich ist die Frage, ob die Jugend oder die Jugendlichen heute politischer, weniger politisch oder genauso politisch sind wie vorherige Jugendgenerationen, falsch gestellt. Sie ist in dieser Pauschalität gar nicht seriös zu beantworten.

Chancen auf verlässlichere Antworten ergeben sich wohl erst dann, wenn unter dem Schlagwort »Jugend« auf diejenigen geblendet wird, die sich zum einen in einer Lebensphase und -lage befinden, die als jugendlich gelten kann, also noch nicht die Insignien des Erwachsenseins aufweist, und die sich vor allem auch selbst als Jugendliche verstehen, und die zum anderen diese Lebensphase in durchaus unterschiedlichen Milieus und dementsprechend auch mit unterschiedlichen Chancen, Wertorientierungen und Haltungsbeständen durchlaufen.

POLITIK

»Politik ist ein schmutziges Geschäft«, »Politik wird in Parteien und Parlamenten gemacht«, »Politik ist alles, was nicht in deiner Wohnung passiert«, »Politik ›von unten‹ findet als Protest auf der Straße statt« – bereits diese kleine Auswahl von formelhaften Verständnissen von dem, was mit dem Begriff »Politik« gemeint sein kann, zeigt auf: Eine auch nur einigermaßen gesamtgesellschaftlich geteilte Definition von »Politik« kann wohl nicht angenommen werden. Mehr noch: »Das Private ist politisch.« Das, was dieser vor allem in der Frauenbewegung verbreitete Slogan ausdrückt, macht die Sache noch komplizierter. Er reißt die Auffassung ein, es ließe sich zwischen einer öffentlichen Sphäre der Politik und einer der Privatheit trennen.

Was nun? Vielleicht führt es weiter, einer Unterscheidung zu folgen, die in der Politikwissenschaft praktiziert wird: der zwischen »Politik« und dem »Politischen«. Bezeichnet »Politik« das gesellschaftliche Funktionssystem aus Parteien, anderen Organisationen, Parlament und Regierung, das letztlich einen Staat ausmacht, so zielt der Begriff des »Politischen« auf die politische Dimension des sozialen Mit-, Neben- und Gegeneinanders – auch im Alltag.

Wenn wir nun mit diesem Beitrag gerade auf das Verhältnis von Jugend und Politik blenden, dann erscheint ein enger Politikbegriff wenig angebracht: Im gesellschaftlichen Funktionssystem spielen Jugendliche kaum eine Rolle. Es ist in erheblichem Maße erwachsenendominiert. Zwar beziehen sich auch Jugendliche auf dieses System, etwa dann, wenn sie die Regierungen und Volksvertretungen dafür kritisieren, zu wenig gegen die drohende Klimakatastrophe oder rassistische Tendenzen in der Gesellschaft insgesamt und in staatlichen Behörden im Besonderen zu unternehmen. Selbst unmittelbar aktiv darin sind sie aber nur in wenigen Fällen; dies nicht nur, weil Jugendliche etablierte Positionen an den »Schalthebeln der Macht« noch nicht erreicht haben, sondern allein schon deshalb, weil das aktive und passive Wahlrecht dem einen Riegel vorschiebt. Aber auch ungeachtet dessen dürfte der Löwenanteil an politisch relevanten Erfahrungen von (jungen) Menschen in den Lebensvollzügen des Alltags gesammelt werden: beim (Nicht-) Mitbestimmenkönnen in Kita, Schule und Berufsausbildung, beim Agieren in Vereinen und Jugendarbeit, bei der Kommunikation auf Onlineplattformen; bei der Regelung von familiären Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen Peers, beim Leben in Jugendkulturen sowie auf öffentlichen Straßen und Plätzen etc. Erst recht dort, wo es um Politik geht, die junge Menschen selbst betreiben, ist von Sphären wie den zuletzt genannten gar nicht abzusehen.

Und doch macht es wenig Sinn, sich angesichts dieser Breite der Erscheinungsweisen des Politischen in die Aussage zu flüchten: Letztlich ist alles politisch. Damit würde der Begriff des Politischen grenzenlos verwässert. Eine Alternative zu derartiger begrifflicher Ausuferung ist in Anknüpfung an das folgende Politikverständnis in Aussicht: Lässt sich Politik knapp als die Gesamtheit der Aktivitäten und Strukturen verstehen, die auf die Herstellung, Durchsetzung und Infragestellung von kollektiv verbindlichen Regelungen öffentlicher Belange ausgerichtet sind (vgl. auch Bundesministerium 2020), so ist das Politische als das begreifbar, was einerseits als Auswirkungen dieser Regelungen und Regelungsprozesse in den (alltäglichen) Lebensvollzügen der Menschen zutage tritt und was andererseits in ihren Impulsen zu kollektiv angestrebten Neuregelungen und neuen Thematisierungen besteht. Es handelt sich mithin um das Betroffensein von politischen Verhältnissen, etwa in Form von sozialer Ungleichheit, Lasten klimaschädlicher Produktion, Ungerechtigkeiten der Reichtumsverteilung, institutionellen Diskriminierungen etc., aber auch um die Entwicklung von Widerstand, Gegenwehr und überhaupt um Interessen, öffentlich relevante Sachverhalte mit zu beeinflussen.

Zugleich stellt sich mit einer solchen Feststellung auch die Frage nach Macht: nach dem Ausgesetztsein von Machtausübung, aus dem Betroffensein resultiert, genauso wie nach der Potenzialität machtvollen Mitmischens.

MACHT

Ohne an dieser Stelle terminologische Spitzfindigkeiten diskutieren zu wollen und zu müssen, lässt sich Macht zunächst, anknüpfend an die im deutschsprachigen Raum wohl gängigste Definition, nämlich die von Max Weber (1922/1985), begreifen als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (1985, 28). Wo solche Macht institutionalisiert ist, tritt sie als Herrschaft in Erscheinung, dies mit dem Anspruch, »Gehorsam zu finden« – entweder weil der Legalität des Anweisungsrechts geglaubt wird, weil Traditionen sie als legitim erscheinen lassen oder weil das Charisma der Herrschenden Folgsamkeit bewirkt. Ob derart herrschaftliche Macht verkrustet und irreversibel erscheint oder nicht, in jedem Fall gilt: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand« (Foucault 1977, 96). Macht schränkt, so gesehen, nicht nur Handlungsmöglichkeiten ein, sondern initiiert unter Umständen auch neues Handlungsvermögen und/oder liegt gar in diesem Vermögen.

Politik als das Feld der Regelungen und der Diskussion öffentlicher Belange wird also von kollektiv organisierten Machtaushandlungen und -kämpfen durchdrungen. Das Verhältnis von Jugend zu Politik und zum Politischen stellt sich damit als Frage der Positionierung zu fremder und eigener Handlungsmacht dar. Indem Jugendliche Politik machen, arbeiten sie sich an Machtstrukturen der Gesellschaft, in die sie hineinwachsen, ab und kreieren zugleich eigenes Handlungsvermögen.

JUGEND UND POLITIK – EMPIRISCHES WISSEN AUS QUANTITATIVEN UNTERSUCHUNGEN

Die sozialwissenschaftliche Jugendforschung in Deutschland führt seit Jahrzehnten immer wieder Untersuchungen durch, die das politische Interesse, die von ihnen als dringlich zu lösenden Probleme, die politischen Einstellungen und verschiedene Aspekte des politischen Agierens junger Leute zum Thema haben. Jüngere empirische Studien zeichnen zum gegenwärtigen Stand das folgende Bild:

POLITISCHES INTERESSE

Nach der aktuellen Shell-Studie geben 2019 45 % der 15- bis 24-Jährigen an, »politisch interessiert« zu sein. Der Prozentwert liegt damit ziemlich genau im Mittel der letzten neun Repräsentativbefragungen, die finanziert von Shell seit 1984 durchgeführt wurden und deren Werte in einer Marge zwischen 57 % (1991) und 34 % (2002) liegen (Shell 2019, 49). Während der Vorsprung der männlichen 12- bis 25-Jährigen gegenüber den gleichaltrigen weiblichen über die Jahre hinweg deutlich schmilzt und nur noch 7 Prozentpunkte beträgt (44 % Zustimmung zu 38 %), zeigen sich entsprechend dem oben ausgegebenen Motto »Die Jugend gibt es nicht« erhebliche Unterschiede je nach Bildungsniveau: Während 2/3 der Studierenden sich politisch interessiert zeigen, gilt dies nur für rund ein Viertel der 12- bis 25-Jährigen mit Hauptschulabschluss (ebd., 52 f.).

POLITISCHE THEMEN

Angstbesetzte politische Probleme sieht diese Altersgruppierung mehrheitlich in Umweltverschmutzung (71 %), Terroranschlägen (66 %), Klimawandel (65 %), einer wachsenden Feindlichkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichen Meinungen (56 %), der wirtschaftlichen Lage und steigender Armut sowie Ausländerfeindlichkeit (beide 52 %), wogegen Probleme mit der Zuwanderung nur für 33 % mit Ängsten verbunden sind (ebd., 56). Während bei den genannten Themen Ost-West-Unterschiede kaum eine Rolle spielen, ist die Sorge um Arbeits- und Ausbildungsplätze umso größer, je geringer das formale Bildungsniveau ist, steigt mit Letzterem aber die Furcht vor dem Klimawandel. Eher noch deutlichere soziale Differenzierungen zeigen sich im Hinblick auf die Betrachtung von Zuwanderung und Ausländerfeindlichkeit: Liegt die Angst vor Zuwanderung bei Personen mit Hauptschulabschluss (56 %) bzw. Mittlerer Reife (40 %) deutlich vor denen mit Hochschulreife (25 %), so steigt umgekehrt die Sorge vor Ausländerfeindlichkeit mit dem formalen Bildungslevel an (von 41 % bei Hauptschulabsolvent*innen über 47 % bei jungen Leuten mit mittlerem Bildungsabschluss auf 56 % bei (Fach-)Abiturient*innen; ebd., 60). Soziale Unterschiede im Sinne von Schichtfaktoren bestimmen auch die Beurteilung der Existenz sozialer Gerechtigkeit in Deutschland. Die Einschätzung, dass es hierzulande eher oder gar nicht gerecht zugeht, wird in der Unterschicht mit einem Prozentsatz von 50 % der Befragten doppelt so häufig vertreten wie in der Oberschicht. Jugendliche mit sogenanntem Migrationshintergrund halten die Realisierung sozialer Gerechtigkeit in Deutschland – angesichts häufiger eigener Diskriminierungserfahrungen überraschenderweise – für stärker gegeben als Jugendliche ohne Migrationshintergrund, wobei insbesondere junge Leute mit familiären Wurzeln in osteuropäischen Staaten und – für manche vermutlich unerwartet noch stärker – solche aus islamisch geprägten Ländern diesen Eindruck wiedergeben (ebd., 67 ff.).

POLITISCHE EINSTELLUNGEN UND DEMOKRATIEZUFRIEDENHEIT

Soziale Heterogenität prägt auch eine Reihe von politischen Einstellungen der jungen Generation. So sind unter den 15- bis 25-Jährigen insgesamt 9 % »Nationalpopulist*innen« und 24 % »Populismus-Geneigte«, bei Besitzer*innen des Hauptschulabschlusses allerdings 24 % »Nationalpopulist*innen« und 34 % »Populismus-Geneigte«, hingegen bei Personen dieser Altersgruppe mit (Fach-)Hochschulreife 4 % bzw. 18 % (ebd., 79; zu den Items, mit denen entsprechende Orientierungen – u. a. Zuwanderungs- und Islamskepsis sowie Elitenkritik und Unterdrückung unbotmäßiger Meinungen – erhoben werden, ebd. 76 ff.). Etwas häufiger finden sich solche Haltungen im Osten als im Westen und bei männlichen als bei weiblichen Befragten. Letztere hingegen sind überproportional unter den »Weltoffenen« (insgesamt 27 %) und »Kosmopolit*innen« (12 %) vertreten. Diese beiden Gruppierungen unterscheiden sich von den beiden zuerst genannten vor allem dadurch, dass sie nicht nur eine viel geringere Distanz gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt aufweisen und ein deutlich kleineres Ausmaß an Benachteiligungsempfinden haben, sondern auch viel eher davon ausgehen, dass sie Kontrolle über das eigene Leben haben und es weitgehend selbst bestimmen können (vgl. ebd., 84 ff.). Sie sind auch deutlich demokratiezufriedener (zu 88 %), wogegen rund 2/3 der Nationalpopulist*innen mit den Realitäten der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind und fast ein Viertel (23 %) von ihnen auch grundsätzlich Demokratie nicht für eine gute Staatsform hält.

Unabhängig davon: Wer eher unzufrieden mit der Demokratie ist, Dinge nicht für änderbar hält und politisch (eher) nicht interessiert ist, zeigt sich politik(er)verdrossen und glaubt nicht, »dass sich Politiker darum kümmern, was Leute wie ich denken« (ebd., 96) – ein Eindruck, den insgesamt immerhin 71 % der 15- bis 25-Jährigen haben (ebd., 94).

POLITISCH-SOZIALES ENGAGEMENT

Hinsichtlich der Bedeutungseinschätzung politischen Engagements haben die weiblichen Befragten im Laufe der Jahre aufgeholt: Mit der Einschätzung, solches Engagement sei »wichtig«, liegen sie mit ihren Altersgenossen gleichauf (jeweils 34 %; ebd., 116). In der Höhe der prozentualen Zustimmungen zu den Werten »sich unter allen Umständen umweltbewusst verhalten« und »sozial Benachteiligten helfen« liegen sie sogar deutlich vor den gleichaltrigen männlichen Befragten (»umweltbewusst verhalten«: 77 % (w.) : 66 % (m.); »Benachteiligten helfen«: 67 % (w.) : 56 % (m.); ebd.).

Unterschiede zeigen sich bei diesen Haltungen aber auch schichtspezifisch: Umweltbewusstes Verhalten und Hilfe bei sozialer Benachteiligung zu leisten finden eher Jugendliche aus den oberen Schichten wichtig. Noch deutlicher fallen in dieser Hinsicht die Differenzen bei der Bedeutungszuweisung eigenen politischen Engagements aus: »Sich politisch engagieren« – dies ist für fast die Hälfte der Jugendlichen aus der oberen Schicht, aber nur rund ein Viertel der jungen Leute aus den unteren Schichten wichtig (vgl. ebd., 122 f.).

Selbst politisch oder sozial engagiert sind bei den 12- bis 25-Jährigen insgesamt 36 % oft, 33 % gelegentlich und 31 % nie. Auch hier zeigt sich, dass die Höhe der Herkunftsschicht und die Höhe des Bildungsniveaus (letztgenanntes allerdings nur leicht) positiv auf die Engagementintensität Einfluss nehmen.

Das Engagement selbst wiederum erstreckt sich inhaltlich vorrangig auf die Durchsetzung der Interessen von Jugendlichen, auf Einsatz für sinnvolle Freizeitgestaltung und auf Umwelt- und Tierschutz (vgl. ebd., 98 ff.). Das meiste davon erfolgt in alltäglichen Zusammenhängen durch persönliche Aktivität (bei 39 %), Mitarbeit in Vereinen (bei 37 %) oder in Form (hoch) schulischen Engagements (bei 26 %; ebd., 101). Jugendliche tragen aber auch ganz wesentlich soziale Bewegungen und politischen Protest. Aktivitäten in und Bezugnahmen auf Aktionsformen wie etwa Fridays for Future, Ende Gelände oder Black Lives Matter prägen ihre politische Sozialisation und ihr politisches Lernen (vgl. auch Bundesministerium 2020). In welcher Form dies geschieht, zeigen nicht zuletzt einschlägige Interviews zu solchem Engagement in diesem Band.

JUGEND UND POLITIK – EMPIRISCHES WISSEN AUS QUALITATIVEN UNTERSUCHUNGEN

POLITIKGESTALTUNG ALS LEBENSGESTALTUNGSCHANCE

Alles in allem zeigt sich bei der Betrachtung der oben aufgeführten quantitativen Befunde: Politisches Interesse und politisches Engagement hängen stark von den Lebenslagen ab, in denen junge Leute aufwachsen. Insbesondere werden sie offensichtlich beeinflusst von den Lebensgestaltungschancen, die von den Rahmungen und strukturellen Bedingungen jeweiliger Lebenslagen abgesteckt werden und in ihnen wahrgenommen werden können. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn auch Befunde von qualitativen Untersuchungen einbezogen werden, also von Studien, die nicht mit Fragebogenstatements und deren Ankreuzen operieren, sondern auf ausführlichen und im zeitlichen Verlauf der Biografie mehrfach durchgeführten Interviews mit jungen Menschen zu politisch und sozial relevanten Haltungen basieren. Sie sind in der Lage, detaillierter zu entschlüsseln, was die Befragten eigentlich konkret unter Formulierungen wie z. B. »sich umweltbewusst verhalten«, »durch den Islam unterwandert werden« oder »politisch engagiert sein« verstehen, welche eigenen politisch-sozialen Akzente sie innerhalb einer offenen Gesprächsatmosphäre setzen und wie(so) sich hierbei im Laufe der Zeit Stabilisierungen oder Veränderungen der Haltungen einstellen. Weiterführende Erkenntnisse können hierzu aus der letzten über drei Jahre hinweg erfolgten Langzeituntersuchung zu politisch-sozialen Haltungen von Jugendlichen, hier insbesondere zu Pauschalisierenden Ablehnungskonstruktionen (PAKOs) gegenüber Angehörigen als missliebig eingeschätzter Gruppierungen, entnommen werden (Möller u. a. 2016). Demnach sind es bestimmte biografische Erfahrungen und ihre Verarbeitungsweisen, die Weichenstellungen in Richtung auf die Entwicklung entweder un- und antidemokratischer oder demokratiekonformer Orientierungen und Aktivitäten begünstigen. Genauer gesagt handelt es sich dabei zum einen um Bilanzierungen, die die Befragten in Hinsicht auf ihre Lebensgestaltungsmöglichkeiten, genauer: in Hinsicht auf Kontroll-, Integrations-, Sinn- und Sinnlichkeitserfahrungen, vornehmen; zum anderen betreffen sie mentale Abbilder relevanter Sachverhalte und Personengruppierungen, sogenannte erfahrungsstrukturierende Repräsentationen, die bei der Erfahrungsverarbeitung eine Rolle spielen, und ihre persönlichen Möglichkeiten, bestimmte Selbst- und Sozialkompetenzen für die eigene Erfahrungsverarbeitung zur Verfügung zu haben.

KONTROLLBILANZEN

Menschen haben ein ganz grundlegendes Bedürfnis nach Realitätskontrolle (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975, 1976), d. h., sie sind motiviert, ihre eigenen Geschicke möglichst weitgehend im Griff zu haben, jedenfalls nicht fremden Mächten hilflos ausgeliefert zu sein. Das Gefühl, wie weit das »Heft des Handelns« in der eigenen Hand sein muss, ist allerdings nicht bei allen gleich stark ausgeprägt: Die einen setzen alles daran, z. B. ihren beruflichen Lebensweg bis in die kleinste Verästelung hinein völlig eigenständig zu lenken, die anderen ergeben sich eher dem Schicksal, das sich für sie auf dem Arbeitsmarkt ergibt. Den einen ist es wichtig, den Wohnort und die Wohnverhältnisse gänzlich selbstbestimmt wählen zu können, die anderen schließen weitreichende Kompromisse zugunsten beruflichen Fortkommens oder aus Gründen der Partnerschaft und des Familienlebens. Die einen bilden generell quer über alle Lebensbereiche ein hohes Level an persönlichen Kontrollerwartungen aus, die anderen geben sich mit vergleichsweise geringer Eigenkontrolle zufrieden – dies unter Umständen schon allein deshalb, weil sie wenig Kontrollbewusstsein haben, also annehmen, allenfalls zu einem kleinen Teil den Lauf der Dinge selbst bestimmen zu können.

So unterschiedlich jedoch auch das Niveau an Kontrollerwartungen beschaffen sein mag: Je stärker ich über das, was mich betrifft, verfügen können will, umso mehr leide ich darunter, wenn mir dies nicht im gewünschten Maße möglich erscheint. Wenn ich also eine Bilanz meiner Kontrollmöglichkeit anstelle, dann ist nicht das absolute Maß der mir »objektiv« gegebenen Kontrolle entscheidend dafür, wie sie von mir gewertet wird, sondern die Relation zwischen Erwartungshöhe und tatsächlich erfahrenem Realisierungsgrad von Kontrolle. Sofern nun die erlebten Kontrolldefizite als besonders groß und schmerzlich empfunden werden, liegt es zum einen nahe, äußere Umstände oder andere Personen(gruppierungen) für wahrgenommene Kontrollmängel verantwortlich zu machen, Verschwörungen als ursächlich zu wähnen und diese zu skandalisieren bzw. die dafür scheinbar Verantwortlichen anzugreifen, oder zum anderen Kontrollerfahrungen auch in Formen zu suchen, die außerhalb sozialer Akzeptanz liegen: in Gewaltanwendung, Proklamierung nationalistisch begründeter Privilegien, Diskriminierung Durchsetzungsschwächerer u. Ä. m.

Dass dafür gerade junge Menschen anfällig zu sein scheinen, könnte damit zusammenhängen, dass sie sich in einer Lebensphase befinden, der gesellschaftlich in herausgehobener Weise die Aufgabe zugewiesen wird, als Individuum eine eigenständige Identität zu entwickeln. An Jugendliche wird die Erwartung herangetragen, sich aus den Abhängigkeiten der Kindheit nach und nach zu lösen, sich in der Gesellschaft zu positionieren und damit den Nachweis zu erbringen, mehr und mehr »auf eigenen Beinen stehen« zu können. Dies nicht hinreichend auf gesellschaftlich akzeptierte Weise zu können, wird daher von ihnen nicht selten als Versagen und Schmach erlebt, die nicht hingenommen werden kann. Zur Identitätssicherung wird in der Folge Kontrolle durch den Ausweis von Selbstgewissheit und Durchsetzungsfähigkeit auf anderen Feldern zu belegen versucht. Deshalb ist es alles andere als verwunderlich, wenn die lebensgeschichtlich relevanten Wurzeln des »Nationalpopulismus« (wohl nicht nur) junger Leute auch durch quantitative Forschung in ihrem »Wunsch nach Rückgewinnung von Kontrolle« (Shell 2019, 85) lokalisiert werden.

Wer hingegen Kontrolle über das eigene Leben in Respekt vor der Gleichwürdigkeit aller und unter Einsatz demokratischer Mittel in den Arealen der Politik und des Politischen zu verspüren vermag und/oder auch wahrnehmen kann, dass Mitglieder derjenigen Gruppierung, die als Eigengruppe verstanden wird, vergleichbare Erfahrungen machen (können), muss gar keine Notwendigkeit darin sehen, Kontrolle außerhalb der Sphären solcher Dialog- und Auseinandersetzungsformen zu suchen, da sich hier Selbstwirksamkeit und Identitätsanker finden lassen.

INTEGRATIONSBILANZEN

Menschen sind zutiefst soziale Wesen. Sich irgendwo und irgendwelchen Kollektiven zugehörig zu empfinden, teilhaben zu können, sich anerkannt zu fühlen und Identifikationsmöglichkeiten zu verspüren, ist für sie daher basal. Jede*r will sich sozial integriert fühlen; dies gilt unabhängig von dem von Person zu Person schwankenden Ausmaß, in dem dies angestrebt wird, und auch unabhängig von der Art und Weise, in der das jeweils gesucht wird. Wo das politische System als prinzipiell integrativ, auch für die eigene Person, angesehen werden kann, werden Chancen ersichtlich, solche Bedürfnisse zu realisieren. Wenn aber die subjektive Bilanzierung des erreichten Integrationsniveaus zu dem Resultat kommt, Integrationshoffnungen durch die Beschreitung der gesellschaftlich dafür zur Verfügung stehenden legitimen Wege nicht eingelöst oder zukünftig einlösbar sehen zu können, gleichzeitig aber auch keine wesentlichen Abstriche an ihnen gemacht werden können, dann kann der Versuch attraktiv erscheinen, entsprechende Wünsche anderweitig umzusetzen, etwa durch Anbindung an einen politischen Kontext und politische Gruppierungen, die abseits dieser Wege Integrationserfahrungen versprechen, etwa in sich ethnisch-kulturell abschottenden, rechtsextremistischen, verschwörungsseparatistischen oder »islamistischen« Zusammenhängen.

Jugendliche können deshalb als für solche Angebote besonders ansprechbar gelten, weil sie sich in einer Lebensphase befinden, in der Antworten auf Fragen nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Teilhabe und Identifikation im Zuge ihrer Identitätsentwicklung besonders vordringlich erscheinen. Bemerkenswerterweise erwerben Menschen, die aus derartigen »extremistischen« Bezügen aussteigen, im Prozess ihrer Distanzierung für sie neuartige Integrationsoptionen oder reaktivieren frühere, sodass sie mindestens gleichwertigen Ersatz für ihre vormaligen Einbindungen in »extremistische« Politikzusammenhänge gewahr werden. Dabei liegen diese Integrationserfahrungen zumeist gar nicht einmal in Räumen der Politik im engeren Sinne, sondern dort, wo das Politische den Alltag durchwirkt (vgl. z. B. Möller u. a. 2016; Möller/Neuscheler 2018).

SINNBILANZEN

Menschen wollen wissen, inwiefern ein bestimmtes Denken, Fühlen oder Handeln ihnen oder anderen »etwas bringt«, sie wollen Vorteile oder Gewinne darin absehen können – keinesfalls nur materielle – und sie wollen erkennen können, dass ihr Streben, Tun oder Unterlassen nicht völlig belanglos ist, sondern Spuren hinterlässt, kurzum: Sie wollen Sinn darin sehen. In Bezug auf politische Haltungsbildung heißt dies: Solange politische Positionierung und politische Aktivität(sbereitschaft) als etwas wahrgenommen werden kann, das Wirkungen hinterlässt, sind diesbezügliche Aufladungen mit Sinn möglich. Wo hingegen angenommen wird, dass »alles sowieso egal« ist, werden Sinnzuschreibungen und Sinnstiftung verhindert.

Wird mithin das demokratische System als eine Struktur wahrgenommen, über die Interessenabwägungen und öffentliche Belange nicht angemessen reguliert werden können, muss Unzufriedenheit mit ihm und seinen Institutionen nicht erstaunen. Wo das Personal, das in ihm Entscheidungen trifft, als abgehoben vom »Boden der Tatsachen«, wenig vertrauenswürdig, wenn nicht gar als Kundschaft in einem »Selbstbedienungsladen« gilt, fällt es schwer, es als Repräsentanz des Volkes wahrzunehmen und seiner Finanzierung aus Steuergeldern Sinn zuzuschreiben. Unzufriedenheit mit ihm und Skepsis gegenüber derartiger Umsetzung der demokratischen Idee können dann, wenn sie nicht in Resignation und Apathie führen, sowohl in systemkonformes Aufbegehren münden als auch zu Aggressionen verleiten, die einen Umsturz propagieren und dabei gegebenenfalls auch un- und antidemokratische Mittel mit sich bringen.

Und auch hier zeigt sich: Wo das Funktionieren von demokratisch ausgerichteten Kanälen politischer Mitsprache, Mitentscheidung und Mitwirkung erfahren werden kann, wird Distanz zu und Distanzierung von demokratiewidrigen Haltungen ermöglicht (vgl. ebd.).

SINNLICHKEITSBILANZEN

Menschliche Orientierung verläuft nicht ausschließlich kognitiv. Menschen sind bio-psychosoziale Wesen, sie haben Körper und Gefühle. Auch wenn Bedürfnisaufschub über einen gewissen Zeitraum hinweg möglich ist – die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse ist für sie auf Dauer unverzichtbar: sich und andere spüren, Interessantes sehen und hören, geschmackvoll genießen u. a. m. Dementsprechend beurteilen sie ihre Existenz auch danach, welche Erfahrungen ihnen hinsichtlich sinnlicher Befriedigungen zur Verfügung stehen.

Selbst Politik und Politisches sind hochgradig sinnlich aufgeladen: Die Personalisierung von Politik schreitet scheinbar unaufhaltsam voran, sodass Fragen von Sympathie und Aussehen für die, die um politische Gefolgschaft buhlen, immer wichtiger werden. Symbole, die sie verwenden, Metaphern, in die sie ihre Botschaften kleiden, Bilder und Fotos, mit denen sie sich bzw. ihre Themen in Szene setzen, Personen, mit denen sie sich umgeben, Gefühle, die sie zu wecken oder umzulenken vermögen – all das und vieles mehr an personaler Außendarstellung, Themenverpackung und Agendasetting wirkt zunehmend meinungsbildend. Und »das Politische« ist ohnehin in das Alltagsgeschehen und damit auch in dessen Wahrnehmung und emotionale Bewertung verwoben. Aus der Sicht besonders von Herkunftsdeutschen wird diesbezüglich immer wieder vorgebracht: die Anzahl und die Außenwirkung der Migrant*innen, die im ÖPNV mitfahren, die Multikulturalisierung der Nachbarschaft, die Sprachenvielfalt in der Kita, die ethnische Durchmischung von Schulen, die Verfügbarkeit von Lokalen mit internationaler Küche, aber auch die Furcht vor marodierenden Horden Rechtsextremer, die Angst vor mehr Luftverschmutzung und Umweltzerstörung, die Betroffenheit von (scheinbar wachsender) Unsicherheit im öffentlichen Raum u. a. m. Einerlei, ob solche Faktoren als Zumutungen und Bedrohungen oder Pluralitätsgewinne und Innovationsschübe (oder noch anders) erlebt werden: Sie verdeutlichen die emotionale Aufladung des Politischen und damit seine sinnlichen Erfahrungskomponenten. Die darüber vorgenommene Bewertung politischer Aspekte beeinflusst die politische Haltungsbildung enorm (vgl. auch Besand u. a. 2019)

MENTALE VERARBEITUNGEN

Phänomene wie die genannten existieren für das Subjekt nicht nur in der Außenwelt. Sie werden – ebenso wie Vorstellungen von sich und anderen – auch in bestimmter Art und Weise innerlich abgebildet: Jede*r macht sich ein Bild von ihnen. Diese mentalen Abbilder der Realität oder dessen, was für Realität gehalten wird, haben die Funktion, Wahrnehmungen und Erlebensweisen ikonografisch und figurativ im Erfahrungshaushalt abzulegen, sie dort einordenbar zu machen und für den kommunikativen Austausch über die von ihnen repräsentierten Phänomene zu »präparieren« (vgl. auch Moscovici 1988). Auf sie lässt sich intuitiv und ohne langes Überlegen assoziativ zurückgreifen. Auf leicht zugängliche Weise ist mit ihnen so Komplexität zu reduzieren. Insofern strukturieren diese mentalen Repräsentationen die gemachten Erfahrungen, treffen aber auch Vorentscheidungen zum einen über die Einordnung neu auftretender Eindrücke, zum anderen für das Aufsuchen neuer Erfahrungen. Sie wirken somit selektiv auf potenzielle Deutungen von Wahrgenommenem sowie auf die Wahl von Optionen, die in Handlungs- und Verhaltenshorizonten aufscheinen.

Problematisch, ja unter Umständen demokratiegefährdend werden sie dann, wenn sie komplizierte Sachverhalte nur holzschnittartig nachzeichnen, Schwarz-Weiß-Malerei betreiben, scharf konturierte Freund-Feind-Gegensätze skizzieren, damit auf Ambivalenzen, Nuancen und Differenzierungen verzichten und so Pauschalisierungen Vorschub leisten, die solche Bilder verfestigen und sich gegenüber Veränderungen widerständig zeigen. Tendenzen dazu, mentale Repräsentationen so anzulegen, werden dadurch begünstigt, dass diese gesellschaftlich großräumig vagabundieren, von vielen, insbesondere deutungsmächtigen Gesellschaftsmitgliedern geteilt werden und deshalb zunehmend als »normal« betrachtet werden können. Wo sich z. B. vermeintlich »typische« Vorstellungen von »den Juden«, »den Flüchtlingen« oder »den Muslimen« verbreiten und stabilisieren, wird unvoreingenommenes Urteilen erschwert und stattdessen eine Ordnungspraxis verstärkt und zementiert, die an den schon vorhandenen Deutungsangeboten andockt und im Lebensverlauf neu auftauchende Erfahrungen nach deren Mustern einsortiert. Der Aufenthalt in Filterblasen und Echokammern der sozialen Medien scheint diese Tendenz deutlich zu begünstigen, weil hier die Konfrontation mit dem anderen ausbleibt und immer wieder die gleichen Mentalitätsbestände umgeschlagen werden.

PERSÖNLICHE KOMPETENZEN

Die subjektive Erfahrungsverarbeitung wird zudem bestimmt von individuellen Fähigkeiten, die sich mit dem Begriff der Selbst- und Sozialkompetenzen fassen lassen: von der Sensibilität für die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und der Bedürfnisse anderer, von Empathievermögen, Impulskontrolle, Reflexivität, ausgebildeten Toleranzen gegenüber Frustrationen, Ambivalenzen und Ambiguitäten, Dialogfähigkeit, Fähigkeiten zu verbaler Konfliktregulierung u. Ä. m. Die eigene Lebenserfahrung lehrt diesbezüglich: Solche Kompetenzen sind weder angeboren noch fallen sie vom Himmel. Sie sind vielmehr Produkte der Erfahrungen, die jemand macht. Werden Erfahrungen gemacht wie selbstwirksam sein zu können, zugehörig zu sein, anerkannt und wertgeschätzt zu werden, Teilhabechancen zu erhalten, eigenes Handeln als sinnvoll zu erleben und sinnliche Bedürfnisse genussvoll befriedigen zu können? Und wird die Erfahrung gemacht, dies gemeinsam mit anderen sowie zugleich in Respekt wahrendem Austausch und verhandlungsbasiertem Abgleich mit ihnen umsetzen zu können? Erfährt die Person also solche Formen der Bedürfnisbefriedigung als funktional für die eigene Lebensgestaltung im Kontext kollektiver Lebensgestaltungspraxis? Oder macht sie die Erfahrung, dass eher rücksichtslose Selbstdurchsetzung, z. B. mittels Gewalt, »Treten nach unten«, und das Verfolgen von Partikularinteressen, z. B. nationalistische Vorteilsmaximierung, sie gesellschaftlich und persönlich voranbringt?

Im Übrigen hängt von den persönlichen Kompetenzen und zur Verfügung stehenden Ressourcen zur Einordnung von Erfahrungen sowie zur Artikulation gesellschaftlicher Interessen auch ab, inwieweit politische Anliegen überhaupt als solche begriffen und dann auch entsprechend geäußert werden. Dasselbe gilt dafür, inwieweit soziales Engagement in den kleinen Lebenswelten des Alltags, etwa wechselseitige Unterstützung in der Nachbarschaft, Aktionen zum Erhalt einer sauberen Umwelt oder Mitgestaltungen des kulturellen Lebens vor Ort bzw. in jugendkulturellen Szenen, überhaupt als politisch verstanden werden und damit auch bei quantitativen Befragungen Eingang in die Antworten finden. Gerade bei eher bildungsungewohnten Jugendlichen aus unteren Schichten bleibt das Politische ihrer sozialen Zusammenhänge und Vollzüge hinter einem engen Politikbegriff oft verborgen und kommt in Fragebogenstudien nicht explizit zum Vorschein.

FAZIT UND PERSPEKTIVEN

Jugend macht Politik. Sie macht sie, wenn sie sich aktiv einmischt. Sie macht sie aber auch, wenn sie Politik Politik sein lässt und dort den Dingen ihren Lauf lässt. »Man kann nicht nicht kommunizieren« – so heißt ein berühmt gewordenes Axiom des bekannten Kommunikationswissenschaftlers und Psychotherapeuten Paul Watzlawick (vgl. z. B. Watzlawick 2016). In analoger Weise ließe sich formulieren: »Man kann nicht nicht politisch sein.« Politisch zustande gekommene Regelungen öffentlicher Belange betreffen jede*n. Manche davon selber mitbewirkt zu haben oder gegen sie lautstark und demonstrativ aufzubegehren, ist nicht politisch relevanter, als sie zu akzeptieren und sich mit ihnen abzufinden. Letzteres allerdings führt auf Dauer in Machtlosigkeit: Wer nichts macht, nutzt seine Macht nicht; jene Macht, die potenziell darin liegt, sich im oben erwähnten Sinne Hannah Arendts »mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln«.

Wenn wir politische Entscheidungen demokratisch treffen wollen, ist breite politische Beteiligung vonnöten, also ein Politikmachen und Macht nutzen im Sinne Hannah Arendts. Daher sind für den Bestand und die Weiterentwicklung von Demokratie Antworten auf die Frage unabdingbar, wie Mitsprache, Mitentscheidung und Mitwirkung für alle, insbesondere aber für die nachwachsenden Generationen, befördert werden können – auch gerade bei jenen, die von Politik Abstand halten und Demokratie mit Teilnahmslosigkeit oder Misstrauen begegnen. Dafür müssen Lebensgestaltungsoptionen weiter geöffnet werden, damit diese dann auch in Demokratiegestaltung münden können. Erweiterte Möglichkeiten dazu, weitgehend selbst über die persönlichen Lebensbedingungen verfügen und die dafür zu treffenden Entscheidungen mit anderen Menschen diskursiv abstimmen zu können, befördern demokratische Mitwirkung. Der neueste Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung unterbreitet dazu eine Reihe von Vorschlägen für unterschiedliche gesellschaftliche Sphären und im Schwerpunkt für bedeutsame Bildungsbereiche, in denen sich junge Leute bewegen (vgl. Bundesministerium 2020). Wer sich nicht durch den über 600 Seiten starken Berichtsband quälen will, findet auch im vorliegenden Buch einige Hinweise. Hier kommen sie nicht von titelgeschmückten und mit institutionellen Weihen versehenen Expert*innen, sondern von jungen Leuten selbst. Sie erzählen ihre eigene Geschichte, wie sie Politik für sich entdeckt haben. Die Vielfältigkeit, in der sie dies getan haben und weiterhin tun, zeigt auf, dass Politik(machen) beim Nachrichten gucken oder beim Wählen und Gewähltwerden weder anfängt noch aufhört.

1 Lorena (17) in diesem Band.

LITERATUR

Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. 14. Auflage. Piper, München 2000.

Besand, Anja/Overwien, Bernd/Zorn, Peter (Hrsg.): Politische Bildung mit Gefühl. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2019.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Bundestagsdrucksache 19/24200. Berlin 2020. Online: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/16-kinder-und-jugendbericht-162238 [12.11.2020].

Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1977.

Holzkamp-Osterkamp, Ute: Psychologische Motivationsforschung, Bd. 1 und 2. Campus, Frankfurt a. M. 1975, 1976.

Möller, Kurt u. a.: »Die kann ich nicht ab!« Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt bei Jugendlichen in der (Post-)Migrationsgesellschaft. VS, Wiesbaden 2016.

Möller, Kurt/Neuscheler, Florian: Abschlussbericht zur Evaluation der Beratungsstelle Hessen – Religiöse Toleranz statt Extremismus. Esslingen 2018. Online: https://violence-prevention-network.de/wp-content/uploads/2019/02/Abschlussbericht-Evaluation-Beratungsstelle-Hessen.pdf [12.11.2020].

Moscovici, Serge: »Notes towards a description of social representation”, in: European Journal of Social Psychology 3, 1988, 211–250.

Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Beltz, Weinheim und Basel 2019.

Watzlawick, Paul: Man kann nicht nicht kommunizieren. Das Lesebuch. Zusammengestellt von Trude Trunk. 2., unveränd. Aufl. Hogrefe, Göttingen 2016.

Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriss der verstehenden Soziologie. Herausgegeben von Johannes Winkelmann. 5. Aufl. (Erstaufl. 1922). Mohr, Tübingen 1985.

Foto: Carmen Maurer

#bunt, laut und kreativ

»›Kapitalismus ist scheiße‹ ist ein bisschen stumpf«

Carl (22), Ruben (22)

Student für Erneuerbare Energien und Student der VWL, Mitglieder der Punkband Xylospongium

Könnt ihr ein bisschen was über eure Band erzählen?

Carl: Im Prinzip kennen wir uns, also der Großteil von uns, aus der Schulzeit. Zwei von uns waren in einer Klasse, der Bassist und ich. Ruben war eine Stufe über uns. Wir haben uns auf ’ner geilen Klassenfahrt nach Paris kennengelernt. Wir haben noch ’nen Sänger gesucht, und dann hab ich an den Ruben denken müssen, weil wir öfter mal zusammen in ’ner Kneipe waren. Ich hab ihn dann einfach gefragt, ob er Bock hat, mit uns mal zu singen. Ruben hatte vorher keinerlei musikalische Ambitionen. [lacht] Aber die haben wir ihm dann eingeimpft. Dann haben wir angefangen zu spielen, relativ früh auch mit eigenem Material, und uns von Anfang an nicht auf Coversongs beschränkt. Klar, für ’nen Kneipengig brauchts natürlich ein paar Gassenhauer, aber wir haben eigentlich gleich von Anfang an eigenes Zeug gemacht. So hat sich das bis heut stetig entwickelt, und wir haben in der letzten Zeit total viele coole Konzerte spielen dürfen. Ende 2017 haben wir Paul, meinen Bruder, mit ins Boot geholt, weil unser erster Schlagzeuger es zeitlich nicht mehr geschafft hat. Wir haben uns gut entwickelt als Band. Wir haben schon diverse Sachen abgeklappert, wofür andere Bands deutlich länger brauchen. Wir haben coole Festivals, Slots und so gewonnen. Anfang 2019 haben wir unser erstes Album aufgenommen. Es hätte keiner gedacht, dass wir in vier Tagen elf Songs aufnehmen können, aber es hat geklappt. Wir haben dann zwar für das Produzieren von dem Album ungefähr ein ganzes Jahr gebraucht, aber im November sind wir damit fertig geworden, haben ein kleines Indie-Label aus Hamburg, Sportklub Rotter Damm heißen die, gefunden und vor ein paar Tagen ’ne Single rausgehauen. Anfang Mai kommt dann das Album raus. Das war eine schwere Geburt, aber ich bin zufrieden. Es ist nix, wofür man sich schämen muss. Ich find, es klingt gut.

Euer Bandname ist ziemlich außergewöhnlich – Xylospongium. Was steckt hinter diesem Namen?

Carl:[lacht] Das war meine Idee. Hab mir gedacht: Na, für ’ne Punkband wäre doch eigentlich Klobürste ganz witzig. Das war mir aber ’n bisschen zu einfältig, irgendwie subordinär, mit Pippi-Kacka-Witzen und so, das ist dann doch nicht unser Niveau. Deshalb hab ich schlicht gegoogelt, obs ’n geileres Wort für ’ne Klobürste gibt. Ich bin dann auf den römischen Vorläufer der Klobürste, das Xylospongium, gestoßen. Mit dem haben die Römer allerdings nicht die Schüssel, sondern sich den Hintern geputzt. Also eigentlich ist es eher der geschichtliche Vorläufer des Toilettenpapiers, aber es sieht aus wie ’ne Klobürste: Es ist ein Stock mit einem Schwamm dran. Und dann haben wir einfach gedacht: Okay, fuck it, wir nehmen jetzt einfach das als Bandnamen! Dass ich bei der Geburt der Idee auf dem Klo saß, erklärt sich wahrscheinlich von selbst. [lacht] Dieses Latein-Ding, keine Ahnung, das hat …

Ruben: … schon voll den intellektuellen Anstrich.

Carl: Als Gymnasiastenband braucht man schon was Intellektuelles. Und der Bandname ist super googelbar. Wenn du den eingibst, landest du nur bei uns und auf dem Wikipedia-Ticket vom Xylospongium.

Ein gutgelaunter Fan hat eure Musik mal als »Sophisticated Punk« bezeichnet. Wie seht ihr das?

Ruben: Das stimmt. Wir haben 2016 ein Konzert im Merlin in Stuttgart gespielt. Danach kam ein Typ zu mir, der war schon Ü40, wenns reicht. Der hatte schon gut einen drin und hat uns voll gefeiert: »Mensch, gibts noch junge Leute, die so ’ne Mucke machen?« usw. Also der war schon sehr, sehr gut gelaunt. Und da unterhält man sich auch gerne mit solchen netten Menschen, ein bisschen Fanmanagement machen und so. Und dann meinte der halt: »Was ihr macht, das ist sophisticated Punk.« Das hat der einfach so gesagt. Und ich muss ganz ehrlich sagen, ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, was das Wort »sophisticated« bedeutet. Aber wir haben das quasi postwendend als unsere Genrebezeichnung übernommen, weil wir das cool fanden. Ich hab dann mal nachgeschaut, was das bedeutet. Ich mein, der Typ hatte vollkommen recht. [lachen] »Raffiniert«, »mit doppeltem Boden«, »nachgedacht« und einfach: »Da steckt mehr dahinter, als man im ersten Moment glauben könnte«, und so ist es halt. Carl hat sich früher immer gewehrt zu sagen: Wir machen Punk. Weil gerade, was die Gitarrenkünste angeht, besteht echter Punk aus zwei Akkorden, wenn es hochkommt. Und das machen wir ja nicht. Wir machen handwerklich schon gute Musik. Und es ist nicht nur irgendwie »Bullenschweine« und »auf die Fresse« und so. Obwohl man dem Ganzen schon auch seinen Charme abgewinnen kann.

Weil du gerade so typische Wortfetzen aus Punk-Texten zitierst: Wie wichtig ist euch der Inhalt eurer Texte?

Ruben: Schon wichtig. Carl und ich schreiben ja die Texte. Die haben schon ’nen hohen Stellenwert für uns. Es ist nicht so, dass wir die Texte als Musikfüller schreiben. Bei mir ist es so: Ich hab irgendwas, was mich beschäftigt. Das kann alles Mögliche sein: irgendwas aus meinem Privatleben, aber auch irgendwas Gesellschaftliches, Zeitgeschichtliches, was mich bewegt. Meistens gehts damit los, dass ich irgend ’ne Punchline hab oder irgendeine Zeile, die in meinem Kopf vorkommt, und dann schreib ich darum ’nen Text. Damit will ich was aussagen, und ich will auch, dass möglichst viele Leute hören, was ich da schreibe, ich möchte meine Meinung, die ich dort vertrete, verbreiten.

Carl: … und er wills als Medium benutzen, um seine Botschaften nach außen zu tragen, zu präsentieren. Was für mich auf jeden Fall ’ne elegante Möglichkeit ist, weil ich kann mir nicht unbedingt vorstellen, auf einem politischen Parteitag eine Brandrede zu halten. Für mich ist tatsächlich die Musik ein gutes Mittel, auch auf humorvolle Art und Weise politische, soziale Themen zu behandeln. Wir definieren uns nicht als politische Band. Wir haben auch nicht ausschließlich politische Songs, aber wir verarbeiten die Themen, die uns wichtig sind. Und das sind dann zwangsläufig auch politische Themen, in einem Großteil der Songs auf jeden Fall.

Wie wichtig ist euch, dass nicht nur ’ne Message rüberkommt, sondern dass sie auch »kultiviert« rüberkommt? Man könnte, gerade bei Punk, ja auch sagen: Hauptsache Message und Hauptsache laut, oder?

Ruben: Ich find es gar nicht blöd, wenn Leute ihre Message auf einen Punkt bringen und sagen: »Wir müssen hier jetzt nicht viel nachdenken. Kapitalismus ist scheiße.« Ich find so was nicht schlecht, aber es ist ein bisschen stumpf. Man kann es eleganter machen.

Carl: Haben wir aber auch, solche Songs. [lacht] So Plakatzeugs.

Ruben: Ja, aber ich versuch immer, ’ne Geschichte zu erzählen und ’ne Handlung reinzubringen. Wir wollen mehr aussagen, als man vielleicht auf den ersten Blick meinen könnte.

Carl: Wir haben ’nen Song, der heißt: »Versauft doch euer scheiß Geld!« Wenn du den Titel liest, denkst du, das wäre ein Kandidat für ein Zwei-Akkorde-Punkrock-Ding. Aber das ist gar nicht so. Die Kapitalismuskritik, die da angesprochen wird, ist ganz versteckt – außer in dem Titel.

Ein anderer Titel heißt »Gierig währt am längsten«. Um was geht es da?

Carl: Im Prinzip ist es ein kapitalismuskritisches Lied. Gerade hier in Stuttgart gibt es relativ viele größere Firmen, die sehr, sehr viel Geld erwirtschaften. Wobei eben das soziale Gefälle in Deutschland da ist. Das sieht man ja jetzt total, durch Corona kommts plötzlich raus. Jetzt merken alle: Oh, der Krankenpfleger, die Lehrerin, die Kassiererin an der Supermarktkasse, die sind ja völlig unterbezahlt. Im Gegensatz zu den Leuten beim Daimler, die sich darüber aufregen, dass sie dieses Jahr nur ’ne Prämie von 5.000 Euro bekommen. Und im Prinzip gehts um diese Gier, die für mich total präsent ist in der deutschen Industrie.

Für mich ist tatsächlich die Musik ein gutes Mittel, auch auf humorvolle Art und Weise politische, soziale Themen zu behandeln.

Durch Corona merken alle: Oh, der Krankenpfleger, die Lehrerin, die Kassiererin an der Supermarktkasse, die sind ja völlig unterbezahlt.

Versauft doch euer Scheißgeld

Früher oder später stellen wir uns dieselbe Frage, wohin mit all dem Geld?

VW-Aktien sind bestimmt grade billig oder warte ich, bis der Goldpreis fällt?

Es gibt so viele Möglichkeiten, so viele Optionen, wer sagt mir, welche meiner Hedgefonds sich jetzt wirklich lohnen?

Ich sehne mich nach Sicherheit und Wertstabilität, doch plötzlich dein geiler Tipp, ein Mann von Welt, der was versteht!

Ich steck’s nicht in ’nen Socken, ich bring’ es nicht zur Bank, es gibt nachhaltigere Werte, dem Himmel sei Dank!

Ich tätige ausgiebige Investitionen.

Es gibt wenige Dinge, die sich wirklich noch lohnen.

Dann versauft doch euer Scheißgeld!

Alles klar, wo geht’s zur nächsten Bar?

Nach der Rettung jeder Bank sind wir bekanntlich im gelobten Land.

Nur Milch und Honig sind was für Memmen, da könnt ihr euch noch so viel unter eure Nägel klemmen.

Das Kapital schön abgefüllt in Flaschen mit Verschluss, dem Finanzberater hinterm Schalter einen Abschiedskuss!

Ich sehne mich nach Sicherheit und Wertstabilität, doch plötzlich dein geiler Tipp, ein Mann von Welt, der was versteht!

Ich steck’s nicht in ’nen Socken, ich bring’ es nicht zur Bank, es gibt nachhaltigere Werte, dem Himmel sei Dank!

Ich tätige ausgiebige Investitionen.

Es gibt wenige Dinge, die sich wirklich noch lohnen.

Dann versauft doch euer Scheißgeld!

Alles klar, wo geht’s zur nächsten Bar?

© Xylospongium, 2017 ∙ Musik & Text von Carl Oestreich

Gierig währt am längsten

Früher wurde uns immer gesagt, man wird für Gutes belohnt.

Doch unsere Welt hat das offensichtlich nicht verstanden und wir sind das gewohnt.

Überall in den hohen Etagen die gleichen Phrasen.

Alle klammern sie an ihren Sesseln fest, denn:

Gierig währt am längsten, wir haben nichts zu verschenken.

Immer mit der Ruhe. Was soll dieses ganze hysterische Getue?

Macht euch keine Sorgen. Wir sichern die Welt von morgen.

Und so banal das klingt, das weiß heute jedes Kind.

Ihr denkt wohl immer noch, es ist keine Frage der Zeit.

Sondern nur die nach dem guten Willen und Schonungslosigkeit.

So viele offene Fragen, doch wer wird schon was sagen?

Wenn man bedenkt, wer diesen Karren lenkt.

Gierig währt am längsten, wir haben nichts zu verschenken.

Immer mit der Ruhe. Was soll dieses ganze hysterische Getue?

Macht euch keine Sorgen. Wir sichern die Welt von morgen.

Und so banal das klingt, das weiß heute jedes Kind.

Ihr habt uns um unsere Zukunft geprellt.

Die Suppe, die wir auslöffeln dürfen, die haben wir nicht bestellt.

© Xylospongium, 2017 ∙ Musik & Text von Carl Oestreich

Der Konzertticketschwarzmarkt fährt in die Hölle

Ich sitze hier wie so viele um Punkt zehn.

Doch diese Seite gibt mir was zu verstehn.

»Es tut uns leid, da können wir gar nichts machen.«

Sagt mir die nette Frau, ich muss weinen und lachen.

»Unsere Kunden sehen das eben als Wertanlage, so ist das nun mal heutzutage!«

Ich kann das nicht glauben und will das nicht verstehn.

Ich wollte doch nur die Ärzte sehen!

»Aber keine Sorge, normalerweise ist das kein Problem.

Schauen Sie doch einfach bei unserer Ticketbörse rein.«

Alles klar, denk ich mir, vielleicht hast du ja Glück und seh’ vor meinem inneren Auge schon, wie ich die 100-Euro-Scheine zück’.

Es ist ja jetzt nicht so, als wär’ das alles super günstig.

Da muss ich wohl noch mal zum Daimler in die Nachtschicht gehen.

Der Konzertticketschwarzmarkt fährt in die Hölle. Fahr zur Hölle.

Das nächste Mal bin ich einfach schnell, doch der Konzertticketschwarzmarkt goes to hell.

© Xylospongium, 2018 ∙ Musik & Text von Carl Oestreich

Finden die anderen Bandmitglieder die Texte immer sofort gut oder seid ihr euch manchmal auch uneinig?

Carl: Wir sind keine Demokratie! [lachen] Nein, keine Ahnung. Weiß ich nicht. Findet der Rest der Band die Texte gut?

Ruben: Doch ja! Natürlich! Ich glaub. Ich weiß nicht …

Carl: Es ist bei uns tatsächlich nicht so, dass wir am laufenden Band neues Material produzieren. Ich schreib schon mehr Texte, als nachher in Songs verwurstet werden. Aber ich geh nicht mit jedem Text zu Ruben und frag, ob er den cool findet. Sondern wenn ich einen hab, den ich richtig geil find, dann bring ich den zur Probe mit. Natürlich ändert man dann noch Zeilen. Aber im Großen und Ganzen ticken wir ja schon ähnlich. ’ne Band ist ja ein sehr komplexes Gefüge. Es würde nicht funktionieren, wenn wir nicht alle auf einer Wellenlänge wären. Das harmoniert gut, denn wir haben alle ähnliche politische Ansichten. Und wir wissen auch, was mit dem Subtext gemeint ist, oder auch wenn man mal so ’nen zynischen Kommentar abgibt oder so, fühlt sich niemand persönlich angegriffen. Der Rest der Band weiß das dann schon immer einzuordnen.

Ruben: Wenn wir irgendwas mal nicht so gut fanden, was jemand geschrieben hat, dann war das nie inhaltlicher Natur, sondern höchstens irgendwie stilistisch, dass man z. B. gesagt hat: »Willst du das Wort da wirklich benutzen?« Solche Sachen. Aber es war jetzt nie so, dass mal jemand gesagt hat: »Worüber schreibst denn du da? Das interessiert mich nicht«, oder: »Das interessiert niemanden. Was für komische Themen sind das?« Dass man sich über Stil mal auseinandersetzt, das ist ja völlig legitim. Das ist ja der Songwriting-Prozess. Aber dass jemand mal gesagt hätte: »Deine Meinung, die du da verkörperst in dem Text, die find ich scheiße …

Carl: … da kann ich nicht für auf die Bühne gehen. Das geht gar nicht, so was.

Ruben: … das gabs nicht. Da sind wir schon ziemlich d’accord, meinungstechnisch.

Das heißt, auch in eurer Nicht-Demokratie haben die anderen noch ein kleines Stimmrecht? [lacht]

Ruben: Fairerweise muss man dazu sagen, dass man schon richtig aktiv nach der Meinung anderer Mitglieder fragen muss, um eine Meinung zu bekommen.

Carl: Kann man schon sagen. Diverse Leute brauchen manchmal ’nen Arschtritt. Unser Bassist tickt ähnlich wie wir, aber der hat die grandiose Eigenschaft, dass er selten eine Meinung hat. Oder der ist extrem reflektiert. Der wägt immer ab. Weil er immer die Ambivalenz in sämtlichen Themen sieht. Der enthält sich quasi immer.

Ruben: Für ’ne funktionierende Demokratie braucht es ja auch die Partizipation des Volkes. Und wenn die nicht da ist, dann ist es ja keine Demokratie mehr. [lachen] Es ist bei uns quasi ’ne Demokratie auf Nachfragen.

Carl: Wenn der nix sagt und sich enthält, ist es eigentlich ganz gut, weil dann sinds zwei Stimmen gegen eine und sonst sind es zwei gegen zwei, das ist dann auch schwierig.

Gibt es eine Hauptmessage, ein Oberthema, das ihr über eure Songs stellen könnt?

Ruben: Ich glaube, es ist wirklich schwierig, ’ne Headline oder so zu finden. Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus Politik aus dem linken Spektrum, was auch immer das jetzt bedeuten mag, das ist ja breit gefächert, das ist Konsum- und Kapitalismuskritik, und das ist aber auch Lifestyle, wenn man so will. Rock’n’Roll Lifestyle.

Hattet ihr schon mal Diskussionen in der Öffentlichkeit wegen euren Texten?

Ruben: Nicht direkt, aber ich würde fast behaupten, dass wir schon mal in Läden gespielt haben, wo wir schon deutlich Gefahr gelaufen sind, mit den Texten nicht alle im Publikum zu begeistern. Aber ich glaub, in den Läden haben wir einfach auch mit so einer beschissenen Anlage gespielt, dass man es nicht verstanden hat.

Carl: Sowieso. Textverständlichkeit ist eh immer schwierig. Dadurch, dass es immer in ’nem gewissen Kostüm verpackt ist, sei es ’ne Alltagsgeschichte, sei es Humor, macht es natürlich nicht sofort erkennbar, worum es sich dreht. Was ja auch teilweise das Problem ist mit Bands, die rechtes Gedankengut transportieren. Es ist ja so, dass die es noch viel mehr perfektioniert haben, das wolkig zu umschreiben, und man ja wirklich teilweise ganz genau hinhören muss, um bei manchen Bands die politischen Positionen rauszuhören. Ist kein Zufall, dass der Song »Eure Mütter haben versagt« an die Nazis geht, die irgendwelche Terrorzellen in der AfD gründen oder sich zum Beispiel für so was im Rems-Murr-Kreis treffen. Das Thema Nazis ist ja gerade bei uns im Rems-Murr-Kreis kein wirklich kleines Thema. Da positionieren wir uns auf der Bühne schon ganz klar, aber die meisten Leute, die dann da sind, sehen das genauso. Deswegen sind wir jetzt nach Konzerten noch nicht in irgendwelche politischen Diskussionen … also natürlich schon in politischen Diskussionen, aber nicht in dem Sinne, dass unsere Texte hinterfragt wurden oder mega Kritik kam.

Ruben: Wir positionieren uns ja auch in unseren Texten nicht so extrem, dass wir damit Leute total vor den Kopf stoßen würden, die sich, sag ich mal, politisch in der Mitte wiederfinden. Ich glaube, die Leute, die wirklich von unseren Texten angepisst wären, das wären dann schon auch die Richtigen. Das wären schon die Nazis. Und ich glaub, wir haben noch nie vor Nazis gespielt. Ich brauch das auch nicht. Und ich glaub, wenn uns mal Leute wegen unseren Texten angreifen würden, dann würden die das nicht mehr mit Worten machen. Aber das ist noch nicht passiert.

Carl: Und wenn sie es mit Worten machen würden, dann fänden wir das geil. Bzw. würden wir es als Kompliment verstehen, dass die Message richtig angekommen ist.

Ruben: Richtig. Getroffene Hunde bellen einfach. Und ich glaube, wir sind sicherlich kontrovers, aber nicht so kontrovers, dass Leute auf uns zukommen und sagen: »Ich wähl CDU, und ich find das mega scheiße, was ihr macht.« Und wenn sie es machen wollen, dann ist es legitim …

Carl: …. Dann trifft die Message ja auch wieder die Richtigen …

Ruben: … Das ist ja dann auch angekommen …

Carl: … sollen die uns doch scheiße finden.

Ist Musik zu machen für euch eine Form von Politik machen?

Ruben: Ja.

Carl: Ja. Wir können Botschaften, die uns am Herzen liegen, elegant präsentieren. Und ohne, dass einer direkt nachfragt. Weil, ich bin nicht der absolut stärkste Diskussionspartner. Ich war nie im Debating oder so. Weil mir die besten Argumente immer meistens nach der Diskussion einfallen, ist es ganz anstrengend, bei nervigen Freunden dagegenzuhalten, wobei das ja auch total gut ist, weil das ja Demokratie im Prinzip belebt. Was Demokratie ausmacht, sind die Diskussionen, aber ich finds schon geil, dass ich einfach mal meine Message rüberbringen kann, ohne dass jemand direkt im nächsten Satz mir ins Wort fährt und ich mich im nächsten Satz direkt dafür rechtfertigen muss.

Würdet ihr sagen, die Message mit dem Medium Musik rüberzubringen, bringt mehr oder weniger als Partei- oder Gremienarbeit, Demos, Unterschriften sammeln oder Ähnliches?

Carl: Ich glaub, dass beides total wichtig ist. Ich denk schon, dass viele Leute ihre politische Identifikation auch über Musik suchen, auch mit deren Texten. Wir sind ja jetzt nicht die einzige Band, die Texte mit Botschaften macht.

Ruben: Man muss sich ja nicht entscheiden für nur Politik über Musik oder nur Politik über Unterschriften. Ich geh auch gerne demonstrieren, ich informier mich auch so über Politik, ich geh wählen, ich versuch auch verschiedenste Kanäle zu nutzen, um meine politische Meinung populärer zu machen. Und dann ist es doch auch nur logisch, wenn ich sag: Okay, dann nutz ich die Band auch als Plattform, um ’ne politische Meinung breitzumachen. Und jeder wird sich am Ende auch das Medium aussuchen, das einen am ehesten anspricht. Wenn jemand sagt: Ich find eure Mucke scheiße, ich find eure politische Einstellung aber gut, dann zwing ich den nicht dazu, unsere Musik zu hören, sondern dann sag ich: Dann geh doch raus und demonstrier oder dann geh doch wählen und äußere so deine politische Meinung oder diskutier mit deinem Onkel, der die AfD wählt, das bringt dann vielleicht mehr.

Macht ihr denn auch noch was anderes Politisches neben der Musik?

Carl: Ich studier Erneuerbare Energien, und das hab ich schon als Studienfach ausgewählt aufgrund ’ner politischen Einstellung oder dem Anliegen, dem Thema Klimawandel was entgegenzusetzen oder mich daran aktiv zu beteiligen. Ich könnte mir auch vorstellen, auf dem Feld politisch aktiv zu sein. Ich bin im Moment in keiner Partei Mitglied, schließ es aber nicht aus für die Zukunft; ich geh wählen und ich geh auch auf Demos, wenn es sich anbietet.

Ruben: In ’ne Partei eintreten? Überlegt hab ich das sicher mal, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau, woran es letzten Endes immer gescheitert ist. Ich bin schon politisch, aber ich bin halt so politisch für mich und für Leute, mit denen ich zusammen diskutier, und ja klar, dass man dann ab und zu auf ’ne Demo geht und wählen geht, aber ich hab da momentan nicht so die Ambitionen. Aber wer weiß, vielleicht Berufspolitiker, warum nicht?

Ich denk schon, dass viele Leute ihre politische Identifikation auch über Musik suchen.

Carl: Das ist natürlich auch immer ’ne Zeitfrage, weil wenn ich Mitglied in ’ner Partei wäre, wäre mein Anspruch, dann auch aktiv zu sein.

Was würdet ihr anderen sagen, warum es sich lohnt, sich überhaupt politisch zu interessieren und/oder zu engagieren, egal wie?

Ruben: