Nur der Sommer zwischen uns - Dodie Smith - E-Book

Nur der Sommer zwischen uns E-Book

Dodie Smith

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Beschreibung

"Während ich das hier schreibe, sitze ich im Spülbecken", lautet ein Eintrag in Cassandra Mortmains Tagebuch. Die 17-Jährige lebt mit Vater, Stiefmutter, Schwester und Bruder in einem heruntergekommenen Schloss auf dem Land und langweilt sich. Zum Zeitvertreib übt sie sich im Schreiben, und das am liebsten über ihre unkonventionelle verarmte Künstlerfamilie: den Schriftsteller-Vater, dessen erster Roman sich grandios verkauft hat, der aber seither unter einer Schreibblockade leidet und sich in Kriminalromane vergräbt, die einst glamouröse Model-Stiefmutter, die mit Vorliebe nackt durch die Landschaft spaziert, die schöne, aber meist missmutige Schwester Rose und den kleinen, aber schlauen Bruder Thomas. Dann stirbt überraschend der Schlossbesitzer, und als die Erben, zwei amerikanische Gentlemen, auftauchen, nimmt das Leben der Familie eine unerwartete Wendung.

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Dodie Smith

Nur der Sommer zwischen uns

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Mierswa

Kampa

IDas Sixpenny-Buch

März

I

Während ich das hier schreibe, sitze ich im Spülbecken. Das heißt, eigentlich befinden sich nur meine Füße darin – ich hocke nämlich auf der Geschirrablage, die ich mit unserer Hundedecke und dem Teewärmer gepolstert habe. Besonders bequem sitze ich trotzdem nicht, und es riecht unangenehm nach Karbolsäure. Aber dies ist der einzige Platz in der Küche, an dem es noch ein wenig Tageslicht gibt. Und ich habe festgestellt, dass es sehr inspirierend sein kann, irgendwo zu sitzen, wo man noch nie zuvor gesessen hat. Mein bestes Gedicht habe ich geschrieben, als ich auf dem Hühnerstall saß. Allerdings ist mir selbst das nicht besonders gut gelungen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass meine Gedichte zu schlecht sind, sodass ich keine mehr schreibe.

An der Hintertür tropft es vom Dach in die Regentonne. Der Blick durch die Fenster über der Spüle macht furchtbar melancholisch. Hinter dem nassen Garten im Hof sieht man die zerfallenen Mauern am Ufer des Burggrabens. Und hinter dem Burggraben erstrecken sich die gepflügten, sumpfigen Felder bis zum bleigrauen Himmel. Ich sage mir immer wieder, dass all der Regen gut ist für die Natur und dass der Frühling uns sicher bald überraschen wird. Ich stelle mir Blätter an den Bäumen und Sonnenschein im Hof vor. Doch je mehr Grün und Gold ich in Gedanken vor mir sehe, um so farbloser und verwaschener wirkt das Dämmerlicht auf mich.

Es tröstet mich, den Blick von den Fenstern abzuwenden und zum Küchenherd zu schauen, neben dem meine Schwester Rose steht und bügelt – obwohl sie bei diesem Licht nicht mehr richtig sehen kann, und es wäre schade, wenn sie ihr einziges Nachthemd ansengen würde. (Ich besitze zwei, aber eins ist schon ganz durchlöchert.) Rose sieht im Schein des Feuers besonders bezaubernd aus, denn es unterstreicht ihren rosafarbenen Typ: Ihre Haut schimmert blassrosa, und ihr helles, feines Haar hat eine rosagoldene Farbe. Obwohl ich an ihren Anblick gewöhnt bin, weiß ich, dass sie eine echte Schönheit ist. Sie ist fast einundzwanzig und sehr unzufrieden mit ihrem Leben. Ich bin siebzehn, sehe jünger aus und fühle mich älter. Ich bin keine Schönheit, habe aber ein hübsches Gesicht.

Gerade habe ich zu Rose gesagt, dass ich unsere Situation ganz romantisch finde – zwei junge Mädchen in diesem ungewöhnlichen, verlassenen Haus. Sie antwortete, dass sie absolut nichts Romantisches darin sehe, in einer zerfallenden, von einem Meer aus Schlamm umgebenen Ruine eingeschlossen zu sein. Ich muss zugeben, dass unser Zuhause zum Wohnen nicht besonders geeignet ist. Und doch liebe ich es. Das eigentliche Haus stammt aus der Zeit Karls des Zweiten, aber es wurde in eine Burg aus dem 14. Jahrhundert hineingebaut, die von Cromwell verwüstet worden war. Die ganze Ostmauer unseres Hauses gehörte zur Burg, samt ihrer zwei runden Türme. Das Pförtnerhaus ist noch vollständig erhalten und durch einen Teil der alten, hohen Mauern mit dem Haus verbunden. Und Belmotte Tower, der als Einziges übrig gebliebene Turm einer noch älteren Burg, steht noch immer auf einem Hügel in der Nähe. Aber ich werde unser ungewöhnliches Zuhause erst dann vollständig zu beschreiben versuchen, wenn ich mehr Zeit habe als jetzt.

Ich führe dieses Tagebuch zum einen, um mich im Schnellschreiben zu üben, das ich vor Kurzem gelernt habe, und zum anderen, um mir selbst beizubringen, wie man einen Roman schreibt – ich werde also alle Charaktere darstellen und Dialoge einfügen. Sicher kann ich meinen Stil verbessern, wenn ich einfach drauflosschreibe, ohne groß nachzudenken. Denn bisher wirkten meine Geschichten immer sehr steif und hölzern. Vater las einmal mir zuliebe eine von ihnen, und danach meinte er, ich würde einen hochgestochenen Stil mit der verzweifelten Anstrengung, witzig sein zu wollen, verbinden. Er riet mir, das Schreiben ganz locker anzugehen und die Wörter einfach aus mir herausfließen zu lassen.

Ich wünschte, ich wüsste einen Weg, um Wörter aus Vater herausfließen zu lassen. Vor etlichen Jahren verfasste er ein äußerst ungewöhnliches Buch mit dem Titel Jakobs Kampf – eine Mischung aus Roman, philosophischen Betrachtungen und Lyrik. Es war ein großer Erfolg, vor allem in Amerika, wo er mit Lesungen viel Geld verdiente. Er schien sich zu einem bedeutenden Autor zu entwickeln. Doch dann hörte er auf zu schreiben. Mutter sah den Grund dafür in einem Vorfall, der sich ereignete, als ich ungefähr fünf Jahre alt war.

Damals wohnten wir in einem kleinen Haus am Meer. Vater war gerade von seiner zweiten Lesereise durch Amerika zurückgekehrt. Als wir eines Nachmittags im Garten beim Tee saßen, brachte ihn Mutter leider genau in dem Moment in Wut, als er ein Stück Kuchen abschneiden wollte. Er brüllte so laut und fuchtelte mit dem Kuchenmesser derart drohend vor ihrem Gesicht herum, dass ein übertrieben hilfsbereiter Nachbar über den Gartenzaun sprang, um einzuschreiten, und von Vater niedergeschlagen wurde. Vater erklärte vor Gericht, es wäre doch wohl eine langwierige, mühselige Angelegenheit, eine Frau mit unserem silbernen Kuchenmesser umzubringen! Er wurde von jedem Verdacht, er habe Mutter umbringen wollen, freigesprochen. Der ganze Fall scheint ziemlich lächerlich gewesen zu sein, sodass alle Beteiligten die Sache eher als Spaß ansahen – bis auf den Nachbarn. Doch Vater beging den Fehler, noch witziger als der Richter sein zu wollen, und da es keinen Zweifel daran gab, dass er den Nachbarn ernsthaft verletzt hatte, wurde er für drei Monate ins Gefängnis geschickt.

Als er wieder herauskam, war er liebenswürdig wie eh und je – sogar noch liebenswürdiger, weil ausgeglichener. Ansonsten schien er sich kein bisschen verändert zu haben. Doch Rose meint, dass er schon damals anfing, sich zurückzuziehen. Zu jener Zeit pachtete er die Burg für vierzig Jahre – und sie eignet sich wirklich wunderbar dafür, zurückgezogen zu leben. Nachdem wir hier eingezogen waren, dachten wir, er würde ein neues Buch beginnen. Doch die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Schließlich mussten wir einsehen, dass er nicht einmal mehr zu schreiben versuchte. Seit Jahren weigert er sich, auch nur darüber zu reden. Die meiste Zeit verbringt er im Zimmer des Pförtnerhauses, das im Winter eiskalt ist, weil es dort keinen Kamin gibt. Aber Vater kauert sich vor den Ölofen. Soweit wir wissen, liest er den ganzen Tag Kriminalromane aus der Dorfbücherei. Miss Marcy, die Bibliothekarin und Lehrerin, bringt sie ihm. Sie ist voller Bewunderung für ihn und sagt immer, Pein und Trübsal hätten seine Seele beschlichen.

Ich selbst glaube ja nicht, dass Pein und Trübsal während eines nur dreimonatigen Gefängnisaufenthaltes weit in eine Seele vorstoßen können – schon gar nicht bei einem so lebensfrohen Mann wie Vater. Und als er wieder freigelassen wurde, schien er schließlich noch jede Menge Lebenskraft zu haben. Doch inzwischen ist sie verschwunden, und seine Ungeselligkeit ist fast krankhaft geworden. Manchmal glaube ich, am liebsten würde er sogar seiner Familie aus dem Weg gehen. Er hat seine gesamte natürliche Fröhlichkeit verloren. Gelegentlich täuscht er gute Laune vor, die mir unangenehm ist, aber meistens erlebt man ihn entweder griesgrämig oder gereizt. Ich glaube, da gefielen mir seine Wutausbrüche von früher doch besser. Oh, armer Vater, er kann einem wirklich leidtun. Aber er könnte wenigstens ein bisschen im Garten arbeiten. Ich stelle fest, dass meine Beschreibung ihm nicht gerecht wird. Ich werde später noch eine ausführlichere versuchen.

Mutter starb vor acht Jahren, und zwar eines völlig natürlichen Todes. Offenbar war sie kein Mensch, der sich einem besonders einprägt, denn ich kann mich nur schwach an sie erinnern, und normalerweise habe ich ein exzellentes Gedächtnis. (An den Vorfall mit dem Kuchenmesser erinnere ich mich ganz genau. Ich habe den Nachbarn mit meiner kleinen Holzschaufel gehauen, als er am Boden lag. Vater hat immer behauptet, dafür habe er einen Monat zusätzlich bekommen.)

Vor drei Jahren (oder sind es schon vier? Seinen einzigen Anfall von vorübergehender Geselligkeit hatte er 1931) stellte Vater uns unsere Stiefmutter vor. Wir waren äußerst überrascht. Sie ist ein berühmtes Modell verschiedener Künstler und behauptet, auf den Namen Topaz getauft worden zu sein. Selbst wenn das stimmt, heißt das doch noch lange nicht, dass man bei so einem Namen bleiben muss. Sie ist sehr schön und hat langes, wallendes Haar, das so hell ist, dass es fast weiß aussieht. Ihr Gesicht ist von einer außergewöhnlichen Blässe. Sie benutzt kein Make-up, nicht einmal Puder. In der Tate Gallery hängen zwei Bilder von ihr: eines von Macmorris mit dem Titel Topaz in Jade, auf dem sie eine prachtvolle Halskette aus Jade trägt, und eines von H.J. Allardy, das sie nackt auf einem alten, von einer Rosshaardecke verhüllten Sofa zeigt. Topaz sagt, die Decke habe sehr gepikt. Das Bild heißt Gestaltung. »Verunstaltung« würde allerdings besser passen, denn Allardy hat sie noch blasser gemalt, als sie sowieso schon ist.

Topaz’ Blässe sieht eigentlich nicht ungesund aus, eher, als würde sie einem unbekannten Menschenstamm angehören. Sie hat eine sehr tiefe Stimme – das heißt, sie spricht mit Absicht so, denn das gehört zu ihrem künstlerischen Auftreten, ebenso wie das Malen und das Spielen auf der Laute. Aber ihre Liebenswürdigkeit ist echt, und ihre Kochkünste sind es ebenfalls. Ich habe sie sehr, sehr gern. Lustig – gerade, als ich das schrieb, erschien sie auf der Küchentreppe. Sie trägt ihr altertümliches orangefarbenes Nachmittagskleid. Ihr helles glattes Haar bedeckt ihren Rücken bis zur Hüfte. Sie ist auf der obersten Stufe stehen geblieben und hat gesagt: »Ach, meine Lieben …« – mit drei verschiedenen, samtweichen Klanghöhen bei jedem Wort.

Jetzt sitzt sie auf dem stählernen Dreifuß und schürt das Feuer. Im rosafarbenen Licht sieht sie gewöhnlicher aus, aber sehr hübsch. Sie ist neunundzwanzig und hatte vor Vater schon zwei andere Ehemänner, über die sie uns nie viel erzählen möchte, aber sie sieht noch immer unglaublich jung aus. Vielleicht deshalb, weil ihr Gesicht so ausdruckslos wirkt.

In der Küche ist es jetzt sehr gemütlich. Das Feuer scheint gleichmäßig durch das Gitter und durch das runde Loch oben im Herd, das normalerweise durch einen Deckel verschlossen wird. Die weißen Wände haben jetzt eine rosa Farbe, und selbst die dunklen Dachbalken sind von einem satten Gold. Der höchste Balken ist mehr als neun Meter vom Fußboden entfernt. Rose und Topaz sehen aus wie zwei winzige Gestalten in einer riesigen, glühenden Höhle.

Jetzt sitzt Rose auf dem niedrigen Schutzgitter vor dem Herd und wartet darauf, dass das Bügeleisen heiß wird. Sie schaut Topaz unzufrieden an. Ich kann oft Roses Gedanken lesen, und ich könnte wetten, dass sie Topaz um ihr orangefarbenes Kleid beneidet und ihre eigene enge, alte Bluse und ihren Rock verabscheut. Die arme Rose verabscheut fast alles, was sie besitzt, und beneidet andere um das, was sie besitzen. Ich bin genauso unzufrieden wie sie, aber mir macht es anscheinend nicht so viel aus. Im Moment bin ich sogar ohne einen besonderen Grund glücklich – während ich den beiden so zuschaue und weiß, dass ich zu ihnen in die Wärme gehen kann und trotzdem hier in der Kälte bleibe.

Oje, gerade hat es eine kleine Szene gegeben! Rose hat Topaz gebeten, nach London zu fahren und ein wenig Geld zu verdienen. Topaz hat geantwortet, das lohne sich nicht, denn es sei so teuer, dort zu leben. Tatsächlich spart sie, wenn sie mal arbeitet, immer nur gerade so viel, dass sie uns ein paar Geschenke kaufen kann. Sie ist äußerst großzügig.

»Und außerdem halten sich zwei der Männer, für die ich Modell sitze, gerade im Ausland auf«, fügte sie hinzu. »Und für Macmorris möchte ich nicht arbeiten.«

»Warum nicht?«, fragte Rose. »Immerhin zahlt er besser als die anderen, oder nicht?«

»Das ist ja wohl das Mindeste, wenn man bedenkt, wie reich er ist«, erwiderte Topaz. »Aber ich sitze nicht gern für ihn, weil er nur meinen Kopf malt. Dein Vater meint, dass diejenigen, die mich nackt porträtieren, meinen Körper malen und dabei nur an die Arbeit denken, aber dass Macmorris meinen Kopf malt und dabei an meinen Körper denkt. Und damit hat er absolut recht. Ich hatte schon mehr Schwierigkeiten mit ihm, als dein Vater wissen darf.«

Rose entgegnete: »Ich denke, wenn man ordentlich Geld dabei verdient, kann man ein paar Schwierigkeiten durchaus in Kauf nehmen.«

»Dann übernimm du doch diese Schwierigkeiten, meine Liebe«, versetzte Topaz.

Diese Bemerkung muss Rose sehr geärgert haben, da für sie nicht die geringste Aussicht besteht, je solche Schwierigkeiten zu bekommen. Plötzlich warf sie theatralisch den Kopf zurück und verkündete:

»Dazu bin ich durchaus bereit. Vielleicht interessiert es euch beide, dass ich seit einiger Zeit in Erwägung ziehe, mich zu verkaufen. Wenn es nötig ist, werde ich auf den Strich gehen.«

Ich sagte ihr, sie könne doch nicht mitten in Suffolk auf den Strich gehen.

»Aber wenn Topaz mir das Geld für die Fahrt nach London leihen und ein paar Tipps geben würde …«

Topaz erwiderte, sie sei nie auf den Strich gegangen und bereue das, denn »man muss ganz unten gewesen sein, um nach ganz oben aufsteigen zu können«. Man muss Topaz schon sehr mögen, um solche Aussprüche hinzunehmen.

»Allerdings bist du wohl kaum das richtige Mädchen für ein unmoralisches, hartes Leben«, sagte sie zu Rose. »Wenn du dich wirklich verkaufen willst, suchst du dir besser einen reichen Mann und heiratest ihn, wie es sich gehört.«

Dieser Gedanke war Rose natürlich auch schon gekommen. Aber sie hatte immer gehofft, der Betreffende würde nicht nur wohlhabend, sondern auch noch gutaussehend, romantisch und liebenswert sein. Dabei war sie bisher überhaupt noch keinem Heiratskandidaten, nicht einmal einem hässlichen, bettelarmen, begegnet. Wahrscheinlich war die schiere Verzweiflung darüber der Grund, warum sie plötzlich in Tränen ausbrach. Da sie nur ungefähr einmal im Jahr zu weinen anfängt, hätte ich hinübergehen und sie trösten sollen, aber ich wollte das alles schriftlich festhalten. Langsam verstehe ich, warum man als Schriftsteller leicht gefühllos wird.

Na ja, Topaz ist im Trösten sowieso besser als ich, da ich nie gern Leute an mich drücke. Sie gab sich sehr mütterlich und ließ Rose auf das orangefarbene Samtkleid weinen, das schon oft in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Später wird Rose sich über sich selbst ärgern, denn sie neigt leider dazu, auf Topaz hinabzusehen. Aber im Augenblick sind sie sehr freundlich zueinander. Rose räumt gerade ihre Bügelwäsche beiseite und schluchzt noch ein wenig, während Topaz den Teetisch deckt und unbrauchbare Pläne zum Geldverdienen aufzählt – zum Beispiel, im Dorf ein Konzert mit ihrer Laute zu geben oder ein Schwein auf Raten zu kaufen.

Ich beteilige mich und lasse derweil meine Hand ein wenig ausruhen, steuere aber nichts sonderlich Bedeutendes bei.

Es hat wieder angefangen zu regnen. Stephen kommt über den Hof. Er wohnt seit seiner Kindheit bei uns. Seine Mutter arbeitete für uns als Dienstmädchen – zu der Zeit konnten wir uns noch eines leisten. Als sie starb, wusste er nicht wohin. Er baut für uns Gemüse an, kümmert sich um die Hühner und erledigt noch tausend andere Arbeiten. Ich weiß nicht, wie wir ohne ihn auskommen sollten. Er ist jetzt achtzehn und sieht sehr hübsch und stattlich aus, aber sein Gesicht macht immer einen etwas dummen Eindruck. Er schwärmt schon sehr lange für mich, und Vater nennt ihn meinen jungen Verehrer. So wie ihn stelle ich mir Silvius in Wie es euch gefällt vor – nur bin ich absolut keine Phoebe.

Stephen ist jetzt hereingekommen. Als Erstes zündete er eine Kerze an, stellte sie neben mich auf das Fensterbrett und sagte:

»Sie verderben sich die Augen, Miss Cassandra.«

Dann ließ er ein zusammengefaltetes Stück Papier auf dieses Tagebuch fallen. Mein Mut sank, denn ich wusste, dass ein Gedicht daraufstehen würde. Wahrscheinlich hat er im Stall daran gearbeitet. Er hat es in seiner sorgfältigen, ziemlich schönen Handschrift geschrieben. Die Überschrift lautet: An Miss Cassandra. Von Stephen Colly. Es ist ein wunderschönes Gedicht – von Robert Herrick.

Was soll ich nur wegen Stephen unternehmen? Vater meint, sein Wunsch nach Ausdruck der eigenen Persönlichkeit sei zu bemitleiden, aber ich glaube, Stephen möchte mir einfach eine Freude machen. Er weiß, dass ich Gedichte sehr schätze. Ich sollte ihm sagen, dass ich weiß, dass er die Gedichte nur abschreibt – er hat es den ganzen Winter lang gemacht, einmal in der Woche oder so. Aber ich bringe es nicht über mich, ihn zu verletzen. Vielleicht kann ich mal mit ihm spazieren gehen, wenn der Frühling kommt, und es ihm dabei auf eine positive Art beibringen. Diesmal konnte ich mich vor meinen üblichen geheuchelten Lobesworten drücken, indem ich ihn quer durch die Küche zustimmend anlächelte. Jetzt pumpt er Wasser in die Zisterne und sieht sehr glücklich aus.

Der Brunnen befindet sich unter dem Küchenboden und stammt noch aus den ersten Tagen der Burg. Er liefert schon seit sechshundert Jahren Wasser und soll noch nie versiegt sein. Aber die Pumpe ist sicher oft ausgetauscht worden. Die jetzige wurde angeschafft, als das viktorianische Heißwassersystem eingebaut wurde.

Ich werde immer wieder unterbrochen. Topaz hat gerade den Kessel mit Wasser gefüllt und dabei meine Füße nass gespritzt, und mein Bruder Thomas ist von der Schule in der nahe gelegenen Stadt King’s Crypt nach Hause gekommen. Er ist ein schwerfälliger Bursche von fünfzehn Jahren. Sein Haar ist voller Wirbel, sodass man es schlecht scheiteln kann. Es hat die gleiche graubraune Farbe wie meines, nur ist meins leichter zu bändigen.

Als Thomas die Küche betrat, erinnerte ich mich plötzlich daran, wie ich selbst bis vor ein paar Monaten jeden Tag von der Schule heimkam. Blitzschnell durchlebte ich noch einmal die sechzehn Kilometer in dem kriechenden, rumpelnden kleinen Zug und die acht Kilometer danach auf dem Fahrrad vom Bahnhof in Scoatney bis nach Hause – wie ich das im Winter hasste! Doch in mancherlei Hinsicht wäre ich gern noch in der Schule. Zum einen ging auch die Tochter des Kinodirektors dorthin, und so konnte ich mir manchmal umsonst Filme anschauen. Das fehlt mir sehr. Und die Schule an sich fehlt mir auch. Für so eine einfache kleine Stadt auf dem Land war sie erstaunlich gut. Ich hatte ein Stipendium, genau wie Thomas an seiner Schule – wir sind einigermaßen intelligent.

Nun peitscht der Regen gegen das Fenster. Durch den Kerzenschein sieht es draußen noch düsterer aus. Auf der anderen Seite der Küche ist es jetzt ebenfalls dunkler, weil der Kessel auf dem runden Loch oben im Herd steht. Rose und Topaz sitzen auf dem Fußboden und rösten durch das Gitter Brot. Ihre Köpfe werden von einem hellen Kranz umgeben, weil das Licht des Feuers durch ihr Haar scheint.

Stephen ist jetzt mit dem Pumpen fertig und heizt den Ofen – einen großen, altmodischen Ziegelofen, mit dem wir die Küche besser warm halten und zusätzliches heißes Wasser machen können. Wenn Ofen und Herd angezündet sind, ist die Küche der wärmste Ort im ganzen Haus. Deshalb halten wir uns auch so oft hier auf. Aber auch im Sommer nehmen wir unsere Mahlzeiten hier ein, denn die Esszimmermöbel haben wir schon vor über einem Jahr verkauft.

Lieber Himmel! Topaz setzt Eier zum Kochen auf den Herd! Niemand hat mir gesagt, dass die Hühner meine Gebete erhört haben. O gütige Hühner! Ich hatte zum Tee nur Brot und Margarine erwartet, und an die Margarine kann ich mich noch immer nicht so recht gewöhnen. Gott sei Dank gibt es keine billigere Form von Brot als Brot.

Wie seltsam, sich daran zu erinnern, dass »Tee« früher einmal »richtiger Nachmittagstee« für uns bedeutete – Törtchen und dünnes, gebuttertes Brot im Salon. Inzwischen kratzen wir so viel wie möglich für eine richtige Mahlzeit zusammen, denn sie muss bis zum Frühstück reichen. Wir essen, wenn Thomas aus der Schule kommt.

Stephen zündet die Lampe an. Gleich wird das rosige Schimmern aus der Küche verschwunden sein. Aber das Lampenlicht finde ich auch schön.

Die Lampe ist angezündet. Und gerade als Stephen sie zum Tisch trug, erschien mein Vater auf der Treppe. Er hatte sich sein altes Plaid um die Schultern geschlungen, weil er vom Pförtnerhaus über die Burgmauern ins Haus gekommen ist. Er murmelte: »Tee, Tee – hat Miss Marcy schon die Bücher aus der Bibliothek gebracht?« (Hat sie nicht.) Dann stellte er fest, dass seine Hände ganz taub seien. Nicht klagend, sondern eher ein wenig überrascht. Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, wie jemand, der im Winter hier in der Burg lebt, darüber überrascht sein kann, dass seine Körperteile taub werden. Als er die Treppe herunterkam und sich den Regen aus den Haaren schüttelte, empfand ich plötzlich eine tiefe Zuneigung zu ihm. Leider kommt das nur selten vor.

Er sieht noch immer blendend aus, obwohl seine feinen Züge ein klein wenig aufgedunsen sind und er immer blasser wird. Seine Gesichtsfarbe war früher einmal so gesund wie die von Rose.

Nun plaudert er mit Topaz. Leider muss ich feststellen, dass er seine künstliche gute Laune aufgesetzt hat. Aber Topaz ist ihm inzwischen vermutlich selbst dafür dankbar. Sie vergöttert ihn förmlich, und er zeigt so wenig Interesse an ihr …

Ich muss jetzt aufstehen, denn Topaz braucht den Teewärmer. Außerdem ist unsere Hündin Heloïse hereingekommen und hat entdeckt, dass ich mir ihre Decke ausgeliehen habe. Sie ist ein Bullterrier, schneeweiß bis auf die Stellen, an denen man ihre sattrosafarbene Haut durch das kurze Fell sehen kann. Na gut, Heloïse, Liebling, du bekommst deine Decke zurück. Sie starrt mich liebevoll, vorwurfsvoll, zuversichtlich und fröhlich zugleich an. Wie kann sie mit ihren zwei ziemlich kleinen, schräg stehenden Augen nur so viel auf einmal ausdrücken?

Ich habe mich auf die Treppe gesetzt, um diesen Eintrag zu beenden. Ich hielt es für wert aufzuschreiben, dass ich mich noch nie in meinem Leben glücklicher gefühlt habe – trotz meiner Sorge um Vater, meines Mitleids für Rose, meiner Verlegenheit wegen Stephens Gedichten und keinerlei Aussicht auf Hoffnung, was die allgemeine Zukunft der Familie betrifft. Vielleicht rührt es einfach nur daher, dass ich meinen Drang nach Kreativität befriedigen konnte. Oder es ist die Vorstellung, dass es zum Tee Eier gibt.

II

Später. Im Bett.

Ich liege einigermaßen gemütlich, denn ich trage meinen Schulmantel, und ein heißer Ziegelstein wärmt meine Füße. Aber ich wünschte, ich müsste diese Woche nicht in dem kleinen Eisenbett schlafen – Rose und ich wechseln uns mit dem Himmelbett immer ab. Sie sitzt aufrecht darin und liest ein Buch aus der Bibliothek. Als Miss Marcy es brachte, sagte sie, es sei »eine hübsche Geschichte«. Rose meint, es sei grauenhaft, aber lieber lese sie es, als über sich selbst nachzudenken. Arme Rose! Sie trägt ihren alten blauen Morgenmantel aus Flanell und hat den unteren Teil nach oben geklappt und um die Hüfte gelegt, damit es wärmer ist. Sie besitzt diesen Morgenmantel schon so lang, dass sie ihn vermutlich gar nicht mehr bewusst wahrnimmt. Wenn sie ihn für einen Monat weglegen und ihn dann wieder anschauen würde, bekäme sie sicher einen Schreck. Aber ich sollte lieber still sein – schließlich besitze ich seit über zwei Jahren gar keinen Morgenmantel mehr. Die Überreste des letzten sind um meinen heißen Ziegelstein gewickelt.

Unser Zimmer ist sehr groß und auffallend leer. Bis auf das Himmelbett, das in einem äußerst schlechten Zustand ist, haben wir nach und nach alle guten Möbel verkauft und durch die nötigsten Gegenstände aus Trödelläden ersetzt. So besitzen wir einen Kleiderschrank, bei dem eine Tür fehlt, und eine Kommode aus Bambusrohr, die ich für ein seltenes Stück halte. Mein Kerzenständer steht neben dem Bett auf einer zerbeulten Blechtruhe, die einen Shilling gekostet hat, Roses auf einer Kommode, deren Anstrich aussehen soll wie Marmor, aber eher an Speck erinnert. Der Emailkrug und die Emailschüssel auf dem Dreifuß sind mein persönliches Eigentum. Die Wirtin von The Keys hat mir die Sachen geschenkt, die ich in einem Stall entdeckt hatte. Dadurch lässt sich der Andrang vor dem Badezimmer ganz gut vermeiden.

Besonders gut gefällt mir in unserem Zimmer der geschnitzte Fenstersitz aus Holz – ich bin froh, dass wir den nicht verkaufen können. Er ist in die massive Burgmauer eingebaut, und darüber befindet sich ein großes Fenster mit Mittelpfosten. Auch auf der Gartenseite des Zimmers gibt es Fenster – kleinere mit rautenförmigen Scheiben.

Eine Sache, die mich schon immer fasziniert hat und noch immer fasziniert, ist der runde Turm, der sich an eine Zimmerecke anschließt. Darin gelangt man über eine Wendeltreppe nach oben auf das mit Zinnen besetzte Dach oder nach unten in den Salon. Allerdings sind einige Stufen schon sehr bröckelig.

Vielleicht sollte ich auch Miss Blossom als Möbelstück zählen. Sie ist eine Schneiderpuppe mit einer sehr üppigen Figur und einem Drahtrock um ihr einzelnes Bein. Wir benehmen uns immer ein bisschen albern mit Miss Blossom – wir tun so, als sei sie lebendig. Wir stellen sie uns als Frau von Welt vor, zum Beispiel als eine junge Bardame. Sie sagt Sätze wie »Tja, Schätzchen, so sind die Männer nun mal« oder »Passt bloß auf, dass ihr den Trauschein bekommt«.

Die viktorianischen Vandalen, die in dieses Haus so viele unnütze Dinge einbauten, dachten nicht daran, Korridore einzubauen, deshalb müssen wir immer durch die Zimmer der anderen gehen. Topaz ist gerade durch unseres geschlendert – in einem Nachthemd aus schlichtem weißem Baumwollstoff mit Löchern für Kopf und Arme. Sie hält moderne Wäsche für unschicklich. Sie sah aus wie eine Verurteilte auf dem Weg zum Scheiterhaufen, dabei wollte sie nur ins Badezimmer.

Topaz und Vater schlafen in dem großen Zimmer, das auf die Küchentreppe hinausgeht. Zwischen ihrem und unserem Zimmer befindet sich ein kleiner Raum, den wir Pufferstaat nennen. Topaz benutzt ihn als Atelier. Thomas wohnt in dem Zimmer auf der anderen Seite des Treppenabsatzes neben dem Bad.

Ob Topaz zu Vater gegangen ist und ihn gebeten hat, ins Bett zu kommen? (Sie ist imstande und stakst in ihrem Nachthemd über die Burgmauern.) Ich hoffe nicht, denn Vater herrscht sie immer so an, wenn sie ihn im Pförtnerhaus überrascht. Schon als Kindern wurde uns beigebracht, nie in seine Nähe zu kommen, solange er uns nicht dazu aufforderte, und er erwartet von Topaz das Gleiche.

Nein – sie ist nicht zu ihm gegangen. Sie ist vor ein paar Minuten zurückgekommen und schien bleiben zu wollen, aber wir haben sie nicht dazu ermutigt. Nun ist sie im Bett und spielt auf ihrer Laute. Eigentlich gefällt mir das Instrument, aber nicht die Töne, die ihm entspringen. Sie ist selten richtig gestimmt und scheint keine Melodie vernünftig wiedergeben zu können.

Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mich Topaz gegenüber so abweisend verhalten habe. Aber immerhin hatten wir einen sehr netten Abend miteinander.

Ungefähr um acht Uhr kam Miss Marcy mit den Büchern. Sie ist um die vierzig und klein und wirkt irgendwie verbraucht, andererseits aber auch noch sehr jung. Sie zwinkert und kichert oft und sagt dann: »Also wirklich!« Eigentlich stammt sie aus London, lebt aber nun schon seit über fünf Jahren hier im Dorf. Ich halte sie für eine gute Lehrerin. Ihre Spezialgebiete sind Volkslieder, Wildblumen und Naturkunde. Zu Anfang gefiel es ihr hier nicht (sie sagt immer, sie habe »die grellen Lichter vermisst«). Doch sie bemühte sich schon bald, sich für alles Ländliche zu interessieren, und versucht inzwischen, auch das Interesse der Landbewohner dafür zu wecken.

In ihrer Funktion als Bibliothekarin schummelt sie ein bisschen, um uns immer gleich die neuesten Bücher zukommen zu lassen. Sie erhielt heute eine Lieferung und brachte Vater einen Kriminalroman mit, der erst vorletztes Jahr erschienen ist und noch dazu von einem seiner Lieblingsautoren stammt.

Topaz sagte: »Oh, ich muss es sofort Mortmain bringen.« Sie nennt Vater Mortmain – zum einen, weil ihr unser merkwürdiger Nachname gefällt, und zum anderen, um die Illusion aufrechtzuerhalten, er sei noch immer ein berühmter Schriftsteller. Er kam mit ihr zurück, um sich bei Miss Marcy zu bedanken. Ausnahmsweise schien seine Fröhlichkeit echt zu sein.

»Ich lese jeden Krimi, mag er gut, schlecht oder mittelmäßig sein«, erklärte er ihr, »aber man kommt nur selten in den Genuss eines wirklich erstklassigen.«

Dann erfuhr er, dass er das Buch noch vor dem Pfarrer bekam, und freute sich so sehr, dass er Miss Marcy eine Kusshand zuwarf.

Sie sagte: »Oh, danke, Mr Mortmain! Das heißt, ich meine – also wirklich!« Und sie errötete und zwinkerte.

Vater warf sich seine Decke wie eine Toga um die Schultern und kehrte ins Pförtnerhaus zurück, wobei er ungewöhnlich gut gelaunt aussah.

Sobald er außer Hörweite war, fragte Miss Marcy mit leiser Stimme: »Wie geht es ihm denn?«, als stünde er an der Schwelle des Todes oder als habe er den Verstand verloren. Rose antwortete, er sei wie immer vollkommen gesund und vollkommen nutzlos. Miss Marcy sah schockiert aus.

»Rose sorgt sich um unsere Finanzen«, erklärte ich.

»Wir dürfen Miss Marcy nicht mit unseren Sorgen langweilen«, warf Topaz schnell ein. Sie wehrt sich gegen alles, was Vater in ein schlechtes Licht setzen könnte.

Miss Marcy entgegnete, dass sie nichts langweilen könne, was mit unserem Haushalt zu tun habe. Ich weiß, dass sie unser Leben in der Burg für außerordentlich spannend und romantisch hält. Dann fragte sie zögernd, ob sie uns mit einem Rat weiterhelfen dürfe. »Manchmal kann ein Außenstehender …«

Plötzlich dachte ich, dass ich sie sehr gern um Rat fragen würde. Sie ist eine so vernünftige kleine Person. Sie war auch diejenige, die daran dachte, mir das Buch über Schnellschreiben zu besorgen. Mutter hat uns beigebracht, niemals im Dorf über unsere Privatangelegenheiten zu sprechen. Und ich respektiere auch Topaz’ Treue zu Vater. Doch ich war mir sicher, dass Miss Marcy ganz genau wusste, dass wir pleite sind.

»Vielleicht haben Sie ja ein paar Ideen, wie wir Geld verdienen können«, antwortete ich.

»Oder wie man länger damit auskommt. Ich bin sicher, ihr seid alle viel zu sehr künstlerisch veranlagt, um wirklich praktisch zu denken. Wir sollten eine Krisensitzung abhalten!«

Es klang so, als wollte sie Kinder für ein bestimmtes Spiel begeistern. Sie wirkte so eifrig, dass es unhöflich gewesen wäre abzulehnen. Und Rose und Topaz waren wahrscheinlich verzweifelt genug, um alles auszuprobieren.

»Also, Papier und Bleistifte«, rief Miss Marcy und klatschte in die Hände.

Schreibpapier ist in unserem Haus Mangelware, und ich wollte auf gar keinen Fall Seiten aus diesem Buch herausreißen. Es ist ein herrliches Sixpenny-Buch, das der Pfarrer mir geschenkt hat. Schließlich riss Miss Marcy die mittleren Seiten aus ihrem Büchereiverzeichnis, was uns das wunderbare Gefühl gab, den Staat zu bestehlen. Dann setzten wir uns alle an den Tisch und wählten sie zur Vorsitzenden. Sie sagte, sie müsse gleichzeitig auch Schriftführerin sein, um das Protokoll zu führen, und schrieb:

Untersuchung der finanziellen Lage der Familie Mortmain

 

Anwesende:

Miss Marcy (Vorsitzende)

Mrs James Mortmain

Miss Rose Mortmain

Miss Cassandra Mortmain

Thomas Mortmain

Stephen Colly

Als Erstes sprachen wir über unsere Ausgaben.

»Erstens: Miete«, verkündete Miss Marcy.

Die Miete beträgt vierzig Pfund im Jahr, was wenig erscheint für eine so große Burg. Aber wir haben nur ein paar Acre Land. Die Landbewohner mögen die Ruine nicht besonders, und außerdem soll es hier spuken – was nicht stimmt. (Oben auf dem Hügel gibt es ein paar unheimliche Wesen, aber sie kommen nie bis ins Haus.) Jedenfalls haben wir seit drei Jahren keine Miete mehr bezahlt. Der Eigentümer der Burg, ein reicher, alter Gentleman, der acht Kilometer von hier in Scoatney Hall wohnte, hatte uns jedes Jahr zu Weihnachten einen Schinken geschickt, ob wir die Miete gezahlt hatten oder nicht. Er starb letzten November, und seitdem haben wir den Schinken sehr vermisst.

»Es heißt, dass in Scoatney Hall wieder jemand einzieht«, sagte Miss Marcy, nachdem wir ihr berichtet hatten, wie es um die Miete stand. »Zwei Jungen aus dem Dorf wurden als zusätzliche Gärtner angestellt. Na ja, wir werden die Miete angeben und ›eventuell‹ dahinterschreiben. Wie steht’s mit dem Essen? Könnt ihr mit fünfzehn Shilling pro Woche und pro Person auskommen? Sagen wir ein Pfund pro Person, einschließlich Kerzen, Lampenöl und Putzzeug?«

Bei der Vorstellung, wir würden es jemals auf sechs Pfund in der Woche bringen, brachen wir alle in schallendes Gelächter aus.

»Wenn Miss Marcy uns wirklich helfen will«, sagte Topaz, »sollte sie vielleicht wissen, dass wir für dieses Jahr keinerlei Einkünfte in Aussicht haben.«

Miss Marcy errötete und erwiderte: »Ich wusste ja, dass die Dinge schlecht stehen. Aber, meine liebe Mrs Mortmain, es muss doch etwas Geld da sein, oder nicht?«

Wir nannten ihr die Fakten. Im Januar und Februar haben wir keinen Penny verdient. Letztes Jahr erhielt Vater vierzig Pfund aus Amerika, wo sich Jakobs Kampf noch immer verkauft. Topaz arbeitete drei Monate lang als Modell in London, legte acht Pfund für uns beiseite und lieh sich fünfzig. Außerdem verkauften wir einem Händler in King’s Crypt eine hohe Kommode für zwanzig Pfund. Von dem Geld für die Kommode leben wir seit Weihnachten.

»Einkommen im letzten Jahr: hundertundachtzehn Pfund«, sagte Miss Marcy und notierte es. Aber wir machten sie schnell darauf aufmerksam, dass wir in diesem Jahr kein vergleichbares Einkommen erwarten können, da wir keine guten Möbel mehr besitzen, die wir verkaufen könnten, und Topaz keine reichen Leute mehr findet, die ihr etwas leihen würden. Und Vaters Tantiemen werden vermutlich auch geringer ausfallen, denn bis jetzt sind es jedes Jahr weniger geworden.

»Soll ich von der Schule abgehen?«, fragte Thomas. Aber wir erwiderten, dass das dumm wäre, da uns sein Unterricht wegen des Stipendiums nichts kostet und der Pfarrer ihm gerade eine Jahresfahrkarte für den Zug geschenkt hat.

Miss Marcy spielte ein wenig mit ihrem Bleistift herum und sagte dann:

»Wenn ich helfen soll, muss ich ehrlich sein. Könntet ihr nicht an Stephens Lohn sparen?«

Ich merkte, wie ich rot anlief. Natürlich haben wir Stephen noch nie etwas gezahlt – noch nicht einmal daran gedacht, ihm Geld zu geben. Und ich begriff plötzlich, dass wir das hätten tun sollen. (Was nicht heißt, dass Geld dafür da gewesen wäre, seit er alt genug ist, um etwas verdienen zu können.)

»Ich möchte keinen Lohn«, sagte Stephen leise. »Ich würde kein Geld annehmen. Alles, was ich jemals brauchte, habe ich hier bekommen.«

»Wissen Sie, Stephen gehört quasi zur Familie«, erklärte ich. Miss Marcy sah aus, als wäre sie sich nicht sicher, ob das gut sei, aber Stephens Miene hellte sich für einen Moment auf. Dann wurde er verlegen und meinte, er müsse nachsehen, ob alle Hühner im Stall seien. Als er gegangen war, fragte Miss Marcy:

»Kein Lohn – überhaupt keinen? Nur seinen Unterhalt?«

»Wir zahlen uns selbst schließlich auch keinen Lohn«, verteidigte sich Rose – was leider nur zu wahr ist. Allerdings arbeiten wir auch nicht so hart wie Stephen und schlafen auch nicht in einem düsteren Zimmerchen hinter der Küche. »Und außerdem finde ich es erniedrigend, unsere Armut vor Miss Marcy zu diskutieren«, fuhr Rose wütend fort. »Ich dachte, wir wollten sie nur um Rat fragen, wie wir etwas verdienen können.«

Danach brauchten wir lange, um Roses verletzten Stolz und Miss Marcys verletzte Gefühle zu besänftigen. Schließlich beschäftigten wir uns mit unseren Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

Topaz meinte, sie könne in London nicht mehr als vier Pfund pro Woche verdienen und vielleicht noch nicht einmal das, und sie würde drei Pfund für das Leben dort brauchen, dazu ein paar Kleider und das Geld, um mindestens jedes zweite Wochenende nach Hause zu fahren.

»Und außerdem will ich nicht nach London«, fügte sie pathetisch hinzu. »Ich bin es leid, als Modell zu arbeiten. Außerdem würde ich Mortmain schrecklich vermissen. Und er braucht mich hier – ich bin die Einzige, die kochen kann.«

»Das ist wohl kaum von Bedeutung, wenn wir sowieso nichts zu kochen haben«, entgegnete Rose. »Könnte ich nicht als Modell arbeiten?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Topaz. »Du bist zu hübsch – und dein Körper hat zu wenig Linien. Außerdem wärst du viel zu ungeduldig, um still zu sitzen. Ich fürchte, wenn sich nichts anderes ergibt, muss ich doch nach London fahren. Ich könnte ungefähr zehn Shilling pro Woche nach Hause schicken.«

»Na, das ist doch etwas!«, rief Miss Marcy und schrieb auf: »Mrs James Mortmain: eventuell zehn Shilling pro Woche.«

»Natürlich nicht das ganze Jahr über«, schränkte Topaz sofort ein. »Das könnte ich nicht ertragen, und ich hätte dann auch gar keine Zeit mehr für meine eigene Malerei. Natürlich könnte ich davon etwas verkaufen.«

Miss Marcy antwortete sehr höflich: »Ja, das könnten Sie« und wandte sich dann an mich. Ich erklärte ihr, ich hätte mit meinem Schnellschreiben zwar erhebliche Fortschritte gemacht, aber es sei dennoch keine richtige Stenographie (und eigentlich auch keine richtige Schnellschrift). Außerdem könne ich nicht tippen, und die Chance, irgendwie in die Nähe einer Schreibmaschine zu gelangen, sei äußerst gering.

»Dann müssen wir dein mögliches Einkommen leider auf null beziffern, bis du deine literarische Arbeit in Angriff nimmst«, verkündete Miss Marcy. »Thomas’ Möglichkeiten werden wohl in den nächsten paar Jahren ebenfalls gleich null sein. Rose, meine Liebe?«

Wenn einer in unserer Familie als Null zählen muss, was das Geldverdienen betrifft, dann ist es Rose. Sie spielt zwar ein bisschen Klavier, singt sehr hübsch und ist natürlich eine reizende Person, doch sie hat keine besonderen Talente.

»Vielleicht könnte ich auf kleine Kinder aufpassen«, schlug sie vor.

»O nein!«, antwortete Miss Marcy schnell. »Ich meine, das ist bestimmt nicht das Richtige für dich.«

»Dann gehe ich als Dienstmädchen nach Scoatney Hall«, versuchte es Rose noch einmal und sah aus, als würde sie bereits das Schafott besteigen.

»Dazu muss man ausgebildet sein, meine Liebe«, entgegnete Miss Marcy, »und ich glaube auch nicht, dass dein Vater die Idee gut finden wird. Kannst du nicht etwas Hübsches nähen?«

»Woraus denn?«, fragte Rose. »Aus Säcken?«

Wie auch immer – Rose kann sowieso nicht nähen.

Miss Marcy schaute deprimiert auf ihre Liste. »Ich fürchte, wir müssen auch Roses Einkünfte fürs Erste auf null beziffern«, stellte sie fest. »Dann bleibt nur noch Mr Mortmain übrig.«

Rose sagte: »Wenn ich als Null zähle, muss Vater als doppelte Null zählen.«

Miss Marcy beugte sich nach vorn und sagte mit gedämpfter Stimme: »Meine Lieben, ihr wisst, dass ich euch helfen will. Also, was ist denn nun wirklich mit Mr Mortmain los? Ist es – ist es – der Alkohol?«

Wir lachten so laut, dass Stephen hereinkam und wissen wollte, was wir so lustig fanden.

»Armer, armer Mortmain«, keuchte Topaz, »als hätte das Geld jemals für eine Flasche Bier gereicht! Alkohol kostet Geld, Miss Marcy!«

Miss Marcy nahm an, dass es auch keine Drogen sein konnten. Und damit hat sie recht – er raucht nicht einmal, seit die Weihnachtszigarren vom Pfarrer aufgebraucht sind.

»Ach was«, sagte Rose, »er ist einfach nur faul. Faul und labil. Und ich glaube nicht, dass er jemals gut war. Ich denke, man hat Jakobs Kampf überbewertet.«

Topaz sah einen Moment lang so böse aus, dass ich fürchtete, sie würde Rose schlagen. Stephen kam an den Tisch und stellte sich zwischen die beiden.

»Aber nein, Miss Rose«, sagte er leise, »es ist ein großartiges Buch – das weiß doch jeder. Aber es ist etwas mit Ihrem Vater geschehen, sodass er nicht mehr schreiben kann. Man kann nicht schreiben, nur weil es alle von einem erwarten.«

Ich dachte, Rose würde ihm über den Mund fahren, doch bevor sie ein Wort sagen konnte, wandte er sich an mich und sagte schnell: »Ich habe mir überlegt, dass ich mir Arbeit suchen sollte, Miss Cassandra. Auf der Four Stones Farm würden sie mich nehmen.«

»Aber der Garten, Stephen!«, jammerte ich, denn wir ernähren uns fast nur noch von unserem Gemüse.

Er antwortete, die Tage würden bald länger werden, und dann würde er eben abends für uns arbeiten.

»Und ich bin doch auch eine Hilfe im Garten, nicht wahr, Stephen?«, fragte Topaz.

»Ja, Ma’am, eine große Hilfe. Wenn Sie allerdings nach London gehen, kann ich natürlich keine Arbeit annehmen – dann bliebe zu viel für Miss Cassandra zu tun.«

Rose ist für Dinge wie Garten- und Hausarbeit nicht besonders gut zu gebrauchen.

»Also können Sie mich mit fünfundzwanzig Shilling pro Woche auf die Liste setzen, Miss Marcy«, fuhr Stephen fort. »Mr Stebbins hat gesagt, so viel würde er mir für den Anfang zahlen. Und ich könnte auf Four Stones zu Abend essen.«

Das freute mich zu hören, denn so würde er wenigstens eine ordentliche Mahlzeit am Tag bekommen.

Miss Marcy hielt das für eine großartige Idee, obwohl man dafür leider Topaz’ zehn Shilling streichen musste. »Aber wir hatten sie ja sowieso nur als eventuell aufgelistet.« Während sie Stephens fünfundzwanzig Shilling auf die Liste setzte, sagte Rose plötzlich:

»Danke, Stephen.«

Und da sie sich für gewöhnlich nicht mit ihm abgibt, klang es irgendwie sehr bedeutsam. Und sie lächelte so bezaubernd. Die arme Rose ist in letzter Zeit so unglücklich, dass ein Lächeln von ihr wie ein abendlicher Sonnenschein nach einem langen, verregneten Tag wirkt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Rose lächeln sehen kann, ohne sie sofort gern zu haben. Ich dachte, Stephen würde sich furchtbar freuen, doch er nickte nur und schluckte ein paarmal.

Genau in diesem Moment erschien Vater auf der Treppe und blickte auf uns alle herunter.

»Oh, ein Gesellschaftsspiel?«, fragte er. Wahrscheinlich sah es so aus, weil wir alle im Lampenlicht um den Tisch herum saßen. Dann trat er näher und sagte: »Dieses Buch ist großartig. Ich mache jetzt eine kleine Pause und versuche zu erraten, wer der Mörder ist. Ich hätte gern ein Plätzchen.«

Wann immer Vater zwischen den Mahlzeiten der Hunger überkommt – er isst sehr wenig bei Tisch, weniger als wir alle –, fragt er nach einem Plätzchen. Wahrscheinlich hält er es für das Kleinste und Billigste, worum er bitten kann. Natürlich haben wir schon seit Ewigkeiten keine richtigen Plätzchen aus dem Laden mehr zu Hause, aber Topaz backt sehr sättigende Haferplätzchen. Sie bestrich eines für ihn mit Margarine. Ich bemerkte seinen leicht widerwilligen Blick, bevor er sie bat, es mit ein wenig Zucker zu bestreuen.

»So schmeckt es viel besser«, entschuldigte er sich. »Können wir Miss Marcy nicht etwas anbieten? Etwas Tee oder Kakao, Miss Marcy?«

Sie dankte ihm, antwortete aber, sie wolle sich nicht den Appetit fürs Abendessen verderben.

»Nun, dann lasst euch nicht weiter von eurem Spiel abhalten«, sagte Vater. »Worum geht es denn dabei?«

Und bevor mir irgendetwas einfiel, womit ich ihn ablenken konnte, hatte er sich schon über ihre Schulter gebeugt und schaute sich die Liste an. Und da stand Folgendes:

Einkommen im laufenden Jahr

 

 

 

Mrs Mortmain

0

Cassandra Mortmain

0

Thomas Mortmain

0

Rose Mortmain

0

Mr Mortmain

0

Stephen Colly

25 Sh. pro Woche

Vaters Gesichtsausdruck veränderte sich beim Lesen nicht. Er lächelte weiter, aber ich merkte, dass sich in seinem Innern etwas veränderte. Rose sagt immer, ich schreibe den Leuten Gefühle zu, die ich selbst in ihrer Situation empfinden würde, aber in diesem Moment hatte ich ohne Zweifel eine plötzliche Eingebung. Auf einmal sah ich sein Gesicht ganz klar, nicht nur so, wie man Menschen sieht, die man immer um sich hat. Ich sah, wie er sich gewandelt hatte, seit ich klein war, und ich dachte an Ralph Hodgsons Zeile über »zahme, schäbige Tiger«. Wie lang man doch braucht, um die Gedanken einer einzigen Minute aufzuschreiben! Ich dachte noch an eine Menge andere Dinge, komplizierte, unnütze und sehr verwirrende Dinge, während Vater die Liste las.

Als er fertig war, fragte er relativ gelassen: »Und stellt Stephen uns seinen Lohn zur Verfügung?«

»Ich sollte für mein Bett und das Essen bezahlen, Mr Mortmain, Sir«, antwortete Stephen, »und für – für alles, was Sie früher für mich getan haben. All die Bücher, die Sie mir geliehen haben …«

»Du wirst sicher ein gutes Familienoberhaupt abgeben«, sagte Vater. Er nahm Topaz das gezuckerte Haferplätzchen ab und ging in Richtung Treppe.

Sie rief ihm nach: »Setz dich doch ein wenig ans Feuer, Mortmain.«

Aber er entgegnete, er wolle sein Buch weiterlesen. Dann dankte er Miss Marcy noch einmal dafür, dass sie ihm so ein gutes Buch mitgebracht habe, und wünschte ihr sehr höflich einen guten Abend. Während er durch die Schlafzimmer zum Pförtnerhaus ging, hörten wir ihn summen.

Miss Marcy sagte nichts zu diesem Vorfall, was beweist, was für ein taktvoller Mensch sie ist. Aber sie sah beschämt aus und meinte, sie müsse nun langsam gehen. Stephen zündete eine Laterne an und bot an, Miss Marcy bis zur Straße zu begleiten. Sie hatte ihr Fahrrad dort stehen lassen, weil unsere Einfahrt wegen des Schlammes kaum passierbar ist. Ich ging mit nach draußen, um sie zu verabschieden. Als wir den Hof durchquerten, blickte sie zum Fenster des Pförtnerhauses hinauf und fragte, ob es Vater wohl kränken würde, wenn sie ihm eine kleine Plätzchendose für dort oben schenkte. Ich antwortete, dass sich vermutlich niemand in unserem Haus durch etwas Essbares gekränkt fühlen würde, und sie sagte: »Du meine Güte!« Dann betrachtete sie die Ruine und stellte fest, wie schön sie sei, aber ich hätte mich wahrscheinlich mittlerweile an sie gewöhnt. Ich wollte schnell ans Feuer zurück, deshalb antwortete ich einfach nur mit Ja, aber das stimmte nicht. Ich kann mich einfach nie an die Schönheit der Burg gewöhnen. Und nachdem Miss Marcy und Stephen gegangen waren, bemerkte ich, dass sie in dieser wundersamen Nacht besonders bezaubernd aussah. Der Vollmond wurde von den Wolken verdeckt, die jedoch silbern schimmerten, sodass der Himmel recht hell war. Belmotte Tower, hoch oben auf dem Hügel, wirkte noch größer als sonst. Dann sah ich mir den Himmel genauer an und vermochte bald den Blick nicht mehr abzuwenden. Er schien mich magnetisch anzuziehen. Gleichzeitig lauschte ich angestrengt, obwohl es nichts gab, was ich hätte hören können. Nicht einmal ein Zweig bewegte sich. Als Stephen zurückkam, schaute ich noch immer nach oben.

»Sie sollten nicht ohne Mantel draußen bleiben, Miss Cassandra«, sagte er. Aber ich hatte die Kälte völlig vergessen und fror nicht mehr.

Auf dem Rückweg zum Haus fragte er mich, ob ich glaubte, dass La Belle Dame Sans Merci in einem Turm wie Belmotte Tower gelebt hätte. Ich antwortete, das könne gut sein, obwohl ich mir über ihr Familienleben eigentlich nie Gedanken gemacht hatte.

Dann beschlossen wir alle, zu Bett zu gehen, damit wir den Ofen nicht noch einmal anheizen mussten. Also nahmen wir unsere heißen Ziegelsteine aus dem Ofen und begaben uns in unsere Zimmer. Leider brauchen wir die Kerzen schneller auf, wenn wir früh zu Bett gehen. Ich schätzte, dass meine noch zwei Stunden lang brennen würde, doch dann fiel ein Stückchen Docht in das Wachs, und nun ist alles geschmolzen. (Ich frage mich, wie Alfred der Große in einem solchen Fall mit seinen Kerzenuhren zurechtgekommen ist.) Ich wollte mir Thomas’ Kerze ausleihen, aber er sitzt noch an seinen Hausaufgaben. Also muss ich hinunter in die Küche – dort halte ich ein paar Kerzenstummel versteckt. Und ich werde großmütig sein und auf dem Weg nach unten noch ein wenig mit Topaz plaudern.

… Ich bin zurück. Etwas Merkwürdiges ist passiert. Als ich in die Küche kam, wachte Heloïse auf und bellte. Stephen erschien an seiner Tür, um nachzusehen, was los war. Ich rief ihm zu, dass ich es sei, und er verschwand wieder in seinem Zimmer. Ich holte meinen Kerzenstummel und hatte mich gerade neben Heloïses Korb gekniet, um ein wenig mit ihr zu reden (sie hatte schon geschlafen und duftete besonders gut nach warmem, sauberem Hund), als er wieder herauskam und einen Mantel über dem Nachthemd trug.

»Es ist alles in Ordnung«, rief ich. »Ich habe gefunden, was ich gesucht habe.«

In diesem Moment fiel oben an der Treppe die Tür zu, sodass die Küche im Dunkeln lag, bis auf das helle Quadrat vor dem Fenster. Ich tastete mich durch den Raum und stieß gegen den Tisch. Da nahm Stephen meinen Arm und führte mich bis zur Treppe.

»Den Rest schaffe ich allein«, sagte ich. Wir standen jetzt näher am Fenster, durch das das helle, unheimliche Mondlicht hereinfiel.

Er hielt noch immer meinen Arm. »Ich möchte Sie etwas fragen, Miss Cassandra«, begann er. »Ich möchte wissen, ob Sie jemals hungrig sind – ich meine, wenn nichts zu essen da ist.«

Normalerweise hätte ich geantwortet: »Natürlich bin ich das«, doch ich bemerkte, wie ernst und besorgt seine Stimme klang. Deshalb sagte ich:

»Meistens findet sich doch irgendetwas, oder? Sicher wäre es schöner, wenn wir Unmengen von leckerem Essen hätten, aber ich bekomme schon genug. Warum möchtest du das auf einmal wissen?«

Er erklärte, er habe wach gelegen und darüber nachgedacht, und er könne es nicht ertragen, mich hungern zu sehen.

»Wenn Sie jemals hungrig sind, lassen Sie es mich wissen«, bat er. »Ich werde dann etwas besorgen.«

Ich bedankte mich vielmals und erinnerte ihn daran, dass er uns allen mit seinem Lohn helfen würde.

»Ja, das ist immerhin etwas«, erwiderte er. »Aber sagen Sie mir Bescheid, wenn es nicht reicht. Gute Nacht, Miss Cassandra.«

Während ich nach oben ging, war ich froh, nicht zugegeben zu haben, dass ich eigentlich ständig großen Hunger verspürte. Da er schon Herricks Gedichte für mich stiehlt, würde er womöglich auch noch anfangen, Essen zu stehlen. Ein furchtbarer Gedanke, aber irgendwie auch tröstlich.

Gerade kam Vater aus dem Pförtnerhaus zurück. Er zeigte keinerlei Anzeichen verletzter Gefühle. Er erzählte, er habe sich vier Kapitel des Buches aufgespart, um sie im Bett zu lesen.

»Dazu braucht es viel Willenskraft«, fügte er hinzu.

Topaz wirkte ziemlich geknickt.

Rose lag im Dunkeln. Thomas hatte sich ihre Kerze ausgeliehen, um seine Hausaufgaben beenden zu können. Sie meinte, es mache ihr nichts aus – die Geschichte in ihrem Buch habe sich als so schön herausgestellt, dass sie es sowieso kaum ertragen könne.

Ich zündete meinen Kerzenstummel an und steckte ihn in das geschmolzene Wachs im Kerzenständer. Ich musste mich im Bett ganz tief ducken, damit ich genug Licht zum Schreiben hatte. Ich wollte gerade anfangen, als ich bemerkte, dass Rose sich umblickte, um sicherzugehen, dass ich die Tür zum Pufferstaat geschlossen hatte. Dann sagte sie:

»Ist dir etwas aufgefallen, als Miss Marcy erzählte, dass in Scoatney Hall wieder jemand einziehen wird? Ich dachte an den Anfang von Stolz und Vorurteil – wo Mrs Bennet sagt, ›dass Netherfield Park endlich vermietet ist‹. Und dann stattet Mr Bennet dem neuen, reichen Eigentümer einen Besuch ab.«

»Mr Bennet schuldete ihm auch keine Miete«, entgegnete ich.

»Vater würde sowieso nicht hingehen. Wie gern lebte ich doch in einem Roman von Jane Austen!«

Ich erwiderte, ich würde Charlotte Brontë bevorzugen.

»Was wäre am schönsten – Jane mit einer Spur Charlotte oder Charlotte mit einer Spur Jane?«

Normalerweise liebe ich solche Diskussionen, aber ich wollte mit meinem Tagebuch vorankommen, daher erwiderte ich nur: »Fünfzig Prozent von beiden wären genau das Richtige«, und begann eifrig zu schreiben. Jetzt ist es fast Mitternacht. Ich komme mir schon selbst wie eine Brontë vor, wenn ich beim Licht einer tropfenden Kerze und mit so tauben Fingern schreibe, dass ich den Bleistift kaum halten kann. Ich wünschte, Stephen hätte mich nicht ans Essen erinnert, denn seitdem habe ich Hunger. Was lächerlich ist, wo ich doch vor nicht einmal sechs Stunden ein frisches Ei zum Tee gegessen habe. Oje – mir ist gerade der Gedanke gekommen, dass Stephen vermutlich selbst hungrig ist! Wir führen wirklich einen schönen Haushalt!

Vielleicht kann ich noch ein paar Minuten Licht gewinnen, indem ich Streichhölzer als Dochte in das flüssige Wachs stecke. Manchmal funktioniert das.

Es hat nicht geklappt. Es war, als wollte man beim Licht eines Glühwürmchens schreiben. Aber der Mond hat sich inzwischen durch die Wolken gekämpft, und bei diesem Licht kann ich genug erkennen. Ich finde es sehr aufregend, bei Mondlicht zu schreiben.

Rose schläft – auf dem Rücken, den Mund weit geöffnet. Selbst so sieht sie hübsch aus. Ich hoffe, sie träumt etwas Schönes, von einem reichen, jungen Mann, der um ihre Hand anhält.

Ich selbst bin kein bisschen müde. Ich werde in Gedanken ein wenig mit Miss Blossom plaudern. Ihre stattliche Büste wirkt vor dem silbrigen Fenster noch größer als sonst. Ich habe sie gerade gefragt, ob sie glaubt, dass Rose und ich jemals etwas Aufregendes erleben werden, und ich hörte sie deutlich sagen: »Keine Ahnung, Schätzchen, aber deine Schwester würde sich gut machen, wenn sie je die Gelegenheit dazu bekäme!«

Ich werde mich bestimmt nicht gut machen.

Ich hätte noch die ganze Nacht weiterschreiben können, aber ich kann nicht richtig sehen und verschwende Papier, deshalb werde ich einfach nur nachdenken. Das scheint mir der einzige Luxus zu sein, den man umsonst bekommt.

III

Ich habe dieses Tagebuch gerade noch einmal von Anfang an gelesen. Ich stelle fest, dass ich meine Schnellschrift ganz gut lesen kann, selbst den Teil, den ich gestern Nacht im Mondlicht geschrieben habe. Es überrascht mich, wie viel ich geschrieben habe. Bei Geschichten brauche ich manchmal Stunden für eine einzige Seite, aber die Wahrheit scheint so schnell aus mir herauszufließen, wie ich sie nur niederschreiben kann. Doch Worte drücken nicht immer das Richtige aus – meine Worte zumindest. Kann man, wenn man sie liest, sich unsere Küche im Schein des Feuers vorstellen? Oder Belmotte Tower, wie er sich gegen die im Mondlicht silbern leuchtenden Wolken erhebt? Oder Stephen, der zugleich vornehm und demütig aussehen kann? (Es war sehr unfair von mir, zu sagen, dass sein Gesicht immer einen etwas dummen Eindruck macht.) Wenn ich ein Buch lese, lege ich all meine Vorstellungskraft hinein, sodass ich das Gefühl habe, es beim Lesen selbst zu schreiben – oder besser, es selbst zu erleben. Dadurch wird das Lesen sehr viel interessanter, aber wahrscheinlich versuchen das nicht viele Menschen.

Heute Nachmittag schreibe ich auf dem Dachboden, weil Topaz und Rose sich in der Küche so eifrig unterhalten. Sie haben eine Packung grüner Stofffarbe aufgestöbert – wir brauchten sie einmal, als ich in einer Schulaufführung eine Elfe spielte – und wollen ein paar alte Kleider färben. Ich möchte zwar keine Schriftstellerin werden, die nur in Abgeschiedenheit arbeiten kann – Jane Austen schrieb schließlich auch im Wohnzimmer und deckte ihre Arbeit einfach zu, wenn jemand sie besuchte (obwohl sie sicher nicht gerade erfreut über die Störung war). Aber ich bin noch keine richtige Jane Austen, und meine Toleranz hat ihre Grenzen. Außerdem möchte ich die Beschreibung der Burg in Ruhe angehen. Hier oben ist es zwar ziemlich kalt, aber ich trage meinen Mantel und meine Wollhandschuhe, bei denen inzwischen bis auf einen Daumen alle Finger fehlen. Und Ab, unser hübscher gelbbrauner Kater, wärmt mir den Bauch. Ich beuge mich über ihn, damit ich auf dem Rand der Zisterne schreiben kann. Sein richtiger Name ist Abelard, passend zu Heloïse (ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass Topaz die beiden Namen ausgesucht hat), aber er wird selten so genannt. Er hat ein recht angenehmes, aber nicht überschwängliches Wesen – so eine Zuwendung wie heute Nachmittag gönnt er mir nur selten.

Heute beginne ich mit Folgendem:

Wie wir die Burg entdeckten

Während Vater im Gefängnis saß, wohnten wir in einer Pension in London. Mutter wollte nicht mehr neben dem Nachbarn bleiben, der über den Zaun gesprungen war. Als Vater entlassen wurde, beschloss er, ein Haus auf dem Land zu kaufen. Ich glaube, dass wir zu der Zeit relativ wohlhabend waren, da sich Jakobs Kampf für ein so ungewöhnliches Buch hervorragend verkauft hatte und Vater mit seinen Lesungen sogar noch mehr verdient hatte. Außerdem hatte Mutter ein eigenes Einkommen.

Vater hielt Suffolk für eine geeignete Grafschaft. Also wohnten wir im Hotel in King’s Crypt und begaben uns jeden Tag auf Haussuche. Zu jener Zeit hatten wir noch ein Auto. Vater und Mutter saßen vorn, Rose, Thomas und ich hinten. Wir hatten viel Spaß, denn Vater war in prächtiger Stimmung – damals schien seine Seele weiß Gott frei von Pein und Trübsal zu sein. Allerdings war er allen Nachbarn gegenüber voreingenommen. Wir sahen in den Dörfern Dutzende schöner Häuser, doch er schloss sie von vornherein aus.

Es war ein milder, goldener Spätherbst. Mir gefielen die sanften Farben der Stoppelfelder und die dunstigen Rieselwiesen. Rose mag das flache Land nicht, aber ich schon – es lässt dem Himmel so viel Platz. An einem Abend mit einem wunderschönen Sonnenuntergang verirrten wir uns. Mutter hielt die Straßenkarte und behauptete immer wieder, das Land stehe auf dem Kopf. Und als sie die Karte dann richtig herum hielt, standen alle Straßennamen auf dem Kopf. Rose und ich lachten sehr darüber, wir fanden es toll, uns verirrt zu haben. Und Vater zeigte sich äußerst geduldig gegenüber Mutters Kartenlesekünsten.

Plötzlich entdeckten wir in der Ferne auf einem kleinen Hügel einen hohen, runden Turm. Sofort beschloss Vater, ihn zu erkunden, obwohl Mutter seine Begeisterung nicht teilte. Er war schwer zu finden, da die schmalen Straßen kurvenreich waren und Wälder und Dörfer ihn immer wieder verdeckten. Doch alle paar Minuten erhaschten wir einen Blick auf ihn, und Vater, Rose und ich wurden ganz aufgeregt. Mutter wandte immer wieder ein, dass Thomas zu spät ins Bett komme. Er schlief schon und wurde zwischen Rose und mir hin und her geworfen.

Schließlich gelangten wir an einen baufälligen Wegweiser, auf dem stand: Nur zum Belmotte Tower und zur Burg. Er wies einen schmalen, überwucherten Weg hinunter. Vater bog sofort ein. Wir krochen langsam vorwärts, wobei die Dornensträucher sich über den Wagen legten, als wollten sie uns zurückhalten. Ich weiß noch, dass ich an den Prinz dachte, der sich durch das Gestrüpp zu Dornröschen kämpfen muss. Die Hecken waren so hoch und der Weg krümmte sich so oft, dass wir immer nur ein paar Meter weit sehen konnten. Mutter sagte immer wieder, wir sollten umkehren, bevor wir womöglich stecken blieben, und die Burg sei wahrscheinlich noch kilometerweit entfernt. Doch dann kamen wir plötzlich an eine Lichtung und waren am Ziel – allerdings befanden wir uns nicht vor dem einsamen Turm auf dem Hügel, den wir gesucht hatten, sondern vor einer ziemlich großen Burg zu ebener Erde. Vater stieß einen Schrei aus, und im nächsten Moment waren wir aus dem Auto gesprungen und bestaunten das Gemäuer.

Wie schön und seltsam die Burg im Licht des frühen Abends aussah! Ich kann mich noch genau an diesen ersten Eindruck erinnern: die hohen grauen Steinmauern und Türme, die in den hellen gelben Himmel ragten. Das Spiegelbild der Burg, das sich uns quer durch den randvollen Burggraben entgegenstreckte. Die smaragdgrünen, im Wasser treibenden Algen. Kein Windhauch kräuselte die spiegelglatte Wasseroberfläche, kein einziges Geräusch war zu hören. Durch unsere aufgeregten Stimmen wirkte die Burg noch stiller.

Vater zeigte auf das Pförtnerhaus: Zwei runde Türme wurden auf halber Höhe durch einen Raum verbunden, dessen Fenster Mittelpfosten aus Stein aufwiesen. Rechts vom Pförtnerhaus standen nur noch ein paar zerfallende Mauern, doch links führte ein Stück hoher, mit Zinnen besetzter Mauer zu einem runden Eckturm. Die Brücke über dem Graben reichte bis vor die großen, mit Nägeln beschlagenen Eichentüren unter den Fenstern des Pförtnerzimmers. Eine kleine Tür, die in eine der größeren Türen eingelassen war, stand einen Spalt offen. Sobald Vater dies bemerkt hatte, rannte er darauf zu. Mutter sagte etwas von unbefugtem Zutritt und versuchte uns davon abzuhalten, ihm zu folgen. Doch schließlich ließ sie uns gehen, während sie bei Thomas blieb, der aufgewacht war und ein wenig weinte.

Wie gut ich mich daran erinnere, wie wir durch die Stille rannten, an den Geruch von feuchtem Stein und Algen, als wir über die Brücke liefen, und den spannenden Moment, bevor wir durch die kleine Tür eintraten! Drinnen fanden wir uns im kühlen, dunklen Torweg des Pförtnerhauses wieder. Hier konnte ich die Burg zum ersten Mal spüren – den Ort, an dem einem das große Gewicht der Steine ringsum am meisten bewusst wird. Ich war noch zu jung, um viel über Geschichte und Vergangenheit zu wissen. Für mich schien die Burg einem Märchen zu entstammen, und die unheimliche, schwere Kälte empfand ich als so magisch, dass ich mich an Rose klammerte. Gemeinsam rannten wir durch den Torweg ans Tageslicht und blieben dann wie angewurzelt stehen.

Anstelle der grauen Mauern und Türmchen, die wir erwartet hatten, erblickten wir zu unserer Linken ein langes, weiß verputztes Haus mit Ziegeln im Fischgrätenmuster und eingelassenem, wettergebleichtem Holz. Es war mit allen möglichen Gitterfenstern ausgestattet, die im Sonnenuntergang golden strahlten, und der Dachgiebel sah aus, als würde er jeden Moment nach vorn kippen. Dieses Haus stammte aus einem anderen Märchen – genauso stellte ich mir das Haus in Hänsel und Gretel vor. Einen Moment lang fürchtete ich, die Hexe hätte Vater geraubt. Doch dann entdeckte ich ihn. Er versuchte gerade, durch die Küchentür ins Haus zu gelangen. Er kam durch den überwucherten Garten im Hof zu uns zurück und rief uns zu, dass in der Nähe der Tür ein kleines Fenster offen stehe, und er würde Rose hindurchhelfen, damit sie uns hereinlassen könne. Ich war froh, dass er »Rose« sagte und nicht »Cassandra« – ich hätte mich gefürchtet, wenn ich nur eine Sekunde allein in das Haus gemusst hätte. Rose hatte nie vor etwas Angst. Sie kletterte bereits zum Fenster hinauf, bevor Vater zur Stelle war und sie hochhob. Und schon war sie auf der anderen Seite, und wir hörten, wie sie sich mit schweren Riegeln abmühte. Dann zog sie triumphierend die Tür auf.

In der quadratischen Diele war es kalt und dunkel, und es roch unangenehm nach Schimmel. Jedes Stückchen Holz war in einer tristen gelbbraunen Farbe gestrichen worden, um die Maserung des Holzes nachzuahmen.