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Wenn Gewalt unsichtbare Narben hinterlässt … Ihr erster Fall in Stuttgart bringt die Stralsunder Kommissarin Meike Masur an ihre Grenzen: Die Schauspielstudentin Katie liegt stranguliert in ihrer Wohnung – eine intime Form von Gewalt, doch es gibt keinen Hinweis auf den Täter. Ihre Ermittlungen führen Meike ans Set einer erfolgreichen Serie, in der Katies Rolle hart umkämpft schien. In der ersten Staffel war sie noch durch eine andere Studentin besetzt, die aber zu all dem schweigt. Hat es etwas mit dem Unidozenten zu tun, der angeblich für gefragte Rollen gewisse »Gefälligkeiten« erwartete? Bald verhärtet sich allerdings Meikes Verdacht, dass die Frauen gar nicht wissen, was mit ihnen geschah – und wer anzuklagen ist. Die Kommissarin muss einen Balanceakt wagen, auch mit dem zuständigen Staatsanwalt … Der fesselnde Auftakt der psychologischen Spannungsreihe um die ostdeutsche Kommissarin Meike Masur. Für Fans von Susanne Mischke und Romy Fölck.
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Seitenzahl: 422
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ihr erster Fall in Stuttgart bringt die Stralsunder Kommissarin Meike Masur an ihre Grenzen: Die Schauspielstudentin Katie liegt stranguliert in ihrer Wohnung – eine intime Form von Gewalt, doch es gibt keinen Hinweis auf den Täter. Ihre Ermittlungen führen Meike ans Set einer erfolgreichen Serie, in der Katies Rolle hart umkämpft schien. In der ersten Staffel war sie noch durch eine andere Studentin besetzt, die aber zu all dem schweigt. Hat es etwas mit dem Unidozenten zu tun, der angeblich für gefragte Rollen gewisse »Gefälligkeiten« erwartete? Bald verhärtet sich allerdings Meikes Verdacht, dass die Frauen gar nicht wissen, was mit ihnen geschah – und wer anzuklagen ist. Die Kommissarin muss einen Balanceakt wagen, auch mit dem zuständigen Staatsanwalt …
Originalausgabe August 2025
Copyright © der Originalausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Monia Pscherer
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/nino 21
eBook-Herstellung: IGP (rb)
ISBN 978-3-98952-795-9
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Britt Reißmann
Kriminalroman
dotbooks
Wenn ein Mensch uns zugleich Mitleid und Ehrfurcht einflößt,
dann ist seine Macht über uns grenzenlos.
Marie von Ebner-Eschenbach
Katie zitterte am ganzen Leib.
Fast wünschte sie, sie hätte es nie gesehen. Ihre Gedanken rasten durch die letzten Tage. Hier, vor dem Spiegel, hatte sie das neue Kleid anprobiert und überlegt, ob sie den Ausschnitt enger nähen sollte, damit man das Muttermal auf ihrer linken Brust, das sie schon seit Ewigkeiten hatte entfernen lassen wollen, nicht sah. Prompt kam die Bemerkung über das hübsche Muttermal auf ihrem süßen Busen. ›Schönheitsfleck‹ hatte er es genannt. Und wie er sich nach Mr. Cotton, ihrem Papagei, erkundigte, der zwei Tage lang das Fressen verweigert hatte. Seine Besorgnis freute sie so, dass sie überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, wann und in welchem Zusammenhang sie ihm davon erzählt hatte. Ihr Atem wurde flach und ihr brach der Schweiß aus, als ihr das ganze Ausmaß ihrer Entdeckung bewusst wurde.
Es klingelte an der Tür. Sie atmete tief durch und strich sich mit zitternden Händen das wirre Haar aus dem Gesicht, dann ging sie öffnen.
Er sah völlig arglos aus, freundlich wie immer, ein bisschen besorgt vielleicht.
»Komm rein«, sagte sie knapp und schloss die Tür hinter ihm.
»Aay, iss mich nicht!«, krächzte der Papagei in seiner Voliere.
»Was ist denn, Katie? Warum hast du angerufen, brauchst du Hilfe?«
»In der Tat«, zischte sie, mühsam um Beherrschung ringend. »Am besten die der Polizei. Ich glaube, du tickst nicht mehr ganz richtig!«
Seine freundlichen Augen blickten plötzlich argwöhnisch. »Aber was ist denn los mit dir? Was soll das?«, fragte er.
Katie bemühte sich, ruhig zu bleiben. Sie brachte keinen Ton heraus, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie trat nur zur Seite und gab den Blick auf das Wohnzimmer hinter ihr frei. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ein Beistelltisch war umgefallen, überall lagen Modezeitschriften herum. Das große Ölgemälde eines Papageien war von der Wand gefallen und lag nun auf dem Boden. Katie liebte Papageien und als er dieses Bild zufällig bei einem Trödler gesehen hatte, hatte er es gekauft und ihr zum Geburtstag geschenkt.
Katie folgte seinem Blick. »Es ist kaputt«, sagte sie tonlos.
»Das tut mir leid, vielleicht kann man es repa-«
Sie ließ ihn nicht ausreden, sondern gab ihm eine schallende Ohrfeige.
»Du weißt, wofür die ist. Wie hat er dich dazu gebracht? War es Geld? Hat er dich erpresst?«
»Sag mal, hast du den Verstand verloren? Wovon redest du eigentlich?«
»Davon, dass ich dich anzeigen werde und du dafür hinter Gittern landen wirst. Was du getan hast, ist eine Straftat, das müsstest du eigentlich wissen.«
Einige Sekunden lang standen sie sich stumm gegenüber.
»Das wirst du nicht tun«, sagte er schließlich leise und bedrohlich.
»Oh doch, das werde ich.« Sie versuchte, noch bedrohlicher zu klingen, aber ihr Herz schlug so heftig, dass sie kaum reden konnte.
Er kam ihr so nahe, dass sie seinen Atem riechen konnte. Er roch nach Döner oder irgendetwas mit viel Zwiebeln.
»Du bluffst doch nur.« Er kam noch einen Schritt näher.
»Das hättest du wohl gern.«
Er hob seine Hände und ihr fiel auf, dass sie in pinkfarbenen Haushaltshandschuhen steckten. Was zum Teufel war hier los?
Sie versuchte zurückzuweichen, aber hinter ihr war schon die Wand.
»Niemanden wirst du anzeigen und kein Sterbenswort wirst du sagen«, zischte er und legte ihr die Hände um den Hals. Katies Augen weiteten sich, als sie begriff, was er vorhatte.
Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, trat nach seinen Beinen, um ihn zu Fall zu bringen, erreichte aber nur, dass er sie noch fester hielt. Sie umklammerte seine Finger und wollte sie von ihrer Kehle wegziehen, aber er hatte viel mehr Kraft als sie. Die frische Wunde an ihrem Daumen schmerzte, als er ihre Hände gemeinsam mit seinen gegen ihren Kehlkopf presste. Sie rang nach Luft, röchelte. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Dann hörte sie nichts mehr.
Er hielt sie fest, bis sie schlaff und reglos in seinen Armen hing. Langsam ließ er sie zu Boden gleiten und beugte sich über sie. Er legte einen Finger an ihren Hals und hielt einige Sekunden lang inne. Dann richtete er sich auf und ging.
»Tote erzählen keine Geschichten«, krächzte der Papagei.
Die Hände in den pinkfarbenen Gummihandschuhen zogen leise die Wohnungstür ins Schloss.
Manchmal war das Nord-Süd-Gefälle einfach zu groß.
Meike Masur stand stirnrunzelnd in der Schlange beim Imbissstand im Stuttgarter Hauptbahnhof und rätselte, was der Herr vor ihr meinte, als er gerade a Bärle Soidawirschd und a Lkw mid a bissle Senf bestellte. Sie überlegte, ob man sie wohl verstehen würde, wenn sie zwei Brötchen haben wollte, alternativ sagte man im Norden auch noch Rundstück oder Semmel und in Berlin, wo ihre Mutter herkam, Schrippe. Mehr Vokabeln für das, was sie wollte, kannte sie nicht.
Es stellte sich heraus, dass die Verkäuferin nicht einmal diese vier Bezeichnungen kannte, zumindest zeigte sie sich leicht verunsichert.
»Moined Se zwoi Weggle?«, fragte sie misstrauisch.
Meike sah sich suchend um, vielleicht konnte sie mit dem Finger darauf zeigen. Aber in der Auslage sah sie nur viel zu fettige Croissants, Franzbrötchen, Kuchen und Muffins. Die Brötchen mussten irgendwo unterhalb des Ladentisches sein. Sie gab es auf, dankte auf Hochdeutsch und lief hinüber zum Nordsee-Restaurant, um sich ein Fischbrötchen zu holen, aber die war noch geschlossen. Verdammt! Als sie gerade zurück zur Bahn wollte, entdeckte sie den Discount-Bäcker am Aufgang zur Königstraße. Selbstbedienung, hurra! In der Auslage entdeckte sie ein Baguettebrötchen mit Backfisch. Ihr Tag war gerettet.
In der U7 in Richtung Pragsattel riskierte Meike einen ersten heimlichen Biss direkt aus der Papiertüte, was ihr einen grimmigen Blick eines Fahrgastes einbrachte, der sein Frühstück brav in der Tasche verstaute. Noch ein schneller Biss, dann steckte auch sie ihres beschämt ein. Es schmeckte fast so gut wie zu Hause. Den Rest würde sie im Büro essen, das sie sich mit ihrem Cousin Severin Scholl teilte, der konnte das ab. Er war es auch gewesen, der sie überredet hatte, nach Stuttgart zu kommen und dort bei der Mordkommission anzufangen. Immerhin hatte sie es daheim in Stralsund schon bis zur Hauptkommissarin gebracht. Severin hatte gesagt, dass Stuttgart händeringend Leute suche. Beim letzten gemeinsamen Weihnachten, das sie mit der Familie bei Severins Vater, Meikes Onkel, gefeiert hatten, war er tagelang damit beschäftigt gewesen, Überzeugungsarbeit zu leisten. »Was willst du denn hier in der Provinz?«, hatte er gefragt. »Hier passiert doch nichts. Willst du versauern, bis du pensioniert wirst? Oder vielleicht doch lieber ein paar spannende Mordfälle lösen?«
Leider hatte es in Meikes Leben tatsächlich an etwas Spannung gefehlt. Nach ihrer Scheidung im letzten Jahr hatte sie allein vor sich hingedümpelt. Ihr Sohn Julian war schon vor zwei Jahren ausgezogen. Sie hatte ihn bekommen, als sie gerade 20 war. Jetzt war er 19 und lebte mit seiner Freundin in einer WG. Seine Mutter war für ihn nicht mehr so wichtig. Für wen war sie überhaupt noch wichtig?
»Für uns!«, hatte Severin gesagt. »Wir brauchen so dringend Unterstützung. Seit Walter pensioniert wurde, kriechen wir auf dem Zahnfleisch. Thea ist noch im Babyurlaub und arbeitet nur stundenweise. Wenn jemand krank wird, können wir die weiße Fahne hissen.«
Zunächst hatte Meike lachend abgelehnt. Einen Fischkopp konnte man schließlich nicht einfach ins Schwabenland versetzen, die kulturellen Unterschiede waren zu groß. Aber in den folgenden Tagen erwischte sie sich immer wieder, wie sie diesen Neuanfang in Gedanken durchspielte. An ihrem Job in Stralsund hing Meike nicht sonderlich, auch weil ihr Chef ihr seit der Scheidung zweideutige Avancen machte, was ihr mehr als unangenehm war. Zudem passierte nicht viel in ihrer Kleinstadt, was sie wirklich gefordert hätte. Ihr Berufsalltag beschränkte sich zumeist auf Kneipenschlägereien, Treppenstürze und die Untersuchung unklarer Todesfälle, die sich schlussendlich als natürliche herausstellten. In einer Landeshauptstadt wie Stuttgart wäre die Arbeit für eine Polizistin sicherlich viel interessanter.
Also war Meike schließlich dem Ruf nach Süden gefolgt. Eigentlich fand sie ihre neue Heimatstadt ganz ansehnlich, einmal abgesehen von der Dauerbaustelle am Hauptbahnhof und vom völlig ruinierten Schlossgarten, der früher sehr schön gewesen sein sollte. Aber das Eingewöhnen gestaltete sich noch schwieriger, als sie es befürchtet hatte. Als Flachländerin fand sie das ständige Auf und Ab in der schwäbischen Landeshauptstadt anstrengend und die Enge im Talkessel bedrückte sie. Weit blicken konnte man eigentlich nur vom Fernsehturm. Am Wochenende hatte sie einen langen Spaziergang am Fuße der Weinberge am Max-Eyth-See gemacht, um ein wenig Wasser zu sehen. Das Meer vermisste sie am meisten.
Das Wetter war erstaunlich stabil für Anfang April. Bereits seit Tagen schien die Sonne, als wollte sich Stuttgart seiner neuen Einwohnerin von seiner besten Seite präsentieren. Ich werde mich schon noch hier einleben, dachte Meike mit einem sehnsüchtigen Blick auf ihre Fischbrötchentüte. Bin ja erst seit drei Wochen im Dienst. Jeder Frühling ist ein neuer Anfang. Und diese merkwürdige Sprache werde ich schon noch lernen. Ich werde sie wahrscheinlich nie aussprechen können, sie zu verstehen, muss erst mal reichen.
Sie platzte mitten in die Frühbesprechung, was ihr peinlich war.
»Tschuldigung, ich habe gefühlt Stunden gebraucht, bis ich es geschafft hatte, ein Frühstück zu kaufen. Bietet eure Weiterbildung eigentlich auch Schwäbisch-Sprachkurse an?«
»Wir haben eine Kantine im Präsidium«, entgegnete Rudolf Joost, ihr Chef, augenzwinkernd. »Die verstehen dort so ziemlich alle Sprachen.«
»Da unten braucht man aber noch länger, um ein Frühstück zu kaufen«, sprang Severin für Meike in die Bresche. »Die Schlange reicht morgens um acht bis zur Poststelle und wenn du endlich dran bist, gibt’s nichts Vernünftiges mehr.«
Als Severin vor Jahren zum Dezernat gekommen war, hatte Joost ihn zu Beginn versehentlich einmal ›Severus‹ genannt. Natürlich hatten sich die Kollegen sofort auf diesen Versprecher gestürzt und seitdem war Severin im Dezernat als ›Snape‹ bekannt. Meike, durch ihren Sohn selbst bekennender Harry-Potter-Fan, hatte sich darüber köstlich amüsiert und wenn sie ihren Cousin ärgern wollte, nannte sie ihn beim Namen des Zaubertranklehrers aus Hogwarts.
An ihre gemeinsame Kindheit mit Severin hatte sie nur wenige Erinnerungen. Er war bald nach der Wende mit seiner Familie nach Stuttgart gezogen. Seitdem hatten sie sich nur bei gemeinsamen Festen getroffen.
Aber eine gewisse Familienähnlichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Die blonden Naturlocken hatten sie beide, nur dass sie bei Severin kürzer waren. Meike trug sie schulterlang, wenn auch oft zu einem Zopf gebunden. Und sie hatten beide ostseeblaue Augen. Echte Fischköppe eben.
Ansonsten hatten sie nicht viel gemeinsam. Severins Gesicht war kantig und seine Lippen schmal, während Meike volle Wangen und einen richtigen Kussmund hatte, wie ihre Mutter immer behauptete. Meike schminkte ihn nicht, um in ihrem Job nicht ›aufreizend‹ zu wirken. Ihr Make-up beschränkte sich auf einen dünnen Lidstrich und einen Hauch Wimperntusche, damit sie morgens nicht so verpennt aussah.
»Was hab ich verpasst?«, fragte Meike und griff dankbar nach der vollen Kaffeetasse, die Severin ihr hinüberschob. Eine Möwe im Matrosenanzug war darauf zu sehen, aus deren Schnabel eine Sprechblase mit dem Wort ›Moin!‹ kam. Ihr Cousin hatte ihr die Tasse zum Einstand geschenkt, gegen das Heimweh, wie er sagte. Eigentlich wurde es jedoch beim Anblick der Tasse nur schlimmer.
Meike nahm einen Schluck und stellte dann die Tasse auf den Tisch. »Gibt es irgendwas Spannendes?«, fragte sie in die Runde.
»In der Tat.« Joost drehte seinen Kugelschreiber in den Händen, die sonst gern ein Zigarillo drehten, aber seit einigen Jahren war das Rauchen in Behörden verboten.
»Roman und Verena waren heute Nacht schon unterwegs. Eine junge Frau, Katarina Swoboda, wurde von ihrem Nachbarn in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Würgemale am Hals deuten auf Gewalteinwirkung hin. Aber noch haben wir nicht viel. Nur die Aussage eines Nachbarn, aber der war so durch den Wind, dass wir irgendwann abbrechen mussten. Den sollten wir noch mal förmlich vernehmen. Er ist heute Vormittag zu Hause. Arbeitet Schicht bei Daimler.«
»Ist sonst noch was über ihn bekannt? Habt ihr ihn schon in den Datensystemen überprüft?«
»Nur ein Eintrag. Sie haben ihn mal am Hauptbahnhof geschnappt. Betäubungsmittelgesetz. Er hat Bewährung gekriegt. Keine Gewaltdelikte.«
Meikes Handflächen kribbelten. Gerade drei Wochen im Dezernat und schon ein Mordfall! Davon hätte sie in ihrem verschlafenen Stralsund nicht einmal zu träumen gewagt.
»Ich hatte schon ewig keine Mordermittlung mehr«, gestand sie.
Joost schmunzelte. »Na, dann wird es doch Zeit. Ich hatte mir tatsächlich überlegt, dass du die Leitung der Ermittlungen übernehmen könntest. Ich weiß, das ist ein bisschen wie ein Wurf ins kalte Wasser, aber Roman ist noch mit der Messerstecherei auf dem Wasen beschäftigt und Verena mit dem Totschlag in der Drogenszene. Thea ist nur halbtags da wegen dem Baby. Snape hat noch einige Leichensachen rauszuschreiben, könnte dich aber unterstützen. Na, was sagst du? Feuerprobe angenommen?«
Meike sagte zunächst nichts. Da war natürlich Freude, sogar große Freude darüber, dass ihr Chef ihr schon zutraute, die Leitung in einem Mordfall zu übernehmen, ihr, dem Landei von der Ostsee. Aber auch Sorge, ob sie dem bereits gewachsen war. Ihr letztes Tötungsdelikt war schon mehr als drei Jahre her, eine gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge im Säufermilieu. Der Täter war binnen weniger Stunden ermittelt und festgenommen worden. Er lag zu Hause im Bett und schlief seinen Rausch aus. Nein, man konnte nicht behaupten, dass Meikes kriminalistischer Spürsinn in den letzten Jahren übermäßig gefordert gewesen wäre.
»Was ist denn bis jetzt bekannt?«, fragte sie.
»Das können Roman und Verena erzählen, die waren ja die ganze Nacht in der Wohnung.«
»Und sind jetzt todmüde und haben Augenringe wie Scheuerlappen«, ergänzte Roman Katz. »Ich hab das Gefühl, über Nacht ergraut zu sein.« Was definitiv nicht stimmte. Sein Haar war dunkel, noch dunkler als das seiner Ermittlungspartnerin Verena, und um ein paar Silberfäden erkennen zu können, musste man ganz nahe an ihn herantreten.
»Also, der Nachbar heißt Tim Kramer, ist 27 und hat gestern Abend zwischen acht und neun Lärm aus der Wohnung von Frau Swoboda gehört, die nebenan allein lebte. Die beiden wohnten buchstäblich Wand an Wand. Sie hatte wohl Besuch und er hat Streit mitbekommen, ohne genau zu verstehen, was gesprochen wurde. Schließlich sei die Wohnungstür ins Schloss gefallen und er hätte Schritte gehört, die die Treppe herunterpolterten, sagt er. In der Nachbarwohnung war es danach ruhig und er hat sich an den Rechner gesetzt, um ein bisschen zu zocken. Er sagt aber, er konnte sich nicht konzentrieren, weil er ein komisches Gefühl hatte. Normalerweise hört er abends Musik aus der Wohnung seiner Nachbarin oder den Fernseher. Die Wände sind dünn. Irgendwann nach Mitternacht hat er beschlossen, rüberzugehen und nach dem Rechten zu sehen. Er hat einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung, den er aber nur benutzt, wenn es mit ihr abgesprochen ist. Zum Blumengießen, wenn sie in Urlaub ist oder so. Da er sich aber Sorgen machte, hat er ihn trotzdem benutzt. Und hat sie tot im Zimmer gefunden. Dann hat er die Polizei gerufen. Wir haben den Tatort gesichert und den Leichnam ins Robert Bosch Krankenhaus gebracht, wo er heute obduziert wird. Die Spurensicherung müsste jetzt noch vor Ort sein.«
»Wie wurde sie getötet?«
»Sie hatte Würgemale am Hals und Einblutungen in den Augen.«
»Also eine Beziehungstat?«
»Möglich. Aber nicht notwendigerweise. Wir müssen in alle Richtungen offen sein.«
»Hatte sie denn einen Partner?«
»Dazu konnte Kramer nichts sagen. Ihm ist nichts bekannt. Aber das kannst du ja selbst in Erfahrung bringen.«
»Wir brauchen nur noch einen Ermittlungspartner für dich, Meike, jemanden, der mit dir zum Tatort fährt. Wie weit bist du mit den Leichenmeldungen, Snape?«, fragte Joost.
»Ist schon alles diktiert. Muss nur noch abgetippt werden. Und jemand muss es nachher zur Staatsanwaltschaft bringen oder in die Post legen. Ich bin also frei für neue Schandtaten.« Severin streckte den Daumen in die Höhe.
»Das kann ich machen«, sagte Thea Engel. »Ich bin ja bis Mittag da, muss die Kleine erst um zwei abholen. Fahr du ruhig mit Meike zum Tatort.«
Meike sah in Thea eine etwas jüngere Version ihrer selbst, die sie an ihre ersten Jahre bei der Stralsunder Polizei erinnerte. Julian war damals noch klein gewesen und Meike hatte ständig das Gefühl gehabt, sich zweiteilen zu müssen, um sowohl dem Beruf als auch ihrem Sohn gerecht zu werden. Auch Thea war im letzten Jahr Mutter geworden. Mit ihrem ehemaligen Ermittlungspartner und dem Vater ihrer Tochter, Michael Messmer, lebte sie inzwischen zusammen. Er arbeitete jetzt im Dezernat für Sexualdelikte. Thea hatte ihr von dem Dilemma erzählt, in dem sie seit ihrer Mutterschaft steckte: Sie liebte ihre Tochter, aber sie liebte auch ihre Arbeit und hatte ständig ein schlechtes Gewissen, entweder das eine oder das andere zu vernachlässigen.
»Könnte sie nicht auch mal ein paar Stunden länger bei deiner Mutter bleiben?«, fragte Verena Sander vorsichtig.
»Hin und wieder denke ich tatsächlich darüber nach«, antwortete Thea. »Aber ich habe mir das Kind nicht gewünscht, um es ständig abzugeben. Ich hab meine Mutter entbehren müssen, bis ich erwachsen war, und nie ein wirklich enges Verhältnis zu ihr entwickeln können. Du weißt doch auch, wie das ist, nur aus der anderen Perspektive.« Sie biss sich auf die Lippen und Verena wurde rot.
Mütter bei der Polizei müssen sich ständig entscheiden, dachte Meike. Am besten wäre es, in diesem Beruf keine Kinder zu haben. Aber ein Leben ohne Kinder konnte sie sich nicht vorstellen.
»Wir kriegen das schon hin. Meike und Snape, ihr befragt zuerst mal den Nachbarn, der die Tote gefunden hat, und fahrt dann zur Obduktion ins Robert Bosch Krankenhaus. Die ist um elf, das müsstet ihr schaffen.« Joost schob Meike den Aktenumschlag mit den dürftigen Ermittlungsunterlagen über den Tisch. Sie schlug ihn auf und sah das ausgedruckte Tatortfoto. Das Mädchen lag auf dem Rücken, ihr langes schwarzes Haar breitete sich auf einem weinroten Teppich aus. Ihre Haut war blass. Meike kam Schneewittchen in den Sinn. Auf dem weißen Hals waren deutliche Würgemale zu erkennen. Schöne Frauen leben gefährlich, dachte sie und klappte den Umschlag wieder zu.
»Thea kann sich im Dezernat um das Tagesgeschäft kümmern und die anderen unterstützen Meike bei den Außenterminen, soweit das möglich ist«, sagte Joost. »Vielleicht haben wir den Täter ja morgen schon in Gewahrsam und können zur Tagesordnung übergehen.«
»Fantastisch, dann könnte ich nächste Woche guten Gewissens meinen Urlaub antreten«, freute sich Roman Katz.
»Ach, du lieber Gott, der steht ja auch noch an!« Joost seufzte. »Die Osterferien hätte ich beinahe vergessen. Seit meine Kinder aus der Schule sind, hab ich so was nicht mehr auf dem Schirm.«
»Deshalb haben wir dir ja den Osterstrauß direkt vor die Nase gestellt.« Thea wies auf den Keramikkrug mit den Kirschblütenzweigen und Weidenkätzchen, der mitten auf dem Besprechungstisch stand. Ausgeblasene Eier waren mit grünem Schleifenband daran befestigt, von Verenas Tochter höchstpersönlich bemalt.
»Eins zu null für dich«, seufzte Joost. »Also, dann seht zu, dass der Fall bis zu Romans Urlaub gelöst ist, damit ihn am Strand auf Malle nicht das schlechte Gewissen zwickt.«
»Ich fühl mich gar nicht unter Druck gesetzt«, murmelte Meike. »Nein, ganz und gar nicht.«
Tim Kramer wohnte in der Hölderlinstraße, in einer ruhigen Wohngegend unweit der Russischen Kirche. Das ockerfarben verputzte Haus war ein Altbau, in dessen Erdgeschoss sich eine Bäckerei befand. Neben dem Eingang zum Ladengeschäft führte eine Tür ins Treppenhaus. Es war eng und verwinkelt, mit durchgetretenen Holzstufen. Im Hochparterre des Hauses befand sich eine Wohnung, auf deren Eingangstür der Name ›Autenrieth‹ stand. Meike klingelte, woraufhin aus der Wohnung Hundegebell zu hören war. Sie warteten eine Weile, aber niemand öffnete.
»Herrchen und Frauchen sind wohl bei der Arbeit«, rekapitulierte Severin. »Die nehmen wir uns später noch vor. Das arme Hundchen ist allein zu Haus.«
An der zweiten Wohnung auf dieser Etage war das Klingelschild leer und auch hier hatten sie keinen Erfolg.
»Ist auch ’ne blöde Tageszeit für Nachbarschaftsbefragungen«, sagte Meike. »Jedenfalls, wenn man nicht gerade Schicht arbeitet wie unser Hauptzeuge.«
Auf dem obersten Treppenabsatz, wo Tim Kramer wohnte, stand ein Putzschrank, in dem offenbar die Utensilien für die Kehrwoche aufbewahrt wurden. Darauf ließen ein Schild am Türgriff und der Wischmopp, der an der Schrankseite lehnte, schließen. Sonst stand dort nur noch ein Blumenhocker mit einer trockenen Grünpflanze, die nach Wasser lechzte. An der Wohnungstür gegenüber klebte ein Polizeisiegel. Die Kriminaltechnik war offenbar nicht mehr vor Ort.
Tim Kramer empfing Meike und ihren Cousin mit wirrem, milchkaffeebraunem Haar und ängstlichen Augen hinter einer Brille mit runden Gläsern, die dringend einmal geputzt werden mussten. Er schlurfte barfuß vor ihnen her in sein Wohnzimmer und ließ sich auf das Sofa fallen, in dem er sofort etwa dreißig Zentimeter versank. Nachdem er wieder halbwegs aufrecht saß, wies er mit schmutzigen Fingern auf zwei durchgesessene Sessel auf der gegenüberliegenden Seite des niedrigen Holztisches. Meike setzte sich vorsichtig. Severin blieb stehen.
»Ich habe überhaupt nicht geschlafen«, sagte Kramer.
»Kann ich mir vorstellen«, antwortete Meike. »Das muss ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Wie lange wohnen Sie denn schon neben Frau Swoboda und wie ist Ihr Verhältnis?«
»Ungefähr ein Jahr. Also, ich hab schon hier gewohnt, als sie einzog. Ihre Eltern hatten die Wohnung für sie gemietet, weil sie hier ein Studium angefangen hatte, wissen Sie? Ist nur so ’ne kleine Anderthalbzimmerwohnung wie meine auch. Ich hab ihr ein bisschen beim Einzug geholfen, Möbel hochtragen, Schränke aufbauen und so.«
»Sie sind also befreundet?«
»Ich würde es eher ein Nachbarschaftsverhältnis nennen.«
»Sahen Sie sich regelmäßig?«
Kramer zögerte. »Was heißt regelmäßig? Ich bin manchmal mit ihr einkaufen gefahren, weil sie kein Auto hat. Damit sie keine schweren Flaschen schleppen muss und so. Und wenn sie unterwegs war, hab ich mich um ihre Pflanzen und den Papagei gekümmert.«
»Sie hat einen Papagei?« Es war Meikes Kindheitstraum gewesen, einen Papagei zu besitzen, aber ihre Eltern meinten, der sei zu teuer, würde zu viel Platz brauchen und sie außerdem alle überleben.
»Ja, Mr. Cotton. Sie ist – also, sie stand – total auf Fluch der Karibik«, fügte Kramer hinzu, als er Meikes fragenden Gesichtsausdruck sah.
»Das ist der stumme Matrose mit der herausgeschnittenen Zunge, der seinen Papagei für sich reden lässt«, erklärte Severin.
»Ich weiß, wer Mr. Cotton ist«, sagte Meike. »Hab die Filme mindestens fünfmal gesehen. Alle.« Die Erinnerung an Heimkinoabende mit ihrem Sohn Julian stieg vor ihrem inneren Auge auf. Mit Popcorn und Cola auf der Couch, sich ausschüttend vor Lachen. Warum wurden Kinder nur so schnell groß und gingen ihre eigenen Wege?
»Ja, genau.« Kramer fuhr sich durch die strubbeligen Haare. Falls er die Absicht hatte, sie dabei zu glätten, blieb das erfolglos. »Katie hat dem Vogel sogar Filmzitate beigebracht. Also die Originalzitate, die der Papagei im Film sagt. Echt witzig.«
»Katie ist Frau Swoboda?«
»Ja, eigentlich heißt sie Katarina, aber ihre Freunde nennen sie nur ›Katie‹.«
»Dann war Ihr Verhältnis also doch mehr als nur nachbarschaftlich?«, hakte Meike nach.
»Wieso?« Fühlte Kramer sich etwa ertappt?
»Na, wenn alle ihre Freunde sie ›Katie‹ nennen, und Sie nennen sie auch so, liegt es doch nahe, dass Sie beide auch befreundet waren«, mischte sich nun auch Severin ins Gespräch ein.
»Sagen wir, es war eine nachbarschaftliche Freundschaft. Oder eine freundschaftliche Nachbarschaft. Wie Sie wollen.«
»Dann können Sie uns ja sicher einiges über Katie erzählen.« Meike versuchte, in dem durchgesessenen Sessel eine einigermaßen bequeme Sitzposition zu finden, sank aber nur noch ein Stück tiefer in das Möbelstück. »Wie war sie denn so als Mensch und was hat sie studiert?«
Kramer fingerte eine Pall Mall aus der zerknautschten Schachtel, die auf dem Tisch lag, und zündete sie an. Er nahm einen tiefen Zug, dann hielt er Meike und Severin die Schachtel hin. Beide schüttelten den Kopf.
»Also, sie war Schauspielstudentin. Hier in Stuttgart, an einer privaten Schauspielschule. Sie ist dort im ersten Studienjahr, scheint aber ganz gut gewesen zu sein. Die proben gerade für eine öffentliche Schulveranstaltung, Romeo und Julia. Und Katie darf die Julia spielen. Im ersten Jahr! Also – jetzt kann sie sie natürlich nicht mehr spielen. Blöde Ironie des Schicksals, dass sie auch gestorben ist. Wie die Julia.«
»Wie kommen Sie darauf, dass Katie wie Julia starb?«, fragte Severin. »Wurde sie denn vergiftet?«
Meike sah ihn überrascht an. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr Cousin sich mit Shakespeare auskannte. Bisher hatte sie ihn immer nur als Fan von schnellen Motorrädern und Formel-1-Rennen erlebt.
»Ich habe keine Ahnung, wie sie starb.« Kramers Stimme zitterte jetzt. »Das muss die Polizei rausfinden. Ich hab gar nicht so genau hingeguckt. Als ich merkte, dass sie tot ist, bin ich wieder ganz schnell raus aus der Wohnung.«
»Woran haben Sie denn gemerkt, dass sie tot ist?«
»Na, weil sie nicht mehr atmete, Mann!« Kramer schrie jetzt fast. »Sie reagierte auf gar nichts mehr. Und atmete nicht. Da ist man doch normalerweise tot, oder?«
»Haben Sie sie angefasst?«
Kramer überlegte kurz. »Ich weiß es nicht mehr«, sagte er schließlich. »Vielleicht hab ich nach ihrem Puls gefühlt. Aber ich weiß es echt nicht mehr.«
»Was hat sie denn sonst noch gemacht, wenn sie nicht gerade für das Shakespeare-Stück geprobt hat?«, fragte Meike.
»Sie hatte noch eine andere Hauptrolle. Aber das war nur eine Sprechrolle, dafür aber beim Film. Kennen Sie die Serie Der Schwur der Blutsgeschwister?«
Meike und ihr Cousin verneinten.
»Eine Zeichentrickserie, Fantasy. Die lief bei Netflix. Jetzt ist gerade die zweite Staffel in Arbeit.«
»Und wo wird die produziert?« Meike warf einen prüfenden Blick auf ihr Diktiergerät und stellte erleichtert fest, dass es noch lief. Das Ding hatte ab und zu einen Aussetzer und blieb einfach stehen, wenn man nicht aufpasste.
»O Gott, wie heißt der Laden noch mal? Irgendwas mit Media. Ein Name – wahrscheinlich der des Produzenten – und Media.« Kramer zog sein Handy aus der Hosentasche, rief Google auf und tippte auf dem Display herum. »Jetzt hab ich’s: Weselka Media. Ist hier in Stuttgart, in der Innenstadt.«
Meike schaute auf Kramers Handydisplay und notierte sich die Adresse. »Jetzt erzählen Sie uns bitte noch mal detailliert von vorn, was Sie gestern Abend mitbekommen haben.«
Kramer drückte seine Zigarettenkippe in einem Aschenbecher aus, der die Form eines Totenkopfes hatte, und zündete sich gleich eine zweite Zigarette an. Seine Hand, in der er das Feuerzeug hielt, zitterte.
»Also, Katie kam so gegen halb acht nach Hause. Ich hörte, wie sie ›Warst du brav, Mr. Cotton?‹ fragte und der Papagei ›Aay, aay!‹ antwortete. Das ist ein Ritual, das höre ich immer, wenn sie heimkommt.«
»So deutlich konnten Sie das hören?«
»Die Wände sind dünn. Deshalb sind diese Wohnungen ja so günstig. Katie hantierte dann in der Küche, jedenfalls klapperte Geschirr, ich schätze, sie hat sich was zu essen gemacht. Ein bisschen später, also ungefähr eine viertel oder halbe Stunde später, hat’s bei ihr geklingelt und sie hat aufgemacht. Ich hab gehört, wie sie ›Was willst du?‹ fragte. Also in so einem abfälligen Ton, als wäre sie ganz und gar nicht erfreut über den Besuch. Und dann gab’s noch einen Rums, so als ob jemand Katie in die Wohnung stößt und dabei der Kleiderständer umfällt. Das hab ich in dem Moment aber nicht so zugeordnet, ich dachte einfach, ihr ist was runtergefallen. Ich hab erst später gesehen, dass der Kleiderständer am Boden lag, als ich Katie gefunden habe.« Kramer nahm einen tiefen Zug und starrte vor sich hin.
»Und dann?«, half Meike nach.
»Ich hab ’ne ganze Weile nur Gemurmel gehört, die müssen sich leise unterhalten haben, da hab ich keinen Zusammenhang verstanden. Nur ein paar Wortfetzen.«
»Können Sie sich an die Wortfetzen erinnern?«
Kramer schüttelte den Kopf. »Hab ich mir nicht gemerkt. Wenn man keinen Zusammenhang kapiert, ist das gleich wieder weg.«
»War die zweite Stimme männlich oder weiblich?«, fragte Severin.
Kramer überlegte. »Eher männlich. Irgendwann sagte Katie lauter: ›Was meinst du, wie viele Klicks ich generiere, wenn ich das auf Insta teile.‹ Dann gab es nur noch so ein Geklirr, wie als wenn man mit Gläsern anstößt oder so. Ich dachte, vielleicht trinken sie jetzt was und haben angestoßen auf die Klicks bei Insta. Dann war ’ne ganze Weile Ruhe. Und schließlich klappte die Wohnungstür zu und Mr. Cotton rief ›Alle Mann von Bord!‹ und ich hab Schritte auf der Treppe gehört. Ziemlich schnelle Schritte, die abwärts liefen. Das war’s.«
»Und Sie haben zu diesem Zeitpunkt noch keinen Verdacht geschöpft, dass etwas passiert sein könnte?«
Kramer schüttelte den Kopf und klopfte die Asche von seiner Zigarette. »Ich hab schon so was wie ein Handgemenge gehört und dann gab’s ja auch diesen Knall, aber danach haben sie sich ja noch unterhalten, also konnte Katie da noch nicht tot gewesen sein.«
»Und warum sind Sie dann später doch zu ihr rübergegangen?«
»Weil es die ganze Zeit so ungewöhnlich ruhig war. Das ist nicht normal. Wenn Katie zu Hause ist, hört sie Musik oder macht den Fernseher an oder unterhält sich mit Mr. Cotton. Manchmal übt sie auch für irgendwelche Rollen und dabei kann es ganz schön laut werden. Ich höre sie eigentlich immer, wenn sie da ist. Aber an dem Abend war es wirklich totenstill drüben. Und ich bin mir sicher, dass sie die Wohnung nicht verlassen hat. Die Schritte auf der Treppe, die waren nur von einer Person.«
»Aber warum sind Sie erst spät in der Nacht zu ihr rübergegangen?«
»Weil wir ausgemacht hatten, dass ich nur in ihre Wohnung gehe, wenn das mit ihr abgesprochen ist. Das hab ich ihr in die Hand versprechen müssen. Ich hab also noch ’ne Weile Call of duty gezockt, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. So gegen elf hab ich sie auf dem Handy angerufen, aber es ging niemand ran. Sie musste doch aber in der Wohnung sein! Da bin ich langsam panisch geworden. Auf mein Klopfen an die Wand gab’s auch keine Reaktion. Ich hab versucht, mir einzureden, dass ich mich geirrt hatte und Katie vielleicht doch mit dem Typen weggegangen ist. Oder dass sie wahrscheinlich schon pennt. Und dann hab mich auch hingelegt. Aber ich konnte ums Verrecken nicht einschlafen. Also hab ich mich irgendwann nachts wieder angezogen, hab den Schlüssel genommen und bin zu ihr rüber. Zuerst hab ich noch mal an die Tür geklopft, mehrmals sogar. Als ich da immer noch nichts gehört habe, hab ich aufgeschlossen. Und den Rest kennen Sie.«
Meike musterte den jungen Mann, der ihr gegenübersaß, nachdenklich. Die müden braunen Augen hinter den verschmierten Brillengläsern, das strubbelige Haar, den zerschlissenen Jogginganzug und die vom Nikotin verfärbten, gelben Finger. Er sagte, er habe Katie tot in ihrer Wohnung gefunden. Sagte er die Wahrheit? War Katie wirklich schon tot gewesen oder war Tim Kramer derjenige, der sie zuletzt lebend gesehen hatte? Er schien aufrichtig traurig zu sein und wirkte betroffen.
»Gibt es jemanden, der Katie regelmäßig besucht hat?«, fragte sie. »Oder ist Ihnen jemand aufgefallen, der in letzter Zeit öfter bei ihr war?«
Kramer schüttelte traurig den Kopf. »Sie hatte ihre Kontakte eher außerhalb. An der Schauspielschule und in diesem Filmstudio. In dieser Blase hing sie regelmäßig ab. Aber die Leute kamen eigentlich nie zu ihr nach Hause. Sie war meistens allein, nur in Gesellschaft von Mr. Cotton.«
»Gibt es außer Ihnen sonst noch jemanden im Haus, der etwas bemerkt haben könnte?«
»Ganz unten ist eine Bäckerei, das haben Sie ja sicher gesehen. Die haben aber heute Ruhetag, glaube ich jedenfalls. Über dem Laden, also direkt unter mir, wohnt Frau Autenrieth mit ihrem Dackel Herkules, die ist um diese Zeit aber normalerweise auf der Arbeit. Sie arbeitet in so ’nem Supermarkt an der Kasse, ich weiß aber nicht, in welchem. Die andere Wohnung steht leer, der Mieter ist vor zwei Wochen ausgezogen.«
Meike nickte. »Wir brauchen noch ein paar Körperzellen von Ihnen, um die Spuren in Katies Wohnung mit Ihrer DNA vergleichen zu können. Da Sie einen Schlüssel von ihr haben, müsste es drüben haufenweise Spuren von Ihnen geben. Einverstanden?«
»Okay«, sagte Kramer nicht gerade begeistert.
»Wenn wir Sie als Täter ausschließen können, wird Ihre Probe nach Abschluss des Verfahrens sofort wieder vernichtet. Sie sind ja nur ein Zeuge.« Meike legte ihm eine Einverständniserklärung auf den Tisch. »Wenn Sie bitte unterschreiben würden.«
Kramer unterschrieb in kleinen, unscheinbaren Buchstaben. Severin zog ein Speichelprobenentnahmeset aus der Tasche und schraubte es auf. »Mal kurz den Mund aufsperren, bitte.«
Während Severin die Speichelprobe entnahm, schaute Meike sich unauffällig im Zimmer um. Es wurde dominiert von einem gigantischen Fernsehapparat, an den eine Spielkonsole angeschlossen war. Daneben stand ein kleiner Schreibtisch mit einem Computer. Auf einem Beistelltisch lagen ein paar Gaming-Zeitschriften und ein Playboy. Durch eine offene Zimmertür konnte Meike einen Blick in eine unaufgeräumte Küche erhaschen, wo auf einem verbreiterten Fensterbrett, das nach Südwesten ausgerichtet war, drei große Blumentöpfe standen. Die Pflanzen darin kamen ihr bekannt vor.
»Es sind nur drei«, sagte Kramer schnell, der ihrem Blick gefolgt war. »Drei Stück pro Haushalt sind erlaubt.«
»Wir sind nicht hier, um Ihre Cannabispflanzen zu zählen, Herr Kramer«, sagte Meike. »Wir haben hier wahrlich ein größeres Problem. Machen Sie sich locker.«
»Okay, das war’s dann erst mal«, sagte ihr Cousin und verstaute Kramers Speichelprobe. »Halten Sie sich bereit. Falls wir noch Fragen haben, melden wir uns bei Ihnen.«
»Darf ich mich auch bei Ihnen melden, wenn ich Fragen habe?« Kramer stemmte sich vom Sofa hoch und lief voraus zur Tür.
»Was für Fragen haben Sie denn?«, sagte Severin erstaunt.
»Wer macht so was?«, brach es aus Kramer heraus. »Wer bringt so ein harmloses junges Mädchen um? Sie hat doch niemandem was getan!«
Die Antwort auf diese Frage hätte Meike selbst gern gewusst. Sie hob nur bedauernd die Schultern und reichte Kramer eine Visitenkarte.
»Würden Sie der Nachbarin, die unter Ihnen wohnt, bitte sagen, dass sie sich schnellstmöglich bei uns melden soll?«
Kramer nickte und steckte die Visitenkarte ein.
Die Bäckerei im Erdgeschoss war wie erwartet geschlossen. Meike spähte durch die Glastür in den Verkaufsraum, konnte aber niemanden sehen, auch die Auslagen unter dem Ladentisch waren leer. Nur ein paar vermutlich steinharte Seelen und Laugenbrezeln lagen als Deko im Schaufenster.
»Das können wir vergessen«, sagte Severin, der den Aushang mit den Öffnungszeiten studierte. »Das ist nur ’ne kleine Filiale, die von einer Großbäckerei beliefert wird. Hier steht niemand morgens um drei Uhr in der Backstube und schiebt Brote in den Ofen.«
»Dann hoffen wir mal, dass wir vielleicht von Frau Autenrieth noch etwas Brauchbares erfahren. Schade, dass wir den Dackel nicht vernehmen können, Hunde haben ein außergewöhnlich gutes Gehör.«
»Findest du ihn glaubwürdig?«, fragte Meike, als ihr Cousin den Dienstwagen auf die Hegelstraße lenkte. Es war ein dunkelgraues Tarnfahrzeug, das aussah wie ein ganz normaler Mercedes. Von außen kam niemand auf die Idee, dass der Wagen mit Polizeifunk ausgestattet war und ein mobiles Blaulicht im Fußraum hatte.
»Schwer zu sagen. Bis auf diese Betäubungsmittelgeschichte am Hauptbahnhof hat Kramer keine Einträge. Er war ja relativ gefasst, kam nur einmal aus sich raus, als du ihn gefragt hast, woran er gemerkt hat, dass sie tot ist. Vielleicht dachte er, du unterstellst ihm, dass er eine Tote nicht von einer Lebenden unterscheiden kann«, antwortete Severin.
»Ich hoffe für ihn, dass sie schon tot war, als er sie fand. Mal sehen, was die Obduktion für einen Todeszeitpunkt ergibt.«
»Er könnte auch schon vorher drüben gewesen sein und sie getötet haben«, sagte Severin. »Und dann noch mal rübergegangen sein, um sie zu finden und die Polizei zu rufen.«
»Stimmt, genug Zeit hätte er gehabt. Aber warum?«
»Und seine Spuren in der Wohnung werden uns nicht weiterhelfen, weil er ja einen Schlüssel von ihr hatte. Wenn wir also DNA von ihm dadrin finden, können wir ihm keinen Strick daraus drehen. Verdammt!« Er stieg hart auf die Bremse und kam knapp hinter einem gigantischen Traktor zum Stehen, der hinter einer Kurve im Schritttempo gemütlich vor sich hin zuckelte. »Die Bauerndemo hatte ich ja komplett vergessen!«
»Das hat uns gerade noch gefehlt!«, schimpfte Meike. »Bis wir beim Robert Bosch sind, ist die Obduktion gelaufen.«
»Entspann dich. Das können wir jetzt auch nicht ändern.« Severin tippte das Gaspedal an und rollte ein paar Meter weiter, bevor er wieder auf die Bremse stieg.
Doch Entspannen war das Letzte, was Meike jetzt wollte. »Warum können die nicht zu Fuß gehen wie andere Demonstranten auch? Und wieso beschweren sie sich, dass der Agrardiesel zu teuer ist, wenn sie ihn hier selbst ohne Sinn und Verstand in die Luft blasen?«
»Das ist eine berechtigte Frage.« Severin lachte.
»Wie kannst du so ruhig bleiben? Hast du ’nen Kaugummi?«
Ihr Cousin griff in seine Hosentasche und zog zwei angebrochene Fünferpäckchen heraus. »Spearmint oder Fruchtgeschmack?«
»Baldrian!« Meike nahm einen Streifen Spearmint, wickelte ihn aus und steckte ihn in den Mund. »Wenn die wenigstens eine Fahrspur freilassen würden, damit man überholen kann, wenn sie nun schon mit ihrem Dreck die Luft im Talkessel noch schlimmer machen als sie ohnehin schon ist.«
»Hätte ich dich warnen sollen, dass die Stuttgarter Luft eine andere ist als die in Stralsund?«
»Ach was, das war mir schon klar. Autometropole halt. Aber nicht nur die Luft ist drüben eine andere. Wie haben wir es damals nur geschafft, die politische Wende völlig gewaltfrei hinzukriegen? Die Leute sind nur auf die Straße gegangen und haben skandiert, dass sie das Volk sind. Das hat genügt. Zur damaligen Zeit hat niemand Misthaufen auf die Autobahn geschüttet, Reifen angezündet oder einen Galgen getragen, von dem ein kleiner Honecker aus Pappmaché baumelte.«
»Woher weißt du das so genau? Du warst damals fünf und ganz bestimmt nicht bei den Demos dabei.«
»Meine Mutter wird doch nicht müde, davon zu erzählen. Die platzt heute noch vor Stolz, wie sauber sie das damals hingekriegt haben. Im Übrigen warst du auch nicht viel älter als ich, als du gleich nach der Wende mit deinen Herrschaften nach Stuttgart gezogen bist. Es geht weiter!« Meike zeigte nach vorn auf das Bremslicht des Traktors vor ihnen, das gerade wieder aufleuchtete.
»Ja, zwei Meter.« Ergeben rollte Severin ein Stück vorwärts.
»Ich war genau fünf Jahre älter als du, als wir umgezogen sind. Nicht wirklich viel. Aber ich weiß noch ganz genau, wie ihr uns das erste Mal in Stuttgart besucht habt. Ich glaube, es war der Geburtstag meiner Mutter, erinnerst du dich?«
Das Auto rollte wieder einen Meter vorwärts und blieb erneut stehen.
»Nein, gar nicht. Erzähl!«
»Dein Vater wollte unbedingt Bananen für dich kaufen, die gab’s ja nicht in der ehemaligen DDR. Wir waren auf dem Wochenmarkt und auf dem Schild am Obst- und Gemüsestand hieß es ›Bananen 2,20 DM pro Kilo‹.
»War das teuer?«
»Keine Ahnung, ich hab mich damals noch nicht so um Preise gekümmert, eingekauft haben ja die anderen. Jedenfalls hat dein Vater ein Kilo Bananen verlangt, der Verkäufer hat sie in eine Papiertüte gepackt und 2,40 Mark verlangt. Dein Vater hat so lautstark protestiert, dass es der ganze Wochenmarkt hörte. ›Moment mal, hier steht, dass das Kilo nur 2,20 Mark kostet!‹, hat er gerufen. Im Osten kursierte wohl das Gerücht, dass die Wessis versuchten, die ahnungslosen Ossis schamlos über den Tisch zu ziehen und man höllisch aufpassen musste. Natürlich war dein Papa felsenfest davon überzeugt, dass er gerade abgezockt werden sollte.«
Meike lachte.
»Ich weiß noch, dass ich dachte, dass er zum Mittagessen bestimmt ein paar Bier zu viel hatte. Ich meine, ich war damals zwar noch ein Kind, aber ich bin sicher, dass dein Papa zu dem Zeitpunkt nicht ganz nüchtern war.«
Meike seufzte. Wann war er das schon mal? Aber sie beschloss, nicht darauf einzugehen. Sie war sich nicht sicher, wie viel ihr Cousin davon wusste, was aus ihrem Vater geworden war.
»Wie hat denn der Verkäufer reagiert?«, fragte sie stattdessen.
»Der hat staubtrocken gefragt, ob er von einer Banane vielleicht ein Stück abschneiden soll. Deine Mutter ist gleich ein paar Schritte rückwärtsgegangen und hat so getan, als ob sie nicht dazugehört.«
Meike hustete lachend, sie hatte beinahe ihren Kaugummi verschluckt. »Irgendwie ist es immer noch ein bisschen so«, sagte sie dann wieder ernster.
»Wie denn?«
»Dass man drüben meint, hier im Westen wären alle nur drauf aus, möglichst viel Geld zu machen und würden sich den Ossis immer noch überlegen fühlen.«
»Merkst du was? Du redest immer noch von ›Ossis‹.«
»Na ja, ich fühle mich als einer.«
»Glaubst du, unsere Eltern haben auf der Straße ihr Leben und ihre Freiheit riskiert, damit die Mauer, die sie eingerissen haben, in unseren Köpfen weiterlebt? Hör auf damit, Meike. Wir sind Deutsche, basta.«
»Basta ist aber Italienisch!«
Severin deutete eine Kopfnuss an und rollte wieder ein Stück vorwärts, bevor er erneut auf die Bremse trat.
»Wenn das so weitergeht, sind wir heute Abend noch nicht auf der Dienststelle«, stöhnte Meike.
»Weißt du was? Wir fahren bei der nächsten Gelegenheit von der Hauptstraße runter und holen uns ein Mittagessen in der Innenstadt«, schlug Severin vor. »Wenn wir fertig sind, hat sich der Stau vielleicht schon aufgelöst oder ist zumindest ein Stück weiter.«
»Gute Idee. Wenn du es schaffst, hier rauszukommen.«
»Ach, man muss nur konsequent genug sein.« Severin riss das Steuer herum und zwängte den Mercedes zwischen zwei Traktoren. Meike schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.
»Ist dir mehr nach Pizza oder nach Döner?« Ihr Cousin bog mit einem erleichterten Seufzen auf die Holzgartenstraße ab.
Labskaus, dachte Meike und öffnete vorsichtig die Augen.
»Gerne Pizza«, sagte sie und setzte hinzu: »Mit Meeresfrüchten.«
Als sie endlich am Robert Bosch Krankenhaus eintrafen, kam ihnen Prof. Dr. Krach, der Chefpathologe, an der Tür zum Sektionssaal entgegen.
»Ich bin gerade fertig geworden«, sagte er und trocknete seine frisch gewaschenen Hände an einem Papiertuch ab, das er anschließend in einen Mülleimer neben dem Ausgang fallen ließ. »Wo waren Sie denn so lange?«
»Traktordemo«, antwortete Severin knapp. »Die ganze Innenstadt ist dicht.«
»Oh, danke für die Info«, sagte Krach. »Dann fahre ich nachher wohl lieber außen rum.«
»Haben wir auch gemacht.« Meike trat zur Seite, um Platz für eine abgedeckte Bahre zu machen, die ein Pfleger in Richtung Kühlraum schob. »Deshalb sind wir ja so spät dran. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wütend ich bin. Die blockieren die komplette Straße, hupen und grölen, als wären sie besoffen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein Unfall passiert.«
»Ja, trinkt der Bauer und fährt Traktor, wird er zum Gefahrenfaktor«, sagte Krach ungerührt. »Alte Bauernregel.«
Für diese Art von Humor fehlte Meike gerade die Antenne. »Was hat denn die Obduktion ergeben?«, fragte sie.
»Würgemale und ein gebrochenes Zungenbein. Da hatte jemand ganz schön viel Kraft. Die üblichen Einblutungen in den Augenbindehäuten. Eine Strangulationsfurche konnte ich nicht ausmachen, also gehe ich davon aus, dass der Täter es mit bloßen Händen geschafft hat. Ansonsten ist sie nahezu unverletzt, bis auf eine kleine Platzwunde am Hinterkopf, wo sie wahrscheinlich auf dem Boden aufgeschlagen ist. Das ist aber nicht die Todesursache.«
»Bloße Hände hört sich gar nicht schlecht an«, sagte Meike. »Hoffentlich hat die Kriminaltechnik DNA sicherstellen können«, warf Severin ein.
»Bis wir davon erfahren, müssen wir uns wohl noch ein bisschen gedulden. Leider geht die Auswertung nicht von jetzt auf gleich.« Severin seufzte. »Hat sie sonst irgendwelche Verletzungen?«
»Nichts außer einem kleinen Schnitt am linken Daumen, der frisch sein dürfte, aber daran stirbt man nicht«, sagte Krach. »Falls Sie das Mädchen selbst ansehen wollen, sie liegt noch auf dem Tisch.« Er hielt einladend die Tür auf und deutete eine knappe Verbeugung an. Meike und ihr Cousin traten ein.
Der Körper war klein und zart wie der eines Kindes. Sie war auch beinahe noch eines gewesen. Mit allen Träumen und Plänen für die Zukunft, die nun zusammen mit Gummihandschuhen und Papiertüchern in der Tonne lagen. Krach hatte Katies Augen bereits barmherzig geschlossen, aber jetzt zog er ein Lid hoch, um Meike und Severin die punktförmigen Einblutungen zu zeigen, die auf einen Würgevorgang hinwiesen. Er zog das Laken ein Stück nach unten und legte den schlanken weißen Hals frei, auf dem sich deutliche Würgemale abzeichneten. Ein Stück darunter, am Brustbein, konnte Meike den Beginn des Ypsilon-Schnittes erkennen. Sie wandte sich ab, dachte an die armen Eltern, die zum Glück nicht sie selbst informieren musste, das hatte der Kriminaldauerdienst bereits getan. Manchmal war sie froh, Mutter eines Sohnes zu sein. Jungen lebten nicht ganz so gefährlich.
In diesen Momenten wünschte sie manchmal, sie hätte sich für das Dezernat für Wirtschaftskriminalität oder für die Finanzermittlung entschieden. Zu langweilig, hatte sie damals gedacht. Aber junge Menschen tot sehen zu müssen, fasste sie an und machte sie verletzlich.
»Ich glaube, ich brauche frische Luft«, sagte sie so professionell, wie es ihr möglich war.
Severin nickte. Die wichtigsten Infos hatten sie.
»Wenn der Bericht geschrieben ist, bekommen Sie ihn natürlich umgehend, gerne auch vorab per Fax«, sagte Krach und geleitete sie nach draußen. »Ich mache auch bald Schluss hier. Bin gespannt, wie lange ich bis Tübingen brauche.«
»Gute Heimfahrt und machen Sie keinen Traktor platt«, sagte Severin.
»Danke, Ihnen dasselbe.« Krach winkte ihnen zu und verschwand mit wehenden Kittelschößen.
»Kannst du schon essen?«, erkundigte sich Severin.
»Ich kann immer essen«, antwortete Meike. »Warum fragst du?«
»Wir könnten ein Stück gehen und dabei lunchen. Falls du die Pizza auch kalt magst. Ansonsten müssten wir sie im Dezernat noch mal in die Mikrowelle stecken.«
»Ach, da wird sie doch wie Leder. Lass uns hier essen, es ist schön hier oben.«
»Da drüben am Aussichtspunkt standen früher mal ein paar Bänke. Wir könnten nachsehen, ob die noch da sind.«
Sie liefen um den Krankenhauskomplex herum und gingen ein Stück nach Südwesten, wo die Weinberge begannen. Eine Bank fanden sie nicht, also setzten sie sich unter einem blühenden Kirschbaum ins Gras und packten ihre Pizza aus. Unter ihnen lag das weiße Hauptgebäude des Polizeipräsidiums, das bis in die siebziger Jahre das alte Robert Bosch Krankenhaus beherbergt hatte, bis es wegen Platzmangels aufgegeben und auf den Berg, zum höchsten Punkt des Burgholzhofs, hinaufverlegt wurde. Dahinter erstreckte sich die Stadt im Tal mit dem Bülow-Tower, dem Gaisburger Gaskessel und dem Neckarstadion, eingerahmt von grünen Hügeln, aus denen Fernsehturm, Funkturm und Fernmeldeturm herausstachen. Rechter Hand lag der Pragsattel mit dem Hochbunker, der im Volksmund immer noch Bosch-Turm hieß, obwohl der Werbevertrag schon vor mehr als zehn Jahren ausgelaufen war und die Werbefläche inzwischen von der Firma Mahle genutzt wurde. Aber Menschen waren Gewohnheitstiere und die Schwaben offenbar ganz besonders.
»Schön hier oben«, sagte Meike und biss in ihr Pizzastück. Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Für einen Moment fühlte sie sich völlig entspannt.
»Vermisst du nicht das Meer?« Severin tat es ihr gleich.
»Doch schon«, sagte Meike kauend. »Das hier ist anders schön. Wenn nur die vielen Treppen nicht wären und vor allem die Sprache!«
Ihr Cousin lachte. »Die Treppen heißen Stäffele, wenn wir schon mal bei der Sprache sind. Und die Stuttgarter heißen Stäffelesrutscher, eben, weil sie so viele Treppen laufen müssen. Flachlandbewohner wie du tun sich anfangs natürlich ein bisschen schwer damit.«
»Ich bin lernfähig. Und wild entschlossen, bald eine Stäffelesrutscherin zu werden. Und im Urlaub fahre ich nach Hause. Ähm, nach Stralsund, meine ich. Zu Hause bin ich ja jetzt hier.«
»So ist’s brav«, lobte sie ihr Cousin. »Wen nehmen wir uns als nächstes vor? Das Filmstudio oder die Schauspielschule?«
»Was ist näher?«
»Von hier aus nimmt sich das nicht viel. Ist beides in der Innenstadt.«
»Dann lass uns eine Münze werfen.« Maike nahm ein Eurostück aus ihrem Geldbeutel. Kopf für die Schule und Zahl für das Studio. Es wurde das Studio.
Sie faltete den leeren Pizzakarton zusammen und sah sich nach einem Mülleimer um. »Hm, ich dachte immer, die Schwaben sind so pedantisch ordentlich und sauber. Mit Mülleimern haben sie’s offenbar nicht so.«
»Was glaubst du, warum auf dem Rücksitz im Dienstwagen so viel Abfall rumliegt? Auf einen Pizzakarton mehr oder weniger kommt es da auch nicht mehr an.«
Das Studio, in dem Katie Swoboda ihre Trickfilmrolle einsprach, befand sich in der Hohenheimer Straße, die gesäumt war von Altbauten, in denen sowohl Wohnungen als auch Geschäfte untergebracht waren. Durch den Dreck, der dem Verkehr auf der Hauptstraße geschuldet war, sahen die Gebäude ein wenig mitgenommen aus. Man mochte gar nicht glauben, dass viele von ihnen dem Klassizismus entstammten und unter Denkmalschutz standen. Im Erdgeschoss eines der unscheinbareren Ziegelhäuser war das Studio untergebracht. Es sprang einem nicht gerade ins Auge, weil es etwas von der Straße zurückgesetzt lag und auch über einen Hinterhof erreicht werden konnte. Ein Firmenschild war nirgends zu sehen, aber auf dem Klingelschild stand in bescheidenen schwarzen Arial-Lettern ›Weselka Media‹.
Um sicherzugehen, jemanden anzutreffen, hatten sie sich telefonisch angekündigt und den Grund ihres Besuches erklärt. Ein langes, betretenes Schweigen war entstanden, dann hatte der junge Mann am anderen Ende der Leitung leise gesagt »Ich habe sie gestern noch gesehen.« Das Zittern in seiner Stimme war Meike nicht entgangen.
»Umso wichtiger, dass wir uns unterhalten«, hatte sie erwidert, während Severin schon aufs Gaspedal trat.
Nach dem Klingeln dauerte es eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde, und Meike stutzte, weil sie auf Augenhöhe zunächst niemanden sah. Erst als sie den Blick nach unten richtete, weil jemand »Hier bin ich!« rief, bemerkte sie den blonden Mann im Rollstuhl.
