Nur noch ein Schritt zum Glück - Brigitta Heinrich - E-Book

Nur noch ein Schritt zum Glück E-Book

Brigitta Heinrich

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Beschreibung

Wer fortgeht, um zu vergessen, wird nie ankommen! Das muss auch Nico erfahren, als sie sich allein auf den Jakobsweg macht, im Gepäck die Hoffnung, die schmerzvolle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Reise ist alles andere als einfach, denn sie führt Nico zu sich selbst – einer Begegnung, die sie mehr als alles andere fürchtet. Nico schaute während der gesamten Fahrt aus dem Fenster und sah nur Berge. Sie wusste genau, dass sie den Weg in Pamplona hatte beginnen wollen, weil es dort keine Berge mehr gab. Zumindest hatte sie das gelesen. Konnte man unter dem Wort »Berg« unterschiedliche Dinge verstehen? Möglich wäre es. Sie hatte sowieso seit Wochen das Gefühl, überhaupt nichts zu verstehen. Hier, in diesem Land, stimmte wenigstens das. Wie soll man das Leben verstehen, wenn man vor ihm davon rennt? Dass keine Lebensgeschichte ohne Kummer und Sorgen bleibt, ist eine Wahrheit, mit der die achtunddreißigjährige Nico auf brutale Art und Weise konfrontiert wird. Völlig überstürzt setzt sie sich in den nächsten Flieger nach Spanien und will nur noch eines: weg! Doch die erhoffte Ruhe und Einsamkeit bleiben aus, denn der Pilgerweg ist alles andere als ein ‘Pfad der Stille’ – ungewöhnliche Menschen (und Tiere!), wahrhaftige Geschichten und anhängliche Gefährten kreuzen ihren Weg, und Nico erkennt, dass das Leben sie längst verstanden hat … »Nur noch ein Schritt zum Glück« ist ein Roman über die Last der Vergangenheit und die Kraft der Gegenwart.

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Brigitta Heinrich

Nur noch ein Schritt zum Glück

Copyright der eBook-Ausgabe © 2014 bei Hey Publishing GmbH, München

Originalausgabe © 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © privat

ISBN: 978-3-95607-030-3

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Nur noch ein Schritt zum Glück

Wer fortgeht, um zu vergessen, wird nie ankommen! Das muss auch Nico erfahren, als sie sich allein auf den Jakobsweg macht, im Gepäck die Hoffnung, die schmerzvolle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch die Reise ist alles andere als einfach, denn sie führt Nico zu sich selbst – einer Begegnung, die sie mehr als alles andere fürchtet.

Nico schaute während der gesamten Fahrt aus dem Fenster und sah nur Berge. Sie wusste genau, dass sie den Weg in Pamplona hatte beginnen wollen, weil es dort keine Berge mehr gab. Zumindest hatte sie das gelesen. Konnte man unter dem Wort »Berg« unterschiedliche Dinge verstehen? Möglich wäre es. Sie hatte sowieso seit Wochen das Gefühl, überhaupt nichts zu verstehen. Hier, in diesem Land, stimmte wenigstens das.

Wie soll man das Leben verstehen, wenn man vor ihm davon rennt? Dass keine Lebengeschichte ohne Kummer und Sorgen bleibt, ist eine Wahrheit, mit der die achtunddreißigjährige Nico auf brutale Art und Weise konfrontiert wird. Völlig überstürzt setzt sie sich in den nächsten Flieger nach Spanien und will nur noch eines: weg!

Doch die erhoffte Ruhe und Einsamkeit bleiben aus, denn der Pilgerweg ist alles andere als ein ‘Pfad der Stille’ – ungewöhnliche Menschen (und Tiere!), wahrhaftige Geschichten und anhängliche Gefährten kreuzen ihren Weg, und Nico erkennt, dass das Leben sie längst verstanden hat …

Kapitel 1

Als Nico Wolfen das Flugzeug betrat, wusste sie, dass die Reise ein Fehler gewesen war. Doch jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Hinter ihr drängten sich Fremde. Nico hatte vergessen, sich ihre Sitznummer einzuprägen und stand hilflos im Weg. Hinter ihrem Rücken murrte es. Sie versuchte die Nummer auf ihrer Boardingkarte zu lesen, aber vor ihren Augen verschwamm alles, und sie wankte. Eine Stewardess bemerkte ihre Verfassung und führte sie zu ihrem Platz.

Neben ihr am Fenster saß ein dicker Mann. Er las schnaufend eine Zeitung und hatte seine Arme auf den Lehnen rechts und links von sich ausgebreitet, wie Männer das gerne taten. Er roch ein wenig verschwitzt. Nico faltete sich in ihrem Sitz zusammen und schloss erschöpft die Augen. Dann erinnerte sie sich an ihre Flugangst und nahm eilig die Papiertüte aus dem Netz. Als das Flugzeug startete, atmete sie tief durch, wie sie es gelernt hatte. Doch nichts geschah. Nur der Mann an ihrer Seite krallte plötzlich eine Hand in ihre Schulter. Vielleicht konnte man ja Ängste weitergeben? Der Gedanke gefiel ihr, aber bevor sie länger darüber nachdenken konnte, war sie eingeschlafen.

Nico erwachte erst, als die Stewardess mit einem Plastikmenü vor ihr stand. Ihr Magen reagierte prompt. Angewidert schüttelte sie den Kopf. Als ihr Nachbar ihre abwehrende Geste bemerkte, fragte er sofort, ob er ihr Essen zusätzlich haben könne. Die Stewardess reichte ihm zwei Schälchen, was Nico zwang, ihren Plastiktisch auszuklappen. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass sie noch so viel Kraft hatte, sich zu ärgern.

»Darf ich Sie zu einem Glas Rotwein einladen?«, fragte der Mann.

Warum nicht?, dachte Nico, bis ihr in der nächsten Sekunde wieder einfiel, warum sie keinen Wein mehr trinken konnte. Schnell schüttelte sie den Kopf und schloss gequält erneut die Augen. Erstaunlicherweise nickte sie sofort ein und erwachte erst, als die Stimme des Kapitäns den Landeanflug ankündigte. Nico wusste zwar, warum sie so müde war, aber dass sie ausgerechnet in einem Flugzeug zur Ruhe kam, hätte sie nie erwartet. Zudem hatte sie das erste Mal seit Wochen ohne Alpträume geschlafen. Leider half ihr das nur wenig, schließlich konnte sie ja nicht zum Schlafen ein Flugzeug besteigen. So wie manche ihrer Freundinnen die Babys zum Einschlafen in Autos packten, um sich dann mit den endlich schlafenden Säuglingen in die Wohnungen zurück zu schleichen. Immer in der Hoffnung, sie würden nicht aufwachen. Aber an Autos und Babys wollte sie jetzt schon gar nicht und am liebsten überhaupt nie mehr denken.

Nico blieb sitzen, bis alle aufgestanden waren. Dann nahm sie ihren Rucksack und verließ als Letzte das Flugzeug. Als sie hinter den anderen Passagieren zur Gepäckausgabe schlich, fühlte sie wieder Panikwellen in sich aufsteigen. »Geh weiter«, trieb sie sich an. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Dann kam die Übelkeit. Suchend sah Nico sich nach einer Toilette um. Zum Glück waren die Symbole hier ähnlich wie in Deutschland. Sie schaffte es gerade noch, sich einzuschließen, bevor sie sich übergeben musste, verstand aber nicht, dass sie immer noch etwas beim Würgen herausbrachte, bei dem Wenigen, das sie aß. Nico wusch sich die Hände und betrachtete ihr kalkweißes Gesicht im Spiegel. Jetzt konnte sie riechen, dass sie nicht mehr in Deutschland war. Der Putzmittelgeruch war ihr fremd, aber nicht unangenehm.

An der Gepäckausgabe stauten sich die Leute unmittelbar vor dem Laufband und versperrten Nico die Sicht. Sie fühlte sich so müde, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Also setzte sie sich in der Nähe auf den Boden und wartete, bis sich die Menge lichtete. Dann trat sie ans Band, stellte fest, dass ihr Rucksack schon mindestens eine Runde gedreht hatte und hob ihn hoch. Obwohl sie sorgfältig jedes eingepackte Teil gewogen und alles Schwere aussortiert hatte, brachte er noch zehn Kilo auf die Waage. Nie würde sie das schaffen. Mit letzter Kraft schleppte sie sich zur Information und erkundigte sich, wie sie nach Pamplona käme. Zu ihrer Erleichterung konnte ihr Gegenüber Englisch. Er gab ihr einen kleinen Stadtplan und zeichnete den Busbahnhof auf der Karte ein.

Als Nico ins Freie trat, schlug ihr die Hitze entgegen. Sie zog ihre Regenjacke aus und suchte sich ein Taxi. Während der Fahrt betrachtete sie entmutigt die Berge. Vielleicht waren das die Ausläufer der Pyrenäen, mit denen sie nichts zu tun haben würde, hoffte sie. Der Taxifahrer drehte die Musik lauter und begann gleichzeitig eine Unterhaltung. Nico verstand kein Wort, versuchte aber zu lächeln. Sie hielt nicht lange durch, dann zuckte sie mit den Schultern, um dem Mann zu signalisieren, dass sie ihn nicht verstand. Es schien ihm nichts auszumachen. Lachend redete er unverdrossen weiter.

Am Busbahnhof schrieb er ihr den Namen seines Fuhrunternehmens auf und wünschte ihr: »Buen camino«. Aber auch das verstand Nico nicht. Sie wollte nur noch weinen. Aber sie hatte in den letzten Wochen so viel geweint, dass keine Tränen mehr übrig waren.

Während sie auf den Bus wartete, schlief sie erneut ein. Sie hätte ihn mit Sicherheit verpasst, hätte nicht eine ältere Frau kräftig an ihrer Schulter gerüttelt und dabei »Autobus, autobus!«, gerufen. Das verstand sogar Nico. Als sie mit dem Rucksack einsteigen wollte, schüttelte der Fahrer den Kopf und deutete auf eine große Klappe an der Busseite. Also bugsierte Nico ihren Rucksack folgsam in die dunkle Öffnung. Wenn er gestohlen werden würde, hätte sie gar nichts mehr. Egal. Doch dann überlegte sie kurz und holte schnell ihren kleinen Rucksack heraus, in dem sich Geld und ihre Papiere befanden.

Sie stieg in den Bus und setzte sich auf einen freien Platz. Wieder wurde an ihr gerüttelt. Diesmal war es ein älterer Mann, der auf seinen Fahrschein deutete und dabei den Kopf schüttelte. Weil Nico ihn nicht verstand, zog sie ebenfalls ihr Ticket hervor und gab es dem Mann, der es gründlich betrachtete, dann ihre Hand nahm und sie in den hinteren Busbereich lotste. Dort zeigte er auf eine Nummer, die sowohl auf dem Fahrschein als auch an der Gepäckablage über dem Sitz stand. Endlich hatte sie verstanden und setzte sich.

Nico schaute während der gesamten Fahrt aus dem Fenster und sah nur Berge. Sie wusste genau, dass sie den Weg in Pamplona hatte beginnen wollen, weil es dort keine Berge mehr gab. Zumindest hatte sie das gelesen. Konnte man unter dem Wort »Berg« unterschiedliche Dinge verstehen? Möglich wäre es. Sie hatte sowieso seit Wochen das Gefühl, überhaupt nichts zu verstehen. Hier, in diesem Land, stimmte wenigstens das.

In Pamplona stieg sie aus dem Bus und schreckte zurück. Im Busbahnhof herrschte ein ohrenbetäubender Lärm: Alle Busse, die herumstanden, ließen die Motoren laufen. »Ich wollte Stille und Einsamkeit«, dachte sie, »und komme in die Hölle. Geschieht mir recht, wahrscheinlich.«

Sie schulterte ihren Rucksack und floh ins Freie. Draußen schien unbarmherzig die Sonne, obwohl es bereits fünf Uhr am Nachmittag war. Eine mehrspurige Straße lag vor Nico. Es stank nach Benzin. Sie blinzelte und blieb stehen, weil sie keine Ahnung hatte, in welche Richtung sie gehen musste. Dann studierte sie den Plan im Reiseführer, aber er war nicht genau genug. Wie fragte man nach einer Herberge, wenn man das Wort dafür nicht kannte? Welche Pantomime beschrieb sie? Sie hielt eine ältere Frau an. Frauen machten ihr weniger Angst als Männer. Nico zeigte auf ihren Reiseführer. Die Frau nickte und wies mit den Händen erst geradeaus und dann nach links. »Ich werde niemals ankommen«, dachte Nico.

»Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus. Hier blühen die Bäume und riechen intensiv. Ich will das nicht. Ich will keine Erinnerungen an andere Frühlinge. Ich hätte im Herbst kommen sollen.«

Nico schlich die Straße entlang. Der Rucksack war schwer, und wegen der Isomatte, die sie quer obendrauf geschnallt hatte, stieß sie ständig gegen Schaufensterscheiben oder Laternen. Sie fühlte sich wie ein Elefant, der bis gestern ein Pferd gewesen war. Plötzlich landete sie in einem Altstadtviertel mit noch engeren Straßen und stieß noch häufiger an.

Sie kämpfte sich vorwärts und stand bald darauf vor einer Kirche. Dann entdeckte sie endlich die Herberge. Nico erkannte sie, weil ständig junge Leute mit Rucksäcken hinein- und hinausgingen. Das Haus sah sehr alt aus. Steile Stufen führten nach oben, wendeltreppenartig und eng. Sie musste vorsichtig sein, damit sie mit der Isomatte überhaupt um die Kurven kam.

Am Empfang, der aus einem einfachen Holztisch bestand, saß eine Frau in einer roten Kittelschürze. Sie lächelte Nico aufmunternd an. Auf einer Bank daneben saßen drei junge Männer in roten Oberteilen und blauen Hosen. Sie sahen aus wie etwas ältere Pfadfinder. Nico versuchte zu gestikulieren, dass sie ein Bett brauchte. Die Frau verstand sie zwar, aber es gab keine Betten mehr, die Herberge war bis auf den letzten Platz belegt. Dann drückte sie Nico einen weiteren kleinen Stadtplan und einen Zettel mit zwei Hoteladressen in die Hand. Sie fragte etwas, das Nico nicht begriff. Hilflos breitete sie all ihre Papiere auf dem Tisch aus, worauf die Frau ihren Pilgerausweis nahm und ihn abstempelte. Kein Bett, aber immerhin ein Stempel. Nico lächelte und merkte es nicht.

Ziellos ging sie weiter und wusste nicht, wie sie eins der beiden Hotels finden sollte. Für Stadtpläne war bisher Felix zuständig gewesen. Zu ihrer Überraschung fand sie sich genau vor einem der zwei Hotels wieder. Es sah aus wie ein Wohnhaus. Nico drückte auf die Klingel und wurde eingelassen. Im ersten Stock erwartete sie die Wirtin, die gar nicht erst versuchte mit Nico zu reden, sondern nur lachte und mit vielen Gesten nach ihrem Pass und dem Geld für die Übernachtung fragte. Dann führte sie Nico in den dritten Stock, wo sich eine verwinkelte Wohnung mit vielen Zimmern, zwei Toiletten und Duschen befand. Nico legte sich sofort auf ihr Bett und zog die Wanderschuhe aus. Ihre Füße waren begeistert. Dann erst sah sie den kleinen Balkon, der vor Blumen überquoll. Es roch schon wieder nach Leben.

»Ich muss etwas essen«, dachte sie. Mühsam zwängte sie sich wieder in ihre Schuhe und trat vor das Hotel. Sie versuchte sich die Lage des Hauses einzuprägen. Dann schlenderte sie durch die Gässchen. Irgendwann landete sie auf der Plaza Mayor, die gerade eine Baustelle war. »Wie passend«, schoss es Nico durch den Kopf. Sie setzte sich in ein Café und trank ihren ersten spanischen Milchkaffee. Aber sie konnte nicht bleiben, irgendetwas trieb sie weiter. Als Nächstes kam sie zur Kathedrale, sie rüttelte an der Tür, aber sie war verschlossen. Schade, die Vorstellung von einer stillen und dunklen Kirche war beruhigend gewesen. Jetzt erst sah sie die vielen Menschen, die rund um die Kathedrale standen, saßen oder lagen, und von denen die meisten malten. Also weiter durch Pamplonas Innenstadt, in der die Läden noch geschlossen hatten. Nico fand die Stierkampfarena, ohne sie gesucht zu haben. Ein Hemingway-Denkmal stand davor. Auch schon lange tot.

Dann stolperte sie über einen kleinen Park, setzte sich zu Spaniern auf eine Bank und sah dem Leben zu. Hier bestand es aus flanierenden Familien mit vielen kleinen Kindern. Es war schön und beruhigend, einfach nur zu schauen. Erschrocken stellte Nico fest, dass sie zu Hause wochenlang ihre Wohnung nicht verlassen hatte. Hier war es einfacher, sie wusste aber nicht, warum.

Um acht Uhr begann sie sich nach einem Restaurant umzuschauen, doch das erwies sich als schwierig: Alle waren noch geschlossen. Endlich fand sie eins. An der Bartheke saßen Männer und schauten fern. Es gab Stierkampf. Zum Essen musste man ins Hinterzimmer gehen. Dort saßen Touristen wie sie. Niemand war allein. So wird es jetzt immer sein, dachte sie. Glücklicherweise bekam sie eine Tortilla, die sie in kleinen Bissen herunterschlucken konnte, ohne viel kauen zu müssen. Unaufgefordert stellte ihr der Wirt eine Flasche Rotwein hin, die sie nicht anrührte.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Nico wieder in ihr Hotel ging. Außer ihr schien niemand da zu sein. Sie legte sich aufs Bett und versuchte, nicht zu denken. Es gelang ihr nicht, schlafen konnte sie auch nicht. Sie war dankbar, als sie nach und nach ihre Zimmernachbarn eintreffen hörte. Alle machten Lärm und redeten miteinander. Auch hier nur Paare. Irgendwann schlief Nico dennoch ein.

Mitten in der Nacht erwachte sie, weil sie fror, traute sich aber nicht aufzustehen, aus Angst, anschließend nicht mehr einschlafen zu können. Sie hätte ruhig aufstehen können, sie schlief auch so nicht mehr.

Kapitel 2

Um sechs Uhr hielt sie es nicht mehr aus und ging mit schlechtem Gewissen duschen. Sie hatte ihre Neigung noch nicht aufgegeben, gegenüber anderen Schlafenden rücksichtsvoll zu sein. Im Bad roch es muffig, deshalb beeilte sie sich, wusch sich aber trotzdem ausgiebig die Haare. Vielleicht würde sie so schnell nicht wieder die Gelegenheit dazu haben. Weil sie sich immer noch nicht an ihre Kurzhaarfrisur gewöhnt hatte, nahm sie viel zu viel Shampoo. Nach der Katastrophe hatte sie es nicht ertragen können, genauso wie vorher auszusehen. Eines Morgens hatte sie eine Nagelschere genommen und die Haare millimeterkurz abgeschnitten. Mittlerweile waren sie zwar schon wieder etwas nachgewachsen, standen aber immer noch aufrecht nach allen Seiten hin ab, was ihr das Aussehen eines kleinen Jungen verlieh.

Leise schlich Nico ins Zimmer zurück und packte ihren Rucksack. Da es immer noch sehr früh war, setzte sie sich vor die Balkontür und betrachtete die Blumen. Dabei schlief sie ein. Um neun Uhr wachte sie mit schrecklich schmerzendem Genick wieder auf. Dann endlich zog sie los.

Auf der Straße begegnete sie der Frau aus dem Hotel, die sie heftig umarmte und ihr einen »buen camino« wünschte. Sie hatte mittlerweile eine vage Vorstellung, was es heißen könnte. Dann zeigte sie Nico, dass sie in die falsche Richtung laufen wollte. Ich wäre wahrscheinlich in den Pyrenäen gelandet.

Unterwegs versuchte Nico einen geöffneten Lebensmittelladen zu finden. Vergeblich, es war noch zu früh. Vielleicht im nächsten Ort, dachte sie. Der Weg war gut sichtbar mit gelben Pfeilen und der Jakobsmuschel ausgeschildert. Viele Leute grüßten Nico. Sie fand das sehr merkwürdig, aber irgendwie auch beruhigend, weil sie sich dadurch nicht mehr so alleine fühlte.

Als sie Pamplona hinter sich gelassen hatte, wies der Pfeil auf eine Landstraße. Nico fand die Vorstellung, dort entlanggehen zu müssen, furchtbar. Autos jagten ihr Angst ein. Erst nachdem sie eine Weile gewandert war, bemerkte sie den Mohn und die gelben Blumen, die überall am Wegesrand wuchsen. Als sie stehen blieb, um den Mohn zu betrachten, fuhr ein Auto ganz dicht an ihr vorbei. Sie sprang vor Schreck vorwärts und stolperte, weil sie den Rucksack nicht gewohnt war. Ihr Herz hörte erst auf zu rasen, als sie mitten im Mohn am Boden lag. Eine Weile verhielt sie sich ganz still und betrachtete die ausgetrocknete Erde. Dann bekämpfte sie den Impuls, einfach nur liegen zu bleiben, und versuchte aufzustehen. Ohne Erfolg. Immer wieder rollte sie in ihre Ausgangslage zurück und fühlte sich dabei wie Kafkas Käfer. Sie musste lachen. Dabei fiel ihr auf, dass sie schon vergessen hatte, wie ihr Lachen klang.

»Zuerst auf die Knie«, ertönte eine energische Stimme über ihr.

Verblüfft gehorchte sie. Als sie kniete, kam eine Hand von oben und zog sie hoch, und Nico fand sich neben einem etwa fünfzigjährigen Riesen in Lederhosen und dicken Wollstrümpfen wieder. In der linken Hand trug er einen kräftigen Ast, der aussah, als hätte er ihn seit Monaten begleitet. Der Wanderer war unrasiert, sah aber leider nicht so aus, wie attraktive Männer mit einem Drei-Tage-Bart aussahen. Beim Friseur war er auch schon lange nicht mehr gewesen und auf dem Kopf trug er einen Filzhut mit einer Vogelfeder. Nico wusste, dass sie unhöflich war, aber sie fand ihn rundum unsympathisch. Trotzdem musste sie jetzt etwas sagen.

»Vielen Dank«, stotterte sie und war überzeugt, dass man ihr die negativen Gefühle am Gesicht ablesen konnte.

»Hier hilft man sich gegenseitig«, sagte der Riese streng. Jetzt wusste Nico, an wen er sie erinnerte: an Rübezahl. Leider fiel ihr nicht mehr ein, ob Rübezahl gut oder böse gewesen war. »Der Rucksack ist zu groß für dich«, fuhr er fort. »Und wahrscheinlich bist du eine von denen, die sich ohne Training auf den Weg machen.« Nico wusste nicht, worüber sie sich mehr ärgerte, über das Duzen oder über seine unerbetenen Hinweise. Sie fühlte sich abgekanzelt wie ein kleines Mädchen. Rübezahl war böse, beschloss sie.

»Das geht Sie nichts an«, antwortete Nico.

»Hoho, hier duzt man sich. Merk dir das!« Dann lüftete er seinen Hut zum Gruß und marschierte los.

Nico musste sich erst einen Moment von der Begegnung erholen, bevor sie langsam weitergehen konnte. Hoffentlich sehe ich den nie wieder, dachte sie. So schnell, wie er marschierte, war das allerdings auch nicht anzunehmen. Nach kurzer Zeit merkte sie, dass ihr rechtes Knie schmerzte. Wahrscheinlich hatte sie es sich bei dem Sturz verletzt. Sie stöhnte. Im nächsten Ort, Cizur Menor, studierte Nico ihren Reiseführer, sie war erst fünf Kilometer gelaufen und fühlte sich wie nach zwanzig. Es gab eine Bar, aber keinen Laden, und Nico wollte nicht in die Bar, denn sie hatte keinen Hunger. Aber es wäre vernünftig gewesen, etwas zu essen und zu trinken einzukaufen. Da im nächsten Ort ein Geschäft sein sollte, entschied sie sich weiterzugehen. Langsam protestierten neben dem Knie die Füße und ihr Rücken. Zu früh, dachte sie streng. Ihr müsst genauso viel aushalten wie ich.

Jetzt befand sie sich auf einem schönen Weg zwischen Feldern. Er ging hoch, noch ein wenig hoch, ein wenig runter. Der Pfad sah aus wie die Schlange des kleinen Prinzen. Leichter Nieselregen setzte ein. Zwei Frauenpilger überholten sie. Der Regen wurde heftiger. Nico blieb stehen und zog ihre Regenjacke an, der Rucksack bekam sein knallrotes Regencape übergestreift. Ein kleiner Friedhof tauchte auf, Nico überlegte kurz, aber dann wollte sie ihn doch sehen. Das Tor war mit einer großen Eisenkette verschlossen. Nico presste ihr Gesicht dicht an das Gitter und konnte kleine Gräber mit winzigen Fotografien erkennen. Sofort fiel ihr Felix’ Gesicht wieder ein, wie sie es zuletzt gesehen hatte. Mutlos ging sie weiter.

Der nächste kleine Ort, Zaraquiegui, war vollkommen ausgestorben. Es gab keine Bar, keinen Laden wie angekündigt, keine Menschen, nichts. Nur ein hässlicher Hund setzte sich vor der Kirche zu ihr. Nico wusste nicht, was er wollte: Essen oder Zärtlichkeit? Er bekam keins von beidem und lief trotzdem ein Stück des Weges mit; wahrscheinlich war er froh über jedes menschliche Wesen.

Der Weg wurde steiler, Nico fühlte sich, als sei sie in den Bergen. Ein Alleinpilger mit einem kleinen Rucksack und mehreren Tüten überholte sie wortlos. Sie schleppte sich weiter und dachte, ich schaffe das nicht, der Rücken, die Beine, die Lungen. Sie sah sich um. Kein Mensch weit und breit. Zu Hause war sie auch alleine gewesen, aber da hatte sie die Wohnung kaum noch verlassen. Wenn sie sich jetzt ein Bein bräche, würde ihr niemand zu Hilfe eilen, nicht einmal Rübezahl. Voran, voran. Nico stellte sich vor, sie wäre ein Esel und liefe Meter für Meter mit ihrer Last. Es half etwas. Zwischendurch überlegte sie, ob es nicht günstiger wäre, ein Maultier oder eine Ziege zu sein. Leider wusste sie zu wenig über die Bauart dieser Tiere und blieb deshalb beim Esel. Wahrscheinlich habe ich jetzt auch den missmutigen Gesichtsausdruck eines Esels. Sie versuchte, nicht zurück und nicht nach vorn zu schauen, immer nur auf den Weg unmittelbar vor ihr. Auch das half ein wenig. Bei ihrer überstürzten Abreise hatte sie nicht darüber nachgedacht, wie anstrengend diese Reise sein würde. Sie hatte nur weggewollt, aus der Wohnung, aus der Stadt, aus dem Land.

Weit entfernt sah sie eine lange Reihe Windräder und einen steilen Pfad, der bergan führte. Der Weg war lehmig und steinig und schmal und verlief dicht am Abhang. Nico sah grüne Heide oder das, was sie dafür hielt, und jede Menge Berge. Die Gegend wirkte überhaupt nicht, wie sie sich Spanien vorgestellt hatte, es erinnerte sie an die Schweiz. Die Windräder klapperten laut, es regnete mal mehr, mal weniger, und der Wind blies. Ihr T-Shirt war vollständig durchnässt, weil sie unter der Regenjacke schwitzte.

Auf dem Kamm war es noch windiger. Sie erreichte ein Denkmal zur Erinnerung daran, dass es früher an diesem Ort eine Herberge und ein Hospital gegeben hatte. Gegen eine winzige, heutige Herberge genau an dieser Stelle hätte Nico nichts einzuwenden gehabt. Sie fühlte sich, als wäre sie allein auf der Welt. Plötzlich sah sie neben dem Denkmal Blechfiguren stehen, Pilger und Esel. Und dachte an die vielen, die vor ihr hier gewesen waren. Und an sich als Esel.

Der Lehmpfad führte nun wieder bergab. Er war vom Regen aufgeweicht. Nico musste sich sehr konzentrieren, um nicht auszurutschen. Als der Weg ebener wurde, überholte sie den Tütenpilger. Seine Haare waren sehr lang und er sah insgesamt etwas ungepflegt aus. Wenig später überholte er sie wieder und bat mit Gesten um eine Zigarette. Nico schüttelte den Kopf. Seit jenem Abend hatte sie keine Zigarette mehr angerührt. Der Tütenpilger marschierte traurig weiter, und sie verlor ihn schnell aus den Augen.

Dann versperrte ihr plötzlich ein kleines Türchen mit einem Riegel den Weg. Sie überlegte kurz. In Deutschland würde das »privat« bedeuten, aber in Spanien? Entschlossen öffnete und schloss Nico die Tür und ging tapfer weiter. An der nächsten Wegbiegung kam ihr ein Stier entgegen. Oder war es ein Ochse? Sie kannte den Unterschied nicht, aber ihr Rucksack hatte ein rotes Regencape, und sie war kein Torero. Ob das Tier das auch wusste? Verblüfft stellte sie fest, dass es ihr gleichgültig war. Offensichtlich hatte sie jegliche Angst verloren, was auch passierte. Ganz langsam schritt Nico weiter, weil sie das Tier nicht erschrecken wollte. Der Stier kam auf sie zu, betrachtete sie kurz, er hatte erstaunlich große Augen mit schönen geraden Wimpern, und ging dann seines Weges.

Als sie Uterga erreichte, war sie mehr als siebzehn Kilometer gegangen. Überzeugt, dass sie eine oder mehrere Blasen hatte, flehte sie im Stillen um ein Bett. Auch in diesem Straßendorf war kein Mensch zu sehen, eine Kirche stand verlassen da, noch nicht einmal ein Hund ließ sich blicken. Am Ende des Ortes sah sie eine Bar und gegenüber ein Haus. Konnte das eine Herberge sein? Am Eingang hing ein Schild, das sie nicht lesen konnte. Langsam trat sie durch das alte Tor. Drinnen stand eine Frau in Kittelschürze und winkte Nico, näher zu kommen. Ein uraltes Haus, es wirkte sehr groß, steinern, verwinkelt, eine Treppe führte nach oben. Nico zeigte ihren Pilgerausweis, die Frau nickte und wies ihr den Weg zur Küche. Dann nahm sie Nicos Hand und stieg mit ihr die alte Holztreppe nach oben. Dort zeigte sie ihr ein muffiges und düsteres Zimmer mit zwei Betten und zwei Stühlen. Zwischen den Betten hing ein großes Marienbild. Nico war alles egal. Sie wollte nur noch die Schuhe ausziehen und ihre Füße untersuchen.

»Diez Euro«, sagte die Frau und hielt alle zehn Finger hoch. Nico fand das billig und gab ihr das Geld.

Man konnte hören, dass heftig an das Tor geklopft wurde; die Frau eilte von dannen, und Nico konnte endlich auf das Bett sinken. Sie zog die schlammigen Schuhe aus und ließ sie auf den Holzboden fallen. Es gab einen dumpfen Schlag. Sie war so erschöpft, dass sie kaum die Kraft hatte, ihre Socken auszuziehen. Sie rochen etwas. Ich werde mich daran gewöhnen, dachte sie resigniert. Normalerweise roch sie nie, höchstens nach Körpercreme oder ihrem Deodorant. Sie untersuchte ihre Füße und fand an jedem Fuß zwei Blasen. Insgesamt vier, dachte sie, ziemlich viel für einen einzigen Tag. Wie soll das weitergehen? Sie holte ihre Plastiksandalen und das Pflaster aus dem Rucksack. Dummerweise war das Pflaster ein großes Stück und sie hatte keine Schere dabei. Also machte Nico sich auf, die Herrin des Hauses zu suchen.

Im Flur konnte sie nicht widerstehen und öffnete die Tür des nächsten Zimmers, dann blieb sie fasziniert stehen. Ein beleuchteter Marienaltar war die einzige Lichtquelle. Auf jeder freien Fläche standen religiöse Figuren, an der Wand hingen Bilder, dazwischen waren Kerzen verteilt. Es gab sogar ein kleines Weihwasserbecken. Nico schloss die Türe schnell wieder. Sie fühlte sich, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden oder hätte Blaubarts achte Tür aufgestoßen. Ich fange an zu spinnen, dachte sie.

Im nächsten Zimmer fand sie ihre Wirtin, die sich gerade um eine kleine Pilgergruppe kümmerte. Einer der vier Pilger trug eine Fahne – auch das noch, dachte Nico. Als der Fahnenmann ihr Pflaster sah, stellte er die Fahne ab, stürzte zu seinem Rucksack und holte sein Pflaster hervor. Er wollte ihr eins geben. Nico zeigte schnell vier Finger. Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf, und die anderen gaben Laute des Bedauerns von sich. Es klang wie Taubengurren. Sie berieten sich in einer Sprache, die Nico nicht verstand. Sie tippte auf Italienisch. Dann gaben sie ihr vier Pflaster, und Nico konnte gehen.

Anschließend suchte sie das Badezimmer und duschte heiß. Danach verarztete sie ihre Füße. Glücklicherweise konnte sie in ihren Sandalen gehen, ohne zu humpeln. Nico öffnete die Kleiderschränke im Zimmer, aber alle waren vollgehängt, sie fand nicht einen leeren Bügel. Deshalb verteilte sie ihre nasse Kleidung im Raum. Jetzt roch es feucht-modrig wie auf dem Lande, als sie ein Kind gewesen war und regelmäßig zu ihren Großeltern fuhr.

Am liebsten hätte sie sich jetzt ins Bett verkrochen, aber sie hatte immer noch nichts gegessen, und ihr war erbärmlich kalt. Widerstrebend zog sie Socken an. Noch nie in ihrem Leben hatte Nico Sandalen mit Socken angehabt. Das tat nur eine bestimmte Sorte deutscher Männer, die sie verabscheute. Wahrscheinlich trug Rübezahl auch Socken mit Sandalen, aber sie hatte nicht auf seine Füße geschaut, nur bis zu den Waden.

Vielleicht gab es in der Bar gegenüber etwas zu essen und hoffentlich war es wärmer als das modrige Zimmer. Die einzigen Gäste, alles Männer, standen an der Theke und tranken Bier, Wein und Kaffee. Der Boden war übersät von Papierchen und Zigarettenkippen. Durch eine geschlossene Glastür sah man den Speisesaal, der gerade renoviert wurde. Jeder einheimische Gast, der die Bar betrat, wurde durch die Glastür geführt und musste sich die Baustelle ansehen. Nicos Hoffnung auf ein warmes Essen schwand. Sie bestellte einen Kaffee und etwas, was sich bomba nannte und sich als runde Kalorienbombe entpuppte: außen trockener Teig, innen süßeste Puddingfüllung. Als die bomba in Nicos Magen ankam, schien dieser einen erfreuten Satz zu machen. Wenigstens er war jetzt zufriedengestellt. Dann zeigte sie der Bedienung das Wort »Abendessen« in ihrem kleinen Lexikon. Die Kellnerin nickte und antwortete mit neun Fingern. Nico hatte das Gefühl, sie würde es nicht schaffen, so lange wach zu bleiben.

Sie lief durch das Dorf, in der Hoffnung, dass etwas geschehen würde. Es war immer noch nicht aufgewacht. Außerdem pfiff der Wind, Nico fror erbärmlich und kapitulierte. Sie ging in die Herberge, legte sich ins Bett und hätte gerne ein wenig geschlafen, aber ihr war zu kalt. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, tauchte Felix auf. Verzweifelt betrachtete sie das Marienbild und wartete auf das Abendessen. Das ist Folter, dachte sie.

Später beim Essen in der Bar saßen nur Pilger. Die Fahnenträgergruppe hatte sich umgezogen und trug geschlossen Fleece. Nachdem Nico genauer hingesehen hatte, stellte sie fest, dass alle Pilger vollkommen in Fleece eingekleidet waren. Sie stellte sich das warm und gemütlich vor. In der nächsten größeren Ortschaft kaufe ich mir das auch, beschloss Nico. Dann bestellte sie das Tagesmenü, das sehr billig, aber trotzdem so reichhaltig war, dass sie es nicht aufessen konnte. Sie fühlte sich von den anderen beobachtet, weil sie die Einzige war, die alleine an einem Tisch saß.

Nach dem Essen ging der Fahnenmann an die Theke und holte einen Stempel, mit dem jeder aus seiner Gruppe sorgfältig seinen Pilgerausweis stempelte. Dann kam er zu Nico und hielt ihr den Stempel hin. Nico war gerührt, dass sich jemand um sie kümmerte.

Um zehn Uhr verließen alle Pilger die Bar, und Spanier kamen zum Essen. Nico hielt es noch bis elf aus, weil sie sicher war, dass sie sowieso nicht schlafen könnte, und hier gab es wenigstens Leute, die sie anschauen konnte.

Als sie durch das Tor ihrer Unterkunft getreten war, tastete sie vergeblich nach einem Lichtschalter. Vorsichtig schlich sie im Dunkeln nach oben, konnte aber nicht verhindern, dass sie mehrfach stolperte. Sie schwor sich, nie mehr abends ohne Taschenlampe aus dem Haus zu gehen. In ihrem Zimmer holte sie sich ihren Schlafsack zu den Decken ins Bett. Erstaunlicherweise schlief sie sofort ein.

Kapitel 3

Nico wurde von einem durchdringenden Wecker aus dem Nachbarzimmer wach. Das war schlimm, weil sie gerade mit Felix eng umschlungen auf der Terrasse saß. In Wirklichkeit war das seit Jahren nicht mehr vorgekommen, aber im Traum schien alles so einfach. Mühsam blinzelte sie auf ihre Armbanduhr. Sechs. Man hörte aufgeregte Frauenstimmen, dann fiel Nico ein, dass ihre Zimmernachbarn wahrscheinlich Italienerinnen waren und somit nicht aufgeregt, sondern einfach redeten. Danach hörte sie ein reges Hin und Her zwischen Zimmer und Bad. Um halb acht hatten sie es geschafft, sie gingen. Nico brummte der Schädel, weil sie zu wenig geschlafen hatte. Sie stand auch auf, schenkte sich die Dusche und zog die gestrige Kleidung wieder an. Viel Auswahl hatte sie sowieso nicht. Alles andere war noch feucht. Als sie das T-Shirt und die Socken zum Trocknen über den Rucksack hängte und mit Sicherheitsnadeln befestigte, fühlte sie sich wie eine Obdachlose.

Am grauen Himmel hingen noch grauere Wolken. Es passte zu Nicos Stimmung, dass die Bar geschlossen war und sie ohne Kaffee loslaufen musste. Sie spürte ihre Blasen und das Knie, deshalb ging sie langsamer als gestern. Das nächste Dorf schlief noch. Vor einigen Monaten hätte Nico um diese Uhrzeit an einem Samstagmorgen auch noch geschlafen.

In Obanos sah sie Menschen, und ihre Hoffnung auf eine Bar stieg wieder. Sie hielt eine Frau an und sagte in fragendem Ton: »Bar?« Die Frau sah sie stirnrunzelnd an und schien zu überlegen, ob Nico ihre Erklärungen verstehen würde. Nico wurde als zu leicht befunden. Die Frau winkte einem Mann und redete auf ihn ein. Dann bedeutete sie Nico, dem Mann zu folgen, und sie landete bei einer geöffneten Bar. Die Menschen sind freundlich, dachte Nico und versuchte dem Mann ein Dankeschön zuzulächeln.

Die Bar war alt. Sie setzte sich erschöpft an einen schönen Holztisch und blickte sich um. Zwei Spanier frühstückten, vor ihnen standen Kaffee, Rühreier und eine Flasche Wein. Um diese Uhrzeit, dachte sie. Schließlich raffte sie sich auf und ging an die Theke, weil sie hoffte, etwas zu essen zu sehen und mit den Fingern darauf zeigen zu können. Der Wirt hatte lange Haare, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Nico deutete auf ein belegtes Schinkenbrötchen und bestellte einen Milchkaffee. Auf dem Rückweg blieb sie vor dem Fernseher stehen. Es lief MTV, und die Wirtin tänzelte ihr entgegen.

Während Nico aß, beobachtete sie die anderen Gäste. Die Spanier waren mittlerweile beim Schnaps angelangt. Nico schüttelte sich. Dann schämte sie sich und dachte, die können doch nichts für mein Unglück. Nur ich allein. Zwei ältere Pilger betraten die Bar und grüßten Nico, die mit einem Kopfnicken antwortete. Die beiden gingen an die Theke und ließen sich einen Stempel geben. Bevor Nico die Bar verließ, tat sie es ihnen gleich und ließ sich dabei das Wort für »Stempel« sagen: »sello«. Gestempelt wurde in die Pilgerausweise, damit in den Herbergen nachvollzogen werden konnte, wie viele Kilometer man täglich zurückgelegt hatte.

Im Ort ging das Grüßen weiter. Nico erinnerte sich, dass es früher bei ihrer Großmutter auf dem Dorf auch immer so gewesen war. Die Sonne brannte mittlerweile, hatte aber ihre Socken und das T-Shirt getrocknet. Nico konnte alles in den Rucksack packen. Als sie aufblickte, sah sie wieder Berge. Nur die vielen Blumen versöhnten Nico. Sie dufteten. Auch das erinnerte sie an früher. Wenn sie sich heutzutage Blumen kaufte, konnte sie schnuppern, so viel sie wollte, sie blieben geruchlos.

In Puente la Reina waren viele Menschen auf den Straßen, nicht nur Pilger. Man erkannte sie an den Rucksäcken und praktischer, meist hässlicher Kleidung. Nico sah an sich selbst hinunter und seufzte. Ich würde mich selbst nicht wiedererkennen. Bis vor kurzem war sie immer modisch und teuer gekleidet gewesen.

In einem Supermarkt kaufte sie Wasser und Müsliriegel. Ich werde noch bei den Alternativen enden, dachte sie. Dann machte sie einen Rundgang. Der Ort erinnerte sie an Rothenburg ob der Tauber, er wirkte wie ein Postkartenmotiv. Nico betrat die alte Pilgerbrücke, blieb stehen und berührte sie. Sie hatte sich vorgenommen, alte Steine anzufassen, um festzustellen, ob man Geschichte fühlen konnte. Sie spürte nichts.

Plötzlich hatte sie genug und verließ den Ort. Sechs Kilometer bergiges Gelände. Als sie in Lorca ankam, dachte sie, sie käme keinen Schritt weiter und schaffte es gerade noch bis zum Brunnen. Zwei Pilger saßen auf der Mauer und badeten ihre Füße. Der Mann wollte eine Zigarette, Nico schüttelte stumm den Kopf. Die Frau hatte ihre langen grauen Haare zu einem Zopf gebunden, war aber nicht alt und betrachtete Nico aufmerksam. Das war ihr unangenehm. Sie wartete, bis die beiden gegangen waren und zog mühsam ihre Wanderschuhe und Strümpfe aus. Als sie endlich erleichtert die Füße ins Wasser hielt, fiel ein Schatten über Nico. Ich drehe mich nicht um, beschloss sie. Das war auch nicht nötig. Der Schatten sprach in ihren Rücken.

»Das hätte ich mir denken können, dass du so unvernünftig bist.« Nico erkannte die Stimme sofort und beschloss zu schweigen. »Raus aus dem Wasser, aber sofort!« Rübezahl klang trotz seiner barschen Worte nicht unfreundlich, nur bestimmt. Wie kam er hierher? Er müsste bei seinem Tempo Kilometer weiter sein. Als Nico nicht sofort reagierte, nahm er tatsächlich ihre Füße und hob sie aus dem Wasser heraus. »Weißt du denn nicht, dass man sich grauenvolle Blasen holt, wenn man die erhitzten Füße ins kalte Wasser stellt?«

»Ich habe schon ohne Wasser welche«, gab Nico zu.

Rübezahl holte ein Handtuch aus seinem Rucksack und trocknete behutsam ihre Füße ab. »So. Jetzt setzen wir uns unter den Baum in den Schatten, und du legst die Füße auf die Bank.«

Nico folgte ihm brav wie ein Lämmchen. Nachdem sie sich hingesetzt hatte, untersuchte er ihre Füße. Nico fiel auf, dass noch nie ein Mann ihre Füße berührt hatte, nicht einmal Felix. Sie liebte ihre Füße nicht.

Dann holte Rübezahl ein merkwürdig milchig aussehendes Pflaster aus seinem Rucksack und klebte es auf ihre Blasen. »Das wird helfen«, sagte er. »Bist du jetzt auch noch mit Stummheit geschlagen?«

»Ich bin es nicht mehr gewohnt zu reden«, antwortete sie.

»Das ist ganz einfach. Man öffnet den Mund und lässt Worte frei.« Komischer Kauz, dachte Nico, fand ihn aber rührend. »Du musst mir ja nicht gleich deine Lebensgeschichte erzählen.« Nico schüttelte erschrocken den Kopf. »Bist du gläubig?«

Das fehlte noch, dachte sie. »Nein. Ist das eine Voraussetzung zum Pilgern?«

»Natürlich nicht. Manchmal verändert man sich auf dem Weg. Grundlos bist du doch auch nicht hier.«

»Aber nicht, um fromm zu werden.«

»Man weiß nicht, was passiert. Das ist doch das Schöne.«

»Ich weiß immer gerne, was passiert.«

»So siehst du aus«, sagte er lachend. Nico lauschte dem Lachen hinterher und spürte zum ersten Mal seit Wochen ein anderes Gefühl als Trauer: Sie hatte Sehnsucht nach Unbeschwertheit.

»Woran erkennt man das?«, fragte sie und traute sich endlich, auf seine Füße zu blicken. Er trug zwar Socken, aber keine Sandalen, sondern Wanderschuhe.

»An einer Verkniffenheit im Blick«, antwortete er unverdrossen. »Deutsche haben das häufiger als Südländer«, behauptete er dann. »Aber vielleicht verliert es sich bei dir, wenn du erst eine Weile unterwegs bist. Du siehst auch aus, als wärest du bereit zu lernen.«

»Was du alles siehst«, sagte Nico und dachte, er ist ein wenig eingebildet.

»Das ist mein Beruf«, entgegnete er. Nico wartete, aber er sprach nicht weiter. Schade, sie hätte gerne gewusst, was er arbeitete, wollte aber nicht fragen, um nicht zu interessiert zu erscheinen. Ihrem Eindruck nach konnte er ebenso Schäfer wie Sozialarbeiter sein. »Wollen wir gemeinsam etwas essen?«, unterbrach er ihre Gedanken.

»Gibt es hier eine offene Bar?«, fragte Nico.

»Keine Ahnung«, antwortete Rübezahl. »Hast du nichts dabei?« Damit fing er an, seinen Rucksack auszupacken: Baguette und Käse, eine Salami und Tomaten, Oliven und zum Abschluss eine Flasche Rotwein. Dann zog er ein Schweizer Taschenmesser aus der Hosentasche und entkorkte den Wein. Etwas verlegen nahm Nico die Müsliriegel und die Flasche Wasser aus ihrem Rucksack. »Ist das etwa alles?«, fragte er. »Machst du eine Abmagerungskur?« Nico schüttelte den Kopf. »Hast du so viel Geld, dass du immer in eine Bar gehen kannst?«

»Ich habe selten Hunger«, antwortete Nico. »Ich denke nicht an essen.«

»Wie willst du dann die Strecke schaffen?« Er zerteilte das Baguette und schnitt jedem ein Stück Käse und ein wenig Wurst ab. Dann viertelte er die Tomaten und fing an zu essen.

Nico sah ihm kurz zu und biss dann in die Salami. Sie schmeckte herzhaft und hatte einen kräftigen Knoblauchanteil. Ihr Magen klatschte Beifall, so etwas hatte er schon lange nicht mehr bekommen. Sie aßen alles auf, was er dabei hatte, nur beim Wein lehnte Nico ab. Zu ihrer Erleichterung kommentierte er das nicht. Rübezahl selbst trank den Wein aus der Flasche und korkte ihn nach der Hälfte wieder zu. Dann legte er sich hin und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Nico beneidete ihn. Er sah zufrieden oder glücklich aus, sie war sich nicht ganz sicher, schließlich kannte sie ihn nicht. Weitergehen konnte sie jetzt jedenfalls nicht. Es wäre unhöflich gewesen, ihn ohne ein Wort zu verlassen.

Nico erwachte davon, dass er sanft ihre Schultern rüttelte. »Es ist vier. Wir müssen weiter, sonst erreichen wir die Herberge nicht mehr rechtzeitig. Zumindest bei deinem Tempo«, setzte er noch hinzu. Es klang aber nicht beleidigend. Nachdem sie eingepackt hatten, liefen sie gemeinsam weiter.

»Hast du schon in einer richtigen Herberge übernachtet?«, fragte er, als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist etwas gewöhnungsbedürftig. Seit wann bist du unterwegs?«

»Seit gestern«, antwortete sie und wusste, dass das ungewöhnlich war.

»Dann hast du in Pamplona angefangen?«

»Ich fürchtete die Pyrenäen«, antwortete sie. Er nickte, als hätte er sich das gedacht.

»Warum fragst du mich gar nichts? Ich sehe doch, dass du neugierig bist.«

»Wenn man fragt, ist das gleichzeitig die Erlaubnis, auch ausgefragt zu werden.«

»Das ist geschickt«, gab er bewundernd zu. »Aber das Schöne hier ist, dass man häufig mit Leuten zusammentrifft, die man nie mehr im Leben wiedersehen wird.«

»Dich habe ich wiedergetroffen«, entgegnete Nico.

»Ein ungewöhnlicher Zufall, weiter nichts. Ich habe einen längeren Umweg gemacht, um mir ein Kloster anzusehen, sonst wäre ich schon Kilometer weiter.« Das entsprach Nicos Vorstellungen über ihre unterschiedliche Geschwindigkeit.

Der Weg zog sich, Nico war froh über Rübezahls Begleitung, weil sie durch ihn nicht ständig an die vielen Kilometer und ihre Blasen dachte. Obwohl, die Schmerzen waren deutlich geringer geworden; die Pflaster, die er ihr gegeben hatte, halfen. Es war immer noch sehr heiß, und beiden lief der Schweiß über die Wangen. Nachdem sie eine Brücke passiert hatten, kamen ihnen drei Hunde entgegen, die sich wie toll gebärdeten. Nico dachte an die Berichte von wilden Hunden in ihrem Reiseführer und war noch glücklicher, nicht alleine zu sein. Obwohl die Hunde an langen Ketten lagen, hätte sie sich gefürchtet. Verstohlen beobachtete sie Rübezahl, der völlig ungerührt zu sein schien.

Nico musste pinkeln, das viele Wasser beim Rasten. Wie sollte sie es ihm sagen? Es war ihr äußerst unangenehm. »Ich müsste mal verschwinden«, sagte sie verlegen.

Rübezahl deutete wortlos in den Wald und verlangsamte sein Tempo. Nico verschwand hinter den Bäumen und dachte, wenn nun jemand kommt? Sie wusste, dass das äußerst unwahrscheinlich war, sie waren seit Stunden niemandem begegnet. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie noch nie im Freien gepinkelt hatte. Als sie fertig war, dachte sie, man lernt tatsächlich. Das nächste Mal ist es einfacher.

Am Ortseingang von Estella blieben sie stehen. Diesmal war es eine kleine Stadt, kein Dorf. Nico fand den Ort unsympathisch, aber vielleicht lag das nur an ihrer Erschöpfung und der Hitze. Der erste Mensch, der ihnen begegnete, war eine Pilgerin mit kurzen Hosen und verbrannten Waden. Sie schwenkte einen Schirm und sagte forsch: »Grüß Gott.« Nico wäre das mittlerweile vertraute »buen camino« lieber gewesen. Rübezahl grüßte zurück.

Die Pilgerherberge lag in einer uralten Straße mit grobem Steinpflaster. Zuerst erreichten sie ein altes Hospital, die neue Herberge lag daneben. Der Herbergsvater war Nico auf Anhieb unsympathisch. Es lag an der Stimmung, die ihn umgab. Vielleicht hatte er einfach für heute die Schnauze voll von Pilgern, vor allem von schwerfälligen Ausländern, die Geduld erforderten, dachte sie. Dass Rübezahl Spanisch sprach, vereinfachte die Anmeldung beträchtlich. Sie wurden gefragt, ob sie morgens ein Frühstück wollten. Da es Sonntag war, bejahten sie das vorsichtshalber. Anschließend wies der Mann ihnen barsch zwei Betten im zweiten Stock rechts zu, in dem es vor Menschen nur so wimmelte.

Nico war zu müde für all diesen Lärm und trottete hinter Rübezahl her. Als sie in den zugewiesenen Raum eintraten, kam eine aufgeregte Deutsche auf sie zu, wedelte mit den Armen und sagte energisch: »Dieses Zimmer ist voll. Versucht es nebenan.« Woran hat sie gemerkt, dass wir Deutsche sind?, fragte sich Nico. Oder ist sie einfach überzeugt davon, dass jeder diese Sprache versteht?

Doch auch im Nebenraum war jedes Bett belegt. Rübezahl ging nach unten und holte den Herbergsvater, der ihnen voran wieder ins erste Zimmer ging. Er deutete auf zwei nebeneinanderstehende Betten. Es stand zwar Gepäck davor, aber die Betten waren leer. Die deutsche Frau guckte sie böse an, Nico verstand nicht, was los war.

»Wahrscheinlich hat sie zwei Plätze für Freunde frei gehalten, die später kommen. Hier herrscht Kampf um die Betten«, flüsterte Rübezahl Nico lächelnd zu und breitete seinen Schlafsack auf dem einen Bett aus.

Erst jetzt nahm sich Nico die Zeit, sich umzusehen, und erlitt ihren ersten Herbergsschock. Der Raum war mit achtzehn Doppelstockbetten vollgestellt worden, als Ausgleich gab es immerhin große Fenster und somit auch viel Tageslicht. Jeweils zwei Betten waren so eng gestellt wie Ehebetten. Nico blickte zu Rübezahl, der mit dem Ausräumen fertig war und sich auf dem Bett ausgestreckt hatte. Er schien schon wieder kurz vor dem Einschlafen zu sein. Der Mann hat ein beneidenswertes Gemüt, dachte sie. Dann sah sie sich weiter um. Viele Menschen lagen auf den Betten und schliefen oder starrten in die Luft, Männer und Frauen. Nico war bisher von getrennten Schlafräumen ausgegangen. Die drei rot-blauen Pfadfinder aus Pamplona waren auch im Zimmer, sie wuselten herum und wirkten sehr wach. Nico legte ihren Schlafsack auf das Bett und suchte dann die Dusche. Es gab zwei Sanitärräume, die direkt von dem Schlafraum abgingen. Nico nahm den rechten und stellte als Erstes fest, dass es vor den Duschen weder Vorhänge noch Türen gab, aber immerhin Türen vor den Toiletten. Sie überlegte und duschte trotzdem. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Tür und ein Mann kam herein. Er starrte sie entsetzt an und ging sofort wieder. Nico war erleichtert und beeilte sich sehr. Die restliche Zeit über blieb sie ungestört.

Sie ging ins Zimmer zurück, betrachtete kurz den schlafenden Rübezahl – beneidete ihn – und machte sich dann auf die Suche nach dem Waschplatz. Zuerst fand sie die Küche. Menschen, die in allen möglichen Sprachen miteinander redeten, saßen um einen riesigen Holztisch. Andere kochten, wieder andere wuschen Salat, aßen oder saßen einfach nur herum. Nico hatte das Gefühl, alle starrten sie an. Schnell verschwand sie wieder.

Hinter der Küche befand sich ein kleiner Innenhof mit Liegestühlen und Wäscheleinen. Stühle wie Leinen waren fast restlos belegt. Am Ende des Hofgartens lag der Waschplatz mit großen Becken und vielen Schüsseln. Die Pfadfinder bearbeiteten ihre Kleidung professionell mit Seife und Bürste und kräftigen Armbewegungen, während sie im Rhythmus dazu sangen. Für Nico klang es wie Spanisch. Sie wusch schnell ihre wenige Wäsche und verteilte sie in den Lücken auf der Wäscheleine.

Als sie zurückkam, war Rübezahl aufgewacht. »Lass uns in die Stadt gehen.« Er sah auf die Uhr. »Spätestens um zehn müssen wir zurück sein, sonst kommen wir hier nicht mehr rein. Hier wird abgeschlossen.«

»Willst du damit sagen, dass sie uns einschließen?«, fragte Nico entsetzt.

»Natürlich.«

Warum tue ich mir das an, dachte Nico, aber sie freute sich, dass sie der Herberge entfliehen konnte. Gemeinsam gingen sie die Straße hinunter, die von alten Häusern gesäumt wurde. Nico dachte, wenn man die Menschen ausklammert, kann man sich vorstellen, wie es früher ausgesehen hat. Unsinn, ich muss andere Menschen ins Bild setzen. Das gelang ihr aber nicht. Sie ging jetzt dicht bei Rübezahl und stellte fest, dass er verschwitzt roch. Sofort hielt sie einen etwas größeren Abstand.

»Ja, ja, ich Ferkel habe nicht geduscht«, sagte er lachend. Nico sagte nichts. Ich muss noch viel lernen.

Irgendwann stolperten sie über die Plaza Mayor, einen großen Platz, an dem ein Lokal neben dem anderen lag. Außerdem gab es Kinder, die schreiend herumliefen und Tauben, die leise Nahrung suchten; vielleicht gurrten sie auch, aber bei dem Krach hätte Nico das nicht hören können. Menschen, die schlenderten, Menschen, die saßen. Sie setzten sich auch und betrachteten beim Kaffee stumm die Leute auf dem Platz. Sie blieben am längsten in der Bar sitzen, alle anderen tranken nur kurz etwas und zogen dann weiter.

Nach zwei Stunden bestellten sie etwas zu essen. Es war teuer und nicht besonders gut, aber Nico dachte, ich würde auch nicht im Vergnügungsviertel in Sachsenhausen essen gehen. Zumindest würde ich mich da über nichts wundern.

Vor ihnen saßen Spanier mit einem rosawollenen Baby, das mit verklebten Augen in einem Rolls-Royce-ähnlichen Kinderwagen saß. Wenn das Baby mürrisch wurde, reichte man es am Tisch herum. Neben ihnen saß ein Paar mit einem blonden, sehr friedlichen Kleinkind. Es war so lange wach und friedlich, dass Nico schon überlegte, ob die Eltern ihm ein Beruhigungsmittel oder Alkohol gegeben hatten. Seine Hände bewegte es so langsam, als befände es sich noch als Embryo im Mutterleib. Nur von Pilgern war nichts zu sehen. Ob die alle ihren Abend in der Herberge verbrachten?

Um halb zehn gingen sie zurück. Als sie ins Zimmer kamen, sah Nico, dass manche schon schliefen. Wo bin ich hier gelandet?, überlegte sie. Rübezahl ging nach links Zähne putzen, also nahm sie die rechte Seite. Beide Toiletten waren besetzt. Auch das noch! Vor dem Waschbecken schrubbte sich eine Frau mit weit ausholenden Bewegungen die Zähne, ihr ganzer Körper bewegte sich, als würde sie eine Sense schwingen.

Als Nico zurückkam, sah sie, dass auch Rübezahl bereits eingeschlafen war. Sie stopfte ihren kleinen Rucksack mit den Papieren und dem Geld unters Bett und stieg dann in den noch ungewohnten Schlafsack. Sie horchte. Ihr war sehr warm, weil alle Fenster geschlossen waren. Um halb elf erschien der Herbergsvater, pfiff »Guten Abend, gute Nacht« und schaltete das Licht aus. Erstaunt bemerkte Nico, dass sie zornig wurde. Sie fühlte sich wie bei einer Kinderlandverschickung.

Natürlich konnte sie nicht einschlafen. Wann war sie das letzte Mal um halb elf ins Bett geschickt worden? Als Kind? Die Ersten fingen unregelmäßig an zu schnarchen. Nico setzte sich und stellte fest, dass fast alle Schläfer auf dem Rücken lagen. Oje, das versprach ja, eine unruhige Nacht zu werden. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, quietschte ihr Bett. Alle halbe Stunde schlug die Kirchturmuhr. Nico lauschte ihr noch bis zwei, dann war sie endgültig eingeschlafen.