Nur über meine Leiche - Beate Dölling - E-Book

Nur über meine Leiche E-Book

Beate Dölling

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Beschreibung

Widerstand zwecklos? Denkste! Oma Traudl ist Lilas Zuhause. Schon immer wohnt sie bei ihr, in der kleinen Wohnung über ihrem Friseursalon, der so viel mehr ist, als nur ein Ort zum Haareschneiden. Nicht nur, weil dort der gesamte Kiez zusammenkommt, um sich auszutauschen, zu lachen und zu tanzen. Seitdem die »Pinken« auf dem Vormarsch sind und plötzlich nur noch Likes und Follower zählen, ist der Friseursalon zu einer Keimzelle des Widerstands geworden. Oma Traudl lässt sich doch nicht von einer Horde uniformer, seelenloser Hochglanztussis einschüchtern! Aber dann passiert das Unbegreifliche: Oma Traudl soll bei einem Unfall ums Leben gekommen sein? Lila kann es einfach nicht glauben. Warum haben die Pinken verhindert, dass sie ihre Oma noch mal sehen kann? Warum sind sie so hinter ihrem Erbe, dem Friseursalon, her? Da stimmt doch etwas nicht. Mit der Hilfe ihrer besten Freunde und der Unterstützung des gesamten Kiezes kommt Lila der riesigen Ungerechtigkeit auf die Spur.

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PRolog - Ein Tritt daneben

KAPITEL 1 - Eine überraschende Begegnung

KAPITEL 2 - Mathe in Pink

KAPITEL 3 - Nein!

KAPITEL 4 - Das kann doch nicht sein

KAPITEL 5 - Unerwünschte Gäste

KAPITEL 6 - Es muss was geschehen!

KAPITEL 7 - Im Friseursalon

KAPITEL 8 - Ein Geheimnis im Schrank

KAPITEL 9 - Trockenhauben, die es in sich haben

KAPITEL 10 - Nur über meine Leiche!

KAPITEL 11 - Ein wackelnder Turm

KAPITEL 12 - Parole Schnipp-Schnapp

KAPITEL 13 - Die Kandidatin

KAPITEL 14 - Ein Nackthund mit Drehwurm

KAPITEL 15 - Die Mega-Show

KAPITEL 16 - Schmerzende Füße

KAPITEL 17 - Zeit für Action

KAPITEL 18 - Nichts ist, wie es scheint

KAPITEL 19 - Zwei Hände schnellen aus der Tür

KAPITEL 20 - Die Doppelagentin

KAPITEL 21 - »Setz dich doch, meine Liebe!«

KAPITEL 22 - Fäden ziehen

KAPITEL 23 - 484 Stufen

KAPITEL 24 - Spinnen bringen Glück

KAPITEL 25 - Pink stinkt!

PRolog - Ein Tritt daneben

»Ich hab gesagt, den flamingorosa Schal, nicht den kaugummipinken!« Peggy Plump saß oben auf ihrem glitzernden Regiestuhl und schwang die wasserstoffblonden, langen Haare hinter sich.

Gerdi stand vor ihr und hob den Schal auf, der der Chefin nicht passte und den sie ihr gerade vor die Füße geworfen hatte. Schnell zog sie nun den flamingofarbenen aus dem Korb und reichte ihn ihr.

Sofort lächelte Peggy Plump wieder ihr bezauberndes Lächeln. Es war genau das Lächeln, das man von allen Werbebildschirmen und Plakaten in der Stadt her kannte und das sie auch in jeder Mega-Show zum Besten gab. »Das strahlendste Lächeln, das die Menschheit je gesehen hat« – so hieß es jedenfalls in den Klatschzeitschriften und den sozialen Medien. Ja, Peggy Plump war nicht nur die schönste Frau im Land, sondern auch die reichste, mit Millionen von Followern.

Alpha PP, wie sich die Präsidentin der Pinken auch gern ansprechen ließ, schwang sich den Schal um die Schultern und ließ sich von Gerdi einen Spiegel halten.

Gerdis Hand zitterte. So nah war sie dieser mächtigen Frau noch nie gekommen. Überhaupt krass, dass sie es beim Casting für die Mega-Show geschafft hatte, das hieß, sie hatte sich immerhin schon mal gegen 150 Mitbewerber und Mitbewerberinnen durchgesetzt. Bis zur Sendung in zwei Wochen würde es noch ein harter Weg werden, das war ihr bewusst. Bei den Pinken gab es schließlich nichts umsonst, das hatte sie in den letzten Wochen am eigenen Leib erfahren. Als Frischling – wie die Neuen genannt wurden – hatte sie einige Pflichten in der Community zu erfüllen. Außerdem musste sie die vorgeschriebene Kleidung tragen: einen neonpinken Overall und gelbe High Heels, die es aber nur in Größe 36 gab. Bei den Pinken hatte man sich anzupassen, wenn man in den Genuss ihrer Luxuswelt kommen wollte, das galt auch für die Schuhe. Gerdis Füße waren bereits nach wenigen Stunden geschwollen, wund und blasig gewesen, aber so war das nun mal. Dass das Leben mitunter kein Zuckerschlecken war, wusste sie nur zu gut. Noch vor Kurzem hatte sie zu Hause den gesamten Haushalt geschmissen und ihren kleinen Bruder versorgt. Wie sie Ronni vermisste! Und Mama eigentlich auch.

Sie schaute Peggy Plump zu, wie sie sich im Spiegel betrachtete. Allein ihr Anblick war einfach mega! Alles an ihr schien perfekt. Da konnte man sich ruhig mal anmeckern lassen. Peggy meinte es ja nur gut und kümmerte sich rührend um ihre Frischlinge, das war allgemein bekannt. Außerdem lächelte sie bereits wieder und widmete dieses Lächeln Gerdi ganz allein. Das wog alle Unannehmlichkeiten auf. Auch die geschundenen Füße.

»Okay, Sweety, du kannst jetzt gehen.« Peggy Plump stieg von ihrem diamantbesetzten Regiestuhl, der wie ein Thron auf einem Podest stand, hoch oben, im Penthouse ihres 23 Stockwerke hohen Pink-Power-Towers, der allgemein »der Turm« genannt wurde und von dem aus sie die ganze Stadt überblicken konnte. Ehrfürchtig trabte Gerdi ab.

»Und üb’ unbedingt noch Laufen!«, rief Alpha PP ihr hinterher. »Du wackelst noch zu viel mit den Knien, Sweety. Du weißt ja, locker und selbstbewusst rüberzukommen, ist das Ziel für die erste Folge.«

Kaum hatte Gerdi den Raum verlassen, fiel das Lächeln von Peggy Plump ab. Es war wirklich eine Zumutung mit anzusehen, wie trampelig dieses Mädchen daherkam! Aber jetzt war noch nicht der richtige Zeitpunkt, um sie auflaufen zu lassen. Schade eigentlich, denn Peggy war so richtig in Fahrt. Den ganzen Morgen hatte sie sich schon geärgert, wegen der Lilienstraße, mal wieder. Sie hatte bislang immer noch keine einzige Filiale ihrer Ladenketten dort unterbringen können und in keinem anderen Viertel der Stadt wurden weniger Pink-Angebote genutzt als im Lilienkiez. Nicht mal die Wohnung von dieser Trampel-Gerdi hatte sie übernehmen können, obwohl die ja nun so gut wie leer stand, seitdem ihre Mutter in der Klapse war. Da steckte bestimmt wieder Edeltraud Locke dahinter, vom Salon Edeltraud. Die mischte ja ständig den ganzen Kiez auf. Aber wie schaffte sie das bloß? Wenn Peggy Plump nur wüsste, wie sie vorging, dann würde sie der schon das Handwerk legen, doch ihre dämlichen Mitarbeiter waren bislang nicht in der Lage, diese winzige Kleinigkeit herauszufinden. Dabei hatten sie die modernsten Abhör- und Ausspähtechniken zur Verfügung! Und auch daran war eindeutig diese Edel-Locke schuld. Da war sich Peggy Plump ganz sicher. Irgendwas lief da ab, in dem Friseursalon, aber zu dem hatten die Pinken ja keinen Zutritt – was eine bodenlose Frechheit war. Wo blieb da das Recht auf Freiheit?

Alpha PP trank einen Schluck ihres Beruhigungstees, der handverlesen und extra für sie zusammengemischt wurde. Wenn sie doch nur einen verdammten Weg finden würde, um das Geheimnis des Friseursalons zu lüften. Sie wollte die Kontrolle, und zwar über die ganze Stadt!

Sie versuchte ruhig zu atmen, denn Schnaufen schadete ihrer Schönheit. Immerhin hatten ihre Leute es ja schon mal geschafft, diese Plattfuß-Gerdi in die Community zu schleusen. Die hing ja vor noch nicht allzu langer Zeit mit dieser Rotzgöre Lila herum, der Enkeltochter von Frau Locke. Und mit ein bisschen Geduld würde sie dieser Gerdi schon Informationen über die Lilienszene entlocken.

Peggy Plump trank die Tasse in einem Zug leer. Dass der Beruhigungstee noch heiß war, spürte sie gar nicht.

Sie schritt vor den großen Wandspiegel und probierte ein schwarzes, maßgeschneidertes Glitzerkleid an, das sie in der Show zur Elimination anziehen würde. Ach, das würde wieder eine schöne Heulerei geben, wenn sie die Kandidaten rauswarf! Einen nach dem anderen, zack, zack, zack. Goodbye, ihr Süßen! Bei dem Gedanken wurde ihre Laune sofort besser. Sie betrachtete sich im Spiegel von allen Seiten. Himmel, war sie schön!

»Na wartet«, flüsterte sie. »Ihr wisst ja nicht, mit wem ihr es zu tun habt!«, drohte sie ihrem Spiegelbild und fand sich böse noch schöner.

Einer von ihren Dienstboys kam und brachte ihr einen mexikanischen Nackthund mit neonpinkem Kapuzenshirt. Ach ja, sie hatte ja Hunde bestellt. Ihr Lifestyle-Coach hatte ihr geraten, doch ein bisschen Tierliebe zu demonstrieren, das würde ihr noch mehr Likes einbringen. Eigentlich hätte sie ja gern Krokodile oder Schlangen gehabt, aber davon hatte ihr Image-Coach gleich abgeraten, da würde der Tierschutzverein Stress machen, sie solle lieber niedliche Katzen nehmen, von Katzen gäbe es schließlich die meisten Clips im Internet. Leider konnte sie Katzen nicht ausstehen, denn die folgten keinen Befehlen, waren trotzig und eigenwillig wie Kinder. Also Hunde. Sie hatte sich im Internet verschiedene Rassen für ihre diversen Kostüme bestellt: einen weißen Königspudel für ihr Schneewittchen-Outfit, einen Chihuahua für den geschlitzten Overall und einen mexikanischen Nackthund für das schwarze Eliminationskleid. Aber der haarlose Köter sah ja so was von hässlich aus! Und wie ängstlich er sie mit seinen großen Kulleraugen anglotzte. Das reinste Häufchen Elend. Was sollte sie denn mit dem anfangen?

»Ich will diese Töle nicht!«, rief sie, und als das Hündchen nun auch noch anfing zu zittern, holte sie mit dem Fuß aus und wollte ihm gerade einen deftigen Tritt ins Hinterteil verpassen, als er sich jaulend duckte und sie voll ins Leere traf. Die Wucht des Tritts fegte sie von ihren High Heels und sie fiel mit einem lauten Ratsch auf den Hintern. Der Ratsch kam von der Naht ihres Kleides, das von der ruckartigen Bewegung bis zum Kragen aufgeplatzt war.

KAPITEL 1 - Eine überraschende Begegnung

Lila sauste durch den Park. Sie war spät dran, nun blieb ihr nichts anderes übrig, als die Abkürzung mit dem steilen Abhang zu nehmen, bei der man nie wusste, ob man heil unten ankam. In dem sandigen Boden konnte einem bei zu starkem Rücktritt das Hinterrad wegrutschen. Oder wenn man volle Kanne hinuntersauste, musste man tierisch aufpassen, keine Baumwurzeln und Kaninchenlöcher zu erwischen, sonst flog man in hohem Bogen über den Lenker. Das hatte Lila schon mal einen Zahn gekostet, aber sie hatte die erste Stunde Mathe bei Delta JS, wo Zuspätkommen ebenfalls fatale Folgen haben konnte.

Lila war sich sicher, dass es Gerdi gewesen war, die da eben in gelben Stöckelschuhen, in pinkem Jump­suit und mit einer schicken Flutschi-Tasche um die Ecke geflitzt war und so getan hatte, als hätte sie Lila nicht gesehen.

»Das kann doch nicht sein«, murmelte sie. »Nutella-Gerdi bei den Pinken?«

Was hatten sie letzten Sommer noch mit ihr für einen Spaß gehabt, Lila, Shari und Doki, auf Omas Dachboden, als sie sich verkleidet und Gespenster gespielt hatten, obwohl Gerdi schon 13 war und Lila und ihre Freunde erst zehn.

Gerdi war cool, wollte »Gil« genannt werden und fuhr total auf Stöckelschuhe ab, was Lila ziemlich schräg fand, denn wer hatte schon mal Gespenster mit High Heels gesehen? Jetzt schien sie allerdings bei den wahren Gespenstern gelandet zu sein, bei Peggy Plump, die sich mit ihrer Pink-Community in der ganzen Stadt breitmachte. YOU WILL LOVE IT! – blinkte ihr Werbemotto an jeder Ecke von den digitalen Monsterbildschirmen.

Der Jumpsuit, den alle bekamen, die für Alpha PP arbeiteten, war Gerdi offensichtlich ein bisschen zu lang. Deswegen hatte sie die Hosenbeine umgeschlagen. Ihre großen Füße hatte sie in zierliche Stöckelschuhe gequetscht und nun stakste sie wie ein Storch umher. Wenn sie zu Fuß unterwegs war, war sie also noch auf der untersten Stufe in der Pink-Hierarchie. Sie musste sich erst mal die Füße blutig laufen, bevor sie auf der Karriereleiter eine Sprosse aufstieg und einen E-Roller bekam. Das wusste man ja aus den Mega-Shows.

Lila war Gerdi noch ein Stückchen hinterhergefahren, immer in Deckung von Bäumen, parkenden Autos und Häuserecken, weil sie einfach nicht glauben wollte, was sie doch so klar vor Augen hatte: Die coole Gil, alias Nutella-Gerdi, ließ sich in zu enge Schuhe zwängen! Was war nur mit ihr passiert? Seitdem ihre Familie auseinandergebrochen war, hatte sich Gerdi kaum noch bei Lila und ihren Freunden blicken lassen, geschweige denn mit ihnen gespielt.

Es staubte, als Lila den Abhang hinunterbretterte. Sie bremste gleichzeitig mit Hand und Fuß, tickte immer nur leicht an, so kam sie kaum ins Rutschen. Ab der Mitte fuhr sie im Schuss weiter und legte unten eine perfekte Vollbremsung hin, sodass das Hinterrad richtig schön Sand spritzte.

»Pass doch auf, du ungehobeltes Element!«, schimpfte eine Pinke mit weißen Haaren und pechschwarzen Strähnchen, die von links kam. Sie hätte Lila beinahe mit ihrem E-Roller umgefahren, dabei war sie es, die die Vorfahrt nicht beachtet hatte.

»Pass doch selber auf!«, rief Lila ihr hinterher und sah zu, dass sie wegkam. Sie trat kräftig in die Pedale, durchquerte den hügeligen Lilienpark, in dem man gut spielen und schlecht von den Pinken getrackt werden konnte, fuhr an den hohen Buchen, ihren Lieblingskletterbäumen vorbei, weiter über den Abenteuerspielplatz mit dem Sindbad-Schiff und den orientalischen Figuren und kratzte die Kurve am Hunde-Austobe-Platz, wo sie öfter mit ihrem Hund hinging. Schnute war ein kniehoher, zotteliger Mischling mit einem Schlappohr, der alles verstand und aufs Wort hörte, aber nur, wenn man höflich mit ihm redete. Wenn man ihn anmeckerte, klappte er sein zweites Ohr einfach runter und stellte sich taub.

Sie schloss das Rad an, hetzte die Treppen hoch, klopfte an die Klassentür, trat ein, entschuldigte sich und pflanzte sich, noch ganz außer Atem, neben Shari, die sich ein Grinsen verkniff.

»Ich hab Gerdi gesehen«, flüsterte Lila ihr zu. »In pinkem Overall und gelben Hackenschuhen.«

Delta JS alias Frau Stampfmeier, von den Strebern auch Frau Delta genannt, horchte auf und bekam ihren funkelnden Blick. Ihr blonder Pagenkopf wackelte. Sie verzieh kein Zuspätkommen und hasste es auch, wenn jemand im Unterricht flüsterte.

»Lila, ab ans Smartboard. Ich habe eine schöne Aufgabe für dich.« Delta JS lächelte sie breit an. Egal wie dunkel die Augen auch funkelten, bei den Pinken lernte jeder dieses strahlend weiße Lächeln, das den bösen Blick verdeckte.

KAPITEL 2 - Mathe in Pink

200 – 224 : (–24) + 63 × (–4) – {–31 + 7 × (–9) } : 6

Lila rechnete sich in aller Ruhe, Zeile für Zeile, das Smartboard hinab. Wenn sie sich auf etwas konzentrierte, verschwand ihre Umgebung und niemand konnte sie mehr von außen erreichen oder drängen. Sie bemerkte gar nicht, dass Delta JS ihr im Nacken saß und versuchte, sie mit ihren spitzen Bemerkungen zu verunsichern. Die olle Stampfmeier gehörte seit dem letzten Herbst schon zu den Pinken und wollte seitdem mit Delta JS angesprochen werden. Alle Pinken hatten einen Namen nach dem militärischen Alphabet, so konnte man gleich ihren Rang erkennen. Frau Stampfmeier nahm eine ziemlich hohe Position ein, weil D wie Delta der vierte Buchstabe im Alphabet war. Der erste Buchstabe, Alpha, war natürlich für Peggy Plump reserviert.

Die Mathestunde musste Lila so gut wie möglich überstehen. Danach hatten sie heute zum Glück nur Geografie, Deutsch und Sport bei »normalen« Lehrerinnen. Und zum Schluss zwei Stunden Werken bei Herrn Silberpfennig. Da bauten sie gerade eine Schachtel aus Holz, ein Schatzkästchen. Darauf freute sie sich besonders, denn sie wusste schon, was sie in ihrem aufbewahren würde – etwas sehr Wertvolles.

Lila ließ die Zahlen aus den Klammern frei wie eine eingepferchte Kuhherde im Frühling aus dem Stall. Die Ziffern muhten und schlugen vor Übermut aus und es duftete nach sonnenwarmen Kräutern und frischer Milch. Wie gern würde sie mal wieder mit Oma einen Ausflug aufs Land machen, aber in letzter Zeit arbeitete Oma viel zu viel, hatte ja ständig diese LFL-Programme – Legen, Föhnen, Lachen –, wo ihre Kunden unter diesen Retroplastikhauben saßen, die es nur noch bei Oma und in ein paar wenigen anderen Friseursalons im Kiez gab. Das Lachen gehörte zu Omas Behandlungen immer dazu. »Aus tiefstem Herzen«, wie sie sagte, wobei es in letzter Zeit ja eher weniger zu lachen gab. Die Pink-Community rückte immer weiter vor und wollte mit ihren Ladenketten auch den Lilienkiez erobern, aber Oma hatte seit jeher alles versucht, um die Pinken abzuwehren. Mit Erfolg. Sie übersprühte sogar die Pink-Werbung in der Lilienstraße und veranstaltete Demonstrationen gegen die Pinken. Lila war stolz auf ihre rebellische Oma. Aber sie hatte wegen deren Aufmüpfigkeit auch manchmal zu leiden.

So wie jetzt unter Delta JS, die ihr ständig megalange Klammeraufgaben reindrückte. Die Pinken waren generell unfreundlich zu Nicht-Pinken, es sei denn, sie konnten ihnen was verkaufen. Ein Glück, dass Lila sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen ließ, auch nicht, als Delta JS um sie herumstöckelte, das vierte Mal auf ihre Pink-Watch schaute und dabei ihr hellblondes Pagen-Haar knisterte, wahrscheinlich vor Schadenfreude. Aber Lila hatte von Oma gelernt, wie man in schwierigen Situationen die Nerven behielt: Tief ausatmen, die Gefahr vorbeiziehen lassen und dann wieder tief einatmen. Ganz wie beim Schach, das Oma gerne mit ihr spielte, konzentrierte man sich nur auf den nächsten Zug. So machte sie es jetzt auch mit der endlosen Klammeraufgabe. Schließlich unterstrich sie zweimal das Ergebnis, was zwar richtig war, aber ihr dennoch kein Lob einbrachte. »Du solltest dir unbedingt die Mathe-App runterladen, um für die Matheolympiade zu üben«, sagte die Lehrerin.

»Brauch ich nicht«, erwiderte Lila. Es war bekannt, dass die Pinken einem andauernd irgendwelche Apps andrehen wollten. Delta JS kräuselte den eh schon verkniffenen Mund und zischelte: »Geh auf deinen Platz und hör verdammt noch mal auf zu quatschen.«

In der Pause verdrückte sich Lila mit Shari hinter den Fahrradstand, da, wo die Buschrosen durch den Maschendraht wucherten. Dort war ein toter Winkel, wo sie kein Signal erreichen konnte. Die Pinken hatten nämlich in der ganzen Stadt Kameras und Mikrofone angebracht, mit denen sie einen beobachten und belauschen konnten.

»Total cool, wie du die Stampfmeier hast abblitzen lassen.« Shari legte einen Arm um Lilas Schultern. Ihr krauses Haar, das sie heute im Afrolook trug, kitzelte Lilas Wange.

»Sie versucht es halt immer wieder. Ich finds eh komisch, dass so viele die Apps benutzen. Wie kann es einem so egal sein, dass man dadurch getrackt werden kann?«

Das schien viele tatsächlich nicht zu stören. Wenn man sie darauf ansprach, sagten sie nur: »Mir egal, ich habe eh nichts zu verbergen.« Wenn Lilas Oma das hörte, raufte sie sich immer die Haare, denn für sie war Bespitzelung ein hinterlistiges Unterfangen. So konnten die Pinken seelenruhig Daten für einen Algorithmus sammeln. Nur zum Wohlbefinden ihrer Kunden, wie sie immer behaupteten. Denn um die passenden Produkte anbieten zu können, mussten sie genau wissen, was die Leute liebten, was sie gerne spielten, aßen, lasen und wovon sie träumten. Und damit nicht genug, denn irgendwann wussten die Apps besser als ihre Benutzer, was diese wollten. Wie die Werbung schon versprach: Mit den Pink-Apps wird dein Leben leichter! Zweifeln war gestern! Und so musste sich heute keiner mehr mit lästigen Fragen herumschlagen, wie: Soll ich mir nun die Sneakers von Roswitha Rabia oder lieber von Mack Mellow kaufen? Was steht mir besser, eine Bootcut- oder eine Skinny-Jeans? Wie findest du die neueste Pinkflix-Serie? Peggys Apps entscheiden auch für dich, schnell und präzise.

Eltern fuhren zum Beispiel total auf die Pink-Orga-App ab, weil sie sich damit nicht mehr um die Hausaufgaben ihrer Sprösslinge kümmern mussten. Das übernahm Paddy, die Stimme der Orga-App, die übrigens eine praktische Kindersicherung hatte und nicht mehr zu löschen war. Ja, die Pinken unterstützten fürsorgliche Eltern gern, denn sie liebten Kinder, die gehorsam waren und blind folgten, denn jedes Kind war ein potenzieller Follower.

Aus der Entfernung betrachtet, erschienen Peggy Plump und ihre Community schon sehr glamourös, das musste Lila zugeben. Sie hatten schließlich die neuesten technischen Geräte und teuersten Klamotten, sie konnten es sich leisten, in luxuriösen Häusern zu wohnen, riesige Autos zu fahren und die Pink-Holiday-Resorts waren an den schönsten Stränden der Welt zu finden. Lila verstand schon, dass die Leute hofften, durch das Nutzen der Pink-Produkte würde ein bisschen dieses Glamours auf sie abfärben. Sie hätte auch gern ein neues Smartphone. Das Display ihres Handys war gesprungen, als es ihr beim Dosenwerfen auf dem letzten Straßenfest aus der Hand gefallen war, wozu Oma nur meinte: »Lieber ein kaputtes Handy als ein kaputtes Hirn« und sich an die Stirn getippt hatte. »So weit kommts noch, mir von denen was vorschreiben zu lassen!« Natürlich hatte sie auch keine Pink-Apps. Allerdings hatte Oma bis vor Kurzem nicht einmal ein Smartphone. Oma stellte sich gegen alles, was die Pinken verkörperten. Und dass diese immer wieder versuchten, sich ihren Laden unter die langen, gelverstärkten Nägel zu reißen, fand sie mehr als unverschämt.

»Meinen Salon kriegen die nie!«, pflegte sie zu sagen und fügte dann hinzu: »Nur über meine Leiche!«

Lila mochte nicht, wenn Oma so kämpferisch redete. Dann hatte sie Angst, sie könnte sie auch noch verlieren. So wie ihre Eltern.

Shari biss in ihr Käsebrot und grinste.

»Was lachst du?«

»Weißt du noch, wie Gil das ganze Glas Nutella leer gelöffelt hat?«

»Ja, und wie Doki gesagt hat, da seien tote Mäuse drin.«

»Und Gerdi, anstatt zu kotzen, weiter genüsslich das Glas ausgeschleckt hat und nur meinte: ›Schmeckt man aber nicht‹«.

Doki kam auf sie zugeschlendert. »Hey, was ist denn so lustig?«

Lila holte Luft. »Eigentlich ist es überhaupt nicht lustig.«

»Was denn?« Doki schüttelte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Neuerdings trug er den Pony bis in die Augen. Er sah sehnsüchtig auf Sharis Käsebrot.

»Stell dir vor«, sagte Shari. »Lila hat heute Morgen Gil gesehen, in pinkem Overall und gelben Hackenschuhen.«

»Unsere Gespenster-Gerdi?«

Lila nickte.

»Weißt du noch mit dem Nutella?«

Doki nickte. »Oh, irgendwas Schokoladiges hätte ich jetzt auch gern.«

»Haben wir aber nicht«, sagte Shari.

»Darf ich wenigstens mal von deinem Käsebrot abbeißen?«

Shari reichte ihm den Rest.

»Danke«, sagte er kauend und fügte dann noch hinzu: »Krass. Ich meine, das mit Gerdi bei den Pinken.«

KAPITEL 3 - Nein!

Als Lila nach der Schule nach Hause fuhr, kam ihr am Südstern ein Krankenwagen entgegen. Er sauste mit Sirene und Blaulicht aus der Lilienstraße. Ihre Oma würde jetzt wohl sagen: »Nanu, da wird doch wohl keinem ein Blumentopf auf den Kopf gefallen sein?« Makabere Scherze war sie ja von ihr gewohnt. Aber jetzt fühlte Lila plötzlich so was wie einen kalten Schatten im Bauch, und je näher sie ihrem Zuhause kam, desto mehr fror sie. Schon von Weitem sah sie, dass oben an der Straße vor dem Friseursalon Leute standen. Frau Griesewitz aus dem Zauber- und Scherzartikelladen goss gerade aus zwei blauen Gießkannen Wasser auf die Straße, als wollte sie etwas wegspülen. Lila reckte den Kopf. War das etwa Blut?

In dem Moment sprang Deniz, Dokis Vater, vor ihr Rad. »Steig mal bitte ab«, sagte er.

Die Kälte in Lilas Bauch machte ihr plötzlich das Atmen schwer. Deniz hockte sich neben sie hin, als sei sie ein kleines Kind. Er war ganz bleich im Gesicht.

»Die Traudel, also, die hatte einen Unfall. Die ... die haben sie gerade ins Krankenhaus gebracht.«

»Was für einen Unfall?« Lila hielt sich am Lenker fest.

Jada, Sharis Mutter, lief auf sie zu. »Du kommst mit zu uns«, rief sie schon von Weitem.

»Was ist denn passiert?«, fragte Lila.