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Über das Wiederentdecken der Liebe, wenn man am wenigsten damit rechnet: die perfekte Wohlfühllektüre!
In guten wie in schlechten Zeiten – das haben Julie und Michael Marshall einander vor 35 Jahren versprochen. Die schlechten Zeiten überwiegen allerdings schon lange. Julie will endlich einen Schlussstrich ziehen und ihrem Mann die Scheidungspapiere überreichen. Doch ausgerechnet an diesem Abend verkündet der Premierminister den nationalen Lockdown. Julie und Michael können sich kaum etwas Schlimmeres vorstellen, als auf unbestimmte Zeit zu Hause festzusitzen. Die erzwungene Zweisamkeit birgt jedoch auch eine unerwartete Chance: Kann es ihnen gelingen, an die guten Zeiten anzuknüpfen und einen Neuanfang zu wagen?
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2023
Buch
Julie und Michael Marshall leben schon lange aneinander vorbei, schlafen in getrennten Zimmern und sprechen kaum mehr miteinander. Kurz vor dem 35. Hochzeitstag will Julie einen Schlussstrich ziehen und Michael die Scheidungspapiere überreichen. Doch just an diesem Abend verkündet der Premierminister den Lockdown, und die Papiere landen erst mal in der Schublade. Michael wird ab sofort im Homeoffice arbeiten, Julie muss ihren geliebten Blumenladen schließen. Die Vorstellung, gemeinsam zu Hause festzusitzen, ist für beide nur schwer erträglich, und so versuchen beide, es irgendwie zu verhindern: Julie will eines der Kinder nach Hause holen, doch die haben längst ihr eigenes Leben. Michael wiederum will sich bei seiner Mutter einquartieren, die jedoch bereits mit zwei Damen aus ihrer Bridge-Runde eine WG gegründet hat. Es hilft also nichts: Julie und Michael sind einander auf unbestimmte Zeit ausgeliefert. Nach und nach stellen sie fest, dass sie mehr miteinander verbindet, als sie geglaubt haben …
Autorin
Jo Wilde lebt mit ihrer Familie in einem Dorf in Derbyshire. Sie träumt davon, im Rentenalter gemeinsam mit ihrem Mann im Wohnmobil die Welt zu bereisen. Bis dahin gibt sie sich mit imaginären Welten zufrieden und schreibt fleißig Romane, auch unter den Namen Joanna Courtney und Anna Stuart.
Jo Wilde
Roman
Aus dem Englischen
von Sylvia Strasser
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Just the Two of Us« bei Piatkus, an imprint of Little, Brown Book Group.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung März 2023
Copyright © 2020 by Joanna Barnden
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotive: FinePic®, München
Redaktion: Susanne Bartel
LS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-27522-8V001
www.goldmann-verlag.de
Von ganzem Herzen für Sarah-Jane, Paul, Ella und Joe.
Auf schwarzen Staub, tropische Cocktails, Sprungbretter, ziemlich viel Regen und noch mehr Gelächter!
Erster Tag
Julie Marshall trat aus dem eleganten Bürokomplex auf die belebte Straße und spähte verstohlen nach rechts und links. Der braune Umschlag schien ihr die Finger zu verbrennen. Hastig steckte sie ihn in die große Umhängetasche mit dem Zebramuster. Zum Glück hatte sie daran gedacht, sie mitzunehmen. Michael konnte die Tasche nicht ausstehen. Das passte. Sobald sie ihm die Unterlagen gegeben hätte, würde es keine Rolle mehr spielen, was er mochte und was nicht. Dann würde sie tun und leben und sein können, wie es ihr gefiel.
»Frei«, sagte sie laut, um sich selbst zu überzeugen.
Ein Paar, das gerade vorbeiging, warf ihr einen befremdeten Blick zu. Die beiden waren jung und gut aussehend und hatten ihre Hände in unerschütterlichem Vertrauen ineinander verschränkt.
»Keine Sorge«, rief sie ihnen zu, »ich bin nicht betrunken, aber bald geschieden!«
Noch enger aneinandergedrängt gingen die beiden eilig weiter, als wäre Julie eine Art böser Fluch, den es abzuwehren galt. Vielleicht war sie das ja.
»Frei«, wiederholte sie, leiser dieses Mal. Und doch fühlte es sich immer noch nicht richtig an. Die anderen Wörter, die sich an die Oberfläche zu drängen versuchten, ließen sich dadurch nicht aufhalten: allein, nutzlos, gescheitert.
Fröstelnd wandte sie sich ab und ging entschlossen in Richtung Parkhaus. Ihre Ehe zu beenden war kein Scheitern. Zuzugeben, dass eine Beziehung nicht mehr funktionierte, zeugte vielmehr von innerer Stärke. Sagte man jedenfalls. Das Problem war nur, dass Julie sich keineswegs stark fühlte. Mit ihrem Auftreten und ihrer Art, zu reden und sich zu geben, wirkte sie auf andere zwar selbstbewusst, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich ungefähr so gefestigt wie Wodka-Wackelpudding.
Als sie sich vorhin im Büro des Immobilienmaklers nach Mietwohnungen erkundigt hatte, hatte sie so gezittert, dass ihr die Hälfte der Exposés aus der Hand gefallen war. Der junge Mann hatte sie besorgt gemustert. Ihre Tochter habe eine üble Trennung hinter sich, hatte sie geschwindelt und sich sofort dafür geschämt, aber für die Wahrheit hätte sie sich noch viel mehr geschämt – nämlich dafür, dass sie, ohne es zu merken, aus einer Ehe, um die sie alle beneidet hatten, in eine Ehe gerutscht war, die im Grunde nicht mehr existierte.
Julie blinzelte entschlossen. Sie würde auf keinen Fall weinen. Die dunklen Tage lagen definitiv hinter ihr. Sie hatte sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen und war es sich schuldig, nicht wieder hineinzustolpern. Es gab noch so viel, was sie mit ihrem Leben anfangen konnte, und sie würde sich nicht von dem Gedanken, versagt zu haben, davon abhalten lassen. Leute ließen sich andauernd scheiden, und hinterher ging es ihnen besser. War nicht ihre eigene Schwester ein ganz anderer Mensch geworden, nachdem sie sich vor zehn Jahren aus ihrer Ehe befreit hatte?
Julie verdrängte alle Gedanken an Clare. Ihre kleine Schwester schlitterte von einer unglücklichen Beziehung in die nächste. Das wollte Julie nicht. Sie trennte sich nicht von ihrem Mann, um einen anderen zu finden, sondern um zu sich selbst zu finden. Was für ein Klischee! Sie stöhnte unwillkürlich auf, während sie in ihrer Tasche nach der Plastikkarte für den Zugang zum Parkhaus kramte. Ungeduldig schob sie den Umschlag beiseite und tastete sich durch den üblichen Bodensatz. Ihre Finger streiften den Schlüsselanhänger, einen flauschigen Ball, den Adam ihr letztes Jahr mit den Worten »Den verlierst du bestimmt nicht, Mum!« zu Weihnachten geschenkt hatte. Ihr Herz ruckelte. Was die Kinder wohl zu alldem sagen würden? Hoffentlich schockierte es sie nicht zu sehr.
Sie sind keine Kinder mehr, Julie, korrigierte sie sich im nächsten Moment. Die Mädchen waren schon lange ausgezogen, und Adam, der seit vier Jahren studierte, hätte auch schon eine eigene Wohnung haben können. Ihre Töchter und ihr Sohn waren Erwachsene, die ihr eigenes Leben führten. Es war keine Lösung, noch länger unglücklich zu sein, nur um den Schein einer heilen Welt aufrechtzuerhalten.
Wieder spürte Julie Tränen aufsteigen. Und wieder zwang sie sie hinter ihre Augenlider zurück. Natürlich war es furchtbar, dass es ihre Ehe, wie sie einmal gewesen war, nicht mehr gab, aber sie wusste einfach nicht mehr, wie sie sie noch retten könnte. Das Einzige, was Michael und sie noch teilten, war die Haustür. Sie schliefen getrennt, und ihre Terminkalender waren sowohl beruflich als auch privat so ausgefüllt, dass Tage vergehen konnten, ohne dass sie sich zu Gesicht bekamen.
Julie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine richtige Unterhaltung geführt hatten. Ihre Gespräche beschränkten sich darauf, einander mitzuteilen, dass sie die Mülltonnen rausgestellt hatten oder Essen im Kühlschrank stand. Sie kochten zwar füreinander, aßen aber nur selten zusammen. Sie nahmen die Wäsche des anderen von der Wäscheleine, kamen jedoch schon lange nicht mehr auf die Idee, sie sich gegenseitig vom Leib zu reißen. Sie stritten sich ja nicht einmal mehr. Nachdem Julie sich in den letzten Jahren wirklich um ihre Ehe bemüht hatte, musste sie jetzt einsehen, dass es keine Rettung mehr gab. Sie musste handeln, und zwar schnell, weil es nur noch vier Wochen bis zu ihrem fünfunddreißigsten Hochzeitstag waren. Und eine tote Ehe zu feiern wäre eine Farce. Höchste Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken. Eine Scheidung war das Beste.
Traurig war es trotzdem.
Erleichtert, dass sie die Plastikkarte gefunden hatte, zog sie sie aus der Tasche und legte sie auf das Lesegerät an der Tür. Nichts. Die große graue Tür blieb zu. Sie drehte die Karte um und versuchte es noch einmal. Wieder nichts.
»Bitte lass mich rein!«, bettelte sie.
Die Tür ignorierte sie. Zum dritten Mal an diesem Nachmittag kämpfte Julie gegen die Tränen an.
»Die Dinger können ganz schön nerven, was?«, sagte plötzlich eine fröhliche Stimme hinter ihr.
Julie drehte sich um.
Eine ältere Frau trat neben sie. »Warten Sie.« Sie stellte ihre zahllosen Einkaufstüten auf den Boden, deutete mit einer Kopfbewegung verlegen darauf und sagte, während sie nach ihrer eigenen Parkkarte kramte: »Vorräte. Falls es zu diesem – wie heißt das noch mal? – Lockdown kommt.«
»Lockdown?«, wiederholte Julie. »Glauben Sie wirklich, dass uns der droht?«
Die Frau warf ihr einen schrägen Blick zu. »Wo leben Sie denn?«
Julie dachte an ihren Besuch beim Scheidungsanwalt und daran, dass sie im Moment wirklich andere Sorgen hatte als einen möglichen Lockdown, aber die Frau war so nett, dass sie sie damit nicht behelligen wollte. Auf einmal kam sie sich töricht vor. Die Welt war aus den Fugen geraten, und sie regte sich wegen einer einzigen kleinen Ehe auf. Aber es war ihre Ehe – oder war es zumindest gewesen –, und deshalb konnte sie im Augenblick an nichts anderes denken.
Sie schaute auf die Einkaufstüten, aus denen Klopapier, eine Familienpackung Doppelkekse und eine große Flasche Baileys hervorguckten.
Ihre neue Bekannte folgte ihrem Blick. »Falls uns die Milch ausgeht«, sagte sie, bückte sich und tätschelte die Likörflasche wie einen kleinen Hund. »Schmeckt fantastisch mit Cornflakes. So, dann wollen wir mal!«
Sie hielt die Parkkarte, die sie aus ihrer Handtasche gezogen hatte, an den Kartenleser, und die Tür öffnete sich bereitwillig.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Julie verblüfft.
»Zauberei!« Die Frau lächelte und bedeutete ihr vorauszugehen, bevor sie wieder nach ihren Tragetaschen griff. »Haben Sie daran gedacht, vorher Ihr Ticket zu entwerten?«
Julie stöhnte auf. »Nein. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, was solche Dinge angeht. Mein Mann sagt immer …« Unvermittelt brach sie ab. Mein Mann! Vierunddreißig Jahre lang hatte sie einen Ehemann gehabt. Bald würde sie keinen mehr haben. Bald würde sie allein sein.
»Alles in Ordnung?« Die Frau musterte sie besorgt.
Julie wurde jetzt erst bewusst, dass sie auf der Betontreppe, die zum Parkdeck führte, stehen geblieben war. »Wie komme ich denn jetzt hier raus?«, fragte sie und fühlte sich auf einmal geradezu lachhaft unsicher.
»Wenden Sie sich an den Parkhauswächter, der regelt das schon.«
Julie lächelte der Frau dankbar zu und ging leicht schwankend in die angegebene Richtung. In Gedanken war sie schon wieder in dem edlen Büro des Scheidungsanwalts, während sie, die Tasche mit dem Zebramuster und ihrem unheilvollen Inhalt fest an sich gepresst, auf das Häuschen des Parkhauswächters zusteuerte.
»Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht helfen?«, fragte sie, so höflich sie konnte. »Mir ist da etwas Dummes passiert, und ich muss schnellstens nach Hause.«
»Ist bestimmt nicht so schlimm. Was haben Sie denn für ein Problem?«, erwiderte der stämmige Mann lächelnd.
Als Julie ihm gebeichtet hatte, dass sie das Ticket nicht entwertet hatte, zeigte er ihr, wie sie das nachträglich noch tun konnte. Plötzlich kam ihr der Gedanke, ob es nicht besser wäre, in diesem Parkhaus festzusitzen, anstatt nach Hause zu fahren. Die Scheidungsunterlagen bei einem Anwalt abzuholen war eine Sache; eine ganz andere war es, ihren Mann damit zu konfrontieren. Wie in aller Welt hatte es nur so weit kommen können?
Eine halbe Stunde später bog Julie von der Hauptstraße in ihre ruhige Sackgasse ein. Ihre Nervosität wuchs. Im Frühlingssonnenschein sah ihr Haus viel zu hübsch für ihre Stimmung aus. Der Kirschbaum mitten auf dem winzigen Rasenstück vor dem Haus trug die ersten Blüten, und in den Blumentöpfen rechts und links des Eingangs sprossen vielversprechende grüne Triebe. Sie stellte den Motor ab und betrachtete versonnen das Gebäude, das die letzten zwanzig Jahre ihr Zuhause gewesen war. Es war nichts Besonderes, aber bedeutend besser als die nichtssagenden kleinen Wohnungen mit ihren Versprechungen von »exklusivem Wohnen« und einem »cleveren Grundriss«, die zusammen mit den Scheidungsunterlagen in ihrer Tasche lauerten.
Da sie Platz für ihre wachsende Familie gebraucht hatten, hatten Michael und sie ihren Traum von einem schnuckeligen Cottage aufgegeben und stattdessen dieses schlichte Haus aus den Fünfzigerjahren gekauft. Julie hatte sich schnell in seine glatten weißen Wände und die Panoramafenster mit Holzrahmen verliebt. Als Michael gleich nach ihrem Einzug in einem Anfall von Arbeitswut eine Holzveranda angebaut hatte, hatten sie es selbstgefällig für viel schöner als jedes Cottage befunden. Und lange Jahre war es zweifellos ein glückliches Heim gewesen. An jedem Fenster hingen Vorhänge in heiteren Farben, und über das seitliche Gartentor hinweg konnte man einen Blick auf die große Grünfläche hinter dem Haus erhaschen, die an Wiesen und Felder angrenzte. Bei drei lebhaften Kindern war es dieser großzügige Garten gewesen, der den Ausschlag zum Kauf gegeben hatte. Zwanzig Minuten nach der ersten Besichtigung hatten sie ein Angebot unterbreitet. Es war eine der besten Entscheidungen ihres Lebens gewesen. Doch in letzter Zeit kam es Julie, jedes Mal wenn sie in ihre Einfahrt einbog, so vor, als würde sich ein Gewicht auf ihre Brust legen. So konnte es nicht weitergehen.
Sie schnappte ihre Tasche, stieg schwungvoll aus und betrat das Haus durch die Vordertür. Drinnen war es totenstill. Vorbei waren die Tage, an denen fröhlicher Familienlärm durchs Haus schallte. Michael allerdings müsste da sein. Sein Chef habe alle Mitarbeiter des Ingenieurbüros dazu aufgefordert, von zu Hause aus zu arbeiten, hatte er ihr gestern erzählt. Er plane, sein Homeoffice in Brionys Zimmer einzurichten.
Bei der Aussicht darauf, ihn die ganze Zeit um sich zu haben, hatte sie sich endlich den entscheidenden Ruck gegeben, den Anwalt aufzusuchen und die längst vorbereiteten Unterlagen abzuholen. Jetzt brauchte sie sie Michael nur noch in die Hand zu drücken, sich für eine Wohnung zu entscheiden und ihre Koffer zu packen. Und angesichts der Tatsache, dass die Regierung Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus ergriff, was bereits erste Einschränkungen des Alltags mit sich gebracht hatte, sollte sie ihre Pläne besser heute als morgen in die Tat umsetzen.
Mit klopfendem Herzen, wie vor einer rasanten Achterbahnfahrt, setzte Julie vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Keine Spur von Michael, weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Ein fröhliches »Hallo!« zu rufen, um ihn gleich darauf über ihre Trennungsabsichten zu informieren, kam ihr unpassend vor. Wahrscheinlich ist er oben in seinem neuen Büro, dachte sie. Aber als sie sich der Treppe zuwandte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Michael war draußen im Garten und fütterte Mr Nibbles, Brionys uraltes Kaninchen. Julie beobachtete, wie er mit ihm redete, und kam sich wie eine Voyeurin vor. Michael lächelte. In letzter Zeit eine Seltenheit. Entweder nickte er oder grummelte etwas, oder er schlurfte einfach an ihr vorbei. Die Tage, an denen er mit ihr geredet hatte wie jetzt mit dem Kaninchen, waren längst vorbei.
Ein Gefühl von Traurigkeit überkam sie. Sie umfasste ihre Tasche fester und hörte den Umschlag darin rascheln.
Michael richtete sich auf und ging zum Haus. Die Art, wie sein Körper sich plötzlich anspannte, verriet ihr, dass er sie gesehen hatte. Die Beobachtung tat weh, aber es war nun einmal so. Sie hatten sich auseinandergelebt, und es hatte keinen Sinn, das zu leugnen.
»Du bist schon zurück«, stellte er in schroffem Ton fest, als er hereinkam.
»Ich bin wieder da, ja.«
»Schönen Tag gehabt?«
»Hm.«
Er drängte sich an ihr vorbei und ging zur Treppe.
Sie schluckte, nahm allen Mut zusammen und sagte: »Das heißt, nein, eigentlich war es kein so schöner Tag. Ich muss mit dir reden, Michael.«
Er blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Jetzt?«
»Das wär am besten.«
Sie griff in ihre Tasche, und ihre Finger schlossen sich um den Umschlag. Wozu das Ganze hinauszögern? Sie musste es hinter sich bringen. Aber warum zitterten ihre Hände dann so? »Es ist wichtig«, stammelte sie.
Jetzt wandte er sich doch zu ihr um und sah sie stirnrunzelnd an. Sie machte sich auf eine bissige Erwiderung gefasst.
»Alles in Ordnung, Julie?«
Zu ihrer Überraschung war seine Stimme leise und sanft. Eigentlich war Michael immer ein sanfter Mensch gewesen. Sie erinnerte sich noch genau daran, was ihre Mum gesagt hatte, als sie ihn das erste Mal nach Hause mitgebracht hatte: »Du hast dir einen sanften Mann ausgesucht – gute Wahl, mein Schatz! Die sanften sind die besten.« Wieder musste sie schlucken.
»Ja, alles in Ordnung. Das heißt …«
Sie schaffte es einfach nicht, den Umschlag aus ihrer Tasche zu ziehen. Es war, als würde eine Macht wie aus Star Wars sie daran hindern. Aber das war doch lächerlich! Sie holte tief Luft und griff nach den Unterlagen.
In dem Moment klingelte Michaels Handy. Er warf einen Blick aufs Display und verzog entschuldigend das Gesicht. »Mein Boss. Da sollte ich rangehen.«
»Aber …«
»Können wir später reden? Vielleicht nach der Ansprache des Premierministers?«
»Die Ansprache. Sicher. Dann eben nach der Ansprache.«
Er hob die Hand mit dem Telefon und nahm das Gespräch an. »Geoff! Wie geht es dir?«
Die Scheidungsunterlagen hinter dem Rücken versteckt, schaute Julie ihm nach, wie er langsam durch den Flur ging. Sie empfand eine unglaubliche Erleichterung – obwohl sie das Ganze immer noch vor sich hatte. Immerhin waren die Papiere jetzt im Haus, wodurch ihre Entscheidung irgendwie realer geworden war. Und auf ein paar Stunden kam es auch nicht mehr an. So hatte sie noch ein bisschen Zeit, um sich an den Gedanken an ein neues Leben zu gewöhnen. Sie zog auch den schmalen Packen mit Immobilienangeboten aus ihrer Tasche. Wenn sie sich ein paar Wohnungen aussuchte, könnte sie vielleicht schon für nächste Woche Besichtigungstermine vereinbaren.
Ja, dachte sie, während sie Michaels Stimme oben in Brionys Zimmer hörte, sie würde sich umziehen, etwas zu essen machen und sich beruhigen. Und nachdem sie sich angehört hätten, was der Premierminister zu sagen hatte, würden sie und Michael miteinander reden. Sie mussten einen neuen Weg in die Zukunft finden, jeder für sich, und so schwer das auch sein mochte, würde es letztendlich doch für sie beide das Beste sein.
Julie starrte auf den Fernseher. In grellem Rot lief das Wort in Endlosschleife am unteren Bildschirmrand entlang.
Lockdown.
Darüber blickte der Premierminister in die Kamera und sprach mit ruhiger Besonnenheit von »nur unbedingt notwendigen Einkäufen« und »Menschen, die für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens das Haus verlassen müssen«. Julie bekam nur Bruchstücke seiner Rede mit, weil dieses eine Wort – Lockdown – ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Nervös rutschte sie auf dem Sofa hin und her und warf dem Kissen, unter dem sie die Scheidungsunterlagen versteckt hatte, immer wieder verstohlene Blicke zu.
»Wir dürfen das Haus nicht mehr verlassen?«, stammelte sie.
»Nur für dringende Besorgungen und ein bisschen Bewegung an der frischen Luft.«
»Und ab wann?«
»Ab jetzt«, antwortete Michael. »Ab sofort.«
Julie dachte an die Frau im Parkhaus, die jetzt wahrscheinlich selbstzufrieden ihren Baileys trank, während sie hier mit Michael, dem einzigen Menschen, von dem sie unbedingt wegwollte, in der Falle saß. Was für eine grausame Ironie des Schicksals!
»Was ist mit den Kindern?«, fragte sie.
Er hob eine Augenbraue. »Was soll mit ihnen sein?«
»Sie werden doch sicher nach Hause kommen wollen.«
»Das glaube ich kaum. Sophie wird eher froh sein, wenn sie sich mit Leo in ihrem Liebesnest einigeln kann.«
»Hör auf, es so zu nennen.«
»Wieso denn?«
»Das ist herablassend.«
»Ist es nicht. Es ist nett. Außerdem nennen sie es selbst so. Leo hat es sogar auf ein Türschild geschrieben.«
»Im Ernst? Und Sophie hat zugelassen, dass er es aufhängt?«
»Ja. Ich hab’s gesehen, als ich letzte Woche bei ihnen war, um ihr Klo zu reparieren.«
Julie hätte vor Frust beinah mit den Zähnen geknirscht. Ihr eigenes Klo im Erdgeschoss funktionierte seit Monaten nicht mehr, aber er kümmerte sich um das von Sophie? Leo, seit einem halben Jahr ihr Ehemann, war Töpfer, ein Handwerker, Himmel noch mal! Hätte er das nicht selbst hinbekommen müssen? Andererseits war es nett von Michael, dass er ihnen geholfen hatte. Julie wäre sogar mitgegangen, hätte sie davon gewusst, aber er hatte es ja mit keinem Wort erwähnt. Obwohl sie nur zwanzig Minuten entfernt wohnte, hatte Julie ihre Älteste seit Wochen nicht mehr gesehen, weil sie im Laden mit den ganzen Bestellungen alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Und dank des Lockdowns würde sie sie wieder wochenlang nicht sehen. Womöglich monatelang! Sie durfte gar nicht daran denken.
»Der Laden!«, jammerte sie.
»Du wirst zumachen müssen«, sagte Michael.
»Aber das geht nicht.«
»Der Premierminister hat gesagt, wer von zu Hause aus arbeiten kann, soll das auch tun.«
»Aber ich kann nicht von zu Hause aus arbeiten!«
»Wieso nicht? Früher hast du das doch auch gemacht.«
Julie sprang auf. Panik stieg in ihr auf. Mit energischen Schritten durchquerte sie das Zimmer und riss die Tür zum Wintergarten auf. Nach Adams Einschulung hatte sie auf einmal erschreckend viel Zeit gehabt, mit Floristik begonnen und in diesem sonnigen Raum an einem Campingtisch gearbeitet. Damals hatte sie sich unbändig über jeden Auftrag gefreut, aber jetzt graute ihr bei der Vorstellung, hier arbeiten zu müssen anstatt gemeinsam mit Clare in ihrem Laden, wo immer etwas los war. Die Vergrößerung des Geschäfts hatte ihr vor ein paar Jahren geholfen, eine düstere Zeit durchzustehen. Was, wenn sie es tatsächlich schließen müsste? Würde sie dann wieder zu dieser verwirrten, zornigen, chaotischen Person von damals werden?
»Hat er wirklich gesagt, dass die Geschäfte schließen müssen?«, fragte sie und nickte zum Fernseher.
»Ich fürchte, ja.«
»Na toll!«
Sie ließ sich aufs Sofa zurückfallen und hörte die Scheidungsunterlagen hinter dem Kissen rascheln. Es juckte sie in den Fingern. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt, um ihm die Papiere zu geben. Dann wären die Fronten wenigstens geklärt, und sie könnten sich mit gutem Grund aus dem Weg gehen, anstatt so zu tun, als wäre es die viele Arbeit, die ihnen keine Zeit füreinander ließ. Aber irgendwie fühlte es sich nicht richtig an, die Scheidung einzureichen, während eine globale Pandemie drohte – es passte nicht zu dem vom Premierminister beschworenen Geist von Dünkirchen. Zum eingeforderten Zusammenhalt. Im Augenblick gab es wichtigere Dinge als ihre Ehe. Zum Beispiel die Sorge um die Kinder.
»Briony ist in London, Mike.«
»Ich weiß.«
»Wäre es nicht besser, wenn sie nach Hause käme? Hier in Derbyshire ist es bestimmt sicherer.«
Er schüttelte den Kopf. »Das wird sie nicht wollen, Julie. Schließlich ist sie …«
»Biochemikerin, ich weiß.«
Wie hätte sie das vergessen können! Michael ließ keine Gelegenheit aus, es zu erwähnen. Sie wusste noch genau, wie er sich gefreut hatte, als Briony anfing, sich für Naturwissenschaften zu interessieren – schließlich hatten seine Eltern als Chemiker in der Forschung gearbeitet. Jetzt allerdings dachte Julie mit Unbehagen an den Beruf ihrer Tochter.
»Aber sie werden das Labor doch bestimmt schließen, oder?«, sagte sie.
»Eher nicht. Wahrscheinlicher ist, dass sie jetzt jeden in der Forschung brauchen. Und Briony ist nicht zu ersetzen. Sie hat ihre Doktorarbeit über die Entwicklung von Impfstoffen geschrieben, weißt du nicht mehr?«
»Natürlich weiß ich das!« Was nicht ganz stimmte. Julie hatte sich nie so detailliert für Brionys beruflichen Werdegang interessiert wie Michael, was jedoch nicht hieß, dass sie nicht mächtig stolz auf ihre Zweitälteste war. Und sich um sie sorgte. »Trotzdem wäre sie hier sicherer.«
»Da hast du recht«, pflichtete Michael ihr ernst bei. »Aber ich bezweifle, dass Bri das auch so sieht.« Er warf einen Blick Richtung Fernseher, wo immer noch das Wort Lockdown in roter Schrift am unteren Bildschirmrand entlanglief, und sah dann wieder Julie an. »Passiert das gerade wirklich, Jules?«
Ihr stockte der Atem, als sie ihren Kosenamen hörte. So hatte er sie schon lange nicht mehr genannt. Eigentlich redete er sie kaum noch mit irgendeinem Namen an.
»Kaum zu glauben, oder?«
»Gemeinsam werden wir es schaffen«, betonte der Premierminister gerade, aber Julie war sich nicht sicher, ob ihr gefiel, wie dieses »gemeinsam« für sie persönlich aussah. Wenn sie schon hier festsaß, wäre es besser, eins von den Kindern hier zu haben. Sie würde Adam anrufen. Die Prüfungen an den Schulen waren bereits abgesagt worden, und allem Anschein nach würden jetzt auch die Universitäten schließen. Dann würde ihrem Jüngsten keine andere Wahl bleiben, als nach Hause zu kommen. Gott sei Dank!
»Ich spreche mit Adam«, sagte sie. »Wenn keine Vorlesungen mehr stattfinden, muss er doch nach Hause kommen.«
Michael nickte. Seine Miene entspannte sich. »Tu das. Gut. Das wäre schön. Dann wäre wenigstens einer von ihnen in Sicherheit.«
Julie verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. Die Liebe zu ihren Kindern war immerhin ein gemeinsames Band in dieser seltsamen Zeit, auch wenn es inzwischen so hauchzart geworden war wie die Spinnfäden im Altweibersommer. Aber Spinnfäden waren bekanntlich stärker, als sie aussahen. Julie griff zu ihrem Telefon, rief ihre Favoriten auf und tippte dann auf den Namen ihres Sohnes.
»Mum! Hi.«
»Hi, Schatz. Wie ist die Lage?«
»Der Wahnsinn! Die Uni wird dichtgemacht. Hier herrscht absolutes Chaos! Keine Ahnung, wie sie das mit den Abschlussprüfungen machen wollen. Die brauche ich doch, um als Sachverständiger arbeiten zu können.«
»Und was sagen sie dazu?«
»Niemand weiß was Genaues. Vielleicht werden stattdessen unsere bisherigen Leistungen als Grundlage der Benotung genommen, dann müsste ich es so einigermaßen schaffen.«
»So einigermaßen?«
»Komm schon, Mum, jeder vergeigt mal ein paar Klausuren.«
Julie verkniff sich die Antwort. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion.
»Wann kriegst du Bescheid?«
»Keine Ahnung. Die Dozenten werden nach einer Lösung suchen müssen. Aber hey, keine Prüfungen! Wenn das keine guten Nachrichten sind.«
Sie glaubte, aus seiner Stimme herauszuhören, wie er lächelte. Adam war ein fröhlicher Mensch, immer schon gewesen. Es würde eine wahre Wohltat sein, ihn hier zu haben.
»Wann kommst du denn nach Hause? Sollen wir dich abholen? Das ist doch sicher erlaubt, oder? Lockdown hin oder her.«
»Äh …« Etwas in seiner Stimme hatte sich verändert. Sie konnte es so deutlich hören wie das Knirschen der Gänge, wenn eine Schaltung eingerostet war.
»Adam?«
»Ich weiß noch nicht, Mum.«
»Du weißt nicht, ob wir dich abholen dürfen?«
Er schluckte hörbar. »Ich weiß noch nicht, ob ich nach Hause komme.«
»Was?« Sie spürte, dass Michael sie anstarrte, und wandte sich instinktiv von ihm ab. »Was soll das heißen, Adam? Wo willst du denn sonst hin?«
»Na ja, vielleicht zu Chelsea nach Hause.«
»Chelsea?« Julie sah die Freundin ihres Sohnes vor sich, eine quirlige Blondine aus Kent. »Sie hat eine eigene Wohnung?«
Verlegenes Schweigen, dann: »Nein, sie wohnt noch bei ihren Eltern.«
Julie rieselte es kalt den Rücken hinunter. »Du fährst mit ihr zu ihren Eltern?«
»Vielleicht. Ich weiß es noch nicht, Mum. Aber für den Fall, dass der Lockdown länger dauern sollte, wäre ich gern mit ihr zusammen, verstehst du?«
»Natürlich. Ganz klar. Ich habe nur nicht gewusst, dass es zwischen euch so ernst ist.«
»Wir sind jetzt drei Jahre zusammen, Mum!«
»So lange schon? Ach so. Gut, dann … Also, wie wäre es denn, wenn du mit Chelsea hierherkommst? Wir haben doch jede Menge Platz. Sophie hat ihr eigenes Zuhause, und Briony wird bestimmt in London bleiben müssen.«
»Ja, ich weiß, ich hab vorhin mit ihr gesprochen.«
»Wirklich?« Wie immer, wenn sie erfuhr, dass ihre Kinder miteinander sprachen, war Julie verwirrt. Sie fand es ja wunderbar, aber andererseits auch irgendwie merkwürdig, dass sie untereinander Kontakt hatten, ohne sie mit einzubeziehen. Eigentlich eine dumme Reaktion. »Wie geht es ihr?«
»Sie konzentriert sich voll und ganz auf ihren Job. Du kennst sie doch – sie liebt Herausforderungen.«
»Ja, das stimmt. Hoffentlich passiert ihr nichts.« Ihre Stimme war brüchig geworden, und Adam musste es bemerkt haben.
»Alles in Ordnung mit dir, Mum? Und mit Dad?«
Sie riss sich zusammen und fuhr betont munter fort: »Uns geht’s gut, Schatz. Wie gesagt, wir haben jede Menge Platz. Solltest du mit Chelsea doch herkommen wollen, würden wir uns freuen.«
Schweigen. Sie konnte Geräusche hören, eine Art Schlurfen. Wahrscheinlich war seine Freundin bei ihm, und jetzt wechselten sie vielsagende Blicke.
»Das ist lieb von dir, Mum«, antwortete Adam schließlich. »Aber Chelseas Eltern rechnen schon fest mit uns. Ihre kleine Schwester fühlt sich einsam.«
»Ich fühle mich auch einsam«, platzte es aus Julie heraus. Im nächsten Moment biss sie sich auf die Unterlippe. »Nein, nicht einsam«, verbesserte sie sich hastig. »Ich wollte nur sagen, dass ich dich gern sehen würde.«
»Tut mir leid, Mum.« Er klang angespannt. »Wir haben schon Pläne gemacht. Und Chelseas Familie ist richtig nett. Normal, weißt du?«
»Normal?« Das Wort legte sich wie ein Eispanzer um ihr Herz. »Was soll das heißen? Sind wir etwa nicht normal, Adam?«
»Doch! Klar seid ihr das. Ich wollte damit nicht sagen, dass unsere Familie nicht normal ist. Mit Chelseas Familie hat man einfach Spaß. Mit euch natürlich auch. Aber es wird ganz nett sein, mal was anderes zu sehen.«
»Was anderes? Schön.«
Er kam also nicht nach Hause. Ihr kleiner Junge kam nicht zu ihr nach Hause. Ihr Nest war definitiv leer. Julie griff sich mit der freien Hand ins Haar, krallte die Finger hinein, wie um sich daran festzuhalten. Aber es war sinnlos: Auf einmal erfasste sie ein heftiges Zittern. Ihr Körper reagierte endlich so, wie er es schon hatte tun wollen, seit sie das Büro des Anwalts verlassen hatte.
»Mum?« Ihr Sohn klang jetzt verunsichert.
»Alles okay, Adam«, stieß sie hervor. »Ich hoffe, du und Chelsea habt viel Spaß bei ihrer Familie. Das wird dir sicher guttun. Sie wohnen am Meer, nicht wahr?«
»Ja, genau!« Dankbar griff er nach diesem Strohhalm. »Dort können wir wenigstens an den Strand gehen.«
»Klingt prima. Das wird bestimmt schön.«
»Ja. Und euch besuchen wir, sobald es wieder möglich ist. Wenn das alles vorbei ist.«
»So machen wir’s.« Sie musste diese fürchterliche Unterhaltung beenden, bevor sie noch etwas sagte, was ihr hinterher leidtat. Oder anfing zu weinen. »Wunderbar. Dann sag Chelsea ganz liebe Grüße und ihren Eltern vielen Dank von mir. Von uns.«
»Mach ich. Wir telefonieren und sehen uns per FaceTime und so, in Ordnung?« Adam überschlug sich fast vor lauter Liebenswürdigkeit, etwas, was sie nicht ausstehen konnte.
»Sicher. Ich muss jetzt leider Schluss machen. Pass auf dich auf, mein Schatz.«
»Du auch auf dich, Mum.« Und schon legte er auf. Wahrscheinlich war er unsagbar erleichtert, dass er bei dieser verdammten Chelsea und ihrer »normalen« Familie unterkommen konnte.
Julie sah Michael an, der kerzengerade in seinem dämlichen Sessel saß.
»Er kommt nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dann … sind es also nur wir zwei?«
Sie holte tief Luft und hörte wieder das Rascheln der Scheidungsunterlagen. »Ja, nur wir zwei«, bestätigte sie.
Nie zuvor hatten diese Worte einen unheilvolleren Klang gehabt.
Michael Marshall ging in seine Garage, schloss die Tür, ließ sich dagegenfallen und atmete tief ein und aus. Julie tobte durchs Haus wie ein Wirbelsturm, und er fürchtete, von dem Sog mitgerissen zu werden. Seine Frau hatte immer schon eine unglaubliche Energie gehabt. Wie ein Dynamo erzeugte sie sie scheinbar aus dem Nichts. Als er sie kennengelernt hatte, hatte er das an ihr bewundert und es geliebt, wie sie ihn von den Füßen riss, mit denen er so fest auf dem Boden der Tatsachen stand. Wie sie ihn auf Abenteuer mitnahm und er dabei völlig neue Erfahrungen machte. Heute jedoch fand er ihre Art einfach nur ermüdend. Er war erschöpft und fühlte sich seltsam weinerlich.
Er stieß sich von der Tür ab und zog schwungvoll die Abdeckplane von seinem Motorrad. Eine Moto Guzzi, einst der ganze Stolz seines Dads – und jetzt seiner. Er hatte geweint, als Ken, sein Vater, an Herzversagen gestorben war. Geheult wie ein Schlosshund. Julie hatte ihn in die Arme genommen, ihm sanft die Tränen abgewischt und ihn ermuntert, »alles rauszulassen«. Und das hatte er getan. Aber das war etwas anderes gewesen als diese komischen Halbtränen, die sich seit einiger Zeit in den sonderbarsten Momenten ihren Weg aus seinem Inneren nach außen bahnten. Auch deshalb war das Motorrad eine prima Sache. Beim Motorradfahren konnte man weinen, ohne dass es jemandem auffiel. Kein Mensch konnte echte Tränen von denen unterscheiden, die einem der Fahrtwind in die Augen trieb.
Er tätschelte die Guzzi. Sie hieß Gertie – sein Vater hatte sie so getauft – und war eine V7 Sport, ein Kultbike. Zu gern hätte er eine kleine Spritztour gemacht, aber momentan wartete er auf eine neue Ölpumpe, die er bei Gary, seinem Mechaniker, bestellt hatte. Und solange die nicht da war, musste die arme alte Gertie in der Garage bleiben. Sie hatte Startverbot. Ausgangssperre, wie er selbst.
Michael seufzte, ging zu dem Schraubenschlüsselset hinüber und ließ seine Finger über die fein säuberlich nach Größe geordneten Werkzeuge gleiten. Es hatte etwas Beruhigendes. Wie viele Male er sein Motorrad schon repariert hatte! Die Italiener mochten etwas von Stil verstehen, waren aber nicht unbedingt die Zuverlässigsten, was Qualität betraf. Er bezweifelte, dass auch nur ein einziges Teil noch aus der Zeit stammte, als sein Vater ihm Gertie zu seinem achtzehnten Geburtstag vermacht hatte. Das stimmte ihn zwar traurig, aber immerhin war die Karosserie noch dieselbe. Okay, entrostet und neu lackiert, aber immer noch die alte. Immer noch wunderschön.
»Wir kriegen dich schon wieder hin, Gertie, altes Mädel«, brummte er. »Und dann können wir wieder zusammen auf Tour gehen.«
Das stimmte doch, oder? Aber konnte ihm Gary während des Lockdowns die Ölpumpe überhaupt besorgen? Er beschloss, ihn anzurufen, ihm ein bisschen Druck zu machen, damit er sich dahinterklemmte. Dann könnte er wenigstens eine Spritztour unternehmen, wenn ihm hier alles zu viel wurde. Wenn ihm Julie zu viel wurde.
Der Gedanke an seine Frau rief die vertraute Traurigkeit hervor. Das einzige Gefühl, das er derzeit mit ihr in Verbindung brachte. Irgendetwas stimmte nicht zwischen ihnen. Auch wenn Michael nicht besonders scharfsinnig sein mochte, so war er ganz sicher nicht dumm.
Er hoffte inständig, dass der Blumenladen nicht wochenlang schließen müsste. Julie liebte ihr Geschäft. Seit dessen Eröffnung vor fast fünfzehn Jahren hatte sie eine Menge Arbeit darin investiert, und inzwischen lief es ausgezeichnet. Zeitschriften hatten Artikel über sie gedruckt, sie hatte Auszeichnungen gewonnen, und ihre Umsätze waren beachtlich. Aber wer würde während eines Lockdowns Blumen kaufen?
»Alle«, hörte er Julies Stimme in seinem Kopf. »Wenn man eingesperrt ist, braucht man umso dringender Blumen, etwas Schönes, damit man nicht den Verstand verliert.«
Michael sah das anders. Für ihn fielen Blumen nicht in die Kategorie der lebenswichtigen oder systemrelevanten Dinge. Aber wie Julie schon oft festgestellt hatte, fehlte ihm auch meistens der Sinn fürs Schöne. Zumindest die Schönheit seines Motorrads wusste er zu schätzen. Sogar Julie hatte vor langer Zeit zugegeben, dass es ein echter Hingucker war. Noch heute konnte er sie vor sich sehen, wie sie in Budapest genau an der Straßenecke, wo er angehalten hatte, um einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, aus einem Café gekommen war. In äußerst knappen Shorts und einem atemberaubenden roten Top war sie auf ihn zugekommen und hatte Gertie bewundert. Am selben Abend war sie auf seinem Campingplatz aufgetaucht, angeblich weil sie sich das Motorrad noch einmal ansehen wollte. Als sie Stunden später rittlings auf Michael saß, hatte sie ihm gestanden, dass sie möglicherweise doch eher seinetwegen gekommen war. Er hatte sein Glück kaum fassen können. Und in mancherlei Hinsicht konnte er es bis heute nicht.
Sicher, Julie war ein Wirbelwind, aber ein warmer, schillernder, exotischer. Sie hatte Licht in sein eher graues Leben gebracht, und auch wenn es ihn manchmal geblendet hatte, hatte er das gern in Kauf genommen. Als strebsamer Sohn relativ ernster Eltern war ihm Julies überschwängliche, impulsive Art völlig fremd gewesen. Aber sie gefiel ihm. Und nicht nur ihm, sondern interessanterweise auch seinen Eltern. Als sein Dad zwei Wochen vor ihrer Hochzeit starb und Julie alles absagen wollte, hatten Michael und seine Mum darauf bestanden, an ihren Plänen festzuhalten.
»Wir brauchen dieses Glück«, hatte er unter Tränen zu Julie gesagt. »Sonst gehen wir beide unter. Und du bist dieses Glück.«
Und er hatte recht behalten. Mit ihrer Liebe, ihrer Fürsorglichkeit und ihrer natürlichen Freude hatte Julie ihm durch die schreckliche Zeit geholfen. Die Hochzeit war bittersüß und dennoch wunderschön gewesen. Sie waren mit dem Motorrad in die Flitterwochen gefahren, wundervolle Flitterwochen, auch wenn sie wegen der Beerdigung nicht ganz so lang ausgefallen waren wie geplant. Sie hatten es nicht bis zu den griechischen Inseln geschafft, doch das hatte keine Rolle gespielt. Selbst wenn sie nur bis nach Skegness gekommen wären, wäre er glücklich gewesen, weil Julie an seiner Seite war.
Eine plötzliche Unruhe erfasste ihn. Er stürzte zur Garagentür und riss sie auf. Die Sonne schien auf den Rasen, der ziemlich ungepflegt war. Das Gras musste dringend gemäht werden.
»Sorry, Nibbles«, sagte er zu dem Kaninchen, das an den langen Halmen in seinem Käfig knabberte. Wie alt mochte das Tier jetzt sein? Michael grinste, als er sich an den Zermürbungskrieg erinnerte, den Briony mit ihnen geführt hatte, um ihr geliebtes Haustier zu bekommen. O ja, Briony wusste, wie sie ihre Ziele erreichte, egal ob es sich dabei nun um ein Kaninchen oder einen Abschluss in Biochemie handelte. Diese Zielstrebigkeit und das Verständnis für naturwissenschaftliche Zusammenhänge hatte sie von Betty, ihrer Granny. Er musste seine Mutter unbedingt anrufen. Da sie sich seit dem Tod seines Vaters beharrlich weigerte, einen anderen Mann auch nur anzusehen, war Betty ganz allein; in ihrem Alter definitiv ein Grund zur Sorge.
Er fuhr zusammen, als im Haus eine Tür zugeknallt wurde. Julie. Sie knallte immer mit den Türen. So teenagerhaft wie sie hatten sich nicht einmal ihre Kinder als Teenager benommen.
»Michael?«
Er war überrascht, dass sie nach ihm rief. Er machte kehrt, ging in die Garage zurück, griff nach einem Schraubenschlüssel und duckte sich instinktiv hinter das Motorrad.
»Michael, bist du da? Clare meint, wir sollten unsere Blumen online anbieten. Sie will unser Logo auf ihr Auto pinseln, und ich dachte, vielleicht hast du noch ein bisschen Farbe, damit wir …« Die Garagentür flog auf, und da stand sie, quirlig und temperamentvoll in einem leuchtend gelben Pullover. »Michael? Was machst du denn da?«
Er spähte kurz zu ihr hoch. »An Gertie herumbasteln, was sonst?«
»Ja, was sonst.« Sie betrachtete das Motorrad, seufzte leise und ließ dann ihren Blick über die Regale schweifen. »Farbe?«
Er legte den Schraubenschlüssel beiseite und griff nach der kleinen Dose mit Metallicrot, das er zum Ausbessern von Gerties Traumkarosserie benutzte. Er gab die Farbe nicht gern her, weil er Angst hatte, den exakten Farbton vielleicht nicht mehr nachkaufen zu können, aber ihm war klar, dass der Gedanke kleinlich war. »Hier.«
»Danke.« Sie nahm die Dose und klopfte nervös mit der Fingerspitze auf den Deckel. »Das Geschäft muss doch weiterlaufen, oder?«
»Sicher. Dann hast du also vor, weiterhin in den Laden zu gehen?«
»Wenn ich kann.«
»Ist das erlaubt?«
»Wenn wir ihn als Werkstatt und nicht als Einzelhandelsgeschäft nutzen, ja.«
»Verstehe.«
»Und falls es Probleme geben sollte, arbeiten wir eben von hier aus. Das hast du vorhin ja selbst vorgeschlagen.«
Wirklich? Er war so ein Idiot! Auf einmal war ihm seine Frau nicht ganz geheuer. Energie hatte sie immer schon gehabt, aber diese Selbstsicherheit, diese Bestimmtheit, die waren neu an ihr. Als sie nach Hause gekommen war und erklärt hatte, dass sie mit ihm reden müsse, war ihm angst und bange geworden. Und Angst verspürte er immer noch. Er schaute sich um. Ob er sich in der Garage einquartieren könnte? Oder vielleicht …
»Weißt du, Julie, ich hab mich gefragt, ob ich nicht zu meiner Mum fahren sollte.«
»Wirklich?«
Bildete er es sich nur ein, oder hatten ihre Augen tatsächlich kurz aufgeleuchtet? Seine Brust zog sich zusammen.
»Ich mache mir Sorgen. Ich meine, sie ist zweiundachtzig und lebt allein.«
»Ich weiß.«
»Schutzlos.«
»Ach, komm schon, Michael! Betty ist ungefähr so schutzlos wie ein Sherman-Panzer.«
»Das ist nicht wahr. Psychisch vielleicht, aber sie gehört zu einer der Risikogruppen. Wenn sie sich mit dem Virus infiziert …«
Julie sog geräuschvoll Luft ein und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Du hast recht. Entschuldige. Ich wollte nicht … Du weißt, wie sehr ich deine Mum mag.«
Sie standen sich gegenüber. Die alte Uhr zwischen ihnen an der Wand tickte hörbar.
»Hast du sie schon angerufen?«, fragte Julie schließlich.
»Nein, ich wollte erst mit dir reden. Fragen, ob du, na ja …« Er ließ den Satz unbeendet. Ob du mich hier brauchst, das hatte er sagen wollen, aber sogar unausgesprochen klangen die Worte lächerlich. Julie brauchte ihn nicht. Wenn er ehrlich war, brauchte sie ihn schon seit Jahren nicht mehr.
»Sie freut sich bestimmt, wenn du kommst«, erwiderte sie steif.
Er nickte und griff nach seinem Handy. »Dann werde ich mal …«
»Gut.«
Sie verließ die Garage, und die Tür fiel krachend ins Schloss. Michael konnte nur mühsam den Reflex unterdrücken zusammenzuzucken. Er setzte sich auf den perfekt geschwungenen, abgewetzten Ledersitz seiner Guzzi und drückte die Schnellwahltaste für die Nummer seiner Mutter, bevor er es sich noch anders überlegte.
»Michael! Das ist aber schön! Wie geht es dir? Ist das nicht der komplette Wahnsinn?«
Beim Klang ihrer fröhlichen Stimme blinzelte er verdutzt. Gerade eben hatte er die Sache mit dem »schutzlos« fast selbst geglaubt, aber jetzt kam Betty Marshall so rüber wie eh und je. Sie war nicht im Geringsten schutzbedürftig.
»Da hast du recht, Mum, das ist wirklich alles höchst sonderbar. Ich mach mir Sorgen um dich.«
»Um mich? Aber wieso denn? Ach so, du meinst, weil ich eine alte Frau bin?«
»Na ja, ich weiß ja, dass du gesund und fit bist, aber dieses Virus kann richtig gefährlich sein, wenn man …« Er zögerte. Die Bezeichnung »anfällig« würde sie vermutlich noch mehr hassen als »alt«.
»Schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat?«, ergänzte sie munter. »Danke für den Hinweis, mein Schatz, aber das ist mir durchaus bewusst. Ich bin ja nicht blöd. In dreißig Jahren als Chemikerin in der Forschung lernt man das ein oder andere über solche Dinge, und ich bin noch nicht senil.«
Er lachte. »Das ist mir doch klar, Mum. Aber du neigst dazu, dich für unbesiegbar zu halten.«
»Und ich neige auch dazu, es zu beweisen.«
»Schon, aber …« Es war sinnlos, mit ihr darüber zu diskutieren. »Hör mal, Mum, ich hab mir gedacht, dass ich dich besuchen und bei dir bleiben könnte, bis diese Geschichte vorbei ist.«
»Bei mir bleiben? Wieso willst du denn bei mir bleiben?«
»Damit ich mich um dich kümmern kann, für dich einkaufen und all so was. Es heißt, Menschen über siebzig sollen ihre Wohnungen nicht mehr verlassen, deshalb hab ich mir gedacht, dass ich zu dir komme und …«
»Genug, Michael, das reicht. Ich bin dir einen Schritt voraus.«
»Was?«
»Ich habe mich bereits lange mit meiner Freundin June unterhalten. Sie ist pensionierte Immunologin und hat mir alles erklärt. Man will uns alte Leutchen aus dem Weg haben, damit wir uns nicht anstecken, ernsthaft krank werden und die Krankenhausbetten belegen.«
»So ist das nicht, Mum.«
»Doch, es ist sogar genau so. Aber das ist schon richtig.«
»Ich finde einfach, du solltest jetzt nicht allein sein.«
»Der Meinung bin ich auch, Michael, und deshalb ziehe ich zu Carol und Liz.«
»Du machst was?«
»Ich ziehe zu Carol und Liz. Wir spielen Bridge zusammen. Carol hat ein riesengroßes Haus, und seit dem Tod ihres Mannes geistert sie ganz allein darin herum. Da ist jede Menge Platz für Liz und mich. Wir gründen eine Senioren-WG.«
»Verstehe.«
»Das Einzige, was jede von uns mitbringen soll, sind saubere Unterhosen und drei verschiedene Sorten Gin. Na, was sagst du?«
Michael schaute in den Garten. Mr Nibbles hoppelte behäbig in seinem Auslauf herum. War das Einbildung, oder hatte das Kaninchen in den Hinterläufen keine Kraft mehr? Er fröstelte.
»Das klingt großartig, Mum. Hört sich nach einer Menge Spaß an.«
»Nicht wahr? Es gibt sogar einen Pool, ich kann also etwas für meine Fitness tun. Und einen Whirlpool. Und einen riesigen Garten, in dem ich töpfern kann. Liz’ Sohn ist der Geschäftsführer des örtlichen Supermarkts am Ort und wird dafür sorgen, dass uns tonnenweise Lebensmittel geliefert werden. Wenn es sein muss, brauchen wir das Haus monatelang nicht zu verlassen. Du siehst also, es gibt keinen Grund, sich um mich Sorgen zu machen.«
»Stimmt. Offensichtlich nicht.«
»Michael? Alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Alles bestens.«
»Wie geht’s euch denn? Und den Kindern? Kommen sie nach Hause?«
»Nein. Sie sind vollauf mit ihrem eigenen Leben beschäftigt.«
»Kann ich mir vorstellen. Dann seid ihr also allein, du und Julie?«
»Sieht so aus.«
»Und das ist in Ordnung?«, fragte sie zögernd. Diese zaghafte Art sah ihr gar nicht ähnlich.
»Natürlich ist es das, Mum. Wieso sollte es nicht in Ordnung sein?«
»Na ja, ich weiß nicht. Das ist schließlich eine schwierige Phase, wenn die Kinder das Haus verlassen. So … seltsam. Man fühlt sich orientierungslos.«
»Meinst du das ernst?«
»O ja. Ich glaube, dein Vater und ich haben uns nie so oft gestritten wie in der Zeit, als du studiert hast.«
»Ihr habt euch gestritten?«
Sie lachte leise. »Wir waren nicht perfekt, Michael. Kein Paar ist das. Rede mit ihr.«
Er blinzelte verwirrt. »Mit wem?«
»Mit Julie natürlich. Deiner Frau.«
»Ach so. Ja, klar.«
»Gott, ich weiß noch, wie es war, als ihr euch kennengelernt habt! Du warst noch nie so glücklich. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass du so eine Frau nach Hause bringst, aber als ich euch zusammen gesehen habe, wusste ich sofort, dass sie die Richtige ist.«
»Wirklich?«
Betty gab einen missbilligenden Laut von sich. »Hör endlich auf, dumme Fragen zu stellen, Michael! Natürlich wusste ich das. Also rede mit ihr. Jetzt habt ihr Zeit dafür. Wenigstens etwas Positives, das dieser Lockdown mit sich bringt.«
»Okay.« Michael verzog das Gesicht, während er beobachtete, wie Julie aus dem Haus kam. Sie hatte Karottenschalen für Mr Nibbles dabei und warf sie wie immer einfach in Richtung Auslauf, sodass nur die Hälfte durch das Gitter flog und der Rest im Gras davor landete. Wenn er nicht aufpasste, würden sich die Schalen in den Messern des Rasenmähers verfangen.
»Michael?«
»Schon gut, ich werde mit ihr reden, Mum. Und dir, äh, viel Spaß mit Carol und Liz.«
»Oh, den werde ich haben! Ich habe einen fantastischen Orangen-Gin gekauft, den die beiden bestimmt lieben werden. Pass auf dich auf, mein Schatz. Bis bald.«
»Bis bald«, wiederholte er, aber da hatte sie bereits aufgelegt. Wahrscheinlich packte sie schon ihre Unterhosen und ihren Alkohol zusammen, um sich auf den schnellsten Weg zu Carols Villa zu machen.
Er hatte seinen Blick nicht von Julie abgewendet. Zu seiner Überraschung drehte sie wieder um und hob die Karottenschalen auf, die danebengeflogen waren. Als sie sich zu dem alten Kaninchen hinunterbückte und mit ihm sprach, konnte er für Sekundenbruchteile das Mädchen in ihr sehen, das er vor fast fünfunddreißig Jahren überglücklich geheiratet hatte. Wenn es doch eine Möglichkeit gäbe, in diese Zeit zurückzukehren, als alles so einfach gewesen war! Aber nicht einmal der beste Ingenieur konnte eine Brücke in die Vergangenheit bauen. Er musste also einen Weg nach vorn suchen, in die Zukunft. Herausfinden, was zwischen ihnen falsch gelaufen war, und den Schaden, den er vor sechs Monaten auf jener anderen, chaotischen Hochzeit angerichtet hatte, irgendwie wiedergutmachen. Als sich ihre Situation in unverzeihlich hässlicher Weise zugespitzt hatte.
September 2019
Michael betrachtet Sophie, während Briony aufgeregt an der kleinen Schleppe ihrer Schwester herumzupft. Vor Stolz schwillt sein Vaterherz fast noch mehr als damals, als er seine Älteste vor neunundzwanzig Jahren das erste Mal in den Armen hielt. Heute ist sie eine erwachsene Frau, obendrein eine Braut, eine hinreißende Braut in ihrem Hippiekleid mit Gänseblümchenspitze, das so hervorragend zu ihr passt. Aber für ihn ist sie immer noch so zart und zerbrechlich wie das Neugeborene, das ihm nackt in seine Hände gelegt wurde, die viel zu groß wirkten.
»Du siehst wunderschön aus, mein Schatz«, sagt er, als sie nach seinem Arm greift. »Ich kann mein Glück kaum fassen. Dass ich dich zum Traualtar führen darf!«
»Wer denn sonst, Dad?«, entgegnet sie nur. »Immerhin bin ich dank dir so weit gekommen. Dank dir und Mum natürlich.«
Sie zeigt auf die Tür, die einen Spaltbreit offen steht, und er sieht Julie in der vordersten Reihe sitzen, atemberaubend schön in ihrem scharlachroten Kleid und selbstbewusst wie eh und je.
Das ist meine Julie, denkt er und stellt den Satz im nächsten Moment infrage. In letzter Zeit hat er immer öfter das Gefühl, dass sie nicht mehr »seine« Julie ist. Sie vergräbt sich in der Arbeit in ihrem Laden und hat sich in die Hochzeitsvorbereitungen gestürzt, als wäre Sophies Beziehung die einzig wichtige auf der Welt.
Er sieht, wie sie sich zu seiner Mutter in der Bank hinter ihrer umdreht und leise lacht. Sofort wirkt sie jünger. Vor vierunddreißig Jahren war es Julie, die darauf wartete, zum Altar geführt zu werden, denkt er. Einmal noch, und sei es nur für ein paar Minuten, die Zeit zurückdrehen und dieses Verliebtsein empfinden, das so absolut, so allumfassend war, dass sie es nicht bemerkt hätten, wenn die Welt um sie herum aufgehört hätte zu existieren. Er vermisst dieses Gefühl, er giert danach wie ein Alkoholiker nach Brandy zum Frühstück. Aber Brandy kann man sich wenigstens kaufen. Die Liebe, die ihn mit Julie verbunden hat, scheint einfach weg zu sein, geschmolzen wie Schnee in der Sonne.
Die Musik zum Einzug ertönt. Er kehrt ins Hier und Jetzt zurück und sieht wieder Sophie an. Das ist ihr Tag, und er fühlt sich geehrt, Teil davon zu sein. Er hebt den Kopf, drückt ihren Arm mit seinem fester an sich, und gemeinsam schreiten sie in die Kirche.
Am Altar nimmt ein strahlender Leo die Braut in Empfang. Ein Anflug von Panik erfasst Michael, weil er ihm sein kleines Mädchen übergeben muss. Doch sofort schämt er sich für seine patriarchalische Einstellung. Er verliert seine Tochter durch diese Beziehung doch nicht. Und selbst wenn es so wäre, dann wäre das schon vor zwei Jahren passiert, als sie mit Leo zusammenzog. Oder sogar noch früher, vor neun Jahren, als sie zu Freunden zog, um ihren Weg als Journalistin zu gehen. Immerhin wird sie auch in Zukunft ganz in ihrer Nähe wohnen, und ja, für ihn wird sie bis zu seinem Tod sein kleines Mädchen bleiben.