Nur zehn Tage - Martin P. Anderfeldt - E-Book

Nur zehn Tage E-Book

Martin P. Anderfeldt

0,0
3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es sollte der Höhepunkt ihrer Kollegstufenfahrt auf die Kanarischen Inseln werden: ein Flug zu einer neu entstandenen Vulkaninsel. Doch das Flugzeug stürzt über dem Meer ab und nur einige Mädchen schaffen es, sich auf eine unbewohnte Insel zu retten. Sie rechnen damit, dass sie bald gefunden werden, aber die Hilfe lässt auf sich warten. Es beginnt ein Kampf ums Überleben - gegen die Natur und gegeneinander … "Nur zehn Tage" ist ein psychologischer Thriller, aber kein Krimi.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2021

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Nur zehn Tage

Thriller

Martin P. Anderfeldt

Inhalt

Nacht

Minus 3 Jahre, 4 Monate

Tag 1

Minus 3 Jahre, 3 Monate

Tag 2

Minus 3 Jahre, 3 Monate

Tag 3

Minus 3 Jahre, 1 Monat

Tag 4

Minus 3 Jahre

Tag 5

Minus 3 Jahre

Tag 6

Minus 2 Jahre, 6 Monate

Tag 7

Minus 3 Monate

Nacht

Minus 3 Monate

Tag 8

Minus 1 Tag

Tag 9

Minus 10 Minuten

Tag 10

Und was kommt jetzt?

Danke! … soll ich von mir erzählen?

Sommerende – Leseprobe

Das Messias Casting – Leseprobe

Der kleine Vogel des Todes – Leseprobe

Dunkelheit über Tokyo – Leseprobe

Für H. Z.

Nur zehn Tage

Martin P. Anderfeldt

Thriller

Nacht

Kein Film, stellte Midori fest. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass ihr ganzes Leben noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen würde, aber das war wohl auch eine leere Versprechung gewesen. War ja klar.

Nina neben ihr schrie irgendetwas und krallte ihre langen Fingernägel schmerzhaft in Midoris Unterarm. Die sagte nichts dazu, sie hatte keine Lust, zu sprechen und sah lieber nach draußen. Völlig schwarz lag das Meer unter ihnen.

Ich bin ein Sturmtaucher, der ins Meer stürzt. Kopfüber tauche ich in die Fluten. Wird es kalt sein? Natürlich. Das Meer ist immer kalt, außer an den winzig schmalen Rändern, wo die Menschen zu Tausenden in der Sonne liegen und ein paar Meter in das fremde Element eindringen. Dumm herumplanschen und sich dann am Strand ihren Hautkrebs heranzüchten.

Es wird kalt sein und dunkel und still. Hallo, Meer. Sie zitterte.

Es rumpelte und die Insassen schrien auf, als die Maschine durchsackte. Midori spürte den Höhenverlust unangenehm in der Blase. Wie in der Achterbahn, dachte sie. Ich hasse Achterbahnfahren.

Trotz – oder gerade wegen? – des Geschreis hörte sie, wie irgendjemand etwas Monotones murmelte. Ein Gebet? Wer ist hier denn religiös? Gerne hätte sie sich umgedreht, um nachzusehen, aber die Maschine wackelte derart, dass sie aufpassen musste, dass ihr Kopf nicht ständig gegen die Scheibe knallte. Oder gegen die hysterisch schreiende Nina.

Jetzt ein Foto, dachte sie. Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte ihr iPhone der vorletzten Generation gezückt und alle fotografiert. Zu sehen, wie sie in einer solchen Situation reagieren, das muss doch total interessant sein. Mit so einem Foto könnte man vielleicht einen Preis gewinnen.

Naja. Eigentlich sollte ich jetzt wohl an meine Eltern denken, überlegte sie stirnrunzelnd. Na dann, macht’s mal gut. Eure Midori.

PS: Danke für dein altes iPhone, Papa.

Der Aufprall war so hart, dass ihr Kopf nach vorne gerissen wurde und der Gurt schmerzhaft in ihr Becken einschnitt. Sie klappte zusammen wie ein Taschenmesser, ihr Gesicht krachte mit Wucht auf die Lehne des Sitzes vor ihr, während gleichzeitig ihre Füße mit Gewalt nach vorne gezogen wurden. Man hörte Plastik mit lautem Knallen splittern und das Stöhnen und Kreischen von geschundenem Metall. Es regnete Kunststoffsplitter, unzählige kleine Gegenstände flogen durch die Kabine nach vorn und prasselten gegen die Cockpitwand. Einen kurzen Moment war es dann ruhig. Sie waren beinahe zum Stillstand gekommen und schaukelten auf dem Wasser. Jemand stöhnte.

Ein wenig enttäuscht fragte sich Midori, ob das schon alles gewesen war. Oder hoffte sie es? Sie erinnerte sich an unzählige Broschüren mit Sicherheitshinweisen auf unzähligen Flügen. Unter der Überschrift »Notwasserung« sah man ein Flugzeug auf dem Wasser liegen, aus dem eine gelbe Rutsche ragte. Man musste dann Schuhe mit Absätzen ausziehen und durfte die Schwimmweste erst nach Verlassen des Flugzeugs aufblasen. Als sie noch klein war, hatte Midori sich immer gewünscht, dass es zu einer Notwasserung käme und sie die lange Rutsche benutzen durfte.

Na ja, eine Rutsche gab es hier sowieso nicht. Und dass Flugzeuge auf dem Wasser schwimmen können wie auf der Zeichnung, hatte sie schon länger bezweifelt.

Etwas knirschte, der Boden neigte sich nach vorne und es ging weiter. Sie sanken. Nein, sie tauchten hinab, sie schossen in die Tiefe. Midori fühlte sich benommen. Der Schlag gegen den Vordersitz hatte sie mitgenommen.

Als sie eiskaltes Wasser an ihren Füßen spürte, kam sie wieder zur Besinnung. Automatisch löste sie ihren Gurt. Sie sah neben sich. Ninas Oberkörper war nach vorne gebeugt, sie bewegte sich nicht. Die blonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Midori hob mit beiden Händen Ninas Kopf hoch und sah sie an. Ihre Augen waren geschlossen. Kein Lebenszeichen. War sie tot oder bewusstlos? Sie konnte nicht tot sein, oder?

Sie fand Ninas Gurtschnalle und zog daran, dann war das Wasser plötzlich überall. Die Strömung zog Midori nach hinten, hob sie aus dem Flugzeug hinaus. Das Heck musste abgebrochen sein. Sie wurde zum Spielball der Strömung, wusste bald nicht, wo oben und unten war.

Dann sah sie, wie der hell erleuchtete Rumpf in die Tiefe schoss. Wann wohl das Licht ausgeht? Wie war das noch in dem Film Titanic? Rund um sie herum war alles voller Luftblasen, dann wurde es schwarz und Midori schwebte in der Finsternis des Meers. Allein in der Stille.

Sie erinnerte sich daran, wie sie mit ihrem Fahrrad manchmal ohne Licht durch die Nacht fuhr. So schnell sie konnte trat sie in die Pedalen und raste über die Straßen. Hässliche Peitschenlaternen sausten an ihr vorbei, beleuchteten sie für einen kurzen Augenblick, dann tauchte sie wieder ein in die Nacht. Manchmal schloss sie dann die Augen und stellte sich vor, eins zu werden mit der Dunkelheit, sich einfach aufzulösen.

Ich bin eine Medusa. Ich brauche keine Augen. Es gibt nichts. Die Welt endet da, wo meine Tentakel aufhören. Sie schloss die Augen, versuchte, den Schwebezustand zu genießen. Sie bewegte sich nicht, öffnete ihren Mund, um die Kälte zu schmecken und stellte sich vor, wie ihre Körperwärme entwich. Sie bemerkte, wie sie einen Schuh verlor, er glitt von ihrem Fuß. Genau so würde ihr Leben auch bald davongleiten. Einfach so.

So einfach.

Ohne Vorwarnung verkrampfte sich etwas in ihrem Magen. Sie wollte husten und konnte nicht. Sie strampelte mit den Beinen und ruderte wild mit den Armen. Keuchend kam sie an die Oberfläche. Gierig sog sie die Luft ein, dann hustete sie und spuckte Salzwasser aus. Er war vorbei, der perfekte Moment war vorbei. Alle Schönheit war dahin.

Sie hatte Wasser im Ohr, aber sie hörte jemanden schreien oder rufen. Sie hielt den Kopf schief, in der Hoffnung, dass das Wasser aus ihrem Gehörgang fließt, und sah sich um.

Im fahlen Licht der Sterne erkannte sie undefinierbare Formen um sich herum schwimmen. Wrackteile, dachte sie, wie dramatisch. Allein das Wort klingt romantisch und verheißungsvoll.

Vor ihrem inneren Auge sah sie bereits den Bericht in der Tagesschau. Man würde von Bord eines Hubschraubers sehen, wie Männer in orangefarbenen Schlauchbooten mit Außenbordmotor das graue Wasser durchsuchten. Man würde einen Taucher sehen, der sich rückwärts ins Wasser fallen ließ. Am unteren Rand des Bildschirms wäre der Name des Reporters eingeblendet. Würde man weinende Eltern zeigen? In der Tagesschau eher nicht, aber bestimmt auf irgendeinem Privatsender.

Alles schon tausend mal gesehen. Sie seufzte. Nichts Neues unter der Sonne. Beziehungsweise unter dem Sternenhimmel.

Die Wellen waren nicht hoch, aber es war sehr dunkel. Sie konnte keinen Mond am Himmel erkennen und die Sterne gaben nur wenig Licht. Es würde schwierig sein, hier andere Schwimmer zu sehen. Erst jetzt bemerkte sie, wie sie fror. Midori versuchte, sich auf ein größeres Wrackteil zu ziehen, aber sie war wohl zu schwer und drückte es nur nach unten. Sie ließ es los und drehte sich langsam im Wasser um ihre eigene Achse, um sich zu orientieren. Auf einer Seite schien der Horizont schwärzer zu sein und es waren keine Sterne zu sehen. Vielleicht war da eine Insel. Oder eine Wolke, dachte sie und schmunzelte. Rettest du mich, Wolke? Sie würde einfach auf der Wolke reiten, so wie Heidi im Vorspann der Zeichentrickserie.

Sie räusperte sich. »Ich schwimme zu der Insel. Will jemand mit?«, fragte sie, so laut sie konnte.

Ein unartikuliertes Schreien war die Antwort. Midori verdrehte die Augen. Na super, wen haben wir denn da? »Der Letzte ist eine lahme Ente«, rief sie und schlug ein paar Mal mit der flachen Hand aufs Wasser.

»Hilfe!«, kreischte jemand panisch.

Mit ein paar kräftigen Zügen schwamm Midori in die Richtung, aus der sie den Ruf gehört hatte. »Ist ja gut, ich mache nur Spaß.«

»Midori? Midori???« Die Stimme überschlug sich fast.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Hannah.« Midoris Zähne klapperten, sie war aber entschlossen, sich das nicht anmerken zu lassen. »Hast du zufällig noch jemanden hier herumplanschen sehen?«

»Nein. Ich bin … es war … auf einmal …«

»Dann verschwinden wir hier, was?«

»Aber wohin denn?« Hannah klang hysterisch.

»Da vorne ist eine Insel«, antwortete Midori. Vielleicht ist es auch eine Wolke, fügte sie in Gedanken hinzu, entschied aber, das lieber nicht laut zu sagen.

»Wo ist Nina?«, fragte Hannah.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Midori ernst. Ich habe auch keine Ahnung, wo die anderen sind. »Wir müssen aber weg hier. Das Wasser ist kalt und ich möchte jetzt gerade keinen Muskelkrampf bekommen.«

»Aber wir können doch nicht …«

Midori bewunderte Hannah für ihre selbstlose Einstellung. Sie war bestimmt völlig verängstigt und mit Sicherheit war sie weit weniger sportlich als sie selbst – und doch dachte sie an ihre beste Freundin. Der Gewinner der diesjährigen posthum verliehenen Medaille für größtmögliche Selbstlosigkeit bei kleinstmöglicher Intelligenz geht an – Hannah! Tosender Beifall.

»Wir müssen, Hannah. Wir müssen.«

Schweigend schwamm Midori los und sah sich alle paar Züge nach Hannah um. Hannah schien kaum den Mund über Wasser halten zu können und auch Midori bemerkte, wie die Kälte ihre Muskeln zu lähmen begann. Scheiße, ist mir kalt. Lange halten wir das nicht durch.

»Ob es hier Haie gibt?«

Oh, Hannah, dachte Midori, wir ersaufen gleich und du hast nur den Weißen Hai im Kopf. »Die schlafen jetzt. Haie sind doch tagaktiv.«

»Ah.« Hannah klang beruhigt. Anscheinend hatte sie ihr das abgekauft. Nur sich selbst konnte Midori nicht belügen. Unbehaglich sah sie nach unten. Wie tief das Wasser wohl war? Ob es hier wirklich Haie gab? Glitt in diesem Moment ein sechs Meter langer Hammerhai unter ihnen hinweg und blickte hungrig nach oben? Oder gab es andere, noch schlimmere Tiere? Tintenfische mit riesigen, kalten Augen, die sie in die Tiefe ziehen würden?

Nach einer Weile hörte Midori die Brandung und sah weiße Schaumkrönchen. Das Ufer konnte nicht mehr weit sein. Sie hob den Blick. Ein großer Teil des Himmels war völlig schwarz, die Insel musste ziemlich hoch sein. Vielleicht war es ja die Vulkaninsel, zu der sie gewollt hatten.

»Ich schaffe es nicht …«, stöhnte Hannah und ihre Zähne klapperten.

»Doch, du schaffst das.« Das klang nicht sehr überzeugend. Es ist schwer, einen optimistischen Eindruck zu machen, wenn man selbst völlig erschöpft ist.

Midori hatte mal gelesen, dass Ertrinkende überhaupt nicht mehr sprechen konnten, weil sie so damit beschäftigt waren, sich über Wasser zu halten. Dafür brauchten sie all ihre Energie. Darum schlugen sie auch nicht wild mit den Armen, wie man das immer im Fernsehen sah, sondern versanken einfach langsam. Ein letzter Blick, dann verschwanden sie stumm in der Tiefe.

Midori seufzte. »Leg dich auf den Rücken. Ich ziehe dich ein Stück.«

Vorschlag für meine Grabinschrift: Hier ruht Midori – sie war zu gut für diese Welt.

»Danke.«

Das Salzwasser gab genug Auftrieb, sodass Hannah auch beinahe ohne Bewegung nicht versank. Midori wusste nicht, wo sie Hannah greifen sollte. Eine Weile überlegte sie, ob sie sie an den Haaren ziehen sollte, schließlich umfasste sie ihren Kopf unter dem Kinn.

Midori war zwar sportlich, aber keine geübte Schwimmerin und so war sie schnell außer Atem und hatte das Gefühl, dass sie überhaupt nicht von der Stelle kamen. Sie verschnaufte und legte den Kopf in den Nacken. Die Sterne leuchteten wie Edelsteine, unglaublich fern, eiskalt und wunderschön. Noch nie hatte sie sie so strahlen sehen. Sie fühlte sich allein. Hier bin ich, ein winziger Punkt in einem schwarzen Meer, auf einer winzigen Kugel im schwarzen Weltraum. Welchen Unterschied macht es, ob ich kleiner Punkt in das dunkle Meer eintauche und nie wieder hochkomme?

Während sie auf der Stelle trat, spürte sie Sand unter den Füßen und stellte sich hin. Herrlich seicht, der perfekte Familienbadestrand, dachte sie und watete langsam weiter. Hannah ließ sie einfach weiter im Wasser treiben.

»Midori?!«, meldete sich Hannah und hatte schon wieder Panik in der Stimme. Sie planschte hektisch herum.

»Ab hier geht’s zu Fuß weiter«, rief Midori ihr zu. Als sie ins niedrigere Wasser kam, fühlte sie sich unglaublich schwer. Jeder Muskel tat ihr weh. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Hannah genau so ging.

Ich bin eine Meeresschildkröte auf dem Land. Langsam bin ich hier und behäbig. Ich lege noch schnell meine Eier in den Sand, dann sterbe ich. Vielleicht gehe ich auch zurück ins Meer, keine Ahnung, wie das bei Schildkröten ist.

Sie erreichten das Ufer und todmüde legten sie sich gleich auf den Strand. Obwohl der Sand eiskalt war, schliefen die Mädchen beinahe sofort ein.

Minus 3 Jahre, 4 Monate

Paula war das geborene Opfer. Sie war erst seit knapp einem halben Jahr in ihrer Klasse, und obwohl sie sich redlich bemühte, brauchte sie nur den Mund aufzumachen und jeder erkannte sofort, dass sie aus Sachsen kam. Allein ihr Dialekt prädestinierte sie für die Opferrolle. Dazu hatte sie noch eine altmodische Brille, und wenn sie lachte, meckerte sie eigenartig.

Midori erinnerte sich, wie ihr Klassenlehrer ihnen ihre neue Mitschülerin Paula vorgestellt hatte und sie zum ersten Mal vor der Klasse gestanden hatte. Mit knallrotem Kopf hatte sie auf den Boden gestarrt und Midori hatte sich gefragt, wann wohl die Brillengläser von innen beschlagen würden. Der Lehrer hatte sie dann an einen freien Platz geführt, allein an einer Bank in der letzten Reihe.

In den nächsten Wochen hörte man nicht viel von Paula. Sie meldete sich nie, und wenn ein Lehrer sie etwas fragte, wusste sie meist gar nicht, worum es ging und blätterte hektisch in ihrem Buch. Natürlich wurde sie auch dabei wieder knallrot.

Manchmal gab sie auf Fragen eines Lehrers auch so komische Antworten, dass die ganze Klasse in schallendes Gelächter ausbrach. Mit der Zeit rechneten alle mit einer lustigen Antwort, sodass es sofort still wurde, wenn sie aufgerufen wurde. Alle drehten sich dann erwartungsvoll zu ihr um, weil keiner etwas verpassen wollte.

Nein, Paula war niemand, den man unbedingt zur Freundin haben wollte. Zumindest, wenn man als halbwegs cool gelten wollte.

Midori fand es doof, dass jemand nur wegen seiner Herkunft fertig gemacht wurde. Sie war einmal zwei Wochen in Japan in die Grundschule gegangen und trotz ihres deutschen Akzents, und obwohl sie überhaupt nicht mitreden konnte, wenn sich die anderen über Musik oder Zeichentrickserien unterhielten, hatte sich niemand über sie lustig gemacht. Vielleicht hatte sie deshalb ein schlechtes Gewissen gegenüber Paula.

Irgendwann, als die Neckereien der anderen immer schlimmer wurden, beschloss sie, sich Paulas anzunehmen. Später fragte sie sich, warum sie das getan hatte und kam zu dem Schluss, dass sie wohl einfach ein nettes Mädchen gewesen war. Ein dummes Mädchen.

Die Chance, Paula zu helfen, kam, als der Sitzplatz neben Midori frei wurde. In der Pause ging Midori zu Paula, die ganz allein auf der Garderobenbank saß und ihr übliches Leberwurstbrot verzehrte. Die Wurst roch ziemlich streng und Midori wunderte sich, wie man so etwas essen konnte. Sie ließ sich aber nichts anmerken, sondern fragte Paula einfach, ob sie sich in der nächsten Stunde nicht zu ihr setzen wollte. Paula wurde wieder rot und wagte nicht, Midori anzusehen. Nervös spielte sie mit ihrer gelben Tupperdose und öffnete und verschloss sie immer wieder. Midori sah das Motiv auf der Dose und sagte: »Hey, ist das Totoro? Cool.« … wenn man acht Jahre alt ist. Paula sah erstaunt auf. Offensichtlich war sie es nicht gewohnt, dass jemand etwas an ihr cool fand. »Totoro, Totooro …« Leise sang Midori die Titelmelodie des Films, aber Paula schien sie nicht zu kennen und sah sie nur verständnislos an.

»Na, überleg’s dir mal, ja?«, sagte Midori und ging weiter. »Ich würde mich freuen.«

Zu Beginn der nächsten Stunde saß Paula tatsächlich neben Midori. Anfangs sah sie Midori unsicher an, wahrscheinlich befürchtete sie, dass alles nur ein böser Scherz gewesen war und so verstanden es auch Midoris Freundinnen. Sie konnten nicht glauben, dass die Außenseiterin plötzlich in ihrer Reihe saß. Sie sorgten sich wahrscheinlich um ihr eigenes Image als coole Mädchen. Als ob Paula eine ansteckende Krankheit hätte.

Sie machten sich über Midoris »Sozialfall Baula« lustig, aber schließlich mussten sie einsehen, dass sie es ernst meinte. Sie werden sie schon noch akzeptieren, hoffte Midori.

Paula war eine Träumerin. Immer wieder sah sie im Unterricht aus dem Fenster, statt aufzupassen; wenn Midori dann aber auf Paulas Buch klopfte, kam sie wieder zu sich. Es tat ihr gut, neben Midori zu sitzen: Wenn ein Lehrer sie aufrief, waren ihre Antworten jetzt nicht mehr völlig daneben, hin und wieder waren sie sogar richtig.

Dafür hing sie wie eine Klette an ihrer Wohltäterin und Midori befürchtete, ihre alten Freundinnen zu verlieren. Sie hatte bis dahin zu einer ziemlich coolen Clique gehört, aber ihre Freundinnen schienen nicht bereit, Paula in ihren Kreis aufzunehmen.

Ihre große Schwester Aoi, die Midori damals oft um Rat fragte, empfahl ihr, Paula auch mal die kalte Schulter zu zeigen. Und so entfloh sie ihr manchmal in der Pause oder auf dem Heimweg. Paula störte das anscheinend nicht, und sie schien den dezenten Hinweis auch nicht zu verstehen.

Tag 1

Als Midori erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Sie hatte rasende Kopfschmerzen und jeder Muskel tat ihr weh. Ihre Kehle fühlte sich so trocken an, als hätte sie die ganze Nacht mit dem Mund im Sand geschlafen. Was vermutlich der Wahrheit entsprach.

Sie setzte sich auf und blinzelte in die Sonne. Hannah stand am Ufer und blickte auf das Meer hinaus, das strahlend blau vor ihr lag. Ihre zerfetzte Kleidung und ihre alabasterfarbene Haut verliehen ihr ein seltsam malerisches Aussehen. Caspar David Friedrich, Die Schiffbrüchige, dachte Midori. In Gedanken stellte sie das Bild in einen goldenen Rahmen und hängte es in einem Museum auf. Schade, dass ihr iPhone auf dem Grund des Atlantiks lag, das wäre ein tolles Foto und mit ein paar Filtern würde es wirklich aussehen wie ein romantisches Ölgemälde.

Hannah drehte sich um und sah Midori an. »Du bist aufgewacht.«

Es sind Sätze wie dieser, die mich an der Menschheit zweifeln lassen. Midori nickte und wollte etwas sagen, aber ihre Kehle fühlte sich so trocken an, dass sie wahrscheinlich nur hätte krächzen können. So beschränkte sie sich auf ein Räuspern.

Hannah wandte sich wieder dem Meer zu. »Glaubst du, wir sind die einzigen Überlebenden?«

»Hast du was zu trinken?«, fragte Midori mit rauer Stimme.

Hannah bedachte sie mit einem Blick voller Verachtung. »Willst du gar nicht wissen, wo Herr Kugler ist? Und Nina und die anderen? Interessiert dich das gar nicht?«

Midori schloss die Augen. Wie undankbar. Hast du etwa vergessen, wer dich gestern aus dem Meer gefischt hat? »Ich habe eben Durst.«

Hannah seufzte. »Ich habe leider auch nichts. Glaubst du, wir werden bald gerettet?«

»Auf jeden Fall möchte ich vorher noch was trinken.« Midori stand auf und sah sich um. Vielleicht hatten sie ja Glück und eine Kiste aus dem Flugzeug war angespült worden. Vielleicht ist gleich ums Eck ja auch ein verdammter Robinson Club. In jedem Fall brauchte sie etwas zu trinken. Wortlos drehte sie sich um und ging am Ufer entlang.

»Hey! Wohin willst du denn? Du kannst mich doch hier nicht allein lassen.« Hannah sprang auf und eilte Midori hinterher.

Barfuß stapfte Midori durch den heißen Sand. Ihr schwarzes T-Shirt und die abgeschnittene schwarze Jeans heizten sich in der prallen Sonne auf, aber sie beschloss, sie anzulassen, sonst hätte sie bald einen Sonnenbrand, der sich gewaschen hat. Wenn auch nicht so schlimm wie der von Hannah, dachte sie mit einem Seitenblick auf ihre Begleiterin. Die Haut des rotblonden Mädchens leuchtete bereits jetzt hellrot.

Midori stieg über einen Ast, vermutlich Treibgut, und hob ihn auf. Sie rammte ihn in den Boden.

»Glaubst du, das sehen unsere Retter?«, fragte Hannah zweifelnd.

Midori wandte sich ab und verdrehte die Augen. »Das ist für uns, damit wir wissen, wo wir losgelaufen sind.«

»Aber sie werden uns doch sicher bald holen, oder?«

»Lassen wir uns überraschen.«

»Wie meinst du das, überraschen? Die finden uns doch bald, meinst du nicht?« Ihre Stimme zitterte. Geriet sie jetzt auch noch in Panik?

»Ja, ja, bestimmt. Sie können doch die Crème de la Crème der deutschen Jugend nicht im Stich lassen. Mango und Desigual müssten ja Konkurs anmelden.«

Hannah warf ihr einen verunsicherten Blick zu, dann stolperte sie weiter hinter ihr her.

Der feine, gelbe Sand war so heiß, dass die Füße schmerzten und so hielt Midori sich nahe am Wasser, auch wenn dadurch der Weg weiter war. Am Rand des Strands wuchs ein Wäldchen mit dichtem Unterbewuchs. Im Innern der Insel sah sie Hügel. Oder eher schon Berge. Wie groß die Insel wohl war?

Midoris Füße schmerzten, als sie über spitze Felsen klettern mussten, sie wollte sich aber nichts anmerken lassen, weil Hannah auch nicht klagte. Vermutlich war die öfter im Freibad und hatte eine Hornhaut an den Füßen oder so. Midori hasste das Freibad und alles, was damit zusammenhing – Posieren im Bikini, Kichern und Flirten mit pickligen Jungs. Sie biss die Zähne zusammen und eilte weiter. Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund an wie ein riesiger, trockener Schwamm. Sie wusste, dass sie bald Wasser finden mussten, sonst würde es unangenehm.

Sie kamen an eine Stelle, wo der Strand nur ein schmaler Streifen war, weil die Felsen ganz nah ans Wasser kamen. Auf der einen Seite ragte eine steile Felswand auf, während auf der anderen das Meer lag. Bei Flut konnte man hier vermutlich gar nicht mehr passieren. Oder war gerade Flut?

Interessiert betrachtete Midori die Steilwand und fand, was sie suchte. Ein schmaler, dunkler Streifen verlief von oben nach unten. Prüfend berührte sie die Stelle mit dem Finger und steckte ihn dann in den Mund. Zufrieden lächelte sie.

»Wasser?«, fragte Hannah.

Midori nickte triumphierend.

»Aber das sind ja nur ein paar Tröpfchen. Das nützt uns doch nichts.« Misstrauisch beäugte sie das Rinnsal. »Ist das überhaupt gut?«

Midori hatte keine Ahnung. Konnte das Wasser giftig sein? Niemals. Oder doch? »Wir können ja auch weitersuchen, vielleicht finden wir eine Evian-Quelle.«

Hannah schnaubte unwillig.

Die Mädchen untersuchten die Wand, ob es irgendwo ein natürliches Becken gab, wo sich das Süßwasser sammelte, doch sie fanden nichts. Das Wasser schien in ein paar Metern Höhe aus dem trockenen Felsen zu kommen und floss dann daran herab in den Sand und ins Meer.

Midori dachte nach, dann zog sie ihre Jeans aus. Zum Glück trug sie ihre Bikini-Hose darunter. Hannah sah sie völlig verständnislos an, wagte aber nicht, eine Frage zu stellen. Midori klemmte die Hose in den Felsen, dort, wo das Wasser floss.

»Wenn die Hose vollgesaugt ist, können wir etwas trinken. Am Anfang ist es sicher salzig, weil ich ja mit der Hose im Meer war.« Midori war unglaublich stolz auf ihre Erfindung, wollte das aber auf keinen Fall zeigen und vermied es, Hannah anzusehen.

Die starrte sie an, offensichtlich hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für die geniale Idee und dem Ekel, womöglich Wasser aus einer Hose saugen zu müssen.

»Du musst es natürlich nicht trinken, wenn du es abstoßend findest. Bestimmt ist hinter den Felsen eine Cocktailbar. Geh nur schon vor und sichere uns einen Tisch.«

»Musst du eigentlich immer so sein?«, fragte Hannah genervt.

Midori drehte sich langsam zu ihr und sah sie kalt an. »Wie bin ich denn deiner Meinung nach?«

»Na, du weißt schon.« Sie sah Midori hilfesuchend an, doch die zuckte mit keiner Wimper. »So … kalt und so ironisch.«

Midori verdrehte die Augen. »Ironisch? Warum versteht eigentlich keiner, was ironisch bedeutet? Das Wort, das du suchst, heißt sarkastisch. Dachte, du bist im Deutsch LK.« Damit stapfte sie weiter.

Hannah blieb noch kurz stehen, dann atmete sie tief ein und folgte ihr in einigem Abstand.

Etwa eine halbe Stunde später war der Durst unerträglich geworden. Hungrig war Midori auch, aber der Hunger würde warten müssen. Sie überlegte, ob sie schon umkehren sollte, um wenigstens ein bisschen Wasser aus ihrer Hose zu saugen. Sie drehte sich um und sah zurück. Ein paar Schritte hinter ihr ging Hannah. Sie interpretierte Midoris Blick als Fürsorglichkeit und lächelte sie an. Wie ein Hündchen, dachte Midori, fehlt nur noch, dass sie mit dem Schwanz wedelt.

Hannah deutete nach vorne. »Da! Schau mal, da!«

Midori kniff die Augen zusammen. Weiter vorne lag etwas am Strand. Vielleicht Gepäck oder ein Teil des Flugzeugs. Nein, dass ein Teil des Flugzeugs so weit angetrieben käme, konnte sie sich nicht vorstellen. Obwohl – sagten sie während der Sicherheitsinstruktionen nicht immer, dass man das Sitzpolster auch als Floß benutzen konnte? Irgend so was.

Vielleicht war es auch ein weiterer Überlebender – oder ein Toter. Wie würde Hannah reagieren, wenn sie die aufgedunsene Leiche eines Klassenkameraden fänden? Und wie wirst du selbst reagieren, harte Midori?

Nina wäre bestimmt auch als Leiche schön. So wie in dieser amerikanischen Fernsehserie aus den 80er oder 90er Jahren, die ihr Vater auf DVD gekauft hatte. Sie konnte sich genau an die Musik erinnern: dummm, dumm-dumm, dummmm. Was stand da immer im Untertitel? »Wer hat Lilli Palmer getötet?« oder so. Nein, Lilli Palmer war jemand anderes gewesen. Na, egal. Anscheinend wurde in der Serie diese Frage auch nur ungenügend beantwortet, denn als sie einmal die DVD-Packung in die Hand genommen und ihren Vater in aller Unschuld gefragt hatte: ›Und? Wer hat sie nun getötet?‹, da hatte er zwar eine halbe Stunde lang erzählt, aber danach war sie genau so schlau wie vorher.

Hannah rannte zu dem farbigen Bündel hin. Eindeutig ein Mensch, da lag jemand mit dem Gesicht im Sand, die Beine waren noch im Wasser. Ein Mädchen. Wellen spülten sanft über die nackten Füße. Hannah beugte sich über den Körper, doch dann verließ sie anscheinend ihr Mut. Sie tippte der Gestalt mit dem Zeigefinger auf die Schulter, als hätte sie Hemmungen, sie mit der Handfläche zu berühren. Midori versuchte, sich zu erinnern, wer ein grünes Polohemd und eine weiße Hose getragen hatte, aber sie kam nicht drauf. Nina jedenfalls nicht, die trug etwas Exquisiteres.

Midoris Herz klopfte bis zum Hals. Sie trat heran und fasste den liegenden Körper an der Schulter. Er fühlte sich kalt und nass an. Mit Schwung drehte sie den Oberkörper herum. Hannah zog hörbar den Atem ein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ein Mädchen zum Himmel. Ihre Lippen waren genau so bleich wie ihre Haut. Konnten Lippen so weiß sein? Dunkler, nasser Sand klebte in ihrem Gesicht wie die schlecht gemalten Bartstoppeln eines Räubers in einem Schultheaterstück.

»Mia«, sagte Hannah überflüssigerweise.

Bitte, bitte, frag nicht, ob sie tot ist, dachte Midori. Nein, sie dachte es nicht. Sie schrie es innerlich.

»Ist sie … ist sie tot?«

Verdammt, Hannah! Sind wir hier in einer Scheiß-Vorabendserie oder was? Was für eine Antwort erwartest du: Nein, sie schläft nur, mein Liebes? Oder: Sie ist jetzt an einem besseren Ort? Aber Midori beherrschte sich.

»Ja«, erwiderte sie ruhig und atmete langsam aus. Midori kannte Mia kaum. Mia hing immer mit Vanessa herum. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Mia mal bei »Jugend musiziert« irgendwas gewonnen hatte. Ihre Mutter hatte ihr das erzählt; vorwurfsvoll, weil Midori selbst das Geigespielen aufgegeben hatte. Was hatte sie noch gespielt? Klarinette? Oboe? Naja, hiermit wäre ihre Musikkarriere jedenfalls offiziell beendet. Aus irgendwelchen Gründen hatte sie das Bild eines Sinfonieorchesters im Kopf, in dessen Mitte ein Platz leer war.

»Wir müssen sie nach oben ziehen«, befahl Midori und fragte sich gleichzeitig, warum sie glaubte, das tun zu müssen. Zum Glück stellte Hannah keine solchen Fragen. Sie nahmen die Arme der Ertrunkenen und schleiften sie weiter nach oben auf den Strand. Sie war schwerer als erwartet und als Midori sich umdrehte, sah sie, dass Mias Kopf nach hinten gefallen war. So, als ob sie nachsehen wollte, wer sie so unsanft über den Strand schleifte.

Sie legten sie in den Schatten der Bäume, die am Rand der hellen Sandfläche wuchsen.

Midori fiel ein, dass sie ihr jetzt eigentlich die Augen zudrücken sollten. Das sah im Fernsehen ganz leicht aus, man strich praktisch nur einmal von oben nach unten über die Augen. Sie versuchte es ganz vorsichtig, aber die Augen blieben offen. Tja, das Leben ist eben kein Film, Midori. Der Satz könnte glatt von meinem Vater sein, Gesammelte väterliche Weisheiten, Band XII. Midori hatte keine Lust, noch einmal die Augen der Toten zu berühren und so drehte sie Mias Kopf zur Seite. Sie konnte sie schließlich auch nicht einfach so in den Himmel glotzen lassen.

»Da ist … noch etwas …« Hannah war weit weniger enthusiastisch als beim ersten Mal.

Midori folgte ihrem Blick. Scheiße. Da lag schon wieder jemand im Sand. Dieses Mal erkannte Midori aber Schleifspuren, die zum Wasser führten. Die Person hatte zumindest noch gelebt, als er oder sie am Strand gelandet war. Midori war als Erste da.

Es war Vanessa. Sie lag auf dem Rücken und sah Midori an. Sie lebte. Dann drehte sie den Kopf zur Seite und erbrach sich lautstark in den Sand. Es kam nur ein dünner, beinahe farbloser Strahl. Na, so eine Wiedersehensfreude, dachte Midori.

»Es ist Vanessa. Sie lebt!«, rief sie Hannah zu, die einige Schritte entfernt stehen geblieben war. Hannah nickte. Enttäuscht? Bist du sehr traurig, dass es nicht Nina ist?Pech gehabt, ich wäre auf deiner Liste sicher auch nicht ganz oben gewesen, oder?

Vanessa hustete immer noch und wand sich in spastischen Krämpfen. Midori half ihr, sich aufzusetzen. Ihre schulterlangen, braunen Haare, die sie sonst oft zum Pferdeschwanz band, waren offen und voller Sand. Midori legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie spürte, wie Vanessa zitterte. Nach einer Weile beruhigte sie sich und lächelte sogar schwach.

Hey, ich bin hier die Japanerin, ich sollte lächeln, dachte Midori. Obwohl ihr Vater ja immer sagte, sie sei ungefähr so japanisch wie ein Sushiröllchen mit Bratwurstfüllung – äußerlich kam sie nach ihrer japanischen Mutter, aber da sie nie länger als ein paar Wochen am Stück in Japan gewesen war, hatte sie keinen besonderen Zugang zur japanischen Kultur. Zur Sprache übrigens auch nicht, was in Japan schon mal peinlich sein konnte, denn sie sah zwar aus wie eine 19-jährige Japanerin, aber sie sprach immer noch wie ein 6-jähriges Kind, sodass Einheimische sie mitunter wahrscheinlich für schwachsinnig hielten.

Ihre trockenen Lippen spannten sich unangenehm, als Midori lächelte. Hoffentlich platzen sie nicht auf. Ich bin sicher, hier gibt’s weit und breit keinen Labello. Vanessa wollte etwas sagen, aber wann immer sie sich räusperte, kam nur ein Hustenanfall.

Midori beschloss, es ihr einfacher zu machen. »Wir sind gemeinsam hierher geschwommen, Hannah und ich. Tut dir etwas weh?«

Vanessa betastete sich und schüttelte den Kopf.

Dann fiel Midori Mia ein. Vanessas Freundin Mia, verdammt. Die beiden waren unzertrennlich. Gewesen.

»Mia ist«, fing sie an »Mia … wir haben sie gerade gefunden.« Midori sah auf den Boden. Vanessa drehte den Kopf hektisch in alle Richtungen und sprang auf. Sie schwankte erst ein wenig und Midori war sicher, dass sie hinfallen würde, aber dann fing sie sich und rannte den Strand hoch, an der verdutzten Hannah vorbei.

Sie entdeckte Mia und kniete sich in den Sand vor die Tote. Dann fing sie an zu weinen.

Betreten sahen sich Hannah und Midori an. Wie hatten sie die tote Mia nur so pietätlos über den Strand schleifen können?

Vanessa weinte wie ein Kind, aus ganzem Herzen und mit dem ganzen Körper. Tränen liefen ihre Wangen herab und Rotz tropfte in den Sand. Midori konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so geweint hatte. Vielleicht, als ihr Meerschweinchen gestorben war. Damals war sie sechs gewesen. Sie beneidete Vanessa um ihren Schmerz. Wie erfrischend es sein musste, wenn man so klare Gefühle hatte.

Warum konnte sie nicht um ihre Klassenkameraden weinen? Neun junge Menschen waren – wahrscheinlich – tot. Und der Lehrer, Herr Kugler. Der »wenn-du-dich-nur-ein-bisschen-anstrengen-würdest-wärst-du-eine-der-besten-hier-Midori«-Kugler. Verdammt, sie hatte ihn gern gehabt. Sie biss sich auf die Unterlippe. Genug nachgedacht jetzt. Heulen macht sie auch nicht wieder lebendig. Sie durfte es nicht an sich heranlassen.

Hannah und Midori traten an Vanessa heran, die sich inzwischen etwas beruhigt hatte. Midori überlegte, ob sie sich zu Vanessa hinknien und den Arm um sie legen sollte. Das wäre auch wieder so eine Filmgeste. Sie konnte förmlich sehen, wie danach das Bild aufziehen und die Musik anschwellen würde. Dann würde der Titel eingeblendet werden und die Namen der Schauspieler würden über den Bildschirm scrollen. Mias Name würde zum ersten und letzten Mal zu sehen sein.

Verdammt, wir können aber auch nicht einfach so stehen bleiben und ihr beim Weinen zusehen. Midori kniete sich neben Vanessa in den kalten, weichen Sand. Sie streckte die Hand aus, um sie ihr auf den Rücken zu legen. Vanessa drehte sich sofort zu ihr um und umarmte sie. Sie drückte Midori an sich und schluchzte stumm in Midoris T-Shirt. Midori blieb fast die Luft weg, so fest hielt Vanessa sie. Verlegen tätschelte sie Vanessas Rücken. Sie sucht Trost bei mir? Kann es sein, dass sie ausgerechnet bei mir Trost findet?

Nach ein paar Minuten ließ sie Midori los und die beiden lösten sich voneinander. Als sie sicher war, dass Vanessa nicht hinsah, betrachtete Midori verstohlen den dunkel glänzenden Flecken aus Tränen und Rotz auf ihrem T-Shirt. Das kam in Hollywood-Filmen nicht vor. Sie runzelte die Stirn, wagte es aber nicht, den Flecken wegzuwischen, weil sie Vanessas Gefühle nicht verletzen wollte.

»Wir haben eine Quelle gefunden. Da sollten wir hin«, sagte sie ruhig.

Vanessa wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse über die Augen und deutete dann auf das Meer. »Ich habe eine Kiste gesehen. Ich glaube zumindest, dass es eine Kiste ist, und nicht …« Sie blickte auf die tote Mia und begann wieder zu weinen. Nicht noch eine Leiche.

Midori nahm Vanessa in den Arm, während Hannah zum Wasser lief. Bitte, lass es keine Leiche sein, dachte Midori und fragte sich sofort, an wen sie diese Bitte überhaupt gerichtet hatte. Midori, du wirst doch nicht gläubig werden auf deine alten Tage?

Die Sonne schien so hell, dass die ganze Szene unwirklich aussah. Hannah zog etwas durch das Wasser. Es waren zwei Kisten, die sie dann im seichten Wasser abstellte. Mühsam trug sie sie ein wenig den Strand hoch. Midori sah, dass sie trotz der Anstrengung strahlte. Was mag da drin sein, wenn Hannah sich so freut, grübelte Midori. Vielleicht war die Kiste voller »Elle«, »Vogue«, oder was Hannah sonst noch so demonstrativ durchblätterte, wenn sie cool aussehen wollte.

Hektisch winkte Hannah den beiden anderen. Midori ärgerte sich über ihr breites Grinsen. Hatte sie vergessen, dass Vanessa gerade ihre beste Freundin verloren hatte? Rücksichtslosigkeit tolerierte Midori nicht. Das musste wohl ihr japanisches Erbe sein – sozusagen die Schicht aus Sushi-Reis und Nori-Algen um die Bratwurst namens Midori.

Langsam ging sie zu Hannah und auch Vanessa kam angetrottet. Die verheulten Augen und das verfilzte Haar standen ihr gut, fand Midori. Sie hatte Vanessa immer in die Kategorie »behütete Töchter und Pferdefraktion« eingeordnet. Ein paar Tränen ließen sie gleich viel reifer und interessanter aussehen. Und wenn ein Mann vorbeikommen würde, fände er sicher auch Vanessas halb zerrissene Bluse ansprechend. Zumindest besser als mein verrotztes T-Shirt, fiel ihr ein und sie begann, unauffällig an dem Fleck zu reiben.

»Tadaa! Das sollte reichen, bis wir gerettet werden.« Hannah deutete auf eine Kiste mit sechs großen PET-Flaschen. Dabei sah sie aus wie die Assistentin in einer billigen Gameshow, die einen Gewinn präsentierte. Drei Flaschen Volvic, zwei mal Cola Light und einmal Fanta.

»Für mich eine Cola Light«, entschied Hannah und nahm eine Flasche in die Hand. Cola Light – wie clever, Hannah, möchtest du den Aufenthalt in unserem kuscheligen Inselparadies für eine kleine Diät nutzen?

»Ihr könnt ja nehmen, was ihr wollt.« Wie großzügig, Hannah schmeißt eine Lokalrunde. Die Flasche zischte, als sie sie öffnete und Hannah nahm einen Schluck. »Ahhh … sogar noch kalt.«

Midori überlegte, ob sie Fanta oder Wasser trinken wollte. Eigentlich hasste sie Limonade, aber wenn sie hier länger bleiben mussten, wäre es gut, ein paar Kalorien extra zu bekommen. Sie streckte die Hand nach der Fanta aus, dann zog sie sie wieder zurück und wandte sich um. »Was möchtest du, Vanessa?«

Vanessa sah sie dankbar an. Sie krächzte etwas, das man als »Wasser« interpretieren konnte und Midori reichte ihr ein Volvic.

Midori nahm sich die Fanta. Sie schmeckte nicht so schlecht, wie sie das in Erinnerung hatte. Entweder haben sie die Rezeptur geändert, oder ich bin wirklich durstig. Oder ich habe sie eigentlich immer gemocht, es mir nur nicht vor mir selbst eingestehen wollen. Wenn sie mal einen Therapeuten hätte, würde sie darüber sprechen.

---ENDE DER LESEPROBE---