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Der Papst macht Ferien – das Verbrechen nicht. Italien im August: Sonnenbaden, das beste Eis der Welt und Dolce Vita. Doch stattdessen heißt es für Papst Petrus: Intrigenspiele im Vatikan. Als ihm Studienfreund Giuseppe von seinem einfachen, aber erfüllten Leben als Dorfpfarrer an der Amalfiküste erzählt, kommt Petrus ins Grübeln: Wäre das nicht auch etwas für ihn gewesen? Kurz entschlossen übernimmt er Giuseppes Urlaubsvertretung, inkognito natürlich. Petrus genießt die Auszeit in dem kleinen Fischerort in vollen Zügen. Doch dann wird sein Boccia-Partner Raffaele ermordet, und Petrus' Ermittlungen führen ihn tief in die glamouröse Vergangenheit der Amalfiküste.
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2016
Johanna Alba • Jan Chorin
O sole mio!
Ein Papst-Krimi
Kriminalroman
Ihr Verlagsname
Der Papst macht Ferien – das Verbrechen nicht.
Italien im August: Sonnenbaden, das beste Eis der Welt und Dolce Vita. Doch stattdessen heißt es für Papst Petrus: Intrigenspiele im Vatikan. Als ihm Studienfreund Giuseppe von seinem einfachen, aber erfüllten Leben als Dorfpfarrer an der Amalfiküste erzählt, kommt Petrus ins Grübeln: Wäre das nicht auch etwas für ihn gewesen? Kurz entschlossen übernimmt er Giuseppes Urlaubsvertretung, inkognito natürlich. Petrus genießt die Auszeit in dem kleinen Fischerort in vollen Zügen. Doch dann wird sein Boccia-Partner Raffaele ermordet, und Petrus’ Ermittlungen führen ihn tief in die glamouröse Vergangenheit der Amalfiküste.
Johanna Alba, geboren 1973, ist Kulturjournalistin und Kunsthistorikerin. Sie hat unter anderem in Rom studiert, wo sie gleich hinter dem Vatikan wohnte. Heute schreibt sie für verschiedene namhafte Magazine über Literatur, Kunst und Geschichte.
Jan Chorin, geboren 1971, ist Historiker und hat sich auf europäische Religions- und Geistesgeschichte spezialisiert.
Mit ihrem Debütroman «Halleluja!» waren die Autoren für den Glauser-Preis nominiert. Seitdem löst Papst Petrus Verbrechen in Rom - diesmal in Urlaubsvertretung an der Amalfiküste. Johanna Alba und Jan Chorin sind verheiratet und leben mit ihren zwei Kindern in München.
«O hätte ich Flügel wie Tauben, dass ich wegflöge und Ruhe fände!»
Psalm 55,7
29. August 1962, Amalfiküste
Die Riva legte sich elegant in die Kurve, von einer weißen Gischtwelle umarmt.
Das Motorboot war in diesem Sommer Gianni Agnellis Lieblingsspielzeug: Schlank und glänzend, aus rotbraunem Mahagoni gefertigt, windschnittig. Aufrecht stand er hinter der Panoramascheibe, Playboy und Multimilliardär, Chef der weltberühmten Autowerke, der ungekrönte König Italiens. Er drehte am weißen Steuerrad, bediente die chromblitzenden Armaturen. In der Ferne zog die Silhouette Capris vorbei – kein geeignetes Ziel für diesen Augusttag. Er wollte hinaus aufs Meer, möglichst weit weg von den Linsen der Fotografen.
Mit einigen Handgriffen jagte er den Lamborghini-Motor noch höher und freute sich an seinem energischen, gleichmäßigen Brummen. Durch die abgetönte Scheibe sah er das Italien-Fähnchen auf dem Bug flattern. Er blickte zur Seite: Die Küstenlinie war nur noch als dünner schwarzer Strich zu erkennen.
Er drosselte den Motor.
Das Brummen wurde leiser.
Gianni Agnelli drehte sich zu der Frau um, die sich hinter ihm auf der Liegefläche räkelte. Schwarze, schulterlange Haare, ein sommerlich gebräuntes Gesicht, die Augen hatte sie hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt.
«Hier draußen sieht uns niemand. Du kannst ihn anziehen, deinen Bikini.»
«Irgendjemand sieht uns doch», sagte sie. «Mit einem Fernrohr von Capri aus. Im Gegensatz zu dir habe ich einen Ruf zu verlieren.»
«Hier draußen haben sogar die Spione deines Mannes keine Chance.»
«Du kennst John nicht. Vermutlich hat er auf seinen Weltraumraketen Kameras installiert und überwacht uns.» Sie winkte in den tiefblauen Himmel hinauf. «Hallo, John, kannst du uns sehen?»
«In Positano wimmelt es nur so von CIA-Leuten», sagte Agnelli. «Inzwischen gibt es mehr Agenten als Fischer an der Küste.»
«Alles zu meiner Sicherheit – behauptet John.»
«Alles, damit du nicht auf dumme Ideen kommst, vermute ich.»
«Das könnte auch sein. John mag es nicht, wenn Frauen auf dumme Ideen kommen. Und falls doch …»
«… enden sie so wie Marilyn vor drei Wochen.»
Sie winkte wieder in den Himmel: «Huhu, Marilyn! Gefällt es dir im Paradies? Oder musst du noch eine Runde im Fegefeuer drehen?»
«Du meinst aber nicht wirklich, dass ihr Tod … mit deinem Mann zu tun hat?»
«Ich meine nur, dass sie ziemlich viel wusste. Möglicherweise zu viel. John ist US-Präsident – da gibt es Mittel und Wege. Und Skrupel kennt er nicht. Fürchtest du dich, Gianni?»
«Wieso sollte ich mich fürchten?»
«Er ist rasend eifersüchtig.»
«Was sollen ihm seine Spione schon berichten? Ein Mann, eine Frau, ein Motorboot. Sonne und Meer. Alles ganz harmlos.»
Jackie drehte sich auf den Bauch, nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn an: «Dann wollen wir hoffen, dass deine … wie heißt dieses Boot noch mal …?»
«Meine Riva, meine Aquarama …»
«… dass deine Riva wirklich außer Sichtweite ist.»
«Ganz bestimmt. Möchtest du etwas trinken?»
«Weißwein.»
Agnelli griff zu der Kühltasche, die auf den weißen Ledersitzen stand. Darunter verborgen lag eine schmale schwarze Schachtel mit dem Aufdruck eines weltberühmten Juweliers aus Rom. Er strich kurz mit der Hand darüber, lächelte und schob sie wieder in ihr Versteck.
Er entkorkte die Weinflasche, zog zwei Gläser heraus, schenkte ein und reichte seiner schönen Begleitung ein Glas.
«Auf diesen Sommer», sagte sie.
«Auf dich. Und auf die Freiheit.»
Sie lachte. «Du hast das Leben im Schaufenster wirklich satt.»
«Es ist unerträglich.»
«Und du glaubst wirklich, dass dein verrückter Plan funktionieren wird?»
«Meine Pläne funktionieren immer.» Er schaltete den Motor aus. Das Brummen erstarb ganz, träge schaukelte die Riva auf den Wellen. «Niemand wird mir in die Quere kommen. Nicht meine Familie, nicht die CIA.»
«Dieser Satz hätte von John sein können», sagte sie und beobachtete träumerisch das Sonnenglitzern durch den Kristallschliff ihres Weinglases.
«Vergiss deinen Mann. Er hatte seinen Spaß – wir haben unseren Spaß.»
«Prost, Marilyn!» Sie streckte ihr Glas zum Himmel.
«Dieser Sommer», sagte Gianni Agnelli feierlich, «ist ein Sommer der verrückten Pläne. Ein Sommer, in dem die Liebe über diesen ganzen Wahnsinn aus Macht und Eitelkeit triumphieren wird. Ein Sommer der Freiheit.»
«Du bist ein Poet, Gianni. Du hättest Dichter werden sollen und nicht Fabrikant.»
«Ein Sommer der Freiheit!», wiederholte Agnelli und warf den Motor wieder an.
Die Riva nahm Fahrt auf.
Agnelli stand am Steuer und sang einen italienischen Schlager, der im Brummen des Lamborghini-Motors und im Rauschen der Wellen kaum zu verstehen war. Amami, baciami, irgendetwas von Liebe und Küssen.
Jackie lag auf den Liegepolstern im Heck der Riva. Durch die Gläser ihrer Sonnenbrille sah sie in den Himmel hinauf und stellte sich vor, wie Marilyn dort oben anklopfte, gekleidet in ein keusches Büßerhemd, das ihre Formen nahezu unkenntlich machte. «Tut mir leid», sagte Himmelswächter Petrus mit ehrlichem Bedauern, «aber für Sie ist kein Platz hier oben.» Der liebe Gott bevorzugt brave katholische Mädchen mit schwarzen Haaren.
Dann stellte sie sich eine Apollo-Rakete vor, die über dem tiefen Blau der Ozonschicht schwebte. Sie funkte Bilder ins Weiße Haus, auf denen die Präsidentengattin zu sehen war:
Hingebettet auf einer mahagonibraunen Yacht im Mittelmeer.
Am Steuer der smarteste Playboy der Welt.
«Dann wollen wir mal dafür sorgen, dass sich der ganze Aufwand lohnt, nicht wahr, John?»
«Was sagst du?»
«Ach, nichts. Ich habe nur laut gedacht.»
Sie öffnete ihre Kelly-Bag, griff nach ihrem Bikini. Und zog sich langsam die Bluse aus.
Sommer in Rom, über fünfzig Jahre später
«Hast du dich nie gefragt, ob es die falsche Entscheidung war?»
«Welche Entscheidung meinst du?»
«Papst zu werden.»
«Das habe nicht ich entschieden, sondern der Heilige Geist.»
«Aber du hättest ablehnen können. Warum hast du es nicht getan?»
«Das gehört sich nicht. Der Heilige Geist hätte es mir ziemlich übelgenommen. Aber du, Giuseppe, alter Freund: Hat der Heilige Geist mit dir alles richtig gemacht?»
«Ich bin Landpfarrer. Habe ich ein Recht zu klagen?»
«Du hast es besser getroffen als ich. Eine kleine, überschaubare Gemeinde. Fischer, Zitronenbauern. Reine Luft. Keine Skandale, keine Intrigen. Was siehst du jetzt, wenn du aus dem Fenster schaust?»
«Das Meer.»
«Das Meer. Ich stelle es mir … sehr blau vor.»
«Es ist auch sehr blau. Das Meer an der Amalfiküste ist eigentlich immer sehr blau.»
«Beschreibe mir das Meer. Ich habe es schon lange nicht mehr gesehen. Nur aus dem Flugzeug.»
«Heute ist es tiefblau. Beinahe schwarzblau. Majestätisch und feierlich. Nach hinten, zum Horizont hin, wird es heller. Direkt an der Küste schimmert es grünblau. Die Boote zeichnen lange Gischtstreifen. Und die Segel, nicht zu vergessen: viele weiße Tupfer im endlosen Meer.»
«Genau so muss es sein.»
«Und du? Was siehst du?»
«Aus dem Fenster schauen darf ich nicht. Wegen der Sicherheitsbestimmungen. Ein Attentäter könnte mich zufällig sehen und auf mich schießen.»
«Aber daran hältst du dich doch nicht, oder? Es war schon im Studium nie deine Art, dich an irgendwelche Vorschriften zu halten.»
«Na schön. Ich stelle mich hinter die Gardine.»
«Und was siehst du jetzt?»
«Den Petersplatz im Nieselregen. Viele bunte Regenschirme und Kapuzen. Darüber ein mattgrauer Himmel.»
«Und wenn du nach rechts schaust, siehst du den Petersdom, nicht wahr? Das Zentrum der Christenheit!»
«Ich sehe ein Baugerüst. Die Fassade wird gerade renoviert.»
«Rom, caput mundi, Hauptstadt der Welt! Kirchen und Paläste! Der Hofstaat des Vatikans! Die Macht der Kurie! Du bist der Stellvertreter Christi auf Erden, Petrus!»
«Stellvertreter ist kein schöner Job. Du bist nicht der Boss, machst aber die ganze Arbeit. Denn aus irgendeinem Grund ist der Boss im Urlaub – und das schon seit sehr langer Zeit.»
«Ach, was würde ich darum geben, mit dir zu tauschen. Vielleicht nicht für immer, aber für einige Wochen. Durch die vatikanischen Gärten spazieren, ganz allein. Nachts in der Sixtinischen Kapelle beten. Ein Eis bei Giolitti, einen caffè bei Tazza d’oro. Abends vielleicht nach Trastevere. Oder doch besser …»
«Beten und durch Rom spazieren: So stellst du dir meinen Job vor? Du hast das Aus-dem-Fenster-Winken ganz vergessen.»
«Ja, ich weiß, ich weiß. Trotzdem: Für einige Zeit in Rom leben … Papst auf Zeit, sozusagen – das wäre was. Aber diesen Einfall hat mir bestimmt nicht der Heilige Geist eingegeben.»
«Der Geist weht, wo er will, heißt es in der Schrift. Spielen wir deine Idee doch einmal durch …»
«Ach, hör doch auf mit dem Unsinn. Es war nur ein Tagtraum, eine Spinnerei …»
«Offiziell weile ich im Sommer immer in Castel Gandolfo. Unsichtbar vor der Weltöffentlichkeit, verborgen vor den Medien. Ich könnte mich also unauffällig davonmachen und in dein Fischerdorf ziehen. Für einige Wochen, als Urlaubsvertretung. Ein älterer Priester, der sonst im Kloster lebt … nennen wir ihn Pater Angelo. Und du ziehst in dieser Zeit in den Vatikan, in meine Wohnung. Du bist ein Freund aus alten Studientagen und willst, sagen wir mal, in den vatikanischen Archiven forschen.»
«So ein Unsinn. Jeder würde dich hier erkennen.»
«Niemand erkennt mich. Ich besitze noch eine alte Soutane und eine Altherrensonnenbrille aus den 1960er Jahren. Wenn ich mir die Haare anders kämme, sehe ich aus wie ein Vertretungspfarrer aus dem Altersheim. Hast du eine gute Haushälterin?»
«Ich habe eine sehr gute Haushälterin. Marietta. Eine Perle. Sie kocht phantastisch. Und hat immer gute Laune.»
«Ich habe auch eine Haushälterin. Immaculata. Ein Drachen. Sie kann überhaupt nicht kochen. Und ihre schlechte Laune ist legendär. Aber es gibt phantastische Restaurants in Rom. Ich mache dir eine Liste – du wirst fast nie im Vatikan essen müssen. Leider ist meine bezaubernde Pressesprecherin Giulia auch im Sommerurlaub. Aber vielleicht ist das besser so – sonst würdest du gar nicht mehr zurückwollen. Bleibt dir also nur mein Kater: Monsignore, ein dickes, gefräßiges Tier. Mit dem wirst du schon zurechtkommen.»
«Das ist doch Irrsinn, alter Freund: Ich in Rom – du inkognito an der Amalfiküste. Das kann nicht gutgehen!»
«Es ist oft so im Leben: Am Anfang steht eine verrückte Idee. Und irgendjemand sagt: Das ist Irrsinn, das kann nicht gutgehen. Als Gott beschloss, die Welt zu erschaffen, stand neben ihm ein kleines Teufelchen und maulte: ‹Das ist Irrsinn, das kann nicht gutgehen.› Gott hat trotzdem die Welt erschaffen …»
«… und das Teufelchen hat recht behalten.»
«Ohne Weltenschöpfung gäbe es keine Amalfiküste. Keine Zitronenhaine und auch nicht das Blau des Meeres. Und noch weniger den Glanz Roms.»
«Der Glanz Roms …»
«… gegen das Blau des Meeres. Los, alter Freund, ein Sommer der Freiheit wartet auf uns.»
«Wann soll es denn losgehen?»
«Wenn du mich so fragst: am liebsten jetzt gleich.»
So, genau so musste es sein.
Papst Petrus schloss für einen Moment die Augen. Er hört das Klacken der Bocciakugeln. Das Gemurmel der Männer. Zwei Fensterläden, die kurz hintereinander zuklappten. Das schrille Schreien der Möwen, das auf einmal verstummte. Und in der Ferne das leise Schwapp-Schwapp der Wellen. Er bildete sich ein, er könnte den Tang riechen. Das Salz schmecken. Er könnte …
Ein kräftiger Schlag auf die Schultern riss ihn aus seinen Gedanken.
«Avanti, Padre! Sie können noch genug träumen, wenn Sie Ihre Predigt für Sonntag vorbereiten. Aber jetzt müssen Sie ran, sonst ziehen uns die anderen bis auf die Unterhosen aus.»
Petrus öffnete die Augen.
Viel zu schnell.
Das Licht war immer noch hell, sogar jetzt, zur Abendzeit. Am Horizont zeigten sich die ersten rötlichen Streifen und färbten das Wasser in einem satten Lilaton. Eigentlich hat Giuseppe nicht die Wahrheit gesagt, dachte Petrus: Das Meer hier war niemals nur blau, sondern gischtweiß, türkis oder schwarz, roséfarben oder grün in allen Schattierungen. Sogar orange hatte er es an einem Abend schon gesehen. Meravilla erstreckte sich vom Ufer die Steilküste hinauf, die weißen Häuser verteilt wie Zuckerstückchen auf den Felsen. Doch der Platz, auf dem sie saßen, bildete eine riesige, ebene Terrasse. Er verband Kirche und Dorf, Dorf und Meer.
Die Steinbänke und das Pflaster waren noch warm vom Tag. Petrus bewegte seine Zehen wohlig in den offenen Sandalen. Seine Haushälterin Immaculata würde einen sofortigen Herzstillstand erleiden, wenn sie ihn so sehen könnte: mit seinem Strohhut, den er vorsichtshalber immer aufbehielt. In seinem offenen gestreiften Hemd, die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Der einfachen hellen Hose mit dem Ledergürtel. Und den geflochtenen Sandalen.
Niemand hatte ihn bei seiner Ankunft vor einer Woche auf eine angebliche Ähnlichkeit mit Papst Petrus II. angesprochen. Nicht einer hatte seine markante Römernase erwähnt, niemand hatte in dem Aushilfspfarrer aus der Stadt den Stellvertreter Christi auf Erden erkannt.
Petrus fühlte sich wie befreit.
Und schlagartig um mindestens zehn Jahre verjüngt.
Wie lange war es her, dass er als einfacher Gemeindepfarrer mit anderen Männern auf einer Piazza gesessen hatte?
«Also los!» Wieder spürte Petrus einen Ellbogen in der Seite. «Es sieht nach einem Gewitter aus, wir sollten uns beeilen. Nachdem Raffaele immer noch nicht da ist, spielen Sie für ihn. Schon die letzte Runde ging an die anderen. Jetzt sind wir dran.»
Petrus erhob sich. Ohne das Geraschel seiner weiten päpstlichen Soutane. Ohne bischöfliche Begleiter, links und rechts. Und ohne seine Haushälterin im Nacken. Er wog die Kugeln in den Händen. Ging langsam hinüber, bis zum Punkt. Er fixierte den Pallino, die kleine Kugel. Und warf, direkt aus der Drehung heraus. Klack-klack – die gegnerische Kugel landete abgeschlagen an der Steinmauer. Wieder ein Schlag auf seine Schultern – diesmal voller Anerkennung.
«Großartig, Padre, mit Ihnen haben wir ja einen richtigen Fang gemacht. Raffaele wird sich vielleicht ärgern. Die Partie am Samstagabend ist ihm immer heilig. Und seit acht Wochen hat er jedes Spiel gewonnen. Selbst schuld, wenn er zu spät kommt. Wo treibt er sich eigentlich herum?»
«Vielleicht hat ihn seine Tochter wieder mal aufgehalten», sagte einer der Fischer mürrisch. «Bei Laura ist ja in letzter Zeit immer alles dringend. Nur weil sie meint, dass sie jetzt was Besseres ist. Weil sie doch im Ausland studiert hat. Sie bildet sich ernsthaft ein, sie könnte aus dem alten Albergo eine Nobelherberge machen. Dabei hat das Ding seine besten Zeiten hinter sich. Raffaele sollte die Bude einfach verkaufen. Bei den Grundstückspreisen wäre er längst Millionär. Und seine Kleine könnte sich in Positano ihr Traumhaus bauen.»
«Was versteht ihr Jungen denn vom Zauber der Geschichte», mischte sich jetzt ein älterer Herr ein, der sich Petrus an einem der vorigen Abende als Niccolò vorgestellt hatte. Er wirkte wie ein Grandseigneur, schlank und sehnig, korrekt gekleidet, mit Hut, Hemd und Weste. «Ihr habt ja die goldenen Zeiten des Azzurro nicht mehr erlebt. Alle, alle waren sie hier. Wenn ich allein an Grace Kelly denke, die damals als junge Fürstin hier wohnte …»
«Schon klar, dass dich das besonders interessiert hat», spottete einer der Fischer.
Niccolò warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. «Was ich eigentlich sagen wollte», fuhr er fort, «Laura ist zwar immer ein bisschen übereifrig, aber im Kern hat sie recht. Sie hat sich eben mit den alten Zeiten beschäftigt und …»
«Ich weiß nicht», warf der andere Fischer ein. «Dieses ständige Gestochere in der Vergangenheit. Und dabei tut sie immer so geheimnisvoll. Die Alten im Dorf sind davon nicht begeistert. Möglicherweise gibt es irgendwelche Enthüllungen, dann kommen Reporter – und der Friede im Dorf ist dahin.»
«Für den Tourismus wäre das nicht schlecht.»
«Was denkt Raffaele denn darüber?», erkundigte sich Petrus.
«Er ist alt und fügt sich seiner Tochter», sagte der junge Fischer. «Aber ich bin mir nicht so sicher, ob er wirklich an ihre Ideen glaubt.»
«Ihr wisst doch alle gar nicht, worum es eigentlich geht», sagte Niccolò. «Ich verabschiede mich an dieser Stelle, meine Herren.» Er deutete eine leichte Verbeugung an. «Muss noch etwas Dringendes erledigen.» Er lächelte fein, drehte sich um und ging.
Raffaele hasste die Dunkelheit. Immer schon. Wenn sie um sich griff, mit ihren langen, schmalen Händen, machte er sich davon. Früher, als Anna noch lebte, war er nebenan in die Küche gegangen. Bis spät am Abend hantierte sie dort, backte cornetti für das Frühstück, kochte Marillenmarmelade ein, rollte den Teig aus für die sfogliatelle. Sie schaffte es sogar noch, nebenbei die Gäste auf der Terrasse zu bedienen, sie brachte frische Oliven zum Wein, sie lachte, setzte sich für einen Augenblick dazu. Sie schien überall zugleich zu sein, strahlte und wirbelte.
Und jetzt hatte das alles keine Bedeutung mehr.
Ohne sie.
Raffaele durchquerte die Halle des Albergo Azzurro und knipste die Lampen im Speisessaal an. Nur vier Tische waren für das Frühstück am nächsten Morgen eingedeckt. Die Leintücher waren gebügelt und gestärkt. Aber die Rosen fehlten. Anna hatte immer für frische Blumen gesorgt. Er musste Bescheid geben: Die Blumen fehlen, würde er beiläufig sagen.
Dabei, dachte er, war es eigentlich Anna, die fehlte.
Abends blieb ihm jetzt nur noch der Gang auf die Piazza, wo die alten Männer Boccia spielten. Er würde sich ein Glas in der Bar holen und sich auf die Bank unter der Platane setzen. Er würde einige Runden mitspielen und gewinnen, wie meistens. Er würde den Gesprächen lauschen über den Dorfklatsch, über Politik, über den Fischfang und über das Wetter. Die Lichter aus der Bar würden die Dunkelheit vertreiben.
Die Lichter spiegelten sich in den Panoramascheiben wie kleine, flackernde Kerzen. Draußen wurde das Meer dunkler und der Himmel fahl. Er öffnete die Terrassentür, die ein wenig klemmte, und trat hinaus. An der Brüstung blätterte die weiße Farbe ab, wie an so vielen anderen Stellen. Vielleicht schaffte er es in diesem Sommer noch zu streichen. Die Brüstung, das Geländer und vielleicht auch die Nordwand, an der die Winterstürme schlimmer gewütet hatten als je zuvor.
Er blickte hinunter, wo sich die Stufen im Zickzack steil zum Wasser hinunterwanden. An den Kehren bildeten sich kleine Lauben und Sitzgruppen. Selbst ganz unten, wo eine eiserne Leiter ins Meer führte, schmiegte sich eine Bank aus bunten Majolikafliesen an den Felsen. Das war immer Annas Lieblingsplatz gewesen. Selbst dann, wenn es im Herbst kühler wurde, hatte sie da gesessen. «Ich bin dort ganz für mich», hatte sie immer gesagt.
Raffaele war schon lange nicht mehr hinuntergestiegen. Einige der Laternen auf dem Weg brannten nicht mehr. Die Treppen waren rutschig, und so nahe am Wasser kam die Dunkelheit schneller.
Er fröstelte.
Ein leichter Wind war aufgekommen, die Wolken zogen schneller. Es roch nach Regen. Unschlüssig schob er die Korbstühle zusammen und drehte die Jalousie ein. Es war ihm, als hörte er von der Uferstraße her ein Geräusch, ein leichtes Schleifen, ein paar zögernde Schritte. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie sich ein kleiner Stein vom Weg löste und dicht neben ihm auf der Terrasse aufprallte. Durch das Gitter sprang das Steinchen die steilen Felsvorsprünge hinunter und verschwand im Nichts. Raffaele lauschte noch eine Weile. Aber niemand kam die Straße zum Haus herunter. Nur das Murmeln des Meeres unten am Anlegeplatz war zu hören. Er zog die Tür hinter sich zu und ging ins Haus. Im großen Spiegel in der Halle sah er sein Bild: ein trauriger Mann, der übrig geblieben war. Immer noch stattlich und groß, aber schon gebeugt. Das Haar noch voll, aber schlohweiß.
An der Rezeption saß Rocco, ein Junge aus dem Dorf, der sich als Nachtportier sein Taschengeld verdiente. Er blätterte in einer Fußballzeitung und schüttelte den Kopf: Nein, es war nichts geschehen, wie sollte es auch. Raffaele sah kurz in das ledergebundene Buch mit den Reservierungen. Zwei neue Anmeldungen für morgen. Immerhin. Er öffnete die schmale Tür zu seinem Büro, ging zum Schreibtisch und blickte auf die beiden Stapel mit Papieren.
Links die Vergangenheit: Briefe und Fotos, Prospekte und Postkarten aus der großen Zeit des Albergo Azzurro in den 1960er Jahren. Ganz oben lag ein Foto von Liz Taylor, aufgenommen auf der Terrasse – eben dort, wo er gerade gestanden hatte. Es war ein sehr privates Bild: die Diva mit mädchenhaft offenem Haar in einer wild gemusterten Tunika. Rechts auf dem Schreibtisch lag die Zukunft. Eine Mappe, gefüllt mit Plänen und Konzepten. Zusammengestellt von seiner Tochter Laura.
Links die Vergangenheit, rechts die Zukunft.
Er musste sich setzen. Seine Knie gaben nach.
Ja, er wollte sich diesen Blättern, Fotos, Geschichten stellen. Seiner Tochter zuliebe, die endlich zurückgekehrt war.
Doch er hatte Angst, panische Angst.
«Wenn man vom Teufel spricht …» Grinsend deutete Petrus’ Mitspieler auf die andere Seite der Piazza, wo eben eine Vespa anhielt. Eine junge Frau mit kurzgeschnittenem, lockigem Bubikopf kam auf sie zu. Schlank und sportlich, in Jeans und einem knappen Top, den Helm lässig über dem Arm.
«Buona sera, ragazzi!» Laura sah kühl von einem zum anderen. «Ist Raffaele hier?»
«Was willst du denn mit den alten Männern, bella?» Der junge Fischer warf sich in Positur.
«Ich war in Positano und habe einige Ideen mitgebracht. Die möchte ich mit meinem Vater besprechen.»
«Er war noch nicht hier.»
«Aber er ist doch immer um diese Zeit hier.»
«Heute aber nicht», sagte der Fischer und grinste. «Das ist übrigens ein Zeichen des Herrn, dass du es heute mal mit den jungen Männern versuchen solltest, Laura.»
«Schon komisch, dass er noch nicht da ist», sagte der andere und warf einen kurzen Blick auf sein Handy. «Eigentlich kommt er ja jeden Abend um dieselbe Uhrzeit.»
«Haben Sie schon im Albergo nachgesehen, Signora?», fragte Petrus.
«Ich komme direkt aus Positano.»
«Vermutlich wurde er aufgehalten. Von einem Gast vielleicht. Fahren Sie beruhigt ins Hotel. Wenn er dort nicht ist …»
«Ja?»
«Dann kommen Sie zurück. Wir helfen Ihnen suchen.»
«Danke.» Laura nickte und ließ den Motor ihrer Vespa aufheulen. Sie startete, umkreiste den Platz und verschwand in der Gasse zwischen Kirche und Bar.
Petrus sah zu der Bank unter der Platane, auf der Raffaele immer saß. Er sah ihn vor sich: groß, weißhaarig, eine alte Strickjacke über dem weißen Hemd. Eine gepflegte Erscheinung. Ein Mann mit Prinzipien. Niemand, der dem Bocciaspiel ohne Grund fernblieb.
Es wird schon alles in Ordnung sein, dachte Petrus. Und warf einen kurzen Blick nach oben in den Himmel, der sich langsam ins Dunkelgrau färbte.
Raffaele verbarg sein Gesicht in beiden Händen.
Er sah nicht hin, aber er wusste, dass der Stapel links auf seinem Schreibtisch völlig ungeordnet war. Die Papiere stammten aus Schubladen und Schränken, die seit Jahrzehnten verschlossen waren. Vergilbt und verblichen lagen sie da, ein Abbild seiner selbst: verworrene Erinnerungen, ungeschickt nachkolorierte Aufnahmen in Schwarzweiß. Stimmen und Töne der Vergangenheit lebten in ihnen fort: Richard Burton, die Clique um Federico Fellini und dieser elegante Schriftsteller aus Amerika – wie hieß er noch? John Steinbeck? Unter den Fotos ragte eine Ecke des Hausprospekts hervor, gedruckt irgendwann Mitte der 1960er Jahre: Das neu renovierte Albergo glänzte weiß vor dem blauen Meer. Innen im Prospekt, das wusste Raffaele, waren Anna und er zu sehen, Arm in Arm vor dem Eingang.
Die Mappe rechts auf dem Schreibtisch war wie Laura.
Die Dokumente steckten akkurat in den Klarsichtfolien. Keine Ecke ragte heraus, kein Knick irritierte den Betrachter. Perfektion und Ehrgeiz, Intelligenz und Strategie – das war Laura. Anna hätte gelacht beim Anblick dieser Mappe. Sie hätte Laura gedrückt, geküsst und ein wenig verspottet: Laura, hast du auch wirklich jedes Stäubchen von den Klarsichthüllen weggeblasen?
Seine Tochter war wohl das, was man clever nannte, dachte Raffaele. Sie war hübsch, sah adrett aus mit ihren kurzen braunen Locken. Gepflegt. Aber sie war lange nicht so schön wie ihre Mutter Anna. Die Madonnina von San Meravillo hatten die Männer aus dem Dorf Anna immer genannt, mit ihren langen dunklen Haaren und dem schmalen Gesicht. Sie war nie so perfekt gekleidet gewesen wie Laura. Sie hatte nie Hosen oder Röcke getragen, sondern einfache Sommerkleider. Aus ihren hochgesteckten Haaren hatten sich die Strähnen gelöst. Sie war immer in Bewegung gewesen. Draußen bei ihren Blumen. Oder drinnen, in der Küche. Sie hatte gekocht wie eine Göttin. Ihre spaghetti al limone, ihre Fischsuppe, ihr selbstgemachtes Brot … Erst jetzt wieder war ein amerikanischer Koch angereist mit der Bitte, Annas altes Rezeptbuch einzusehen. Raffaele wusste nicht einmal, wo es eigentlich war.
Laura dagegen hatte schon als kleines Kind erklärt, dass ihr die Küche zu chaotisch sei. Wenn sie, was sie gerne tat, mit den Kindern vom Ort «Hotel» spielte, war sie immer die Direktorin gewesen, hatte Zimmermädchen herumgescheucht und unwissenden Jungs erklärt, wie man richtig serviert. Schließlich hatte sie sich vom Albergo verabschiedet, für viele Jahre. Sie hatte an der Hotelfachschule in Mailand studiert, war um die Welt gereist, hatte in den ersten Häusern gelernt. Im Waldorf Astoria in New York, im Mandarin Oriental in Bangkok.
Sie war nur selten zu Besuch gewesen, etwas länger nur, als Anna vor zwei Jahren starb. Viel zu früh, mit knapp über siebzig, war Anna von ihm gegangen. Er selbst war schon über achtzig, ein alter Trottel, und er lebte immer noch.
Vor einem Monat dann war Laura plötzlich zurückgekehrt.
Raffaele sah die Szene genau vor sich:
Laura, im eleganten Kostüm, auf der Terrasse.
Laura, die ein Glas Greco di Tufo trank. («Der Hauswein ist zu wässrig, Papà!»)
Laura, die sofort bemerkte, dass Unkraut zwischen den Fugen der Fliesen hervorlugte.
Sie sprach nicht von sich, nicht von ihrer Mutter, nicht von ihm. Sie sprach vom Albergo – ausschließlich und mit großer Leidenschaft.
«Dieses Hotel ist eine Legende, Papà. Alle waren hier in den sechziger Jahren – alle! Der Jetset, Hollywood, Playboys. Aber auch Schriftsteller, Maler, Musiker. Einfach alle.»
«Ich weiß.» Raffaele drehte das Weinglas zwischen den Fingern. Er mochte diesen Wein, bezog ihn seit Jahrzehnten von einem Winzer aus Santa Paolina. Mag sein, dass er einem Kenner zu wässrig schien – gemessen an den Weinen des Waldorf Astoria. Aber er gehörte hierher.
«Du darfst nicht vergessen, dass ich – so merkwürdig es dir und mir heute erscheint – das alles noch selbst miterlebt habe. Aber die Prominenz kam nicht wegen unseres Albergo an die Küste, sondern wegen Positano. Das Albergo war …»
«… ein Geheimtipp, aber ein Geheimtipp, von dem jeder wusste.» Laura stellte energisch ihr Glas ab. «Wer genug hatte von den Partys und Paparazzi, der kam zu uns. Das Albergo war ein Refugium. Nur wenige Kilometer von der Küste entfernt, in den Felsen versteckt. Ein zauberhafter Ort.»
«Um ehrlich zu sein: Vor allem kamen Paare zu uns. Paare, die meistens nicht verheiratet waren. Und die in Positano nicht gesehen werden wollten. Das Albergo war ein romantischer Ort, ein Ort der Liebe. Aber, Laura, es war auch ein unmoralischer Ort. Ein Ort für Menschen, die etwas zu verbergen hatten.»
«Doch es gab einen Menschen, der alle diese Geheimnisse kannte», sagte Laura. «Und das warst du.»
«Mag sein, dass es so war.»
«Ich weiß sehr gut, dass ein Hotelier niemals über die Geheimnisse seiner Gäste spricht. Aber diese Geheimnisse, Papà, sind viele Jahrzehnte alt. Die meisten deiner Gäste aus den sechziger Jahren sind tot. Natürlich, in gewisser Hinsicht sind sie unsterblich – man sieht ihre Filme, liest ihre Bücher, kennt ihre Namen. Aber sie sind Vergangenheit.»
«Worauf willst du hinaus, Laura?»
«Ich möchte, dass unser Hotel weiterbesteht.»
«Das möchte ich auch.»
«Dieses Hotel, Papà, hat kein Hallenbad und keinen Wellnessbereich. Es gibt keine Gourmetküche und keine Luxussuiten. Das alles passt auch nicht hierher.»
«Schon räumlich nicht», sagte Raffaele. «Mehr als einige Zimmer bekommt man einfach nicht unter auf diesem Felsvorsprung.»
«Aber unser Albergo ist ein Mythos. Ein Mythos, den wir wiederbeleben müssen. Dieses Hotel braucht einen neuen Anstrich – und zwar nicht nur an der Außenwand. Wir müssen es unverwechselbar machen, einzigartig. Und dazu knüpfen wir an die Golden Fifties und die Golden Sixties an! Wer heute reich ist, Papà, wer sich heute teure Hotels leisten kann – der war damals jung! Wir bieten eine Zeitreise zurück in die eigene Jugend an. An den Ort, den die Stars von damals besucht haben. Unsere Botschaft lautet: Verstecken Sie sich dort vor dem Trubel der Welt, wo sich auch Liz Taylor versteckt hat! Wir richten die Zimmer im Stil der Zeit ein. Wir mixen die Cocktails von damals. Vielleicht legen wir sogar Magazine aus jener Zeit aus. Ich habe unendlich viele Ideen, Papà. Aber für diese Zeitreise brauchen wir einen Reiseleiter. Und der bist du!»
«Ich kann dir gerne sagen, wie das Hotel damals eingerichtet war.»
«Das meine ich nicht. Es geht mir nicht um die Möbel, sondern um die Geheimnisse. Um die romantischen Mythen des Albergo Azzurro. Du wirst sie aufschreiben. Wir werden Reisejournalisten einladen – und du wirst ihnen erzählen, wie es damals war. Die Klatschpresse wird berichten. Aber nicht nur die Klatschpresse, sondern auch die Feuilletons: Diese Jahrzehnte gehören heute zur Kulturgeschichte. Fernsehserien spielen in dieser Zeit. Nostalgiker werden kommen. Filmfans. Träumer und Verrückte mit viel Geld.»
«Dieses Hotel ist ein Mythos – genau wie du sagst. Es hat Geheimnisse. Romantische Geheimnisse und traurige. Einige düstere Geheimnisse sind auch dabei. Ist es wirklich richtig, sie ans Licht zu zerren?»
«Es ist Jahrzehnte her, Papà! Und die düsteren Geheimnisse kannst du ja weglassen.»
«Manchmal hängt alles zusammen, weißt du.» Er schaute ins Leere.
Laura lachte. «Und weißt du, warum dieses Hotel ein Liebesnest war? Weil du selbst ein Romantiker bist, Papà.»
Laura hatte nicht weiter insistiert. Aber in den Wochen nach diesem Gespräch hatte sie das Hotel vermessen und fotografiert, hatte Pläne gezeichnet und Präsentationen entworfen. Das Albergo würde nur weiterleben durch Laura. Und Laura war auf ihn angewiesen, auf seine Erinnerungen und auf seine Bereitschaft, sie zu teilen. Also hatte er in den Schränken und Schubladen gekramt. Er hatte die Fotos und Prospekte herausgesucht. Er hatte sich Notizen gemacht. Er hatte sogar einige Kapitel geschrieben. Aber sein anfängliches Unwohlsein hatte sich verstärkt und immer mehr in eine Furcht verwandelt, die ihn nachts nicht schlafen ließ. Seine Hände hatten begonnen zu zittern. Er war unkonzentriert geworden, ängstlich.
Auf der Piazza, abends beim Bocciaspiel, hatte er einige Andeutungen zu Lauras Plänen gemacht. Zu seiner Überraschung gab es niemanden, der daran zweifelte, dass seine Tochter Erfolg haben würde. Viele hatten ihn ermuntert. Aber einige hatten auch gefragt, ob es richtig sei, in der Vergangenheit zu wühlen.
Und sie haben recht, dachte Raffaele mit einem Anflug von Panik. Es ist falsch, die Träume von gestern noch einmal zu träumen. Im Hier und Heute sollte man leben. Die Vergangenheit wirft Schatten, in denen es sehr kalt sein kann.
Rechts auf dem Schreibtisch lag Lauras Konzept.
Links lagen vergilbte Fotos und Notizen.
Zukunft und Vergangenheit.
Meravilla war ein beschauliches Nest, eine Idylle, weitab von den Orten, an denen die Mächtigen, Reichen und Schönen residierten. Aber manchmal waren die Mächtigen und Reichen und Schönen nach Meravilla gekommen. Sie hatten hier gewohnt und alles mitgebracht, was sie zu Hause umtrieb: ihre Begierden, ihre Sehnsüchte – und ihre Ängste. Wenn sie abreisten, hatten sie das alles wieder mitgenommen.
Fast alles.
Spuren davon waren zurückgeblieben, an den Möbeln, auf den Fluren des Hotels, unten am Wasser. Doch sie waren nur zu sehen, wenn man dabei gewesen war. Eigentlich waren es Spuren im Kopf: flüchtige Bilder, Gesprächsfetzen, Gerüche. Das Parfüm von Liz Taylor etwa – wie sollte er es jemals vergessen? Manche Spuren waren zart und freundlich; er liebte es, ihnen nachzugehen. Andere waren rauschhaft und verwirrend; er verlor den Boden unter den Füßen, wenn er ihnen folgte.
Eine Spur war gefährlich – wenn er nur wüsste, welche. Es hatte einen Einbruch gegeben, vor zwei Tagen. Hier, in seinem Büro. Schubladen waren geöffnet worden, Bücher standen anders, Unterlagen waren durcheinandergeraten. Es schien nichts verschwunden zu sein, und so hatte er niemandem davon erzählt. Nicht einmal Laura.
Aber es gab jemanden, der sich für die Dinge aus der Vergangenheit interessierte. Jemanden, der in seinem Büro gewesen war. Und jemanden, der ihm Briefe geschrieben hatte.
Er schloss die Augen, beruhigte seinen Atem, öffnete die Augen und suchte nach einem Weg, der ihn in die Gegenwart zurückführte, die Normalität. Das Bocciaspiel, natürlich. Er sah auf die Uhr. Wenn er jetzt nicht losging, war das Spiel vorbei. Er erhob sich und kehrte zurück in die Portiersloge.
«Das hier», sagte Rocco und hielt einen Umschlag hoch, «ist für Sie.»
«Für mich?»
«Jemand hat geklopft. An der Außentür. Sehr laut. Als ich raus bin, war niemand mehr da. Aber dieser Umschlag hier lag auf den Stufen.»
Raffaele stand auf dem Umschlag. Von Hand geschrieben. Er atmete schwer.
«Wo lag der Umschlag genau?»
«Neben dem Zitronenbäumchen am Eingang.»
«Und du hast niemanden gesehen?»
«Niemanden. Ich habe auch nicht lange gesucht. Es hätte ja ein Versuch sein können, um mich aus der Lobby wegzulocken, verstehen Sie?» Rocco sah ihn unsicher an. «Darum wollte ich gleich zurück.»
«Schon gut. Es wird nichts Wichtiges sein.»
Von der Außentür führten einige Stufen in den schmalen, seit Annas Tod etwas verwilderten Garten. Er war nur wenige Schritte breit und grenzte an den Weg, der zum Dorfplatz nach Meravilla hinaufführte. Raffaeles Hände zitterten. Er setzte sich auf einen der Eisenstühle und öffnete den Umschlag. Ein zusammengefalteter Zettel fiel heraus. Wieder dieselbe Schrift:
Am Anlegesteg. Jetzt gleich.
Er konnte wohl einfach nicht entkommen.
Aus der Glastür zur Lobby fiel gelbes Licht auf die Steinstufen; der Schriftzug Albergo Azzurro leuchtete blau – bis auf das zweite «z», das unruhig flackerte.
Sie waren zu fünft. Fernando, einer der Fischer, hatte sie mit seinem kleinen Laster, auf dem er sonst die Fische zum Markt brachte, ins Hotel gefahren. Petrus hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen; die anderen saßen zusammengekauert auf der Ladefläche zwischen Netzrollen und Plastikkisten, aus denen es nach nassen Fischen roch.
«Ich nehme mit den anderen unser Boot», sagte Fernando. «Wir fahren unten am Felsen entlang und leuchten mit einer starken Lampe in alle Winkel. Wenn die Klippen nicht einsehbar sind, klettern wir in die Felsspalten und suchen dort.»
«Er kann nicht weggefahren sein», sagte Laura nervös. «Der kleine Hotelbus, mit dem wir die Gäste vom Bahnhof abholen, steht hier. Mit der Vespa war ich selbst unterwegs. Und unser Ruderboot hat ein Leck.»
«Die Möglichkeiten sind begrenzt», sagte Petrus. «Entweder ist ihm auf dem Weg in den Ort etwas zugestoßen. Oder er befindet sich noch hier, im Albergo. Wo haben Sie schon gesucht, Laura?»
«In seinen Räumen. In der Küche, im Büro – überall, wo er sich sonst normalerweise aufhält.»
«Dann müssen wir nun überall dort suchen, wo er sich normalerweise nicht aufhält. Sie durchkämmen das Hotel, Laura.» Er deutete auf die drei anderen Männer, die vom Dorfplatz mitgekommen waren. «Ihr geht die Straße ab. Vielleicht gibt es Spuren – falls er abgerutscht sein sollte. Irgendetwas. Ich sehe mich im Garten um.»
Der Laster wendete und fuhr zum Hafen hinunter; Laura verschwand im Haus.
Petrus war auf einmal allein. Für einen Augenblick stand er ruhig da und lauschte auf die Geräusche der Nacht: Insekten surrten, auf der Küstenstraße brummten Motoren, aus einem offenen Hotelzimmer hörte er Stimmen. Inzwischen hatte sich der Wind verstärkt, und er spürte die ersten Regentropfen auf seinen Armen.
Langsam schritt er die Kieswege ab, die um das Haus führten. Raffaele und Anna hatten ein subtropisches Paradies angelegt. Petrus bog Palmwedel zur Seite, stocherte in Farnbüschen und untersuchte jede Sitzgruppe: die kleine Pergola, wild überwuchert mit blühenden Ranken; die künstliche Grotte unterhalb der Hotelterrasse; die Marmorbänke an der schmalen Treppe, die entlang der Felsen nach unten führte, dem Wasser zu.
Im oberen Teil waren entlang der Mauerbrüstung altmodische gusseiserne Laternen angebracht, von denen aber nur noch wenige funktionierten. Nach einer kleinen Aussichtsterrasse verengte sich die Treppe noch einmal; Lampen gab es hier nicht mehr. Petrus überlegte kurz, ob er umkehren sollte. Es war dunkel, rutschig und feucht; die Luft roch nach Algen und Tang. Statt von einer Mauerbrüstung war die Treppe nur noch von einem wackeligen, schon stark verrosteten Eisengeländer begrenzt.
Es war mehr als unwahrscheinlich, dass Raffaele ein nächtliches Bad hatte nehmen wollen. Petrus überlegte kurz, ob er sich mit dieser Ausrede vor dem weiteren Abstieg drücken konnte, entschied sich aber dagegen. Die Wege des Herrn sind unergründlich, hieß es in der Schrift. In seinem Leben war er meistens dann erfolgreich gewesen, wenn er entgegen aller Vernunft einen jener unergründlichen Wege eingeschlagen hatte.
Entschlossen stieg Petrus Stufe um Stufe in die Tiefe. Die Treppe endete auf einer kleinen, mit Marmorplatten ausgelegten Terrasse. Vor einer Steinbank mit Majolikafliesen standen ein klappriges Tischchen und ein Sonnenschirmständer. Leise schwappten die Wellen an die Terrasse. Ein herrlicher Ort, um bei Sonnenschein eine Tasse caffè zu trinken.
Petrus nahm auf der kleinen Bank Platz. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. In der Ferne, weit draußen auf dem Meer, blinkten die Positionslichter eines Frachters. Zwischen den hohen, bemoosten Felsklippen roch es nach Salz und merkwürdigen Meerestieren.
Jedenfalls hatte ihm diese Exkursion zu einer Erkenntnis verholfen: Er musste sich mehr bewegen. Immaculata, zuständig für seinen Haushalt und für sein schlechtes Gewissen, predigte ihm seit Jahren, dass er mindestens einmal täglich die Kuppel des Petersdoms ersteigen sollte. («Das stärkt den Kreislauf und weitet den Horizont, Heiliger Vater. Beides haben Sie dringend nötig.») Er erhob sich, trat an das wacklige Geländer, von dem aus eine Leiter direkt ins Meer führte, und blickte in die kleine Bucht. Dicke Regentropfen fielen langsam neben ihm ins Wasser.
Plötzlich entdeckte er unten, auf einem flachen Felsenvorsprung, einen dunklen, unförmigen Schatten, an dem das Meer ungeduldig zerrte und riss.
Petrus stieg langsam die Leiter nach unten. Er tastete sich am Felsen entlang, bis er die Gestalt im Wasser erreicht hatte. Das musste Raffaele sein. Die weißen Haare klebten ihm feucht an der Stirn, die Augen waren in großem Erstaunen weit geöffnet. Petrus kniete sich nieder und versuchte seinen Puls zu fühlen. Erst jetzt sah er, dass Raffaele mit beiden Händen etwas festhielt: ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch, das er selbst im Tod noch mit aller Kraft umklammerte.
Scheinwerfer erleuchteten die Terrasse; Polizisten spannten orangefarbene Plastikschnüre, fotografierten und machten Notizen. Petrus saß auf der kleinen Steinbank und betete einen Rosenkranz.
Am Rand der Terrasse, unter einem Tuch, lag Raffaeles Leichnam, den sie mühsam aus dem knietiefen Wasser geborgen hatten. Für einen kurzen Augenblick, als die Männer den Körper über das Geländer hievten, hatte Petrus noch einmal die klaffende Wunde am Kopf gesehen. Und die weit geöffneten, sehr erstaunten Augen.
«Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …»
Laura hatte Haltung bewahrt, nur ihre Lippen hatten gezittert. Sie war hinuntergestiegen, während Petrus – unterstützt von Rocco in der Portiersloge – die Polizei geholt hatte. Über das stille Hotel war bald darauf das Chaos hereingebrochen, und es dauerte an: Polizeiautos und Krankenwagen drängten sich auf der Küstenstraße. Blaulichter blitzten über den Garten, ein Hubschrauber dröhnte über dem Meer und suchte mit grellen Scheinwerfern die Küstenlinie ab.
«… du bist gebenedeit unter den Frauen …»
Laura kauerte neben ihrem Vater auf dem Boden. Sie durfte den Toten nicht berühren, nicht einmal das Tuch anheben. Um sie herum rannten Polizisten in Uniform und Polizisten in Zivil, Fachleute der Spurensicherung und Ärzte. Ganz offensichtlich war sie allen im Weg, aber niemand wagte es, sie darauf hinzuweisen. Schließlich stand sie auf, sah sich hilflos um und ging zu Petrus.
Petrus steckte den Rosenkranz ein. «Setzen Sie sich, Laura.»
Steif und mit geradem Rücken saß sie neben ihm. Die Wellen rauschten so laut, dass ihre Stimme kaum zu verstehen war. «Sie sagen, dass es ein Unfall war … dass er ausgerutscht sei …»
Ein Polizist trat auf sie zu und salutierte unbeholfen. «Signora, brauchen Sie Hilfe?»
Laura schüttelte den Kopf.
«Wir bringen ihn jetzt in die Gerichtsmedizin.»
Laura nickte.
«Verzeihen Sie – wenn ich Sie kurz etwas fragen dürfte?», wandte sich Petrus an den Polizisten.
«Ja, Padre?»
«Vorhin, als ich Raffaele gefunden habe, da hatte er …»
«Bitte lassen Sie erst einmal die Spurensicherung durch.»
«Also, gerade eben, unten am Wasser …»
«Entschuldigen Sie, Padre, aber wir müssen hier unsere Arbeit tun. Wenn Sie noch etwas zu Protokoll geben möchten, wenden Sie sich bitte an Commissario Gattuso. Er ist in der Polizeidienststelle von Sorrent zu erreichen.» Der Polizist salutierte wieder. «Mein Beileid, Signora.»
Laura nickte kurz, ohne ihn anzusehen.
Petrus beobachtete, wie die Beamten verschwanden. Er fragte sich, was aus dem Buch geworden war, das Raffaele umklammert gehalten hatte. Die Beamten mussten es in eine ihrer Plastiktüten gesteckt und mitgenommen haben.
Merkwürdig, dachte er. Ein alter Mann steigt an einem regnerischen Sommerabend hinunter ans Meer, während er eigentlich zum Bocciaspielen mit Freunden verabredet ist. Er tastet sich durch die Dunkelheit, auf rutschigen Wegen, ängstlich und vorsichtig. Und dabei trägt er ein Buch mit sich, das ihm so viel bedeutet, dass es ihm nicht einmal der Tod aus der Hand reißen kann.
Die Finger in den spitzenbesetzten Handschuhen trommelten ungeduldig auf die Empfangstheke.
«Ist denn hier jemand? Hallo? HALLO-O??»
Energisch drückte die behandschuhte Hand auf die Concierge-Glocke. Zwei goldene Armreifen in der dezenten Dicke von Fahrradketten klirrten aneinander.
«Halb drei habe ich gesagt – und nun sind wir da. Das hätte es früher nicht gegeben.»
«Eugenia, bitte. Es wird schon jemand kommen. Wir können uns ja einstweilen auf die Terrasse setzen. Vielleicht holen sie gerade noch andere Gäste ab.»
«Du findest ja immer für alles und jeden eine Entschuldigung, Giulia. Dieser Glaube an das Gute im Menschen ist naiv, Kindchen. Wenn du nicht schon für den Papst arbeiten würdest, würde ich dich glatt im Vatikan empfehlen.»
«Bitte kein Wort über meinen Job. Schließlich bin ich ausnahmsweise mal im Urlaub.»
«Urlaubsreif wolltest du wohl sagen. Drei Wochen habe ich auf dich eingeredet, damit du mich begleitest. Und jetzt ist nicht einmal der Portier da, um uns zu empfangen.»
Die Glocke schepperte, als sie zum dritten Mal darauf drückte. Auf der Terrasse, dem Eingang gegenüber, klirrte ein Blumenkübel, dann stolperte ein etwa fünzehnjähriger Junge durch die Lobby auf sie zu. Er erblickte die ältere Dame und ihre attraktive Begleitung – und lief knallrot an.
«Junger Mann, fassen Sie sich. Das ist meine Nichte Giulia – und sie hat bereits Verehrer in Hülle und Fülle. Ganz Rom ist voll davon.»
«Und alle haben sie ein Problem – charakterlich und meist auch optisch.»
«Es genügt, wenn ein Ehepartner gut aussieht. Der andere sollte reich sein. Ich spreche da aus Erfahrung.»
Eugenia wandte sich wieder an den Jungen, der inzwischen in der Portiersloge stand und diensteifrig in einem dicken ledergebundenen Buch blätterte.
«Eugenia Amalia Federica Santini ist mein Name.» Sie beugte sich vertraulich vor. «Ich habe meinen Mädchennamen wieder angenommen. Allerdings war ich früher häufiger mit meinem dritten Mann hier, Ottaviano Generali, aber das sagt Ihnen in Ihrem jugendlichen Alter natürlich nichts.»
«Ich dachte, du wärst auch mit Onkel Antonio hier gewesen», bemerkte Giulia süffisant und schob sich ihre Sonnenbrille energisch in die lange lockige Mähne.
«Natürlich. Aber das war danach und unter einem anderen Namen. Kann sein, dass ich auch mit Giuliemo oder Pedro-Paolo einmal hier war. Einmal meine ich sogar, dass mich Dick mit seiner Yacht hierher entführt hat …» Sie kicherte. «Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Junger Mann: Wir haben reserviert. Und zwar die Zimmer drei und vier. Mit Balkon zum Meer. Für mich bitte Zimmer drei. Das Agnelli-Zimmer. Heißt es immer noch so?»
«Oh, Signora, das tut mir so leid.» Der Junge wurde schon wieder rot. «Zimmer drei – das Agnelli-Zimmer – ist gerade nicht zugänglich. Aber ich kann Ihnen das Zimmer sieben stattdessen anbieten. Es hat auch einen Balkon …»
«Ich hoffe, das Zimmer ist genauso geräumig wie das mit der Nummer drei?»
Der Junge nickte.
«Und zum Frühstück gibt es immer noch diese Zitronentarte mit Lavendelblüten? Pascal war damals ganz verrückt danach. Wie diese jungen Franzosen eben so sind. Hauptsache süß und üppig.» Sie kicherte wieder.
«Also, äh, was die Zitronentarte betrifft … Ich denke, das war wahrscheinlich noch zur Zeit von Donna Anna. Sie konnte unglaublich gut kochen, aber …»
«Und erst ihre Fischsuppe. Mit frischen Kräutern. Ein Gedicht. Und wie heißt noch mal ihr entzückender Mann? Renzo oder Roberto? So ein charmanter Herr. Und so gut aussehend.»
Der Junge sah plötzlich bestürzt aus. «Raffaele, der Besitzer … er ist gestern … Er hatte einen Unfall. Er ist tot, Signora. Die Treppen hinter dem Haus. Er ist einfach …» Er stockte und wusste nicht mehr weiter. «Aber Signora Laura wollte das Hotel nicht schließen. Auch nicht für einige Tage. Das Leben geht weiter, sagt sie.»
Eugenia starrte ihn ungläubig an.
«Aber das ist ja ganz entsetzlich. Der arme Raffaele. Ist er die Klippen hinuntergestürzt? Hier, hinter dem Haus?»
«Die Polizei vermutet …»
«Die Polizei war auch da? Ich dachte, es war ein Unfall?»
«Keine Ahnung, ehrlich nicht. Wir fragen uns auch alle, was Raffaele da gemacht hat. Er war, na ja, er war immer ein bisschen ängstlich, und wenn es dunkel wurde, ist er raufgegangen, ins Dorf, nicht runter ans Wasser.»
«Madonna Santa, Sie meinen doch nicht etwa, dass ihn jemand heimtückisch nach unten gelockt hat. Und dann, mit einem kräftigen Stoß …?»
«Tante Eugenia, es reicht», sagte Giulia energisch.
«Ich hoffe, er stört sie nicht – der Todesfall …», sagte Rocco.
«Signora Laura hat recht», sagte Giulia entschieden. «Das Leben geht weiter. Vor allem bei diesem Wetter. Wir nehmen jetzt einfach unsere Schlüssel und gehen nach oben.»