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Wer hat hier, wo ich wohne, schon einmal ein Leben geführt – und wer wird diesen Ort nach mir sein zu Hause nennen? Daniel Mason erzählt in seinem neuen Roman die bewegte Geschichte eines Hauses in den Wäldern von Massachusetts. Und mit ihr von den Schicksalen, Geheimnissen und Abgründen der Menschen, die das Haus über die Jahre bewohnen. Von einem Soldaten, der nach einer Verwundung nicht auf die Schlachtfelder zurückkehrt, sondern beschließt, sich in der Abgeschiedenheit dem Apfelanbau zu widmen. Von seinen Töchtern, Zwillingen, deren symbiotisches Leben mit dem Erwachsenwerden zunehmend Risse bekommt – und jäh in einer Tragödie endet. Von einem Reporter, der auf ein uraltes Massengrab stößt, und einem liebeskranken Maler, der einem geheimen und riskanten Verlangen nachgeht. Während sich die Bewohner des kleinen gelben Hauses mit der Schönheit und den Wundern ihrer Umgebung auseinandersetzen, beginnen sie zu erkennen, wie lebendig die Vergangenheit dieses Ortes ist. „Oben in den Wäldern“ erzählt vom Wandel der Zeit, der Sprache, der Natur, und zeigt, wie stark wir durch sie auch über Jahrhunderte miteinander verbunden bleiben. Ein so sprachmächtiger wie spannender Roman, der eine zeitlose Frage stellt, die uns alle beschäftigt: Wie leben wir weiter, auch wenn wir nicht mehr da sind?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
DANIEL MASON
OBEN IN DEN WÄLDERN
Roman
Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
C.H.BECK
Daniel Mason erzählt in seinem neuen Roman die bewegte Geschichte eines Hauses in den Wäldern von Massachusetts. Und mit ihr von den Schicksalen, Geheimnissen und Abgründen der Menschen, die das Haus über die Jahre bewohnen. Von einem Soldaten, der nach einer Verwundung nicht auf die Schlachtfelder zurückkehrt, sondern beschließt, sich in der Abgeschiedenheit dem Apfelanbau zu widmen. Von seinen Töchtern, Zwillingen, deren symbiotisches Leben mit dem Erwachsenwerden zunehmend Risse bekommt – und jäh in einer Tragödie endet. Von einem Reporter, der auf ein uraltes Massengrab stößt, und einem liebeskranken Maler, der einem geheimen und riskanten Verlangen nachgeht. Während sich die Bewohner des kleinen gelben Hauses mit der Schönheit und den Wundern ihrer Umgebung auseinandersetzen, beginnen sie zu erkennen, wie lebendig die Vergangenheit dieses Ortes ist. «Oben in den Wäldern» erzählt vom Wandel der Zeit, der Sprache, der Natur, und zeigt, wie stark wir durch sie auch über Jahrhunderte miteinander verbunden bleiben.
Daniel Mason, 1976 geboren, ist Schriftsteller und Psychiater. Bei C.H.Beck sind seine Romane «Der Klavierstimmer Ihrer Majestät» und «Der Wintersoldat» lieferbar. 2021 war er Finalist für den Pulitzer-Preis.
Cornelius Hartz lebt als freier Autor und Übersetzer in Hamburg. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher u.a. von Rye Curtis, Edward Carey, Erin Flanagan und Catherine Nixey übersetzt.
Eins
Der «Todesengel»-Brief (anonym)
Zwei
Osgoods Wunder – Erinnerungen eines Apfelbauern
Meine Herkunft und die Gründe, dass ich Apfelbauer geworden bin
Meine Verwundung und der darauffolgende Traum
Meine Rückkehr nach Albany und die dort getroffene schicksalhafte Entscheidung sowie die gegen selbige vorgebrachten Argumente
Mein angeblicher Wahnsinn oder: Was macht einen Geisteskranken aus?
Wie ich aufbrach und was ich entdeckte
Das Land, die Eigentümer desselben und sein Erwerb
Unser Umzug aufs Land
Mein Obstgarten gedeiht
Einige Anmerkungen zur Technik des Obstanbaus
Warum ich Junggeselle blieb
Wie meine Töchter aufwuchsen und welche Rolle das Paris-Urteil dabei spielte oder: Wie alles auch ganz anders hätte enden können
Meine Rätsel
Eine alte Apfel-Sage mit neuer Interpretation
Wieso ich trotz allem beschloss, in den Krieg zu ziehen, oder: Eine Klage über die Kürze des Lebens eines Menschen im Vergleich zu dem seiner Bäume
Drei
Die WILDKATZE oder: Die wahre Begebenheit einer höchst blutigen Begegnung, die erst jüngst sich zugetragen; ein Lied für GESANG und QUERPFEIFE, zu singen zur bekannten Melodie LASSET UNS RECHT FRÖHLICH SEIN
Aus «Sprichwörter und Redensarten»
Vier
Die wehmutsvolle Mär vom Eichhorn und der Eule, oder: WIE DAS LAND WIEDER ZU WALD WURDE. Eine neue Winterballade, verfasst für KINDER von einem Schwesternpaar. Zu singen zur Melodie von DANN FÜHRE ICH MEIN LIEBCHEN HEIM
Briefe an E. N.
Fünf
Ein DEZEMBERLIED. Eine neue Ballade von zwei ERNSTEN Maiden, zu singen nach der Melodie ALS PHÖBUS ZUR RUHE GING, für QUERPFEIFE und GESANG
Sechs
Sieben
Notizen zum Fall Robert S.
7. Februar
13. Februar
22. Februar
23. Februar
24. Februar
8. März
11. März
22. März
Acht
Neun
Mord hoch drei
Ein rätselhafter Hinweis
Ein Baum voller Blut
Der Mann mit der Verbrechervisage
Eine verzweifelte Mutter
Bis auf die Knochen
Zehn
Vortrag vor der Historical Society of Western Massachusetts
Elf
Ein Heilmittel gegen LIEBESKUMMER. Eine FRÜHLINGSWEISE, zu singen zum Anlass der Linderung eines lang gehegten Kummers, nach der Melodie von DIE SEHNSUCHT DER MAID.
5 Zi., Kü., 2 Bd.
Zwölf
Nachfolge
Danksagung
Zitate im Text
Editorische Notiz
Für Ariana und Selah
… um mit den Überresten der Arche auf dem Ararat ein Feuer zu entfachen.
Nathaniel Hawthorne, The American Notebooks
Im Juni waren sie hierhergekommen. Sie waren vor den Leuten aus dem Dorf davongelaufen und den Pfaden der Hirsche gefolgt, durch Wälder, Täler und Farnhaine, über Moore, die unter ihrem Tritt erbebten.
Sie liefen, so schnell sie konnten. Dampf stieg von den Sümpfen und Wiesen auf. Brombeergestrüpp zerschnitt ihnen die Kleider, die ihnen bald in Fetzen um die Schultern hingen. Sie stürzten durch das Dickicht, verbargen sich in hohlen Bäumen und in Bärenhöhlen, klopften mit Stöcken an die Höhlenwände, bevor sie eintraten. Sie flohen, als wäre es ein Kinderspiel, als hätten sie etwas stibitzt und sich mit der Beute davongemacht. Meine Beute, flüsterte er, als er ihre Lippen berührte.
Eine diebische Freude erfüllte sie, und sie lachten. Niemand würde sie finden! Ernst dreinblickende Männer marschierten an ihnen vorbei, die Hakenbüchsen im Anschlag, spähten ins Unterholz, stopften fettige Klumpen Tabak in ihre Pfeifen. Sie hatten der Welt entsagt. Fort aus England und fort aus der Kolonie. Wächter der Natur seien sie von nun an, erklärte er ihr, ein neues Reich hätten sie betreten. Sie lag neben ihm inmitten der Blätter, im Inneren des Stammes einer hohlen Eiche, und reckte den Kopf, um die Riemenstiefel zu betrachten und die ledernen Scheiden, die über der wurmlöchrigen Decke der Welt hin und her schwangen. So nah!, dachte sie und biss in seine Hand, um ihren Übermut zu zügeln. Arm in Arm beobachteten sie die Spürhunde und begegneten deren Blicken, sahen ihnen an, dass jene sie erkannten, bemerkten das verschwörerische Zittern ihrer Schwänze, als die Hunde weitertrotteten.
Sie liefen. Auf offenen Feldern versteckten sie sich im Schatten der Vogelschwärme, in Flüssen unter dem silbernen Schleier der Fische. An ihren Schuhen lösten sich die Sohlen. Mit Streifen ihrer Kleider banden sie sich Stücke von Rinde unter die Füße, verloren sie aber, als sie durch die Sümpfe wateten. Barfuß liefen sie weiter durch den Wald, und wenn sie zu einem geschützten, schattigen Plätzchen kamen, wo sie sich allein wähnten, zog er die Splitter aus ihren Füßen. Sie waren jung und konnten stundenlang rennen, und der Juni versorgte sie mit seinen Beeren und mit achtlos abgestellten Bauernkarren. Sie legten Pausen ein, um zu essen, zu schlafen, zu stehlen, sich auf Wiesen in raschelnden Goldrauten zu wälzen. An versteckten Teichen hob er sie triefend aus dem Wasser, setzte sie auf moosbewachsene Steine und küsste die Bäche, die von ihren Locken und ihren Beinen flossen.
Ob er wisse, wohin er wolle, fragte sie ihn, zog ihn an sich, kostete seinen Mund, und stets lautete seine Antwort: fort! Sie liefen nach Norden, in die nördlichen Wälder und dann dem Sonnenuntergang entgegen, kümmerten sich nicht um Grenzen, aber die Berge zwangen sie zu Umwegen, und die Sümpfe hielten sie auf, und nach einer Woche hätten sie überall sein können. Aber wen kümmerte das? Flüsse trugen sie mit sich und ließen sie an fernen, von der Sonne gewärmten Ufern wieder frei. Das Gestrüpp teilte sich vor ihnen, schloss sich hinter ihnen. In den Stromschnellen spürte sie, wie ihr das Schmelzwasser des Frühlings zwischen die Schulterblätter hämmerte, sah ihm zu, wie er durch das Bachbett watete und mit bloßen Händen Fische fing. Und er harrte ihrer mit einer feuchten Decke, die er ausbreitete wie ein Paar Flügel und in die er sie wickelte, bevor er sie zu Boden sinken ließ.
Ausgerechnet in der Kirche hatten sie einander kennengelernt. Sie hatte von ihm gewusst, war vor ihm gewarnt worden, hatte gehört, dass er drüben in England Unruhe gestiftet und ein Schiff bestiegen hatte, um seinen Häschern zu entkommen. Er war aus Plymouth und aus New Haven geflohen und hatte sich in einer Hütte am Rande Springfields niedergelassen. Sie sagten, er sei gottlos, verkehre mit Heiden, verschwinde regelmäßig in den Wäldern, um an Ritualen der Wilden teilzunehmen. Zweimal hatte sie gesehen, wie er sie anschaute; einmal war sie ihm auf der Straße begegnet. Das war alles, aber ihrerseits bedurfte es nicht mehr. Sie spürte, dass sie zusammengehörten. Während der Predigt schaute er sie an, und sie spürte, wie ihr unter seinem Blick im Nacken warm wurde. Draußen bat er sie, ihn auf der Wiese zu treffen, und auf der Wiese bat er sie, ihn am Flussufer zu treffen. Sie war John Stone versprochen, einem Pfarrer, der doppelt so alt war wie sie und dessen erste Gemahlin im Wochenbett gestorben war. Gestorben vom Kinde, berichtete ihr ihre Schwester, ihren Wunden erlegen. Am Flussufer, unter den wachsamen Augen der Silberreiher, nahm ihr Geliebter ihre Hand, versprach, was zu versprechen war, rollte seinen Grashalm mit der Zunge hin und her. Sieben Jahre war sie schon dort. In jener Nacht brachen sie auf, ein Komet erleuchtete in der Richtung, in die sie flohen, den Himmel.
Drei Kartoffeln aus dem Garten einer Hebamme. Zwieback aus der Tasche eines schlafenden Hirten. Ein Huhn vom Gehöft eines Siedlers, eine Legehenne, die er unter den Arm geklemmt mit sich trug. Meine Elfe!, rief er seiner Geliebten im Schutze der Dunkelheit zu, und sie erwiderte seinen Blick. Er ist verrückt, dachte sie, nackt bis auf ein paar Fetzen Kleidung, seine Axt, sein gackerndes Huhn. Und wie er sprach! Von Flora, vom Königreich der Kröte und der Moormuschel, von den Sternenlandschaften der Glühwürmer, von der Herrschaft des Wolfes und des Bären und von der Blüte des Schimmelpilzes. Und um sie herum, im Wald, allerorten: die Geister eines jeden Vogels und Insekts, einer jeden Tanne, eines jeden Fisches.
Sie lachte – wie sollte für all das Platz sein? Da gäbe es mehr Fische als Fluss. Mehr Vögel als Himmel. Tausend Engel auf jedem Grashalm.
Psst, sagte er, seine Lippen auf den ihren, dass du sie nicht demütigst: den Waschbären, den Wurm, die Kröte, das Irrlicht.
Sie liefen. Sie heirateten auf einer Lichtung, schworen einander in einer hohlen Eiche die Treue. An den Bäumen wuchsen Pilze, groß wie Pferdesättel. Graue Vögel, rote Schlangen und orangefarbene Lurche waren ihre Trauzeugen. Die Heidelbeeren streuten Blütenblätter. Der Geruch von Heu stieg vom Farn auf, den sie zertraten. Und dazu der Klang, das Surren, das Tosen der Welt.
Sie liefen. Die letzten Bauernhöfe lagen weit hinter ihnen; jetzt gab es nur noch den Wald. Sie folgten alten indianischen Pfaden, durch Haine, gezeichnet vom Feuer, mit grünen Gewölben, die bis in den Himmel ragten. An besonders heißen Tagen kletterten sie die Flüsse hinauf, das Huhn auf seiner Schulter, ihre Hand in der seinen. Glimmer bestäubte ihre Fersen wie Silberstaub. Libellen an ihrem Hals. Flughörnchen in den Bäumen über ihnen, und im schluffigen Sand die Abdrücke der Pfoten großer Katzen. Mitunter blieb er stehen und zeigte ihr die Spuren von Menschen. Freunde, sagte er, und er sagte, er spreche die Sprache der Menschen diesseits der Berge. Doch wo stecken sie?, fragte sie sich. Und sie starrte in das Grün, das sie umgab, denn sie spürte Angst und Einsamkeit, und sie war sich nicht sicher, was von beidem schlimmer war.
Und dann, eines Morgens, erwachten sie auf dem Waldboden unter den Kiefern, und er verkündete, sie würden nun nicht mehr verfolgt. Das verrieten ihm die Stille, die Luft, der klare sommerliche Windhauch. Die Natur hatte sie empfangen. In der Kolonie machte man durch zwei Namen im Register einen schwarzen Strich. Die Kinder warnte man, sollten sie noch einmal von den beiden sprechen, bekämen sie eine Tracht Prügel.
Am siebten Tag erreichten sie das Tal. Über ihnen ein Berg. Hirschspuren führten über eine Wiese, die nach Norden hin anstieg und schmaler wurde, durch die frischen Überreste eines Waldbrandes. Ein schmaler Pfad führte an einem plätschernden Bach entlang zu einem von Binsen gesäumten Teich. Auf der anderen Seite des Hangs: eine Lichtung, von Bibern benagte Baumstümpfe, blassgrüne Keimlinge, die aus der fruchtbaren schwarzen Asche sprossen.
Hier, sagte er.
Singvögel flogen zwischen den verkohlten Bäumen hindurch. Sie entledigten sich ihrer letzten Lumpen, schwammen und schliefen. Alles war so licht, so rein. Aus seiner kleinen Tasche holte er einen Beutel mit Kürbis- und Maissamen und Kartoffelstücken hervor. Mit großen Schritten maß er den Hügel ab, das Huhn lief ihm hinterher. Am Bach fand er einen breiten, flachen Stein, brach ihn aus der Erde und trug ihn zurück zur Lichtung, wo er ihn behutsam auf den Boden legte. Hier.
Am siebenten Juli kamen mitten in der Nacht in großer Zahl die Heiden ins Dorf. Und ich lag mit meinem Kinde wach, als ich das Feuer auf den Palisaden sah und Schüsse und Geschrei vernahm. Dann erwachte mein Gemahl und bedeutete mir, mich mit dem Kinde zu verstecken. Schnell lief er, die Türe zu verriegeln, aber da brachen sie sie bereits auf, schlugen ihn nieder und meuchelten meinen Gemahl, trotz dem er noch im Hemde war! Dann kam einer der ihren und befahl mir, ihm zu folgen, doch ich ward von solcher Furcht erfüllt, dass ich mich nicht zu rühren vermochte, trotz dem das Haus brannte und der Zunder von den Dachsparren prasselte. Ich dachte, ich wolle lieber mit meinem Gemahl sterben als mitgehen mit diesen mörderischen Kreaturen, aber die Heiden packten mich und mein Kind. Draußen war es ob der Brände taghell. Ich sah, wie meine Verwandten und Nachbarn getötet wurden, mein Schwager ward vor meinen Augen niedergemetzelt, mein Vetter erschossen, sein Bauch aufgeschlitzt. Sie fielen über uns her wie der Wolf über die Lämmer. Überall verstreut lagen Stühle und Harken und anderlei Dinge, mit denen die Menschen kämpften. Dann schien die Furcht über die Heiden zu kommen, denn sie riefen einander zu und rannten zur Bresche im Zaun. Da packte mich jener, der mich zuerst ergriffen, und ich trug bloß Strümpfe ohne Stiefel. Bei mir waren meine Nachbarn, und einige hielten ihre Kinder, und einige trugen nichts als ihre Nachtkleider. Als wir anhielten, blickte ich zurück, sah das Dorf brennen und im Scheine des Feuers die weinenden Gesichter meiner Nachbarn. Dann kamen unsere Häscher und befahlen uns, ihnen zu folgen. Sie marschierten mit uns durch den Wald, wir waren sechs Indianer und zwanzig Gefangene, aber keiner entfloh, so wehmütig war uns zumute, und solche Angst bereitete uns die Wildnis. In meiner Nähe war meine Base, und sie weinte und sagte mir, alle seien sie tot, mein Vater erschlagen, meine Mutter erschlagen, meine Schwester erschlagen – sie selbst habe mitansehen müssen, wie man all jene mit dem Beil niedergestreckt. Dann betete ich zum HERRN, er möge mich zu sich holen, aber da ich zuvor des HERRN Missfallen erregt, wollte er mich noch länger auf Erden leiden lassen. Mit jedem Schritt entfernte ich mich weiter von meiner Heimstatt und ging tiefer in den dunklen Wald hinein. Dann dämmerte der Morgen, und sie hießen uns schneller marschieren, da sie fürchteten, wir würden entdeckt. Ich war so benommen, dass ich mich hätte hinlegen wollen, doch jene, die die Kraft verließ, wurden geschlagen. Ich hielt mein Kind und versuchte, es zu stillen. Am Nachmittag durften wir ruhen, und da viele von uns bloß Strümpfe an den Füßen trugen, fertigten unsere Häscher uns Schuhe aus Birkenrinde. Dann kam die Nacht, und sie banden uns an Händen und Füßen zusammen. Und ich fand keinen Schlaf, da ich die ganze Nacht bloß an meinen Kummer dachte. Ich hörte meinen Vetter beten, jemand möge kommen, uns zu retten: Ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riss den Raub aus seinen Zähnen. Ich versuchte, in sein Gebet einzustimmen, doch mein Geist war so bedrückt, dass bloß Gewimmer aus meinem Munde drang. Und das war die erste Nacht, und am Morgen, als wir weitergingen, kam mein Nachbar J— und sprach: Lasst uns fliehen, kein Schicksal kann schlimmer sein als dies. Aber ich wagte es nicht, und Gott segnete mich in meiner Weisheit, denn kurz nach dem Mittag hörte ich die Indianer rufen und sah einen Leib durch das Gestrüpp stürzen, und sie verfolgten ihn, und wir mussten anhalten und warten, und wir alle beteten, dass er entkommen und Hilfe holen oder zumindest sein eigenes Leben retten möge. Und obgleich es warm war, fröstelte uns, und einer der Heiden sprach: Denkt! Wer hat dies Leid über euch gebracht? Wer hat euch hier warten lassen? Und kaum hatte er dies gesagt, da erschien jener, der den Flüchtigen gejagt hatte, und er wischte sein blutiges Beil am Moose ab und sprach: Dies soll euch eine Lehre sein. Und wir gingen weiter, und es wurde Nacht, und das war die zweite Nacht, die wir im Schlamm schliefen, und am Morgen wurde ich gewahr, dass mein Junge krank war und nicht mehr trank, und ich dachte: Er ist tot. Aber sein Leib war noch warm, als ich ihn an mich drückte. Und mein Schmerz um mein Kind war so groß, dass ich meinen eigenen Schmerz nicht spürte, ich ging weiter, als wäre all dies ein Traum, und manchmal stolperte ich und fiel. Dann halfen mir meine Freunde, wieder aufzustehen, wussten sie doch, welches Schicksal mich ereilen würde, sollte ich zurückfallen. Das war der dritte Tag, doch an jenen kann ich mich kaum erinnern, denn am Abend fühlte ich mich schwach und fiebrig, und die ganze Nacht hustete ich. Und am Morgen kam mein Häscher, und ich wusste, er wollte mich töten, doch seine Blutgier hatte nachgelassen, denn er ging und beriet sich mit einem anderen, und jener stieg von seinem Rosse, und sie hoben mich darauf. Ich wusste nicht, warum mir solches Mitleid zuteilward, vielleicht waren wir nicht mehr so viele, und sie fürchteten, wir wären nicht mehr genügend Lösegeld wert. Wir marschierten bis in die Nacht, und dann rasteten wir unter einem Felsvorsprung, doch der Heide sprach: Komm, und er führte mein Ross einen Pfad hinunter. Ich weinte, und er fragte in englischer Sprache: Warum weinet Ihr? Und ich sprach: Ich möchte zu meinem Volke zurückkehren. Und er sagte, jenes sei nicht mehr mein Volk, und das erfüllte mich mit neuerlichem Schrecken, und wahrlich, ich dachte daran, fortzulaufen, bloß damit er mich und mein Kind töte, denn nun wusste ich, dass ich meine Heimat nimmer wiedersehen würde. Und bitterlich dachte ich an die Worte des Propheten Jeremias: Er wird nicht wieder herkommen, sondern muss sterben an dem Ort, dahin er gefangen geführt ist, und wird dies Land nicht mehr sehen. Dann kamen wir an eine Lichtung unterhalb eines Berges, und dort erblickte ich, was aussah wie eine Hütte aus Holz und Stein und ein Huhn im Hof, und dort pfiff mein Herr, und die Tür tat sich auf, und heraus trat ein höchst merkwürdiges altes Weib, angetan in Röcke und Decken wie eine Indianerin, aber ihr Antlitz war britisch, und sie sprach sowohl die englische Sprache als auch die Sprache der Heiden. Und nach einigen Worten, die ich nicht verstand, überließ mich mein Häscher jener Frau. Komm, sagte sie und ließ mich ein. Es war ein kleines Haus, das nur aus einer Kammer bestand, und dort war ein Herd, und sie schürte das Feuer, dann entkleidete sie mich und wickelte mich mit meinem Kinde in eine Decke. Dann nahm sie meine nassen Kleider und hängte sie über das Feuer und brachte Brühe, und ich trank, und dann gab sie meinem Kinde etwas davon, und es trank ebenfalls, doch dann fing es an zu weinen, und sie sagte: Schnell, gib ihm deine Brust. Und mein Kind nahm sie, und ich war so erleichtert, dass ich für einen Augenblick vergaß, in welch trauriger Lage ich mich befand. Dann, als mein Kind satt war, trank ich noch mehr von der Brühe, und obgleich sie ungesund roch, stellte ich keine Fragen, so weit hatte mich der Hunger getrieben, dass ich vom Löffel einer Heidenbuhle trank. Ich schlief, und spät in der Nacht erwachte ich, ich hatte Fieber, und nun mit einem Male war ich überzeugt, diese Frau wolle mir etwas antun – was, wenn sie mich und mein Kind töten oder es dem T—l geben wollte? So übermächtig wurde dieser Gedanke, dass ich alle Vernunft fahren ließ und mich erhob. Ich nahm den Schürhaken, der neben dem Herde stand, und stellte mich über die Dämonin. Ich hätte sie getötet, aber mein Kind begann zu weinen, also ging ich zu ihm und gab ihm die Brust, aber ich behielt den Schürhaken bei mir, doch die Frau musste es trotz der Finsternis gesehen haben, denn sie sagte: Nicht doch, törichtes Kind, ich bin keine Hexe, und sie ging und kam zurück mit einem Buch, und ich sah, dass es die Bibel war. Und sie nannte mir ihre Namen, sowohl ihren christlichen als auch ihren indianischen, denn sie war vor vielen Jahren mit ihrem Gemahl aus der Kolonie geflohen und hatte ihn in jener gottverlassenen Wildnis verloren, und so heiratete sie einen konvertierten Indianer, doch auch jenen verlor sie. Und ich kannte ihren und seinen Namen, denn schon oft hatte ich von diesen gottlosen Flüchtigen flüstern gehört, wobei ich sie für tot hielt. Und habt Ihr diesen Mann vor dem HERRN geehelicht?, fragte ich sie, denn ich hatte erkannt, dass sie sich wie die Gottlosen schmückte, mit einem silbernen Ring an ihrem Finger. Oder war es der T—l, der Euch dieses Omen auf die Haut gezeichnet? Du bist krank, sagte sie, und ich sagte: Ich erkenne eine Sünderin! Und sie sagte: Allein Gott weiß, wer ein reines Herz hat. Und ich sagte: Aber Gott gab mir die Fähigkeit, zu sehen. Dann hast du Schuppen auf den Augen, sagte sie. Und sie saß neben mir, denn sie hatte das Zimmer im Finsteren durchquert. Oh!, sagte ich. Wie sollten wir des HERRN Lied singen in fremden Landen? Und eine Hand berührte meinen Kopf, und sie sagte, ich würde wirr reden, und da wusste ich, sie hatte mir Gift gegeben. Ich rannte hinaus, aber ich war nackt und fiel, und dann war sie neben mir. Gottesfürchtiges Weib!, rief sie. Du fliehst ohne dein Kind! Komm her!
Da packte mich das Fieber vollends, tagelang war ich außer mir, und als ich endlich wieder zu mir kam, sagte sie, es seien zwei Wochen vergangen. Und ich wusste nicht, ob es wirklich zwei Wochen waren, aber als ich mein Kind im Arm hielt, wurde ich gewahr, wie es indessen gewachsen. Sieh, sagte sie, als du nicht bei dir warst, drückte ich den Knaben an deine Brust. Und er war gesund und lächelte, ein hübsches Lächeln, doch ich hatte davon gehört, wie aus dem Lehme des T—ls falsche Kinder gemacht werden, und als sie fort war, prüfte ich seinen Leib auf Nahtstellen, die ihn verraten würden. Und er wimmerte, denn es war kalt, und die alte Frau kam zurück und sprach: Warum bekümmerst du ihn so? Da bat ich sie, mit mir zu beten, und sie nahm die Bibel, und als sie die Worte las: Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr, da kamen mir die Tränen. Und sie beugte sich zu mir, und ich sah, dass sie eine Kette mit Amuletten aus Knochen und Eisen trug. Und nun lege deinen Schmuck von dir, dass ich wisse, was ich dir tun soll, wollte ich rufen, aber ihre Stimme hatte mich besänftigt. Und ich fragte: Ist der Heide, der mich entführte, wirklich Euer Freund? Und sie sagte: Der dich gerettet hat, ist mein Freund. Da packte mich der Zorn, und ich fragte: Ist denn jener, der meinen Vater erschlug, Euer Freund, und jener, der meine Schwester erschlug? Sie aber sprach: Hatte er nicht auch einen Vater und eine Schwester, die erschlagen wurden? Ob dieser Worte erfüllte mich der Hass, aber sie sprach nicht weiter, sondern trat hinaus, und ich hörte den Laut einer Axt, und sie kam wieder herein und sagte: Willst du bloß meine Brühe trinken? Also ging ich hinaus und trug Holz hinein. Dann führte sie mich herum und zeigte mir, wie sie lebte, dass sie auf dem Dachboden Trockenfleisch und Mais und Eichelmehl aufbewahrte. Und sie zeigte mir einen Schuppen mit Körben zum Fischen und mit Tierfallen, und sie zeigte mir, wie man jene im Wald aufstellt. Dann wurde es dunkel, und wir gingen zurück und aßen, und ich dachte daran, wie ich zum letzten Male mit meiner Familie, die nun tot war, das Brot gebrochen hatte, und ich weinte bitterlich, und als ich sah, dass sie dazu nichts zu sagen hatte, fragte ich: Wollt Ihr mich nicht trösten? Und sie sagte: Den Trost, den du suchest, kann ich dir nicht geben. So war mein Elend groß, aber am Morgen gab es wieder Arbeit, obgleich ich meinen Kummer nicht vergaß. Nun war ich bereits einen Monat dort. Täglich erwartete ich, mein Häscher werde zurückkehren, doch nun fürchtete ich nicht mehr um mein Leben, sondern dass er mich zwingen würde, unter ihnen zu leben, als Feind meines eigenen Volkes. Als ich meine Herrin fragte, was bloß aus mir werden solle, sagte sie, sie wisse es nicht, vielleicht würden sie mich gegen einen der ihren tauschen, die entführt worden seien, denn auf jeden von uns kämen hundert von jenen, die man aus ihrem Heimatlande entführt habe. Nun, da ich wieder bei Kräften war, dachte ich einmal mehr an Flucht, aber ich fürchtete, mich würde ein noch schlimmeres Schicksal ereilen, sollten sie mich wieder gefangen nehmen. Im Garten wuchsen Bohnen, Mais und Kürbisse, denn vor langer Zeit, erzählte sie, gab es einen Biberteich, und deshalb war das Land so fruchtbar. Und sie lehrte mich, Kaninchenfallen aufzustellen, und welche Pilze man essen durfte und welche man meiden sollte, da sie giftig seien, und jene nannte sie Todesengel. Und manchmal sprach ich mit meiner Herrin über andere Dinge. Ich fragte sie, wenn sie die Indianer so liebe, warum sie dann nicht beim Volk ihres zweiten Gemahls lebe? Darauf gab sie mir zur Antwort, manchmal gehe sie im Winter zu ihnen, aber die meisten seien an der Pestilenz gestorben, und dies hier sei ihr Heim, das Land sei gut. Dann kam sie ins Plaudern und erzählte mir von den Riten und den Tänzen und von den wilden Tieren der Gegend. Und ich sagte ihr, das klinge wie Worte des T—ls, aber sie nahm mich des Nachts mit hinaus und fragte: Nun, spürest du es nicht? Aber da war nichts als der Berg und der Wald, und eben das sagte ich ihr. Du irrst, gab sie zurück, horch nur, und wir waren still, und plötzlich waren da Schritte, und Worte reichen nicht aus, es zu beschreiben, das ist keine Lüge. Furcht bedrückte mein Herz, aber meine Herrin tröstete mich, denn hatte Gott nicht gesprochen: Denn alle Tiere im Walde sind mein? Dann kehrten wir zurück, und die Zeit verging, vielleicht drei Wochen, und die Tage waren einander alle gleich, und beide fragten wir uns, was wohl mit meinem Häscher geschehen sei, als ein Trupp ankam, und siehe, es waren keine Indianer, sondern drei englische Kundschafter. Wie überrascht sie waren, als sie mich mit meinem Kinde fanden! Mein Herz schlug vor Freude, obwohl ich keinen mit Namen kannte, aber sie hatten von mir gehört, denn einige unserer Gefangenen waren freigekauft worden, und sie hatten berichtet, dass ich entführt worden sei. Und ich weinte, denn mich schmerzte es, an meinen lieben Gemahl und meine Familie erinnert zu werden. Was meine Herrin betraf, so fürchtete ich nun, dass man sie töten werde, und so berichtete ich sogleich, dass sie eine Christin sei, die mit einem konvertierten Indianer verheiratet sei und Licht in diese dunklen Wälder bringe. Ich sah, dass sie Ring und Halskette abgenommen und in ihre Tasche gesteckt hatte. Dann hießen wir die Männer willkommen und tischten ihnen zu essen auf, und einer von ihnen forderte mich auf, mich neben ihn zu setzen, nahm einen Apfel aus seiner Tasche und bat mich, davon zu kosten. Und ich lachte und sagte: Glaubt Ihr, ich sei Eva?, so erschrocken war ich. In jener Nacht schliefen wir oben auf dem Dachboden, und meine Herrin verriegelte die Falltür und schob einige Bretter darüber, und mir war bewusst, dass sie so verhindern wollte, dass sich uns jemand mit unkeuschem Verlangen näherte. Am nächsten Morgen gingen sie noch vor Sonnenaufgang davon, und als sie zurückkamen, war es Abend, und sie lachten, und ich fragte nach dem Grunde ihrer Heiterkeit. Da griff jener, der mir den Apfel angeboten hatte, in seine Tasche, und zog eine Hand hervor, in Blätter gewickelt und so klein wie die eines Kindes. Morgen, sagte er, würden sie aufbrechen, um mehr Soldaten zu befreien, denn der Knabe habe ihnen die Lage des Dorfes verraten, und sie würden die Morde an unserem Volke rächen. Dann war es Zeit zu essen, und meine Herrin ging in den Garten, und ich sah, dass sie weinte. Als sie zurückkam, ging ich zu ihr, doch sie ließ mich nicht helfen, das Essen zuzubereiten, sondern schickte mich auf den Dachboden. Dann kam sie zu mir und schloss erneut die Tür. Sie trug ihre Axt. Unten aßen die Männer, und sie sagte: Du musst verstehen, was nun geschieht, muss geschehen, damit kein weiteres Blut vergossen wird. Und sie muss mir angesehen haben, welche Furcht mich befiel, denn sie sprach: Es muss sein, damit das Böse aufhört. Und ich weinte und nickte, auch wenn ich nicht verstand, und mir wurde gewahr, dass sie ihren Schmuck wieder angelegt hatte, und sie sagte: Ich handele recht. Und von unten drangen ein Stöhnen und ein Scharren von Stühlen und ein Klirren von Tellern, und wir hörten, wie ein Leib zu Boden fiel. Dann vernahm ich ein zweites Stöhnen und dann ein drittes, und einer von ihnen rief, sie seien vergiftet worden, und wir hörten die Leiter knarren, und es klopfte an der Luke. Wir versuchten, sie daran zu hindern, sie aufzubrechen, aber sie hämmerten mit ihren Musketen dagegen, und dann waren sie hindurch. Da ging meine Herrin mit ihrer Axt hin und erschlug einen, aber der andere hob seine Muskete und schoss ihr mitten in ihr gutes Herz und tötete sie, und so nahm ich ihre Axt. Der Mann kam näher, und so wahr Gott mein Zeuge ist, ich tat es bloß, um mein Kind zu retten. Dann nahm ich seine Muskete und ging hin und fand einen, der in seinem Todeskampfe ins Freie gekrochen war. Ich dachte, er sei tot, doch er kam auf mich zu, und der HERR ließ mich nicht im Stich, sondern gewährte mir eine ruhige Hand. Dann weinte ich, mein Kind weinte, doch mir war bewusst, dass ich schnell handeln musste, da bald andere kämen und sie finden würden. Ich band mir mein Kind auf den Rücken und holte die Schaufel und ging auf die Wiese oberhalb des Hauses und grub, und ich hörte erst auf, als der Abend dämmerte, und dann ging ich hin und schleppte die Leichname durch das hohe, nasse Gras. Dort begrub ich sie, die Männer zusammen in einer Grube und meine Herrin näher am Haus, und ich betete für ihre Seelen, dass der HERR ihnen ihre Sünden vergebe. Und dies schreibe ich und schwöre, dass es wahr ist, denn ich muss nun fort von hier und kann mein Geheimnis nicht länger hüten. Möget Ihr, die Ihr es findet, wissen, was hier, in dieser Zeit großer Zwietracht, in der Kolonie Massachusetts geschah, aus der Feder jener Frau, die diesen Ort für kurze Weile ihre Heimstatt nannte.
Es ist Ende August, als die Frau ihr Kind in ein Bündel schnürt, die Tür der Hütte schließt und dem Pfad bis zum Rand der Lichtung folgt, wo sie stehen bleibt, um sich noch einmal umzusehen. Dann verschwindet sie im Wald. Hirschkühe heben hinter den Goldrauten ihre Köpfe, schauen ihr nach und staksen dann behutsam in Richtung Garten. Ein dumpfes Geflatter erfüllt die Luft, als sich ein Schwarm Wandertauben wie ein Vorhang über dem Tal ausbreitet.
Tage vergehen. Schlangen schlüpfen in die warmen engen Stellen zwischen den Steinen. Ein Wolfsrudel rottet sich für eine Weile im Windschatten der Hütte zusammen; die Welpen jagen am Teich weißen Faltern hinterher. Im Garten wachsen gedrungene Kürbisse, prall vom Gewitterregen, Bohnen ranken sich die Maisstängel empor, der Mais reift in seiner Hülse. Schmetterlinge lassen sich auf den schwankenden Dolden des Wasserdosts nieder, und die Schoten der Seidenpflanze brechen auf und geben ihre Flugsamen frei.
Auf der Wiese, unter weichen Erdhügeln, liegen die Leichen der Frau und der drei Männer, und im Bauch des Mannes, der der Frau mit dem Kind den Apfel angeboten hat, befindet sich ein Stück vom Kerngehäuse, in dem noch drei Apfelkerne stecken.
Niemand kommt. Weder Soldaten noch der Mann, der die Frau hierhergebracht hat. Im Garten verdorren die Bohnenstangen in der Hitze, die Kürbisse verrotten, und Maisrost befällt die Ähren.
Die Farben verändern sich. Gelb kommt vom Berg herabgekrochen und schleicht sich in die Adern der Hainbuchen, Eiche und Ahorn färben sich rot, und im Unterholz werden die Blätter des Schneeballs violett. Laub fällt in den Bach, der den Hang durchschneidet wie ein Riss im Gewebe der Erde.
Im Erdboden finden Schimmel und Wurm die Kadaver der Frau und der Männer. Regen prasselt auf die verbliebenen Blätter der Baumkronen, rinnt an den hoch aufragenden Ästen der Eichen und Ulmen herab, schäumt an den Stängeln des Schierlings und versickert. Er tränkt die weiche Erde rund um die Leichname, das Wasser lässt den Boden aufquellen, der Hang sackt ab, der Körper des Mannes, der der Frau den Apfel angeboten hat, kommt zum Vorschein. Der nächste Regen entblößt seinen Kopf und seine Schultern, sodass es aussieht, als versuche er, aus der Erde zu kriechen.
Nun verrichten Ratten, Fliegen und pickende Vögel ihr emsiges Werk.
Dann wird es Winter. Schnee fällt und bedeckt die Knochen des Mannes, der der Frau den Apfel angeboten hat, begräbt ihn unter sich bis zum Scheitel. Feldmäuse laufen durch die eisigen Gänge unter dem Schnee, Wühlmäuse schnüffeln am gefrorenen Laub, und das Schnauben der Wiesel hallt durch die Mulden.
Monate vergehen, und dann kehrt der Regen zurück und spült in einer einzigen warmen, windigen Nacht den Schnee fort.
Die Wölfe sind wieder da, die Welpen sind jetzt groß und nach dem Winter sichtlich abgemagert. Im Schlamm finden sie den Kadaver des Mannes, der der Frau den Apfel angeboten hat, tanzen bellend um ihn herum und zerren ihn ein Stück den Hügel hinauf.
Es wird wärmer, warm genug, dass das Wasser, das sich in den Hufabdrücken der Hirschkühe sammelt, des Nachts nicht mehr gefriert. Jetzt bricht an jener Stelle, wo sich einst der Bauch des Mannes befand, der der Frau den Apfel angeboten hat, einer der Apfelkerne auf. Unter den Rippen des eingedrückten Brustkorbs bohrt sich eine zarte Wurzel in die Erde, und ein Paar blassgrüner Keimblätter erhebt sich. Der Trieb wird dicker, sucht die Strahlen der Sonne über sich und wächst zwischen der fünften und sechsten Rippe, die einst das klägliche Herz des Toten schützten, empor.
Das Pflänzchen wächst den ganzen Sommer über. Ende August hat es bereits achtzehn Blätter und ist so hoch wie die Hinterbeine eines Luchses.
Widmung
Meinen geliebten Töchtern, denen ich diesen ABSCHIEDSBRIEF anvertraue, von einem Obstbauern, der in den Krieg zieht.
Der Herbst zeigt sich wieder in seiner ganzen Pracht, und doch herrscht Krieg. Von hoch droben schaut der Falke hinab auf winzige Reihen marschierender Männer. Morgen muss ich meinen Hof verlassen, meine Obstgärten, eure mir so angenehme Gesellschaft. Vor vierzehn Jahren haben wir diesen Ort zu unserem Arkadien erkoren. Ich habe euch neben den Äpfeln aufwachsen sehen. Einst hatte ich dem Schlachtfeld abgeschworen und meine Zuneigung unserem Obst geweiht, doch nun verlangen die Umstände, dass ich mich Pomonas Armen entwinde und ohne Umschweife auf die Felder des Mars begebe.
Ich beabsichtige und erwarte, im kommenden Winter zu diesen Bergen zurückzukehren und euch wiederzusehen, daher gehe ich davon aus, dass sich dieser Brief als unnötig erweisen wird. Aber ich habe schon manche Schlacht geschlagen, daher mache ich mir keine Illusionen ob der drohenden Gefahr. Sollten meine Worte mitunter den Eindruck machen, ich hätte sie allzu überhastet niedergeschrieben, so liegt das daran, dass ich diesen meinen Abschiedsgruß verfassen muss, bevor ich bei Tagesanbruch aufbreche. Ich hoffe, dass er, sei er auch unter widrigen Umständen geschrieben, nur das erste Kapitel eines umfangreichen Buches sein wird, das ich eines Tages vollenden werde.
Ich werde diese flüchtigen Stunden nach Mitternacht nicht damit verschwenden, über unsere Familie und meine ersten Jahre zu schreiben. Mein Onkel hat einen Bericht über die Osgoods von Northamptonshire verfasst; alle geneigten Leser seien hiermit auf jenen Bericht verwiesen. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, dass wir zu jenen Osgoods gehören, die dem Kriegshandwerk zugetan sind. In ganz England gibt es keine Familie, die hingebungsvoller ihrer Heimat gedient hat, und auch ich wäre für immer auf den Feldern unseres lieblichen Albion geblieben, wäre meine erste Gattin nicht im Kindbett gestorben. Obgleich mein Haar bereits ergraut war, blieb mir wenig, das mich hielt. Ich kam nach Amerika, um zu kämpfen, fand eine neue Liebe und diente stolz im Franzosen- und Indianerkrieg. Im 48. Infanterieregiment brachte ich es bis zum Major, und man sprach davon, ich sei zum Obristen, ja sogar zum General bestimmt, als der Geist über mich kam und mir den schicksalhaften Entschluss einpflanzte, das Exerzieren, das Marschieren, den Klang von Pfeife und Trommel, den Geruch von Schießpulver hinter mir zu lassen und mich voll und ganz den Äpfeln zu widmen.
Doch wie kam es dazu? Ob ich wohl, wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, den Funken ausfindig machen kann, der meiner Seele Glückes Zunder entfacht hat? Hatte ich hier, an den Nebenflüssen des St. Lawrence River, irgendwo mein Damaskuserlebnis gehabt? Ein Traum auf dem Krankenlager hatte mich tief beeindruckt, aber auch Träume haben ihre Ursache. War es eine hübsche Bauerntochter gewesen, die mir in meiner fernen Kindheit eine sonnenbeschienene Frucht gereicht und mir so den schlummernden Samen ins Herz gepflanzt hatte? Waren es die aquarellierten Kärtchen, mittels derer ich das Alphabet gelernt hatte? Das zu Pyramiden aufgetürmte Obst auf den Marktständen in unserem Dorf?
Ein Kuss irgendwo, von einer, deren Lippen noch feucht waren vom Apfelwein?
Die Schlange, die uns alle in Versuchung führt?
Oder war es schlicht die Tatsache, dass der französische Soldat, den ich an jenem schicksalhaften Tag auf der Abraham-Ebene hinter seiner Verschanzung überraschte, gerade dabei war, mit seinem Bajonett einen süßen Pepping zu schälen, als er aufstand und es mir in die Brust stieß?
Wie man mir erzählte, drang die Klinge zwischen meinen Rippen ein, küsste aber bloß behutsam mein Herz. Wären nicht all die Schreie, Schüsse und Explosionen gewesen, man hätte wohl hören können, wie es eisern vor sich hin schlug. Nur einen Zoll weiter, und ich wäre für immer verloren gewesen. Aber Gott hatte ein Auge auf mich. Oder vielleicht verrutschte Ihm auch einfach der Pinsel, als Er die Schlachtszene auf Seine Leinwand malte, und rettete so mein Leben.
Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist der Apfel, der mit einem Knacken zerplatzte. Rumbold, mein Bursche, sah mich fallen und brachte mich ins Lazarett. Als ich erwachte, peitschte der Wind durch den offenen Zelteingang; in meiner Nähe lag ein anderer Mann und schrie. Rumbold saß an meiner Pritsche, und an seinem Gesicht konnte ich ablesen, was mich erwartete. Ich gab mich dem Tod hin, bat darum, meine Frau und meine Töchter zu unterrichten, sank dahin und schlief ein.
Und träumte: Ich war wieder in England und wanderte über ein weites grünes Feld, als ich an einen Hügel kam und mich vor einem Baum wiederfand. Dort spielten in Weiß gekleidete Kinder; sie liefen auf den Ästen entlang wie kleine Eichhörnchen, und jedes hatte einen Apfel in der Hand. Neugierig kamen sie zu mir hinuntergehuscht, und als ich sie fragte, was sie da äßen, sagten sie mir, ich hätte den Baum gefunden, von dem sich die Seelen ernährten. Möchtet Ihr einen Apfel?, fragten sie. Ja! Denn mein Magen schmerzte, so hungrig war ich. Ich streckte die Arme aus, aber da war bloß das Feldlazarett, es war dunkel und kalt, und die Klappen des Zelteingangs flatterten im Wind, der über die Ebene fegte. Rumbold wartete und reichte mir einen Brief von meiner Schwester Constance.
Werter Charles,
schweren Herzens muss ich dir mitteilen, dass …
Ganz langsam las ich ihn. Mir wollte nicht einleuchten, dass ein solch barmherziger Gott seine Soldaten beschützt, die Gattinnen seiner Soldaten jedoch nicht.
Den Winter verbrachte ich zur Genesung in der Garnison in Quebec. Als ich endlich gesund genug war, um die Reise anzutreten, begab ich mich zurück nach Albany, wo ich mein Haus leer vorfand. Meine Töchter waren bei meiner Schwester untergekommen.
Es war zwei Jahre her, dass ich diese meine lieben Kinder gesehen hatte, und sie näherten sich mir zunächst recht vorsichtig, nur um sich im nächsten Augenblick voller Freude auf mich zu stürzen. Sie waren nun vier Jahre alt. Seit der Geburt glichen sie einander, und so auch jetzt, mit goldenen Locken und rosigen Lippen. Sie hatten Puppen und Spielzeug und eine Katze, und sie fragten mich, ob ich jemanden getötet hätte und ob ich ihnen meine Wunde zeigen dürfe und ob ich gehört hätte, dass Mutter von uns gegangen sei. Nun wache sie vom Himmel aus über sie; und sie zogen mich an den Händen, um mir das kleine Denkmal im Garten zu zeigen.
An jenem Abend, als sie schliefen, saß ich mit meiner Schwester, ihrem Gatten und meinem Bruder John, der mit mir in Quebec gedient hatte, in der Stube.
Sie wollten wissen, was ich nun vorhätte, wo ich wieder zu Hause sei.
Ich erzählte ihnen von dem Traum. Als ich fertig war, langte meine Schwester über den Tisch und ergriff meine Hand. Sie war eine große Traumdeuterin, kannte alle Bedeutungen von Traumbildern, und diesmal war es nur allzu offensichtlich: Mir war die Ehre zuteilgeworden, die Ewigkeit zu schauen. Das Traumkind war meine Gattin, der Apfel ihre Hingabe.
«Aber ich bin erwacht, bevor ich davon gekostet hatte», sagte ich ihr, und sie nickte weise und erklärte, das bedeute, es sei Gottes Wille, dass ich lebe.
Mein Bruder fragte, wann ich in die Garnison zurückzukehren gedachte. Es ging das Gerücht um, ich solle noch vor Jahresende befördert werden; er habe dies von keinem Geringeren als Amhersts Vetter gehört, der eine schöne Schwester habe, eine echte Schönheit, die gerade das heiratsfähige Alter erreicht habe.
Ich kannte sie vom Sehen und wusste, dass er recht hatte. Aber in jenem Moment empfand ich keine Freude, sondern einen neuen Schmerz in meiner Brust, die eigentlich in den Wochen der Rekonvaleszenz ganz wunderbar verheilt war. Ich erinnere mich jetzt deutlich an den Anblick meines eigenen Spiegelbildes im Schrankfenster. Damals trug ich lange Koteletten, und mein gewelltes Haar war stets ordentlich glatt gekämmt. Die weiße Halskrause unter meinem Kinn vermittelte den seltsamen Eindruck, ich sei gewissermaßen auf Wolken herniedergeschwebt. Und vielleicht war ich das auch, denn Gott hatte gewollt, dass ich lebe, aber nicht nur das: Seit der Abraham-Ebene war meine Leidenschaft nur noch mehr gewachsen. Ich hatte jeden Apfel gekostet, der mir zwischen Quebec und Albany untergekommen war. Ich wandte mich voll und ganz den Äpfeln zu. Gott wolle, dass ich einen Obstgarten anlege, sagte ich.
Wenn ein gesunder Mann sich etwas vornimmt, das dem allgemeinen Gutdünken zuwiderläuft, und sein Vorhaben standhaft verteidigt, so wird man ihn der Devianz, des Irrtums oder kurzerhand des Wahnsinns bezichtigen. So erging es mir: Meine Schwester und mein Bruder taten so, als hörten sie sich geduldig an, was mir vorschwebte, aber in Wirklichkeit verschworen sie sich hinter meinem Rücken. Zu jener Zeit pflegte ich ziellos durch die Stadt zu spazieren, um über meinen künftigen Lebensweg nachzudenken, und als ich von einem jener Streifzüge zurückkehrte, fand ich mein Haus merkwürdig leer vor, abgesehen von meinen Geschwistern. Meine Töchter, so ließ Constance mich wissen, seien auf einem Ausflug, und das sei auch besser so, denn um halb vier käme ein gewisser Dr. Arbuthnot, der sich bereit erklärt hätte, mich zu untersuchen. Ich kam nicht dazu, Einspruch zu erheben, denn schon schlug die Uhr im Flur zur halben Stunde, und gleich darauf ertönte ein arrogant leises Klopfen. Wäre der Mann bloß so klug gewesen, wie er pünktlich war! Ich kannte ja seinen Ruf – in der Öffentlichkeit ließ er sich als großer Kriegschirurg feiern, doch unter den Soldaten kannte man ihn als den «Arzt, der einem Kameraden das falsche Bein abnahm». Jeder vernünftige Mensch hätte ihn sofort wieder weggeschickt, doch ich hatte den Eindruck, als sei es förderlicher für mich, wenn ich so tat, als wolle ich mit ihm kooperieren. Also ermannte ich mich, diesen Volltrottel zu ertragen, lächelte herzlich und empfing ihn in meiner Stube, während Constance Kekse bringen ließ. Der Arzt war bester Laune, denn er kam gerade von einem Aderlass, bei dem er einem Kind drei Liter abgenommen hatte, das dadurch auf geradezu wundersame Weise wieder gesundet war. Das sei ein weiterer Beleg dafür, dass ein Arzt einer Krankheit nur Einhalt gebieten könne, wenn er ihr beherzt und aggressiv entgegentrete; sicherlich wusste er, dass ich einen militärischen Rang bekleidete, und so bediente er sich einer höchst martialischen Sprache: Es gelte, einen Frontalangriff auf mein törichtes Vorhaben in die Wege zu leiten, den letzten Rest meiner wahnwitzigen Fantasterei zu erledigen, wie man es mit einem besonders abscheulichen Verräter tue, und zwar ohne jede – und bei diesem letzten Wort schlug er mit der Faust auf den Tisch – Gnade.
Natürlich hätte ich auf der Stelle das Zimmer verlassen müssen, aber seine herrische Art irritierte mich dermaßen, dass ich beschloss, ihm Paroli zu bieten. Dann lasst mich bluten!, sagte ich und krempelte einen Ärmel hoch.
Oh nein, der Aderlass eigne sich nur bei allgemeinem Wahnsinn, sagte er, meiner hingegen sei sehr speziell – eine Pomomanie, sozusagen, ein Obst- oder Apfelwahn. Und er erklärte, wie sich der Blutkreislauf eines Soldaten, der stundenlang im Felde gelegen habe, durch natürliche Miasmen verändere. Infolgedessen kippe die Milz aus ihrer Achse, was sich auf den Lymphkreislauf auswirke, der wiederum auf das Blut, das Blut auf den Schleim, der Schleim auf die Galle, die Galle auf den jus gastrique und so weiter, und all dies führe zu guter Letzt zu Veränderungen der Säfte des Rückenmarks. Von dort aus sei es ein bloßer Katzensprung bis zum Gehirn – die Medulla oblongata werde verlängert und das erst kürzlich entdeckte Operculum geöffnet, das «Wachhäuschen» des Großhirns, und durch jenes paradierten dann Fantasien, Gespinste, Vorstellungen und sogar – und dies flüsterte er mit leiser Stimme – Leidenschaften oder, wie man auf Französisch sage, passions.
Doch dies sei mitnichten die Ursache meiner Sorgen.
«Nein?»
Mit ernster Miene schüttelte Dr. Arbuthnot den Kopf. Schließlich würden wir alle hin und wieder von abnormen Fantasien, Gespinsten, Vorstellungen oder Leidenschaften heimgesucht. In der Tat, erst gestern Abend, als er … Nun, es spiele keine Rolle, was er gerade getan habe. Aber einen Moment lang habe er dabei geglaubt, seine Gattin sei deren Schwester, dabei sähen die beiden einander überhaupt nicht ähnlich! Nein, die Gefahr bestehe in einem vorzeitigen Schließen des Operculums, wodurch besagte Fantasien, Gespinste, Vorstellungen oder Leidenschaften nicht mehr entfleuchen könnten, wie wenn man Kaninchen oder Hamster – oder, Gott bewahre, Kaninchen und Hamster zusammen – in einen Käfig sperre, wo sich jene dann vollends der Promiskuität hingäben, wie es nun einmal geschehe auf engem Raum, etwa wie wenn man mit einer Dame in einer warmen, beengten Kutsche sitze, wo man ständig mit den Knien aneinander … Nun, es sei ja wohl deutlich, was er meine – es gehe darum, dass sich die irrgeleiteten Gedanken vermehrten, befruchteten, vermischten, um nur noch fantastischere Fantasien, versponnenere Gespinste, verwegenere Vorstellungen, leidenschaftlichere Leidenschaften et cetera et cetera hervorzubringen, und das Resultat sei, nun ja … Und hier brach er ab, holte mit großer Geste aus und zeigte mit dem Finger – auf mich.
«Wie bitte?»
«Ihr», sagte der Arzt. «Dies hier.»
Ich teilte ihm mit, ich könne ihm nicht folgen.
Er begann aufs Neue, sein Argument vorzubringen, aber mein Bruder unterbrach ihn. «Und dieses grausige … Operculum … Könnte man es nicht entfernen?»
«Das Operculum entfernen?» Arbuthnot war so verblüfft, dass er beinahe den Tisch umwarf, und dann lachte er, so lang und so heftig, dass ihm Tränen die bebenden Wangen hinunterströmten. Dabei habe er geglaubt, er habe schon alles gehört!
Wir warteten. Einen Moment lang hoffte ich, meinen Geschwistern würde nun klar werden, dass dieser Mann noch verrückter war als ich.
«Entfernen? Bei Gott, nein!», sagte Arbuthnot schließlich. «Aber öffnen.»
Offenbar hatte man sich bereits vor der Entdeckung des Operculum eine entsprechende Behandlungsmethode einfallen lassen. Der springende Punkt war, es dazu zu bringen, sich von selbst zu öffnen, und zwar mittels Düften, die dem Operculum besonders behagten; ein solcher Duft sei der eines in Waschbärensamen getränkten Brotes, das drei Tage lang an das Euter eines ungewaschenen Mutterschafs gebunden war. Man brauche die Mischung nur einzuatmen, und die hinter dem Operculum eingeschlossenen Dämpfe entfleuchten schneller als eine Horde Häftlinge durch ein offenes Zuchthaustor.
Glücklicherweise habe er eine Kostprobe dabei.
«Nun?», fragte meine Schwester. Der Doktor zog ein Fläschchen aus seinem Mantel, und ich war inzwischen so erleichtert, dass er mich weder bluten noch abführen wollte, dass ich mich bereitwillig darüberbeugte.
«Jetzt bitte einatmen», sagte Arbuthnot. «Ganz tief.»
Ich atmete ein, so lange ich konnte. Was keiner der Anwesenden ahnte: Vor Kurzem hatte ich mich bei meinen Töchtern mit einer fürchterlichen Grippe angesteckt, die mein Riechorgan vollkommen außer Gefecht gesetzt hatte. Ich sah, wie meine Angehörigen blass im Gesicht wurden. Vom Papageienkäfig ertönte ein dumpfes Geräusch. Bald tränten selbst dem Doktor die Augen.
«Und woran erkennen wir, dass sich das Operculum geöffnet hat?», sagte Constance schließlich und hustete.
Doch hier waren sich die Fachleute uneins. Laurentius beschrieb eine Rauchwolke, Hundertius behauptete, ein kleines Korn würde aus einem Nasenloch fallen, während der berühmte Anthius der Überzeugung war, Hirngespinste hätten überhaupt keine physische Form, und letzterer Überzeugung schloss sich Arbuthnot an.
«Das erkennen wir daran», sagte Arbuthnot, «dass er nicht mehr an Obst denkt.»
«Es ist nichts Verrücktes daran, an Obst zu denken», sagte ich.
«Du sei still», sagte Constance.
«Riech weiter, Mann», sagte John.
Und ich schnüffelte weiter an dem Fläschchen, bis meine Schwester in Ohnmacht fiel, denn es war wirklich ein sehr übel riechendes altes Mutterschaf gewesen.
«Könnt Ihr ihn nicht einfach zur Ader lassen?», wollte mein Bruder wissen.
Und falls ihr, meine lieben Töchter, euch fragt, warum ich diese Geschichte so ausführlich erzählt habe, dann zu dem Zweck, dass ihr seht, wer hier der Dummkopf war, und ihr daran denken möget, sollte man mich auch in Zukunft noch verleumden.
Ich wurde für unheilbar erklärt und dem Irrenhaus anempfohlen, doch meine Familie kannte die Gefahren einer Einweisung in eine solche Anstalt für unseren guten Namen, und so behelligte man mich nicht weiter.
Für meinen Kriegsdienst hatte ich ein Grundstück nahe des Foxkill erhalten, aber es bedurfte nur eines einzigen Besuchs auf den benachbarten Gehöften, und ich stellte fest, dass das Gelände dort zu flach und zu feucht für den Anbau von Äpfeln war. Also ließ ich die Mädchen bei Constance und machte mich auf die Suche nach neuem Land, und da ich längst das fünfte Jahrzehnt meines Lebens beschritten hatte und mir nicht mehr viel Zeit für Irrwege blieb, beschloss ich, zuerst den Baum zu suchen und mich dann um das dazugehörige Grundstück zu kümmern. Und es sollte unbedingt ein naturbelassener Baum sein. In den Baumschulen von Albany gab es zahlreiche veredelte Sorten, doch mir schwebte etwas anderes vor. Ich wollte keinen verzärtelten Import aus England, keinen verweichlichten Kontinentaleuropäer, der noch nach den Pfoten irgendeines französischen fruitier roch. Mein Apfel sollte wild sein, ein wilder Amerikaner! Um diesen herum würde ich mir mein neues Leben aufbauen.
Und so machte ich mich noch im selben Monat, als die Fuhrwerke zu den Dorfmärkten aufbrachen, mit Rumbold an meiner Seite auf den Weg.
Mir wurde schnell klar, wie reich das Land gesegnet war: Ich sah dürre Holzapfelbäume, erwachsen aus Kerngehäusen, die man achtlos an den Straßenrand geworfen hatte, Reihen stattlicher Newtown Peppings, knorrige Exemplare namenloser Sorten, die einsam im Garten eines Siedlers wuchsen. Wie verschwenderisch Amerika seine Äpfel verteilte! Wieso hatte ich das nie bemerkt? Keine zweihundert Jahre war es her, da hatte noch kein einziger Samen diesen Boden berührt, und jetzt waren sie überall, achtlos fallen gelassen von Jungen mit nackten Armen, denen der Saft das Kinn herablief, von Adligen, die in ihren Kutschen vorbeifuhren, von Liebenden, die im Kornfeld ihre halb aufgegessenen Früchte fortwarfen, um sich einem anderen Zeitvertreib zuzuwenden. Sie erwuchsen aus den Hinterlassenschaften von Schweinen, Kühen, Hunden und Fischen; aus dem Kot von Raben, die hoch droben auf den Ästen von Kastanien saßen. Mein Gott! Bis zu diesem Moment war mir das nie aufgefallen. Nähme man der Welt jegliche Materie außer dem Apfelbaum, würde man dennoch ihre Konturen erkennen.
Und ich kostete sie alle. Zwei Wochen lang tat ich kaum etwas anderes, ich zog durch Albany und Ghent, über die Berge und durch die Täler zwischen dem Hudson und dem Connecticut, durchstöberte Märkte und befragte staunende Bauernmädchen nach Apfelsorten und nach der Beschaffenheit des Bodens. Zweimal entdeckte ich einen wahrlich prachtvollen, einzeln stehenden Baum mit Früchten, wie ich sie noch nie zuvor gekostet hatte, marschierte zur nächstgelegenen Hütte und machte dem Bewohner ein Angebot für das Land. Stets wurde ich abgewiesen. Denn warum sollte man einem Fremden trauen, der mit seinem Diener im Schlepptau durch die Gegend zog? Es war ihr Fleckchen Erde, ihr Baum, sie waren gesegnet worden und trugen die Verantwortung. Es war ihr Land.