Obwohl alles vorbei ist - Franziska Gerstenberg - E-Book

Obwohl alles vorbei ist E-Book

Franziska Gerstenberg

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Beschreibung

Kurz vor dem 11. September 2001 begegnen sich Charlotte, die Frau aus dem Osten, und Simon, der Mann aus dem Westen. Mit der Geburt ihres Kindes verlassen sie Berlin und ziehen nach Dresden in Charlottes Elternhaus. Doch die ers- ten Brüche zeigen sich schnell, und obwohl nach Greta noch Karl auf die Welt kommt, ist die Ehe bald nicht mehr zu ret- ten. Das Paar trifft eine folgenreiche Entscheidung: Haus und Familie werden buchstäblich aufgeteilt; sie bewohnt mit dem Sohn die eine Haushälfte, er mit der Tochter die andere. Das Heranwachsen in dieser falschen Normalität hinterlässt seine Spuren. Karl, ein Einzelgänger, stalkt seine Schwester, und als Greta sich politisch engagiert, will er ihr zeigen, was er kann – mit fatalen Konsequenzen. Am Ende muss sich nicht nur die Familie fragen: Wie kann man weitermachen, Obwohl alles vorbei ist? Franziska Gerstenberg fängt in ihrem großen Familien- und Gesellschaftsroman all die achtlosen Momente ein, die schließlich in die Katastrophe münden. Mit poetischer Sprache zeichnet sie ein eindringliches Bild der vergangenen zwanzig Jahre und sucht nach dem rettenden Potenzial der Liebe.

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Seitenzahl: 362

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Inhalt

[Cover]

Titel

Simon, 2019

Charlotte, 2000–2001

Greta, 2010

Karl, 2019

Simon, 2019–2020

Autor:innenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Simon, 2019

PROLOG

Jetzt, nach ihrem Tod, ist alles wieder da.

Ich erinnere mich daran, wie ich Greta zu Dreharbeiten nach Italien mitgenommen habe. Charlotte und ich hatten uns gestritten, deshalb blieb sie mit Karl zu Hause. Greta war gerade vier geworden, ich schenkte ihr für die Reise einen winzigen Rucksack und sagte, sie solle an Spielzeug einpacken, was sie möchte.

Weil wir nur zwei Wochen zum Drehen bekamen, irgendwo am Rand von Rom, war die Zeit so knapp, dass ich nicht in die Stadt hineinfahren konnte, um Greta das Kolosseum oder den Petersplatz zu zeigen. Alle waren überarbeitet, das Wetter machte uns einen Strich durch die Rechnung, immer nur Sonne, überall Schlagschatten. Dazu stellte sich heraus, dass ein Teil der Komparsen, eine Schaustellergruppe aus Sizilien, Läuse hatte. Wir hatten alle miteinander Läuse.

Greta war als Einzige gut gelaunt an diesem Set. Sie verbrachte den ganzen Tag bei den Frauen von der Requisite, die sie mit cannoli fütterten, frittierten Teigrollen mit unfassbar süßer Füllung, und es war eine dieser Frauen, die mich schließlich auf den Inhalt des Spielzeugrucksacks aufmerksam machte. Eine junge Römerin, sie hatte von Anfang an mit mir geflirtet – dass ich Greta dabeihatte, schien eher für mich zu sprechen als gegen mich. Doch jetzt überschüttete sie mich mit einem Redeschwall, von dem ich nur zwei Wörter verstand: bambina – Mädchen, und pillole – Tabletten. Sie deutete mehrmals auf Greta, die draußen vor dem Bauwagen mit einem Stock Zeichen in den Sand schrieb. Schließlich griff sie in Gretas Rucksack und zeigte mir, was sie so aufregte. Es war ein leerer Blister, eine Pillenpackung von der Sorte, die Charlotte genommen hatte, bevor sie schwanger wurde. Und dann sah ich, dass der Blister nicht gänzlich leer war, eine einzelne Antibabypille steckte noch darin, unter einem Sa wie Samstag.

»Pericoloso«, sagte die Italienerin.

Greta war klug genug, um zu wissen, dass Tabletten keine Bonbons waren. Das machte mir keine Sorgen. Aber ich fragte mich, wie um alles in der Welt dieser Jahre alte Pillenstreifen in ihren Besitz geraten war, und warum sie ihn mit sich herumtrug, ihn sogar bis nach Rom geschleppt hatte. Ich fragte mich, ob sie begriff, was diese Pillenpackung bedeutete – das tat sie natürlich nicht. Irgendwann würde ich es ihr erklären müssen.

Charlotte, 2000–2001

SEPTEMBER

Die Treppe ist leer. Die vergangene Nacht mit zu wenig Schlaf hat eine Schwäche zurückgelassen und das Gefühl, alles wäre leicht verschoben, sowohl die Dinge als auch Charlotte selbst. Dinge: Diese Freitreppe, flache Steinstufen, von denen sich die festgetretenen Kaugummis dunkel abheben. Zu viel Himmel darüber, und als die Wolken aufreißen, die Sonne mit weißem Strahlen in die Welt bricht, verfehlt Charlotte die nächste Stufe und stolpert, will sich am Geländer festhalten, wirft dabei aber ungeschickt ihre Tasche in die Höhe. Der breite, offene Lederbeutel fliegt von der Schulter wie ein großer Vogel, und alles, was darin gesteckt hat, wirklich alles fällt heraus, klirrt, kracht, rutscht über die Treppe. Charlottes Trinkflasche rollt mehrere Stufen hinunter, ein Windstoß fächert den Spiralblock auf, dessen Seiten im Sonnenlicht dünner aussehen als Papier.

Sie umklammert das Geländer. Oben, auf dem Platz vor der Universität, lacht eine Frau, eine zweite fällt ein. Nicht aufschauen. Charlotte steigt die Hitze ins Gesicht, sie bückt sich, senkt den Kopf, um ihre Sachen einzusammeln, das Portemonnaie, einen Apfel mit Druckstellen.

Aber dann ist jemand vor ihr. Eigentlich unter ihr, vier Stufen tiefer, weinrote Doc Martens in Charlottes Blickfeld, und schon geht der Mann, den sie nicht hat kommen sehen, in die Knie und greift nach ihrer Flasche. Über den Doc Martens: Jeans, ein Leinenpullover, ein offener Parka, der dünne Schal wieder weinrot. Charlotte steckt schnell den Block in ihre Tasche, sie stehen gleichzeitig auf. Er ist ein paar Jahre älter, um die dreißig, steigt eine weitere Stufe hoch auf der Treppe, trotzdem ist er noch kleiner als sie. Die dunklen Haare hat er sich vielleicht selbst geschnitten, sie stehen in alle Richtungen ab, dazu links und rechts ein Segelohr.

Er hält ihr die Trinkflasche hin – aber als sie danach greifen will, zieht er sie weg. Er grinst. Zum ersten Mal schaut sie ihm richtig ins Gesicht. Seine Augen scheinen sie schon viel länger anzusehen. Sie lächelt zurück, macht eine Bewegung und will sich die Flasche schnappen – aber er ist schneller, wieder zieht er die Hand zurück, diesmal versteckt er die Flasche hinter seinem Rücken. Er schiebt den Oberkörper vor, deutet rasche, kreisende Bewegungen mit den Schultern an, links, rechts, links, wie ein Boxer, sie denkt: ein Boxer in einem Trickfilm. »Nanu«, sagt er, »wo ist denn das Fläschchen?« Er lacht laut auf, und sie muss ebenfalls lächeln, obwohl er sie eigentlich nervt, müde, wie sie ist.

»Jaja«, sagt sie, »sehr lustig.«

Noch immer hört sie die Frauen von oben. Warum gehen die nicht weiter? Sie beschließt, dass ihr das zu blöd ist, will dem Mann die Flasche überlassen (es ist nur Leitungswasser darin) – aber als sie zur Seite tritt, um an ihm vorbeizugehen, macht auch er einen Schritt zur Seite, wodurch er sich ihr erneut in den Weg stellt.

»Nanu, nanu?« Er hält ihr die Flasche nah vors Gesicht.

Das ist anders, das ist zu viel jetzt, die Hitze erreicht ihren Hinterkopf. Charlotte sieht den Mann nicht mehr an, weicht schnell zur anderen Seite aus – aber wieder geht er mit. Sie stolpert nach hinten, stößt mit der Wade hart gegen eine Stufe.

»He«, ruft sie, »Schluss jetzt!«

In ihrer Stimme bricht etwas – und darauf reagiert er endlich. Erschrocken, als wäre er plötzlich aufgewacht, macht er ihr Platz, tritt zwei Schritte zurück, nicht nur einen. »Entschuldige«, sagt er, hebt beide Hände, als würde das Wort nicht reichen, als müsste er es in eine Geste übersetzen. »Ich wollte nicht …«

Erst jetzt scheint er zu bemerken, dass er immer noch ihre Flasche festhält; er atmet tief ein – und dann wirft er die Flasche hoch in die Luft. Sie schauen ihr beide zu: wie sie sich in der Sonne dreht, wieder fällt; und er fängt sie auf, wie ein Trickfilm-Boxer-Zauberer am Ende eines Kunststücks, fehlt nur noch, dass er sich verbeugt.

»Entschuldige«, wiederholt er stattdessen und reicht ihr die Flasche nun endgültig hin, mit großem Abstand und ausgestrecktem Arm. Sie nimmt sie, lässt sie in ihren Beutel rutschen, und danach, sehr schnell, geht sie an dem Mann vorbei, sie läuft die Treppe hinunter, ohne erneut zu stolpern. Und obwohl sie spürt, dass er dort noch immer steht und ihr nachschaut, dreht sie sich nicht mehr um.

Auf dem Weg zur Post geht sie die Hauptstraße entlang, der Wind treibt Abfall vor sich her. Es ist nicht das schönste Viertel in dieser vormals halbierten Stadt, auch nicht drei Straßen weiter, wo Charlotte wohnt, aber die Mieten sind günstig geblieben. Sie geht am Backshop vorbei, am Supermarkt, an einer von bunten Wimpelketten eingerahmten Freifläche, auf der Gebrauchtwagen verkauft werden. Immer noch ist es früh am Morgen. Am Ende der Straße, gegenüber der Bushaltestelle, liegt die Postfiliale.

Sie hat die Postkarte in Polen gekauft. Ende August ist sie dort gewesen, sie hat die leere Karte an ihre Eltern adressiert und danach lange reglos am Tisch gesessen, in der winzigen Unterkunft, die sie für die Nacht ausfindig gemacht hatte. Sie war zwei Wochen herumgereist, allein, der Anblick der grauen, gleichzeitig sonnigen Dörfer hatte Kindheitserinnerungen aufsteigen lassen: als läge hier der Staub auf den Straßen, den man anderswo schon weggekehrt hatte, als wüchsen hier am Rand noch die Margeriten, die die Eltern zu Hause, vor dem eigenen Zaun, längst ausgerissen hatten. Am Tisch in der winzigen Unterkunft besann sich Charlotte auf alles, was sie in den zwei Wochen zuvor gesehen und gedacht hatte. Nichts davon war für ihre Eltern bestimmt. Am Ende schrieb sie, wobei sie mit dem Kugelschreiber stark aufdrückte: Liebe Mutti, lieber Vati, ich schicke euch Grüße aus Polen, das Wetter ist nicht so gut, aber warm ist es trotzdem, das Essen schmeckt, ich bin gerade in Sorkwity (siehe Karte), bis bald, eure Charlotte. Es klang weniger ironisch, als sie gehofft hatte. Würden die Eltern überhaupt merken, dass die Karte ein Witz war?

Die Postfiliale ist klein, man muss hier zu jeder Uhrzeit anstehen, Charlotte rückt einen Schritt vor, wie immer hat ihr das passende Kleingeld für den Briefmarkenautomaten gefehlt. Der Tresen ist mit einem bulligen, tätowierten Mann besetzt, der nur ausdruckslos hochsieht und wartet, wenn er mit Frankieren und Stempeln fertig ist. Der Nächste, bitte!, soll das heißen.

Allein zu reisen, das war nicht geplant gewesen, ursprünglich hatte der Urlaub zusammen mit einer Freundin stattfinden sollen, die dann kurzfristig abgesagt hatte, weil sie schwanger geworden war. Erst in dieser letzten Urlaubsnacht erlaubte sich Charlotte, sich ganz genau vorzustellen, wie es wäre: An der Stelle der Freundin zu sein, den Urlaub abgesagt zu haben, ein Kind zu bekommen. Sie hat wie so oft nicht schlafen können, und dann, als sie aufbrechen musste, war niemand da, dem sie das Geld für die Unterkunft hätte geben können. Das Grundstück mit dem Garten schien verwaist, nur ein Huhn stand starr vor einer Mauer, den Blick auf die Ziegelsteine gerichtet und ohne sich zu bewegen. Schließlich, schon in Eile, hat sie das Geld einfach auf den Tisch gelegt und überhaupt nicht mehr an die Postkarte gedacht, die in der Außentasche des Rucksacks über die Grenze reiste, zwei Wochen lang zerknickt in der Küche von Charlottes Einzimmerwohnung herumlag, bis sie heute beschlossen hat, sie doch noch abzuschicken. Die Eltern wissen sowieso nicht genau, seit wann sie wieder da ist, und auf die Briefmarke werden sie nicht achten.

Die Frau vor ihr tritt mit einem Paket Umschläge an den Tresen, Charlotte will die Postkarte herausholen – doch sie findet sie nicht. Als sie endlich dran ist, der tätowierte Mann hat schon hochgesehen, steht Charlotte da, ihre Tasche weit geöffnet, sie schaut hinein, fühlt mit der Hand nach, schüttelt sogar kurz den Spiralblock aus, aber die Postkarte bleibt verschwunden. Wo ist sie?

»Was denn nun«, sagt der tätowierte Mann.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wird Charlotte rot.

Sie muss die Postkarte verloren haben, als ihr die Tasche ausgekippt ist, auf der Treppe vor der Universität, aber es ist unwahrscheinlich, dass sie dort noch liegt, der Wind wird sie längst ins Gebüsch geweht haben. Charlotte durchquert den Hof, drückt die Tür auf, steigt die Stufen hoch, riecht Schimmel und die süßen Soßen des vietnamesischen Restaurants im Vorderhaus. In der Wohnung geht sie ins einzige Zimmer durch, schaltet den klapprigen grauen Computer an, auf dem der Beginn ihrer Magisterarbeit gespeichert ist. Der Computer braucht viel Zeit zum Hochfahren und noch mehr Zeit, bis er das Dokument geöffnet hat. Der Titel der Arbeit ist so lang, dass er über drei Zeilen geht und Charlotte ihn sich nie merken kann; dafür hat sie von den Texten, über die sie schreibt, ganze Passagen auswendig im Kopf. Sie macht Wasser heiß, für Kaffee; in der Duschkabine neben dem Herd tropft der Hahn, es gibt kein Badezimmer in der Wohnung, nur eine kaum schrankgroße Toilette mit Waschbecken. Der Computer ist endlich bereit, als das Telefon auf dem Küchentisch klingelt, sie geht nicht ran. Es ist ein altes Telefon ohne Display, mit Hörer und Wählscheibe, olivgrün, ein spezieller Farbton, der vielleicht nur für diese Art Geräte erfunden wurde. Hat das Telefon jemals frisch und modern gewirkt? Charlotte hat es beim Auszug von zu Hause mitgenommen. Ihre Eltern hatten es 1990 gekauft, als sie endlich den Anschluss bekamen, aber schon wenige Jahre später wieder ersetzt. Das Telefon verstummt, und Charlotte bleibt allein in der Stille.

Ihre Wade schmerzt. Sie erinnert sich an ihre Angst auf der Treppe, schiebt die Hose hoch, dreht das Bein, bis sie die Stelle sehen kann. Dort, wo sie beim Zurückweichen gegen die Treppenstufe geschrammt ist, ist die Haut rot und zerkratzt.

Am Abend steht sie vorm Waschbecken in der Toilette. Der dreiteilige Spiegel des winzigen Hängeschranks darüber ist der einzige in ihrer Wohnung. Charlotte braucht keinen Ganzkörperspiegel, sie trägt nur Jeans und T-Shirts, und wie die an ihr aussehen, das hat sie schon im Kaufhaus in der Kabine gesehen. Wenn sie ihr Gewicht wissen möchte, steigt sie auf die Waage.

Weil sie sich selten genau anschaut, hätte sie Schwierigkeiten damit, sich selbst zu beschreiben. Sie ist groß. Ihre Haare sind glatt und blond, ein sehr helles Blond, und lang sind sie, auch wenn man das kaum sieht, weil Charlotte sie jeden Morgen zum Pferdeschwanz bindet. Ihre Augen sind grün.

Die Hände aufs Waschbecken gestützt, denkt sie an die einzige Beziehung, die sie geführt hat, mit Anfang Zwanzig, fast zwei Jahre lang. Sie mochte Jens, sie kannte ihn schon ewig und hätte mit keinem anderen üben wollen – denn das war es, was sie tat. Sie übte, nicht allein zu sein, übte, mit jemandem zu schlafen, und sie hätte auch noch das Zusammenwohnen geübt, hätte Jens sich nicht immer mehr in sie verliebt und angefangen, über die Zukunft zu sprechen, was dem Projekt des Übens grundsätzlich widersprach. Charlotte wusste, sie würde irgendwann Kinder haben, mehrere Kinder, aber ebenso sicher wusste sie, dass sie in der Beziehung mit Jens noch nicht schwanger werden wollte. Er war nicht der Richtige.

Sie schüttelt den Kopf, danach putzt sie sich die Zähne. Sie geht hinüber ins Zimmer, zieht sich aus und legt sich ins Bett, auf die Seite, wickelt die Decke eng um sich, zieht die Knie an, schließt die Augen und umarmt sich selbst mit beiden Händen.

Sie stellt sich vor, wie jemand hinter ihr liegt. Jemand, den sie noch nicht kennt. Sie spürt seinen Körper, spürt, wie er sie hält, fest und sicher hält, er atmet an ihrem Hinterkopf, im Rhythmus ihres Herzschlags.

Es ist ihr Einschlafritual, ohne geht es nicht, an der Schwelle zur Nacht muss sie wissen, wie die Zukunft aussieht.

MÄRZ

Na endlich. Ich dachte schon, du gehst nie ran!«

»Mutti?« Charlotte hält den olivgrünen Hörer fest. »Bist du das?«

Sie telefonieren selten. Die Eltern rufen nur an, wenn etwas passiert ist, oder zum Geburtstag. Zu Weihnachten ist Charlotte hingefahren, das ist noch keine drei Monate her.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie. Vielleicht hat sie einen Termin vergessen. Aber die Knie-OP ihres Vaters war im Januar, und etwas anderes fällt ihr nicht ein.

»Ja, bei uns schon.« Die Mutter klingt aufgeregt, an dem hüpfenden, schnellen Glucksen am Satzende erkennt Charlotte, dass der Vater neben ihr steht. Wenn sie mit Charlotte allein ist, gluckst die Mutter nie auf diese Art. »Wir wollten dich fragen …« Bestimmt beugen sie sich über das Telefon, zu zweit, im unteren Flur des Hauses. »Warst du wirklich schon wieder in Polen? Du hast doch gerade erst angefangen zu arbeiten? Und wie kann es sein, dass es dort schon warm ist?«

Einen Moment lang versteht Charlotte gar nichts.

Zum Glück setzt die Mutter noch hinzu: »Das schreibst du ja auf deiner Postkarte.«

»Postkarte?«

»Ja, die du uns geschickt hast.«

Da hat sie zum ersten Mal eine Idee, was passiert ist. Sie fragt nach dem Bild auf der Vorderseite der Karte – und wirklich handelt es sich um die Kirche von Sorkwity, um die Postkarte, die sie Anfang September, vor einem halben Jahr, auf der Treppe vor der Universität verloren hat. »Aber ich habe nicht …« Charlotte lacht laut, das Lachen hallt in ihrer Wohnung wider, als wäre sie leer.

Sie fragt, wo die Karte abgestempelt wurde. Sie hört ihre Eltern tuscheln, dann die irritierte Stimme des Vaters: »In Brasilien! Vor zwei Wochen.«

In Brasilien? Wieso nicht hier in der Stadt? Charlotte spürt, dass die Mutter die kleine Aufregung genießt: eine seltsame Postkarte als Sand im Getriebe des Alltags. Dem Vater geht es ganz sicher nicht so. Den Vater irritiert sonst nichts, der Vater ist immer beherrscht, und damit es dabei bleibt, lebt er ein Leben, das keine Überraschungen kennt. Selbst die Wende hat ihn kaum aus dem Takt gebracht. Er hat einfach nicht darüber gesprochen und auf diese Weise das Neue fast gänzlich aus ihrem Haus ferngehalten. Charlottes Mutter fügte sich, kaufte nur stillschweigend Bananen und Nivea-Creme und bestellte einen Telefonanschluss.

Charlotte lacht noch immer, während sie versucht, den Eltern zu erklären, was passiert sein muss: Sie hat die Postkarte verloren, sie wurde weggeweht, jemand muss sie gefunden haben. Nicht jemand, denkt sie, dieser Kerl mit den Doc Martens war das, natürlich war er es, er stand doch noch an derselben Stelle, während sie schon mit heißem Gesicht die Stufen hinuntergestürmt ist. Sie staunt, dass sie sich noch so genau erinnern kann. Der Mann mit den Doc Martens hat Charlottes Postkarte mitgenommen, und dann, ein halbes Jahr später, als er nach Brasilien geflogen ist, hat er die Postkarte von dort zurück nach Deutschland geschickt.

»Warum sollte man so etwas tun?« Die Erklärung befriedigt den Vater nicht.

Charlotte zuckt die Achseln, doch das können die Eltern nicht sehen. Ihr Lachen kommt ihr seltsam vor, so lustig ist das ja gar nicht, dieses Spiel mit den Ländern und Urlauben – aber sie kann nicht anders: Immer, wenn sie an ihre polnische Postkarte in Brasilien denkt, steigt eine nervöse Freude in ihr hoch. Sogar das Spiel des Mannes mit ihrer Wasserflasche scheint ihr im Nachhinein bloß eben das gewesen zu sein: ein witziges, fast anziehendes Spiel.

Der Vater möchte wissen, wie es in der Agentur läuft. Er sagt im Betrieb, sagt das mehrmals so, und Charlotte ist jedes Mal kurz verwirrt, denn der Betrieb, das kennt sie nur als Begriff für die Firma, bei der die Eltern angestellt sind.

»Gut«, sagt Charlotte.

Zu Weihnachten hat sie erzählt, dass sie ab Januar arbeiten wird. Die Eltern haben reagiert, als hätten sie nicht damit gerechnet, dass dieser Moment jemals kommen würde. »Du bist doch noch gar nicht mit dem Studium fertig«, hat die Mutter gesagt, und Charlotte hat geantwortet: »Ja, aber die wollen mich trotzdem.« Die Skepsis der Eltern hing über dem Entenbraten und roch nach brauner Soße mit Zimt.

»Was heißt gut?«, fragt der Vater jetzt. »Machst du dich denn anständig?«

Sie beschreibt ihm die hohen, hellen Räume, die Heike, ihre Chefin, für die Agentur angemietet hat. Heike ist die Freundin des Freundes von Freunden, das ist ein Teil des Zufalls, der Charlotte die Anstellung als Texterin eingebracht hat. Heike hat die Zeichen der Zeit erkannt, ein paar Computer gekauft und Büromöbel aus den Hellerauer Werkstätten in die Zimmer gestellt, sie hat sich für die Agentur einen Namen einfallen lassen, der in die neue Mitte der Stadt passt. Beim Bewerbungsgespräch musste Charlotte fragen, worum es denn eigentlich gehen sollte, so ganz hatte sie das nicht verstanden im Vorfeld. Heike lachte und sagte: »Websites.« Websites waren zwar nichts ganz Neues mehr, aber gerade die großen, schwerfälligen Konzerne hatten noch keine. Heike rief also beispielsweise bei einer Supermarktkette an und erklärte denen, warum sie unbedingt eine Website brauchten. Sie konnte gut reden, die Leute am anderen Ende waren schnell eingeschüchtert, sie wollten nicht abgehängt werden von der Konkurrenz. Also sagte Heike, das sei gar kein Problem, sie mache da gern ein Angebot. Woraufhin sie eine Summe nannte, die Charlotte, als sie zum ersten Mal bei einer dieser Verhandlungen dabei war, den Atem verschlug.

»Ich hätte nicht gedacht«, sagt der Vater am Telefon, »dass diese abwegigen Fächer etwas wert sind, an denen du seit zehn Jahren herumstudierst.«

Es sind noch keine zehn Jahre, und das weiß er auch. Trotzdem antwortet Charlotte wahrheitsgemäß, dass sie das auch nicht gedacht hätte. In den ersten Wochen hat sie jeden Tag an einen Irrtum geglaubt: Die haben einen Fehler gemacht, ich kann das doch gar nicht. Dabei hatte sie nichts anderes zu tun, als sich Fünfzeiler über Ganzkornsenf und Spreewaldgurken auszudenken, und kurze Sprüche, die sich reimen sollten.

Der Vater räuspert sich. Wie viel Charlotte in der Agentur verdient, will er wissen. Die Summe kommt ihm zu hoch vor, aber Charlotte denkt an das Volumen des Auftrags der Supermarktkette, das relativiert ihr Gehalt.

Die Mutter ruft im Hintergrund, der Vater beendet das Telefonat. Aber vorher, nach einem letzten Räuspern, sagt er noch – und dabei scheint er alles zusammen zu meinen, die Agentur, das nun doch sinnvolle geisteswissenschaftliche Studium und vor allem Charlottes Gehalt: »Also, dann hast du es ja geschafft.«

Charlotte hält die Luft an, mit ihrer verschwitzten Hand drückt sie den Hörer ans Ohr. Zum ersten Mal in ihrem Leben klingt es, als wäre der Vater stolz auf sie.

Vor dem Küchenfenster verschwimmt das Vorderhaus zum nahtlosen Teil einer schnell dunkler werdenden Häuserzeile, hinter der, wie Charlotte weiß, eine weitere Häuserzeile steht, und dann noch eine und eine allerletzte, bevor man den Park erreicht.

Sie stellt das Telefon zurück an seinen Platz.

Hat sie es tatsächlich geschafft? Ist alles, wie es sein soll? Sie denkt daran, wie sie abends einschläft und sich selbst umarmt. Denkt an die Eltern, die am Telefon klingen, als wären sie eine einzige Person. An die Freundin, mit der sie nach Polen fahren wollte und die dann schwanger geworden ist. Mittlerweile ist das Kind auf der Welt, aber sie haben keinen Kontakt mehr. Wie mag es sich für die Eltern angefühlt haben, als Charlotte selbst gerade neugeboren war? Haben sie im Bett gelegen, sich die Zukunft ausgemalt, Charlottes winzige Hände und Füße hin- und hergedreht? Oder war die Zärtlichkeit ihrer Eltern schon damals ausschließlich füreinander bestimmt, nicht für sie, das Kind? Als hätte Charlotte ihre ganze Kindheit hindurch zu viel gewollt, etwas, das nur die Erwachsenen anging.

Nach der Trennung von Jens hat sie gewartet. Sie war ganz ruhig, es gab keinen Zweifel, dass sie den Mann, den richtigen Mann, sofort erkennen würde, wenn er ihr begegnete. Aber diese Sicherheit ist allmählich verschwunden. Schon seit ein paar Monaten fragt sie sich immer öfter, wo er ihr denn über den Weg laufen soll, dieser Mann, wenn sie nur in ihrer Wohnung hockt oder in der Agentur.

Sie müsste etwas tun. Ja, sie sollte ausgehen, allein ausgehen, sofort – das Telefonat ist ihr geglückt, es war das längste, das sie mit ihren Eltern je geführt hat –, wer weiß, was ihr heute noch alles gelingen kann? Fast hastig greift sie nach ihrem Dufflecoat, der Tasche, dem Schlüssel, sie steigt in die Stiefel und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Die Bar liegt auf der anderen Seite des Parks. Tatsächlich ist es die Bar, in die sie regelmäßig mit der Freundin gegangen ist, einmal pro Woche, bevor die Freundin schwanger wurde. Der Raum ist voll, es ist heiß, die Spiegel an den Wänden beschlagen, auf den Stühlen und Tischen liegen nasse Mäntel. Charlotte streicht sich eine verlorene Haarsträhne hinter die Ohren, dann, tief Luft holend, zieht sie das Haargummi ganz ab und steckt es in ihre Tasche. Sie hebt das Kinn.

Nach einer Weile gelingt es ihr, sich so nah an den Tresen zu schieben, dass die Getränkeauswahl auf der Tafel an der Wand lesbar wird. Sie kann sich nicht entscheiden, dabei stehen dort nur zwei Sorten Rotwein und zwei Sorten Bier. Weil Charlotte zögert, drängt sich einer der anderen Barbesucher an ihr vorbei, ein Rücken im karierten Hemd, der nun vor ihr aufragt. Sie will protestieren, aber da dreht er sich um, ist kein Rücken mehr, sondern ein freundliches Grinsen.

»Kann ich dir was mitbringen? Was nimmst du denn?«

Ist es so einfach? Wenn es so einfach ist, warum hat sie das nicht schon vor Jahren gemacht?

»Äh, ich weiß nicht …«

»Super, ich such dir was aus. Bleib genau hier stehen und warte.«

Wenigstens einer, der weiß, was er will. Und sie macht, was er sagt, bleibt stehen, den Dufflecoat über dem Arm – bis der Mann im karierten Hemd zurückkommt, zwei Getränke balancierend: keinen Wein, kein Bier, sondern quietschbunte Cocktails mit Strohhalmen, einen roten und einen blauen.

Sie schaut ihn erst jetzt richtig an. Er ist groß und hat sich die Haare mit Gel nach hinten gekämmt. »Ich bin Micha«, sagt er, als er sie in die hinterste, dunkle Ecke der Bar dirigiert, auf ein Sofa mit braunen Lederpolstern.

»Charlotte.«

Micha mustert Charlotte von oben bis unten. Sie schlägt die Beine übereinander, sie stoßen an, und sofort, ohne Übergang, beginnt Micha zu reden. Sie hat Mühe, ihm zu folgen, während er von einem Thema zum anderen springt – Sloterdijk, das Wetter, die Wende – und ihr schließlich erklärt, wo in der Stadt man den besten Käse kaufen kann.

Er scheint nicht zu erwarten, dass sie etwas sagt. Charlotte nickt ab und zu, zieht am Strohhalm, während Micha hinter ihrem Rücken den Arm auf die Sofalehne legt. Sie versucht sich zu konzentrieren, kann aber nicht verhindern, dass ihre Gedanken abschweifen. Sie rückt ein Stück zur Seite, was er als Aufforderung zu verstehen scheint, sich ihr direkter zuwenden.

»Wo kommst du denn her, Charlotte?«

»Aus Dresden.«

»Wirklich? Ich bin aus Aue! Nur hundert Kilometer entfernt.«

Und sofort redet er übers Erzgebirge, erzählt, dass seine Eltern in Aue Zahnärzte sind und Marlies und Thomas heißen, und erst jetzt merkt sie, dass die Situation unerträglich ist, immer hilfloser saugt sie an ihrem Strohhalm. Sie möchte auf die Toilette gehen, müsste dafür aber an Micha vorbei, sie fühlt sich benommen – und hört sich plötzlich laut aussprechen, was sie eigentlich nur gedacht hat.

»Ich brauche gar keinen Zahnarzt.«

»Was?« Micha stößt gegen sein Glas, kann es gerade noch auffangen.

»Ich meine …« Augenblicklich wird ihr heiß. »… keinen Sohn aus einer Zahnarztfamilie. Brauche ich nicht. Nur weil ich Kinder will … man sagt zwar immer, dass Zahnärzte gut verdienen, aber darum geht es doch nicht …«

»Wie bist du denn drauf?«, fragt er und starrt sie an.

Sie muss leuchten wie eine Tomate, oder wie die rote Linie, die sie überschritten hat. »Entschuldige«, sagt sie, »so habe ich das gar nicht gemeint. Es ist mir herausgerutscht.«

Micha starrt noch kurz weiter, dann fischt er den Strohhalm aus seinem Glas, schmeißt ihn auf den Tisch, dass es spritzt, und trinkt in einem Zug aus. »Weißt du was, Charlotte …« Er springt auf. »Ich will auch kein Kind von dir. Damit das mal klar ist.«

Und dann ist er weg. Und sie sitzt da, mit den leeren Cocktailgläsern. Langsam weicht die Benommenheit. Charlotte beugt den Oberkörper vor, bis ihre Stirn auf den Knien liegt. Wahrscheinlich starren sie alle Leute an, in der Bar, sie hat sich noch nie so allein gefühlt, schon gar nicht auf diesem Sofa, auf dem sie früher zusammen mit der Freundin gesessen hat.

Sie richtet sich wieder auf.

Und gerade in diesem Moment kommt der Barkeeper vorbei, stellt erst Michas leeres Glas auf sein Tablett, dann ihres, bevor er fragt: »Noch einen Sex on the Beach?«

Sie trinkt sonst nie mehr als ein Bier oder einen Wein.

Entschlossen zeigt sie auf die beiden Cocktailgläser: »Noch eine Runde. Beides, bitte. Den roten und den blauen.«

Wieso ist es um diese Jahreszeit so kalt? Aber als sie noch denkt, dass ihr kalt ist, wird ihr schon viel zu warm. Sie reißt den Dufflecoat auf, die Knebel wehren sich gegen ihre Finger, so ist das also, denkt Charlotte: betrunken sein. Als wäre man sehr, sehr müde. Zum Glück würde sie den Weg durch den Park, den Rückweg in ihr Viertel auf der anderen Seite, auch im Schlaf finden.

Sie muss kurz die Augen geschlossen haben, sie muss mit geschlossenen Augen weitergelaufen sein, denn als sie das nächste Mal hochschaut, hat sie den kleinen See erreicht. Auf einmal wirkt alles ganz hell. Neben der Brücke, bei der Parkbank, der die Lehne fehlt, flackert eine Laterne.

Und da steht jemand. Charlotte blinzelt. Da steht ein Mann. Sie hat Mühe, sein Gesicht zu erkennen, der Mann steht am Rand des Lichts. Erstaunlich ist, dass er ein Buch in der Hand hält und liest, und dass er jetzt, als er sich bewegt, sogar eine Seite umblättert.

Er blickt auf. Er ist wirklich da, oder sie ist wirklich da, sie weiß nicht, woran sie mehr Zweifel hatte. »Hallo«, sagt sie und muss lachen, obwohl es keinen Grund dafür gibt.

»Hallo«, sagt er ruhig.

Sie fragt: »Was liest du denn da?«

Erst jetzt bemerkt sie, dass es sich um ein Kinderbuch handelt, mit Illustrationen, er steckt es ein, ohne auf ihre Frage zu antworten. Aber dann verändert sich sein Gesicht, und er strahlt sie an, von einem Ohr zum anderen. »Du bist das. Ich kenne dich doch.«

Das ist der älteste Spruch der Welt. Das Licht flackert abermals, und diesmal geht auch in Charlotte etwas aus. Sie spürt, wie sie schwankt, sie will sich jetzt hinlegen.

Doch er tritt näher, umfasst ihre Oberarme mit beiden Händen, bringt den Mund nah an ihr Ohr, er flüstert: »Charlotte.«

Sie weicht zurück. Auf einmal kommt er ihr vage vertraut vor. Sie blickt ihn an, strubbelige Haare, er trägt keine Mütze über den Segelohren – plötzlich verspürt sie eine seltsame Freude. Sie erinnert sich, dieses Gefühl heute schon einmal gehabt zu haben, früher am Tag, bei dem Telefonat mit den Eltern. Und in diesem Moment weiß sie auch, wer er ist. Sie schaut: Ja, er trägt auch heute den Parka und die Doc Martens. Er ist der Mann von der Treppe, der Mann, der die Karte an ihre Eltern geschickt hat.

Kann das sein? Wahrscheinlich liegt sie doch schon zu Hause im Bett und träumt, denn so etwas gibt es ja nicht, nicht am selben Tag, sie glaubt nicht an derartige Zufälle, sie hat zu viel getrunken. Aber sie spürt noch, wie er sie an den Oberarmen angefasst hat. Und langsam glaubt sie es doch.

»Weißt du’s jetzt?«, fragt er.

Sie nickt. »Danke für die Post«, sagt sie und hofft, dass es lässig klingt.

Er lacht – nicht über sie, sondern eindeutig aus Begeisterung über sich selbst, über seinen glänzenden Einfall.

»Warum Brasilien?«, fragt sie. »Und wie heißt du überhaupt?« Er weiß schon seit einem halben Jahr ihren Namen, sie weiß gar nichts. Aber sie merkt, dass sie sich wünscht, er würde sie noch einmal anfassen, da an den Armen.

»Simon«, sagt er, »ich bin Simon.«

Charlotte schwankt erneut, und von einer Sekunde auf die andere wird ihr schlecht, ausgerechnet jetzt. Speichel in ihrem Mund, den sie mühsam hinunterschluckt, viel zu viel Speichel. Simons Gesicht, der Boden unter den Füßen, das Licht, der See, die kaputte Bank – die Übelkeit hat keine Ränder und steigt in ihr auf.

Simons Stimme ist laut. Er packt sie, grob, findet sie – es sind nur wenige Schritte bis zu dem Abfalleimer neben der kaputten Bank –, dann übergibt sie sich, hustet und würgt mehrmals, bis nichts mehr kommt. Sie spürt Simons Hand an ihrem Rücken, er streicht über ihren Mantel. Ihr Hals schmerzt.

Hinterher geht es ihr sofort besser. Sie sitzt auf der Bank, atmet ein und aus. Aber mit der frischen Luft kommt die Scham, sie könnte heulen, traut sich nicht, Simon anzusehen, der vor ihr stehen geblieben ist. Sie zittert, ihre Zähne schlagen aufeinander.

Als er in die Hocke geht und einen nach dem anderen die Knebel des Dufflecoats durch die Schlaufen schiebt, muss sie ihn doch anschauen. Sie hält sich den Ärmel vors Gesicht und flüstert in die Wolle hinein, wie sehr es ihr leidtut.

Er schüttelt den Kopf. »Soll ich dich nach Hause bringen?«

Er ist ihr viel zu nah.

»Nein!«

Hastig steht sie auf, um zu beweisen, dass sie allein gehen kann. Denn das will sie: weg hier, nur weg, damit dieser Abend endlich vorbei ist.

Er lacht auf und hebt die Hände, als würde er sich ergeben. »Okay, okay.« Dann klopft er die Taschen seines Parkas ab, findet einen Kugelschreiber und holt schließlich das Kinderbuch hervor. Vorsichtig reißt er die erste, leere Seite raus, schreibt etwas quer über das Blatt. »Hier hast du meine Nummer, ruf mich an.«

Sie sieht ihn entgeistert an. Die Laterne flackert ein letztes Mal, bevor sie ganz ausgeht.

APRIL

Die Schiffstouren haben wieder begonnen, nur die Gäste lassen auf sich warten. Leere Oberdecks mit unzähligen weißen Stühlen, die Fenster der Unterdecks liegen knapp über den Wellen. Schneller, als die Schiffe fahren, fliegen die Möwen. Am Anleger sind die Wände beschmiert, ein tropfender Penis, daneben hat jemand mit Edding geschrieben Mit Kindern ist immer Leben im Haus, darunter eine Antwort, in einer anderen Schrift: Mit Schimmel auch.

Sie treffen sich am Ufer.

»Ich dachte schon«, sagt er, »du rufst gar nicht an. Dass du dich in Luft aufgelöst hast.«

»Ja.« Ihr Auftritt im Park ist ihr unendlich peinlich gewesen. Sie hat Simon auch deshalb angerufen, weil sie das Gefühl hatte, etwas wiedergutmachen zu müssen. Eines der Schiffe nähert sich dem Anleger, stößt ein tiefes Tuten aus, Charlotte greift mit beiden Händen nach dem Eisengeländer. »Ja, das hätte ich auch am liebsten.« Die Aufregung sitzt ihr in der Stimme, natürlich ist sie aufgeregt, sie trifft sonst nie einen Mann, schon gar nicht allein.

Ohne es verabredet zu haben, laufen sie los, am Wasser entlang. Sie sprechen über die Möwen, die jedes Jahr zahlreicher werden, über die Müllabfuhr, die nicht funktioniert in der wachsenden Stadt, sie sprechen über die Buddha-Statuen, die die Taliban in Afghanistan gesprengt haben. Simon zündet sich eine Zigarette an. Weil sie selbst nicht raucht, ist sie kurz überrascht.

Sie betrachtet ihn von der Seite, es ist, als könnte sie sich sein Gesicht nicht merken, er sieht immer wieder anders aus. Sie sprechen über Charlottes Eltern, die in ein und derselben Firma angestellt sind, seit jeher angestellt waren, auch wenn der Vater nach 89 aufgestiegen ist und die Firma nicht mehr so heißt wie früher. Sie sprechen über Wuppertal, wo Simon herkommt, seine Eltern betreiben dort einen kleinen Laden, immer noch, obwohl sie bereits siebzig sind. Simon war ein Nachzügler, er erzählt von den älteren Schwestern und seinem Bruder, mit dem er Gleitschirmfliegen war im vergangenen Monat, in Südamerika, in Brasilien, von dort hat er ihre Postkarte abgeschickt. Sie sprechen übers Gleitschirmfliegen, Simon zeigt ihr die Haltung, die man dabei einnimmt, er geht in die Hocke, simuliert mit rudernden Armbewegungen und schnellen, stolpernden Schritten die Landung, er greift nach Charlottes Arm und zieht sie mit. Sein Körper ist wie sein Gesicht, entweder hält er ganz still oder alles ist in Bewegung.

»Lauf, Charlotte! Der Fallschirm. Du darfst dich nicht verheddern. Hörst du, wie er zusammenfällt?«

Er hält sie fest, es ist ein Spiel, und sie lauschen beide, als gäbe es wirklich einen rauschenden Fallschirm. Sie hören die Straßenbahn auf der Hauptstraße, Absätze auf dem Uferweg, die Stimmen der Leute um sie herum.

Langsam verliert Charlottes Aufregung das Übermaß. Ich muss nur mitmachen, denkt sie.

»Das war so ein Traum von meinem Bruder«, sagt Simon. »Brasilien, Gleitschirmfliegen.«

Als sie weitergehen, sprechen sie über Lebensträume, Charlotte erzählt von Heike, bei der Arbeiten etwas anderes sein soll, als es das für die letzten Generationen gewesen ist. Nie hätte sie sich eine Chefin wie Heike vorstellen können, die während der Arbeit abwechselnd Bier und Brennnesseltee trinkt, die Opern hört und über Blumen redet. Sie ahmt Heike nach: »Blumen sind weiblich. Freud, nicht wahr? Die Blütenblätter sind Schalen, die Bienen kriechen hinein … Ja, außer die Schwertlilie, die müsste eigentlich männlich sein.«

Simon lacht, und Charlotte erzählt, dass Chiara, eine der neu eingestellten Kolleginnen, erwähnt hat, wie müde sie mittags manchmal wird, woraufhin ihr Heike ein Bett ins Zimmer stellen ließ. Sie erzählt von Kalle aus Köln, der mit dem Fahrrad ins Büro kommt; er hat einen Flaschenzug angebracht in seinem Zimmer, mit dem er das Fahrrad bis unter die Decke zieht, wo es den Tag über hängt. Wenn Heike Kalle aus Köln sagt, klingt es, als hätte sie ihn wegen des Namens eingestellt, oder als würde ihn allein die Tatsache, dass er aus Köln stammt, schon als Computerexperten ausweisen, hier im Osten des Landes.

»Coole Leute«, sagt Simon.

»Eben nicht.« Sie versucht, es ihm zu erklären. »Ganz normale Leute. Die sich aber die Sachen so einrichten, wie sie sie haben wollen.«

»Und wie willst du die Sachen haben, Charlotte?«

Sie muss lachen. Was sie will, das hat vielleicht mit ihm zu tun, denkt sie. Doch das kann sie natürlich nicht antworten. »Jedenfalls hätte ich nicht geglaubt, dass Erwachsenwerden und Arbeiten so sein kann.« Dann fragt sie ihn: »Was machst du eigentlich?«

Er sagt, dass er Schauspieler ist.

»Wirklich, Schauspieler?« Dabei ist sie gar nicht überrascht, eher scheint manches an die richtige Stelle zu rutschen, sie hört noch einmal den rauschenden Fallschirm.

Als sie durch den Park gehen und an dem Abfalleimer vorbeikommen, in den sie sich übergeben hat, wendet sie sich ab. Nächtelang hat sie wachgelegen und hin und her überlegt, ob sie Simon anrufen soll. Den Ausschlag gegeben hat neben der Postkarte aus Brasilien dieser verrückte Zufall, dass sie ihm direkt am selben Tag wiederbegegnet ist. Dass sie ihm überhaupt wiederbegegnet ist. Sie hat den großen Zufall als Zeichen genommen.

Im Supermarkt hängt er sich Beutel mit Obst und Gemüse über den Arm, sucht einen Kohl aus, den Charlotte nicht kennt, klemmt Tofupäckchen in die Armbeuge und steckt eine Tüte Pinienkerne in die Brusttasche seines Parkas, die er später nicht bezahlt. Sie bemerkt es, und ihr bricht der Schweiß aus, sie hat selbst noch nie in ihrem Leben etwas geklaut, aber sie sagt nichts.

Als sie zu ihm gehen, wird es dunkel. Eine Plattenbaufassade aus Waschbeton, fünf unsanierte Stockwerke hoch, hinter den Fenstern Netzgardinen und stachelige Sukkulenten, aus einer der oberen Wohnungen dringt laute, stampfende Musik. Charlotte versteht zuerst nicht, wie Simon hierher passt, aber drinnen, nachdem er die Wohnungstür aufgeschlossen und auf den Lichtschalter gedrückt hat, sieht sie, dass er seine Räume, so gut es möglich war, geklärt und vereinfacht hat. Der Beton ist ohne Tapete und weiß gestrichen, die übliche dünne Wand mit der Durchreiche zur Küche fehlt. Simon hat die Böden hellgrau lackiert, alle Türen außer der Badtür entfernt. Neben dem Flur und der großen Wohnküche gibt es ein zweites, kleineres Zimmer mit einem zum Sofa aufgefalteten Futon, einer schmalen Kommode und einer Kleiderstange auf Rädern. An der Wand daneben lehnt eine breite Säge mit Holzgriff, ein überdimensionierter Fuchsschwanz.

»Und das ist deine Singende Säge«, fragt sie, »oder wie?«

Sie hat einen Scherz machen wollen, aber er sagt: »Ja, stimmt.«

Sie sieht sich das Instrument genauer an. »Sägst du mir etwas vor?«

»Vielleicht später.«

Es ist, denkt Charlotte, die aufgeräumteste Wohnung, in der sie je gewesen ist. Simon bemerkt, wie sie einen Blick aus dem Fenster wirft, als wollte sie den Himmel absuchen. »Ich stelle mir immer vor«, sagt er, »dass man den Fernsehturm sehen kann von hier. Aber kann man natürlich nicht.«

Sie gehen zurück in die Küche. Dort stehen ein Tisch mit vier Stühlen, Herd, Spüle, ein Kühlschrank mit einem altmodischen Hängeschrank darüber, am Fenster ein niedriges Regal mit Schallplatten, einem Backgammonkoffer und einem dunkelgelben Gummiball, einem Spielzeugball, wie für ein kleines Kind. Charlotte sieht das Kind vor sich, wie es auf dem Boden sitzt und den Ball zwischen seinen ausgestreckten Beinen hin und her rollt.

In der Wohnung weiter oben stampft die Musik, es ist ein hellhöriges Haus, Charlotte schaut an die Zimmerdecke. Wieder folgt Simon ihrem Blick. »Das ist der Nachbar über mir. Herr Klein. Er ist eigentlich nett, nur an manchen Tagen …« Er legt den Tofu und die Pinienkerne auf den Kühlschrank, packt Charlotte an den Hüften und hebt sie mühelos hoch, setzt sie daneben. Überrascht schreit sie auf. Sie beugt sich vor, damit sie nicht gegen den Hängeschrank stößt, und Simon nimmt ihre Hand, führt sie nach oben, drückt ihre Finger gegen den Spalt zwischen einer der gläsernen Türen und dem Rahmen.

»Da«, sagt er andächtig. »Genau dort hatte ich sie hingesteckt, deine Postkarte.«

»Warum hast du sie mitgenommen?«

»Ich habe noch gerufen. Du warst schon zu weit weg.«

»Aber warum hast du sie nicht gleich im September abgeschickt?«

Der Hängeschrank knarrt. Simon tritt einen Schritt zurück und schaut zu Boden, seine Ohren leuchten. »Ich hatte das Gefühl, dass ich dich bedrängt habe, da auf der Treppe.«

Schnell springt sie vom Kühlschrank hinunter.

Tofu und Kohl, in feine Streifen geschnitten. Simon hat Reis aufgesetzt, Ingwer mit dem Messerstiel flach geklopft, warmes Wasser mit Soja- und Austernsoße vermischt, das Gemüse im Wok angebraten, die Soße darübergegossen, Sesamöl hinzugefügt, den Ingwer wieder herausgenommen und das Essen mit Senf abgeschmeckt.

»Oh«, sagt Charlotte, als sie ihm zusieht.

»Was denn?«

»Ich koche eigentlich immer nur Kartoffeln mit Quark.«

Nebenbei ist er barfuß über den lackierten Boden gelaufen und hat den Tisch gedeckt, mit Schalen, Stäbchen, winzigen, quadratischen Tellern, auf denen er ihr Sachen zum Kosten hingeschoben hat, kalten Tofu mit Honig und Sesam, geraspelte Möhre mit körnigem Senf, und angestoßen haben sie, mit Weißwein, fingerbreit eingeschenkt in niedrige Gläser.

»Und die Pinienkerne?«, fragt sie.

»Für den Nachtisch«, antwortet er ernsthaft. Das Gemüse im Wok zischt, als er es mit derselben ernsten Aufmerksamkeit umrührt. Dann erst dreht er sich zu ihr um. Wieder laufen seine Ohren rot an, das rechte steht weiter ab als das linke. »Du bleibst doch bis zum Nachtisch?«

Sie tritt neben ihn an den Herd, konzentriert sich auf das dampfende Essen, auf Simons Hände, die erneut umrühren, breite Hände mit eher kurzen Fingern, runden Fingernägeln. Noch ein kleines Stück näher, sie schließt die Augen. Und endlich passiert etwas mit ihrem Körper. Plötzlich kann sie spüren, wo Simon steht, wie er dasteht, sie spürt, wie wenig Luft zwischen ihnen beiden ist. Als wäre die Luft nichts Trennendes mehr, sondern eine Verbindung, als würde Charlotte von der Luft zu Simon hingezogen.

Während des Essens achtet sie darauf, die Nähe nicht abreißen zu lassen. Sie beugt sich vor, gestikuliert mit den Armen in seine Richtung. Manchmal hält sie zwischen zwei Bissen die Luft an. Sie ist, zu ihrem eigenen Erstaunen, hellwach. Simon schenkt Wein nach, erzählt von den Inszenierungen, in denen er mitgespielt hat, und wie es ist, auf einer Bühne zu stehen. Charlottes Blick geht hinüber zum Hängeschrank, dabei fällt ihr ein, was sie vorhin noch hätte fragen müssen.

»Aber warum dann später?«

»Was?«

»Die Postkarte. Warum hast du sie so viel später doch noch abgeschickt?«

Die Tonschalen sind leer, sie bleiben vor ihnen sitzen, während sie aus dem Gespräch herausfallen, in eine Pause hinein, in der sie nichts tun, als einander anzusehen. Von oben dringt die Musik durchs Haus.

»Weil ich nicht aufhören konnte«, sagt er schließlich, er sagt es leise, »an dich zu denken.«

»An mich?«

»Du hast wirklich keine Ahnung, oder?«

»Wovon denn?«

Er streckt die Hand aus, den Zeigefinger, tippt gegen Charlottes Pullover, oben am Ausschnitt, am Hals.

»Davon, wie du aussiehst. Davon, was du … Als du aufgestanden bist auf der Treppe … Ich wette, du weißt nicht mal, dass du grüne Augen hast!«

Sie müssen beide lachen. Charlotte genießt es, die Situation in der Hand zu haben, endlich fühlt sie sich eins mit ihrer Rolle an diesem Abend. Sie möchte, dass er weiterredet, und merkt, wie das Lächeln in ihren Mundwinkeln vibriert, sie lacht sonst nicht so viel. Und dann, genau gleichzeitig, hören sie damit auf. Simons Hand an ihrem Ausschnitt streicht über die nackte Haut, er fährt mit den Fingern unter den Träger ihres BHs, Charlotte atmet scharf ein, streckt nun ebenfalls die Hand aus, packt Simon am Hemd und zieht ihn zu sich. Sie stehen auf, dicht neben dem Tisch. Charlotte glüht.

Simons Mund nah an ihrem Ohr, er flüstert etwas. »Es gibt da so eine Studie.«

Kurz ist sie verwirrt. »Was denn für eine Studie?«

»Sieben von zehn Menschen halten beim Küssen ihre Nase nach rechts.«