Ocean – Gefangen im Blau - Polly Clark - E-Book

Ocean – Gefangen im Blau E-Book

Polly Clark

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Beschreibung

Ein fesselnder Pageturner mit Schauplatz hoher See Was dich nicht umbringt, macht dich stärker – so heißt es zumindest. Doch Helen scheint an einem schrecklichen Erlebnis fast zu zerbrechen. Da schlägt ihr Mann einen gemeinsamen Segeltörn vor – ein Abenteuer, das sie von dem Erlebten ablenken soll. Doch auf hoher See haben sie dann mit ganz unerwarteten Gefahren zu kämpfen … In ihrer Jugend haben sich Helen und Frank an Bord der Innisfree kennengelernt und ineinander verliebt. Jahre später sticht das Ehepaar mit Sohn Nicholas und Pflegetochter Sindi erneut in See, in der Hoffnung, dass ein Segeltörn über den Atlantik ihre fragile Familie wieder zusammenbringt. Denn Helen ist nicht mehr dieselbe, seit eine Tragödie ihr ein unverstellbares Opfer abverlangt hat und sie beinahe das Leben gekostet hätte – wäre sie nicht von einem Fremden gerettet worden, den sie nicht mehr aus ihren Gedanken kriegt. Helens Obsession und die Geheimnisse innerhalb der Familie machen den Törn zunehmend zu einem Albtraum – bis auch der Ozean sich gegen sie wendet und es plötzlich kein Entkommen mehr zu geben scheint … Ein ebenso mitreißendes wie brillant geschriebenes Drama, in dem eine Frau mit den überwältigenden Kräften der Natur und des Herzens konfrontiert wird. "Eindringlich und poetisch... spricht jede Frau an, die jemals geliebt hat und Angst hatte, zu verlieren." – Jane Campbell, Autorin von Kleine Kratzer

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Seitenzahl: 458

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

In ihrer Jugend haben sich Helen und Frank an Bord der Innisfree kennengelernt und ineinander verliebt. Jahre später sticht das Ehepaar mit seinen Kindern erneut in See, in der Hoffnung, dass ein Segeltörn über den Atlantik die fragile Familie wieder zusammenbringt. Denn Helen ist nicht mehr dieselbe, seit eine Tragödie ihr ein schreckliches Opfer abverlangt hat. Der Fremde, der sie in letzter Sekunde gerettet hat, besetzt seitdem all ihre Gedanken. Helens Obsession und die Geheimnisse innerhalb der Familie machen den Törn immer mehr zu einem Albtraum – bis auch der Ozean sich gegen sie wendet.

Die Autorin

Polly Clark ist eine mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Geboren in Toronto, lebt sie heute auf einem Hausboot in London. Ihr Roman Tiger stand auf der Shortlist für den Scottish National Book Award und erzählt von einer Frau, die mit einem verletzten Raubtier so stark in Verbindung geht, dass es sie retten oder vernichten kann. Ihr neuer Roman Ocean – Gefangen im Blau beschäftigt sich erneut mit der Zerbrechlichkeit der menschlichen Psyche und der Wucht der Natur.

Polly Clark

Ocean

Gefangen im Blau

Roman

Aus dem Englischen von Ursula C. Sturm

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Werk wurde vom Deutschen Übersetzerfonds mit einem Stipendium gefördert.

Die Übersetzung dieses Werkes wurde ermöglicht durch die Unterstützung des Publishing Scotland Translation Funds.

ISBN 978-3-96161-262-8

Die Originalausgabe »Ocean« erschien 2025 bei Eye Books.

© 2025 Polly Clark

© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, Lilienstraße 73, 81669 München

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an [email protected]

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack, Hamburg.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

Über das Buch / Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Prolog

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DANK

EMPFEHLUNGEN

Orientierungsmarken

Cover

Inhalt

Textbeginn

Für Lucy

Phantasie ist keine Anwandlung,

sondern die Quintessenz

der menschlichen Existenz.

William Blake

Werde selbst zum Ozean,

sonst bist du seekrank jeden Tag.

Leonard Cohen

Prolog

Die Schönheit einer Ehefrau ist von so elementarer Bedeutung, dass sie, falls nicht vorhanden, erfunden werden muss. Allein die Tatsache, dass ich Franks Ehefrau war, machte mich schon attraktiver. Ich war seine Trophäe, und mein Körper passte sich ganz automatisch dem Podest an: Mein Haar wurde voller, meine Ausdrucksweise gewählter. Unglaublich, wie sich das anfühlt, wertgeschätzt zu werden, wenn man bis dahin praktisch unsichtbar war. Wer hätte gedacht, dass die gute alte heteronormative Ehe derart transformative Kräfte entfalten kann? Sie vermag jede noch so unscheinbare Frau vom tönernen Rohling zur Porzellanvenus zu wandeln. Und sie vermag jede Frau in ihre Schranken zu verweisen, und sei sie so makellos schön wie ein Segelboot beim Stapellauf. Denn die Ehe ist eine Zurschaustellung von Besitztümern, eine Vitrine, in deren Mitte die Ehefrau prangt. Andere Männer werden die Frau betrachten und begehren, werden Ränke schmieden, bei all ihren Erwägungen jedoch im Hinterkopf behalten, dass sie schon einem Mann gehört. Natürlich musste ich Frank gehören, um seine Trophäe zu sein, aber auch das gefiel mir. Die Schönheit der Ehefrau festigt die Ehe.

Die Schönheit eines Ehemannes dagegen ist eine Katastrophe. Ein Blindgänger, der im Schiffsbauch hin und her rollt. Der attraktive Ehemann macht die Ehe zur Zielscheibe, und zwar so lange, bis entweder die Ehe zerstört ist oder seine Schönheit verblasst. Frauen kennen, wie sowohl Frank als auch ich festgestellt haben, kein Pardon, was den Mann einer anderen anbelangt; sie haben keinen Respekt vor dem Bund der Ehe. Der schöne Ehemann bleibt ungebunden und ungestraft.

Franks katastrophale Schönheit brach ganz allmählich über uns herein, beraubte mich des Mannes, der er gewesen war, so schleichend, dass mir die Veränderung zunächst entging.

Doch eines Tages begleitete er mich, als ich unseren Sohn Nicholas von der Kita abholte, und dort starrte eine der anderen Mütter erst unser Kind an und dann Frank, postierte sich unauffällig neben mir und raunte: »Das ist dein Mann?« Und da wurde mir bewusst, dass etwas Bedeutsames geschehen war. Ich war verwirrt, denn in meiner Vorstellung war Frank noch immer so schüchtern und verträumt wie damals auf der Innisfree. An diesem Abend beobachtete ich ihn aufmerksam, als er sich vor dem Zubettgehen auszog.

Er war definitiv massiger geworden, Kinn und Augenpartie wirkten markanter, aus seinen Bewegungen sprach Selbstvertrauen. Wenn ich ihn mit halb geschlossenen Lidern betrachtete, konnte ich noch den netten, harmlosen jungen Burschen ausmachen, der er einmal gewesen war, aber wer ihn nicht von früher kannte … Jetzt sah ich sie auch, diese geballte Ladung Männlichkeit, die ihn wie eine Patina überzog. Er verströmte nicht mehr wie damals Ergebenheit, Ebenbürtigkeit, Fröhlichkeit – sondern Sex-Appeal.

In diesem Moment, als Frank seine Hose lässig über den Stuhl warf, führte er uns beide in unbekannte Gefilde, denn nun hatte er das Monopol über sämtliche Ressourcen unserer Ehe inne. Er nahm mehr Raum ein, wirkte allein gewichtiger als wir beide zusammengenommen. Der schöne Mann stellt die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Ehe auf den Kopf. Er verändert die wechselseitigen Anziehungskräfte.

Es mag Frauen geben, die erfreut wären, ihren langjährigen Partner in einem neuen, schmeichelhaften Licht zu sehen. Doch Franks Schönheit entfachte kein Verlangen in mir, sie ließ mich jäh verstummen vor Angst.

Lieb’ ist nicht Liebe, die, in der Zeiten Wechsel wechselvoll, unwandelbar nicht stets im Wandel bliebe …

Die Worte wirbelten mir im Kopf umher.

Und wie verhält sich die Liebe angesichts einer Vorahnung?

Der Tag, an dem sich mir Franks Schönheit offenbarte, war ein wesentlich bedeutenderer Meilenstein als das Jubiläum, das wir alljährlich am 29. April mit Glückwunschkarten und einem variierenden Maß an Eifer feierten. Es schien, als hätte der Countdown zu einem verheerenden Ereignis begonnen, vor dem mich ein gepflegter Zynismus rund um die Ehe genauso wenig bewahren konnte wie mein Vertrauen zu Frank oder meine Liebe zu unserem Kind, und seien sie noch so groß.

Manchmal lag ich nachts wach neben meinem schönen Ehemann und fragte mich, ob das verheerende Ereignis womöglich bereits eingetreten war; ob ich es verpasst hatte und nun arglos in seinem Kielwasser dümpelte.

Denn Fakt war: Ich liebte meinen Mann von ganzem Herzen. Meine hoffnungsfrohe Liebe zu Frank war mir geradezu peinlich. Damals, bei unserer Hochzeit an Deck der Innisfree, hatte ich geweint vor Glück, und nicht, weil ich jung und dumm war.

In meinen Augen war unsere Ehe das Wunderbarste gewesen, was wir beide je erschaffen hatten – noch wunderbarer als das Kind, das ihr bald entspringen sollte. Selbst als sie später in und um uns splitterte und barst, konnte ich mir nicht gänzlich vorstellen, ohne sie zu sein.

Und genau deshalb durfte ich das, was ich in unserer Zukunft erspäht hatte, gegenüber Frank mit keinem Wort erwähnen. Das Überleben unserer Beziehung erschien mir unverzichtbar für mein eigenes Überleben; ein Mechanismus, der ebenso essenziell war wie Durst. In meinem Glauben an die Ehe, die wir geschlossen hatten, hielt ich es für denkbar, jeden Weg zu gehen, jedes Feuer zu überstehen; ohne sie blieb nur ein Trümmerfeld, das sich zum öden Horizont erstreckte; ein träges Hinabsinken auf den tiefen Meeresgrund.

EINS

Der Tag, an dem sich alles änderte, war erfüllt von stiller Aufregung. Ich lieferte Nicholas in der Grundschule ab, mit einem Lunchpaket, auf das ich ein bisschen stolz war: ordentliche Sandwich-Dreiecke ohne Rinde, dazu Gurkensticks und – unerlaubterweise – eins der Überraschungseier, die er so liebte. Frank fuhr mich zur Arbeit, wie er es mittlerweile morgens immer tat. Ich wurde im stolzen Alter von dreiundvierzig Jahren unerwartet zum zweiten Mal Mutter, und es kam mir vor, als trüge ich einen Ozean mit mir herum, auf dem der Mensch, der ich einmal gewesen war, wie ein schaukelndes Schiffswrack an der Oberfläche trieb. Am Schultor half mir Frank beim Aussteigen und umarmte mich vorsichtig.

»Ruf mich an, falls du irgendetwas brauchst, dann komm ich stante pede vorbei und bringe es dir«, sagte er.

»Sogar Essiggurken?«, fragte ich, eine Anspielung auf meine Gelüste während der Schwangerschaft mit Nicholas.

»Sogar Essiggurken. Ich füttere dich damit im Lehrerzimmer.«

»Das wird für große Erheiterung sorgen.«

Ehe er zurücksetzte, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln, und ich hatte meinem aktuellen Umfang zum Trotz das Gefühl, dem Tag entgegenzuschweben. Diesmal passte einfach rundum alles.

Zwischen mir und dem Flügel, in dem mein Biologiesaal untergebracht war, ragte der Haustechnikblock auf, ein hoher Betonklotz auf Stelzen im brutalistischen Stil. In den feuchten Nischen darunter versammelten sich die Loser, Sprayer und Skateboarder zum Rauchen, Grapschen und Prügeln. Ich spähte im Vorbeiwatscheln in das Halbdunkel zwischen den Säulen auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Es war noch früh und kalt, deshalb war wenig los – nur ein paar Kids, die vor dem mit Graffiti überzogenen Hintergrund die erste Zigarette des Tages rauchten.

Sindi, Spraydose in der einen Hand, Kippe in der anderen, nickte mir über die Schulter hinweg zu und betrachtete dann nachdenklich einen winzigen Fleck noch unbesprühter Wand. Sie hatte den Rockbund mehrfach umgekrempelt, ihre nackten Beine leuchteten wie Stalagmiten. Dwayne raste auf seinem Skateboard so knapp an mir vorbei, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Sorry, Miss!« Er flitzte zwischen den Säulen hindurch, sprang vom Board und klemmte es sich unter den Arm, ehe er mit seinen Kumpels in einer Ecke verschwand.

Ich winkte und schlurfte weiter.

Horizon Heights war nicht jedermanns Sache, aber ich hatte hier wider Erwarten meine Nische gefunden. Die Kinder an dieser Schule waren Überlebenskünstler, Außenseiter, komische Vögel, und ich fühlte mich zu ihnen hingezogen. Vor langer Zeit hatte ich in Preston, unweit von Fleetwood, wo ich aufgewachsen war, eine akademische Ausbildung zur Biologielehrerin absolviert, weil ich mein nerdiges Interesse an der Natur unbedingt mit anderen hatte teilen wollen. Doch nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich in ihrer Nähe blieb, und ich hatte förmlich sehen können, wie mein Leben zusammenschrumpfte, noch ehe es richtig begonnen hatte. Also hatte ich schleunigst das Weite gesucht und auf Lanzarote einen Segelkurs gemacht, um noch weiter weg zu kommen, und damit war die anvisierte Laufbahn als Lehrerin vergessen. Ich hatte Frank kennengelernt und mich in ihn verliebt, so heftig, dass ich selbst dann noch das Gefühl hatte, frei zu sein, als sich mit der Zeit herauskristallisierte, dass ein Leben mit ihm bedeutete, der See den Rücken zu kehren, ein Kind zu bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Wir waren ja auch nach London gezogen, in eine der größten Städte der Welt.

Als Nicholas kein Baby mehr gewesen war und ich es nicht mehr ausgehalten hatte, den ganzen Tag zu Hause zu hocken, hatte ich mich auf meinen ursprünglichen Plan besonnen, und die Zuständigen an der Horizon Heights hatten dankenswerterweise Gefallen an mir gefunden.

Es war eine Problemschule, genau wie die, die ich selbst besucht hatte. Ich lebte nun zwar in der Hauptstadt, aber ich kannte diese Art von Kids, und sie schienen mich ebenfalls zu kennen. Wir begegneten einander mit einem gewissen Vertrauensvorschuss.

Schwer atmend blieb ich kurz bei den Müllcontainern stehen. Heute musste ich mir meine Kräfte gut einteilen. Ein ganzer Unterrichtstag, gefolgt von einer Intervention, die ich schon seit einer Weile plante. Ich hegte Bedenken, weil ich in letzter Zeit immer schrecklich müde wurde, und eine Intervention durfte man keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Frank riet mir immer wieder, ich solle vorzeitigen Mutterschutz beantragen, und allmählich sah ich die Sache ähnlich. Ich war es leid, mich nur im Schneckentempo fortbewegen zu können. Ich warf einen Blick nach unten. Meine Füße fehlten mir – ich liebe Schuhe und habe hübsche kleine Füße, die in allem toll aussehen und auch barfuß. Im Moment jedoch eilte mir mein Bauch voraus wie der unförmige Bug eines Schiffes, das durch die Wogen des Lebens pflügt. Ich war erst in der dreiundzwanzigsten Woche, aber mein Körper hatte sich angesichts dieser geradezu tollkühn anmutenden Schwangerschaft mächtig ins Zeug gelegt und gab alles. Es war geradezu grotesk, was er aus meinem Basismaterial herausholte, fast als wollte er seiner Verblüffung darüber, dass er sich noch einmal in diesem Zustand befand, Ausdruck verleihen. Ich schlug den Weg zum Haupteingang ein, und die Freude, die ich empfand, als ich mein Territorium betrat, ließ mich jegliche Müdigkeit vergessen.

An der Tür zum Biologieraum prangte in violetten Buchstaben ein neues Graffito:

Der Farbgeruch war überwältigend. Ich hielt mir Mund und Nase zu, konnte aber ein belustigtes Grunzen angesichts der Anrede »Miss« nicht unterdrücken. Ich betrachtete das unregelmäßige Schriftbild und den Tag darunter. Es war eindeutig Sindis Werk. Ich stellte mir vor, wie sie sich morgens mit der Dose im Rucksack zeitig von zu Hause fortgestohlen hatte, ohne Frühstück, vermutlich unter einer Schimpftirade ihres Pflegevaters Clint. Malte mir aus, wie sie nach dem »FUCK U«, wo viele bereits ihren Triumph gefeiert hätten, mit einem breiten schelmischen Grinsen noch eins draufgesetzt hatte.

Das Problem war: Sie war stolz auf ihre Vandalenakte, und die häuften sich neuerdings. Ich nahm an, dass es sich eher um Aufmüpfigkeit handelte als um einen persönlichen Angriff, trotzdem konnte es so nicht weitergehen. Die breite Gesellschaft hatte für derlei Dreistigkeiten, selbst wenn sie von Talent zeugten, nun einmal nichts übrig. Ich straffte die Schultern. Es war an der Zeit, Sindi und dem Rest der Klasse klarzumachen, dass jede weitere Verschandelung des Biologiesaales Konsequenzen nach sich ziehen würde, zumal die Ausdünstungen schädlich für mich waren. Hustend öffnete ich die Tür und trat ein. Es wurde ansatzweise stiller.

Ich würde mich als praktischen, in keinerlei Hinsicht verträumten Menschen bezeichnen. Niemand wird je einen schmalzigen Hollywoodfilm über meine ach-so-inspirierende Art zu unterrichten drehen, und sollte man mir einmal kündigen, werden keine Schüler auf ihre Pulte klettern, um gesammelt dagegen zu protestieren. Aber ich hatte meine Nische gefunden. Ich tat, was ich konnte. Tag für Tag vermittelte ich naturwissenschaftliche Fakten – entsprechend vereinfacht für schwächere Klassen und jüngere Kinder, aber nichtsdestotrotz Fakten. Und dann und wann, wenn ich sah, dass einer meiner Schützlinge allzu tief fiel, in die Aussichtslosigkeit, dann vermittelte ich Fähigkeiten, die für eine Metamorphose vonnöten waren. Heute war einer dieser Tage.

Ich tat, als würden wir nicht alle nach Luft ringen wegen des erstickenden Farbgestanks, und hielt vor meinem Pult kurz inne, um mich zu sammeln. Chalmers, der pummeligste, sanfteste meiner Einzelgänger, postierte sich vor mir und deponierte mit feierlicher Miene etwas auf der Tischplatte: ein liegendes Rehkitz aus Keramik, so groß wie mein Handteller. Keine Schatulle, nur ein Blatt Toilettenpapier, ordentlich gefaltet, als Unterlage.

»Herzlichen Glückwunsch, Miss.« Er wies mit dem Kopf auf meinen enormen Bauch und lächelte scheu, wie es manche Jungs noch tun, wenn sie sich in der Gegenwart von Frauen befinden, die ihre Mutter sein könnten. Mir war nicht klar, warum man mir gerade jetzt gratulierte, schließlich wussten alle schon seit geraumer Zeit von meiner Schwangerschaft. Die Geste traf mich unvorbereitet. Ich stand stocksteif da und spürte, wie ich feuerrot anlief, als wäre ich ein Teenager.

Chalmers hatte einen prachtvoll gelockten, fettig-schwarzen Haarschopf und wurde gnadenlos gehänselt, weil er sich im Alter zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren mehrfach vor versammelter Mannschaft eingenässt hatte, auf einem der Hocker an den Arbeitstischen sitzend, enttarnt von aufdringlichem Schweigen und einem warmen Gestank. Er überstand es teils dank seiner schieren bleichen Masse. Der Junge schien aus einer unzerstörbaren, gutmütigen Substanz zu bestehen, wie ein Rind. Und er behauptete, die Intervention hätte ihn gerettet. Es war das erste Mal gewesen, dass ich eine derartige Aktion gestartet hatte – ein Versuch, unternommen in dem Bewusstsein, dass man ihn sonst mobben würde, bis er unwiderruflich am Ende war.

Ich griff nach dem Rehkitz und betrachtete es. Kein teures Stück, aber diese Kids hatten kein Geld. Die fehlende Schatulle, das eigenartige Timing – alles deutete darauf hin, dass sie es geklaut hatten. Doch das war mir egal. Ich wandte mich zur Tafel um und schrieb:

Dann musste ich auf die Lehrertoilette flüchten, um mich zu fassen. In der spiegelnden Oberfläche der Tür erhaschte ich einen Blick auf Chalmers, der mir mit hochgerecktem Daumen nachsah. Ich war so stolz auf ihn – ebenso stolz wie er selbst, weil er überlebt und ganz selbstverständlich eine gemeinsame Klassenaktivität – den Diebstahl der Keramikfigur – organisiert hatte.

Den ganzen Tag über schob ich dann und wann die Hand in die Jackentasche und schloss die Finger um das Rehkitz, befühlte die raue Unterseite, die Öffnung für den Brennvorgang. Es war mein Glücksbringer, ein Geschenk von Kindern, die mich liebten, und ich sollte es noch sehr bedauern, dass ich es nicht behalten konnte.

ZWEI

Zur Rushhour konnte ich kaum noch die Augen offen halten. Frank hatte geschrieben, er habe ein Klientengespräch und könne mich nicht nach Hause fahren, also hatte ich mich zur Haltestelle geschleppt. Ich lehnte mich erschöpft an den Netzplan, der an der Wand der U-Bahn-Station hing, und wünschte mir sehnlichst die Bahn herbei. Ich wollte nur noch in einem tröstlichen Tagtraum versinken, auf meinem Hormon-High dahindriften wie eine Vergnügungsyacht, die mit ein paar Urlaubern an Bord über das Meer glitt, wollte das Baby spüren, das sich in mir bewegte, wie ein Tümmler in den Fluten schwebend. Nicholas war bei seinem Freund Louis; Frank hatte seine Nachricht mit dem Versprechen beendet, er werde abends etwas Leckeres für mich kochen, als Entschädigung dafür, dass er mich nicht abholen könne. Eigentlich war alles bestens. Doch als ich nun den Tag mit halb geschlossenen Augen noch einmal Revue passieren ließ, stieg in mir die Sorge auf, ich könnte zu weit gegangen sein.

Die Bahn fuhr ein, und ich sank dankbar auf einem freien Sitzplatz in mich zusammen.

Wie schön es wäre, nie aus diesem Waggon aussteigen zu müssen, sondern in diesem benommenen Zustand einfach bis in alle Ewigkeit mit der Northern Line hin und her zu pendeln, dachte ich. Dann könnte ich der zeitlose kugelige Körper bleiben, der ich gerade war, ein Hort der Möglichkeiten. Ich war erfüllt von Liebe zu diesem Kind; einer Liebe, die unmittelbarer und unkomplizierter war als die Liebe zu meinem Erstgeborenen, dessen Empfängnis und erste Jahre in eine ganz andere Lebensphase gefallen waren. Ich konnte mir das eingestehen, weil sich meine tiefe Liebe zu diesem zweiten Baby erst allmählich eingestellt hatte. Zunächst hatte ich schlicht Dankbarkeit empfunden, weil es sich für mich zusehends so angefühlt hatte, als würde unserem Leben etwas fehlen, als würden Frank und ich dringend einen Neubeginn benötigen. So hatte es angefangen, aber Liebe kann auf vielerlei Art und Weise entstehen, nicht wahr? Und sie kann sich entwickeln; sie mag ursprünglich zweifelhaft, ja falsch erscheinen und kann dennoch zu etwas werden, das ein ganzes Leben bestimmt.

Mit jeder riskanten Etappe der Schwangerschaft, die wir überstanden, mit jedem Ultraschallbild, auf dem mir ein vollkommener Fötus freundlich entgegenblickte, wuchs meine Liebe zu diesem Baby. Sie wuchs, wann immer wir Bekannte einweihten oder uns unsere Familie mit diesem neuen Mitglied vorstellten. Und sie wuchs, wann immer wir mit Nicholas über das Baby sprachen. Seine Augen hatten aufgeleuchtet, als ihm bewusst geworden war, dass er endlich kein Einzelkind mehr sein würde.

Ich liebe mein Baby. Ich lehnte mich zurück und lächelte in mich hinein, während ich mir den Tag ausmalte, an dem dieses neue Wesen auf die Welt kommen und sicher in meinen Armen liegen würde.

Meine beschwingte Stimmung wich einem mulmigen Gefühl bei dem Gedanken an Sindis Intervention. Ich mochte zwar eine ausgebildete Naturwissenschaftlerin sein, aber der Grausamkeit des Lebens kann man meiner Überzeugung nach bisweilen nur eine radikale Metapher entgegensetzen. Sie wirken wie ein Schutzschild, diese Metaphern, und sie sind erfahrungsgemäß ebenso effektiv wie alles, mit dem die Wissenschaft oder die Gesellschaft aufwarten kann. Doch nicht jeder Mensch erträgt es, an sein gebrochenes Herz erinnert zu werden. Während ich die heutige Intervention im Geiste noch einmal durchging, überlegte ich, was ich hätte besser machen können.

Die Interventionen fanden stets spätnachmittags unter dem Haustechnikblock statt, in einer nicht einsehbaren Ecke, die ich dafür mit Kerzen und Lichterketten dekorierte. Dwayne hatte Brennholz und ein Ölfass organisiert, denn es war Dezember. Der Kälte zum Trotz war der Andrang wie immer groß gewesen; dieses Schauspiel ließ sich niemand entgehen. Ich sah Chalmers in seiner Funktion als Zeremonienmeister vor mir, in leicht gebückter Haltung und mit der Andeutung eines Lächelns im Gesicht, in der Hand den fotokopierten Zettel mit dem zeitlichen Ablauf. Ich hatte das Ritual über mehrere Jahre hinweg entwickelt, und mittlerweile war das Prozedere recht aufwendig, wobei keine Intervention länger dauerte als die übliche Stunde Nachsitzen. Ich bestärkte meine Schützlinge bewusst in dem Gefühl, dass es sich um ein besonderes Ereignis handelte, und auch meine Aufregung nahm zu, wenn der Tag näher rückte.

Im Zentrum stand stets ein offener Sarg auf Ziegelsteinen. Er war in liebevoller Kleinarbeit aus Spanplatten von Dwayne und Carol angefertigt worden, die eine Leidenschaft für Holzarbeiten hatten. Sie hatten ihn sogar mit Scharnieren versehen, sodass man ihn zusammenklappen und platzsparend verstauen konnte. Petra, die bei der Abschlussprüfung in Kunst auf eine Eins zusteuerte, in den naturwissenschaftlichen Fächern dagegen wohl nur mit Ach und Krach bestehen würde, hatte die Platten schwarz gestrichen und mit hübschen silbernen Schnörkeln verziert. Einige der Anwesenden und auch ich hatten von zu Hause Laken in verschiedenen Farben mitgebracht, mit denen wir die Kiste innen ausgekleidet hatten; das Material für die Wattierung darunter hatte jemand aus dem Handarbeitsraum stibitzt. Der Sarg war ein kleines Meisterwerk. Ich legte noch ein paar Blumen hinein.

Schließlich hopste Sindi unter den Blicken der etwa zwanzig Umstehenden bereitwillig in den Sarg und erinnerte mich dabei an meinen kleinen Sohn, der, wenn er früher zu mir ins Bett gehüpft war, sichtlich nie auch nur einen Funken Scham verspürt hatte ob seiner Bedürftigkeit. Sie streckte die mit einer Wollstrumpfhose bewehrten Beine aus und zog den Rocksaum sittsam auf die korrekte Länge, dann schloss sie die Augen und verschränkte die Hände auf der Brust. Von ihren Lippen stieg eine kleine Atemwolke auf.

Der mit Lüftungsschlitzen versehene Deckel warf einen obeliskenförmigen Schatten auf ihre blasse Gestalt, als ich ihn auf den Sarg herabsenkte. Ehe er sich schloss, huschte ein kaum wahrnehmbarer Ausdruck von Beklommenheit über Sindis Gesicht.

Ich beugte mich über die Lüftungsschlitze. »Alles okay da drin, Sindi?«

Ein leises »Ja, Miss«.

Der Gedanke an ihre Intervention hatte mich wochenlang beschäftigt. Ich hatte keine andere, weniger radikale Möglichkeit mehr gesehen, um Sindi zu retten. Sie war fünfzehn und Vollwaise, streifte in meinem Bewusstsein umher, als versuchte sie, für die Rolle meiner Tochter vorzusprechen. Ihr Charisma gründete auf Strahlkraft statt auf Schönheit, wie das bei bestimmten Männern der Fall ist. Sie war kein bisschen eitel, trug weder Schmuck noch Make-up, doch dass sie ihre markanten Züge nicht hinter einer Maske verbarg, verstärkte den von ihr ausgehenden Reiz nur noch zusätzlich.

Jeden Morgen knotete sie, wenn sie aus dem Bus stieg, die Blusenzipfel über dem Bauch zusammen und verkürzte dann ihren Rock durch mehrfaches Umschlagen des Bundes auf Mikrolänge, um so viel nackte Haut wie nur irgend möglich zu zeigen. Kaum war das erledigt, tat sie allerdings nichts weiter, als ihre Tags an die Betonpfeiler unter dem Haustechnikgebäude zu sprühen oder im Schneidersitz in einer Ecke des Sportplatzes ihre Embassy Regals zu rauchen. Die langen heublonden Haare trug sie offen; dass die Strähnen verfilzten, war eher ihrer Gleichgültigkeit geschuldet als ein bewusster Versuch, Dreadlocks zu kultivieren.

Und niemand – weder die Jungs noch die männlichen Lehrkräfte und schon gar nicht die Welt da draußen – ließ Sindi in Frieden, wenn sie dort alleine saß, halbnackt, und rauchte. Es hatte bereits angefangen: Jungs schlenderten über den Rasen, um in ihrer Nähe abzuhängen, Lehrer blickten auf, wenn sie in ihrem spektakulären Aufzug die Einfahrt entlangging. Sie war eine Inspiration; die jüngeren Schülerinnen versuchten, sie zu nachzuahmen. Regelmäßig riss jemand ein Fenster auf und brüllte: »Dein Rock, Sindi!« Dann zerrte sie geistesabwesend den Saum nach unten, und sobald sie außer Sichtweite war, wurde erneut der Bund umgekrempelt. Ich hatte ihr eine Wollstrumpfhose mitgebracht, weil es den Anschein hatte, als würde sie frieren, und wertete es als ein Zeichen des Vertrauens zwischen uns, dass sie sie auch tatsächlich anzog, wenn im Biologiesaal eisige Temperaturen herrschten. Doch ehe sie nach draußen ging, zum Haustechnikgebäude oder zum Sportplatz, zog sie sie stets wieder aus. Es widerstrebte ihr schlicht, sich zu bedecken, ohne einen ersichtlichen Grund. Sie sah keinerlei Provokation in ihrem Auftreten und signalisierte keinerlei Interesse an ihrer Zukunft.

In den ersten Wochen der Schwangerschaft waren mir unter dem halluzinogenen Einfluss der Hormone oft Tränen in die Augen gestiegen, wenn ich sie beobachtet hatte. Irgendwann hatte ich es nicht mehr ausgehalten und mich zum Sportplatz hinübergeschleppt, um mich zu ihr zu setzen, die Arme um sie zu legen und meine aufgedunsene Wange an ihre kühle Schulter zu lehnen. Sie hatte mir das Gesicht zugewandt, und der Anblick ihrer markanten Züge – der zu großen Nase, der zu eng stehenden Augen, der Lücke zwischen den Schneidezähnen – hatte in mir den Drang geweckt, ihr alles zu geben, sie zu retten. Vor den Dingen, die ich nicht verstand, genauso wie vor denen, die ich nur zu gut verstand.

»Geht’s auch, ohne dass Sie mir das Kinn in die Schulter bohren, Miss?«, hatte sie gutmütig gesagt und mir dabei ihren Embassy-Regal-Rauch ins Gesicht geatmet. So saßen wir dann den Rest der einstündigen Mittagspause da und schwiegen die meiste Zeit. Dann und wann sprach sie kurz und lebhaft ein Thema an, das sie interessierte: Geld zum Beispiel, seine Funktion, seine Bedeutung und wie es sein konnte, dass ein Fetzen Papier oder ein paar Ziffern auf einem Bildschirm etwas wert waren. Sie bat mich, ihr die Börse zu erklären; ich musste passen, versprach aber, es gemeinsam mit ihr zu recherchieren. Mir schliefen die Beine ein, mein Rücken schmerzte, und ich inhalierte den Qualm von mindestens drei Zigaretten, die sie rauchte, und trotzdem war es ein gutes Gefühl, diese Stunde mit ihr zu verbringen, denn ich hatte die Jungs davon abgehalten, sie wie Hyänen zu umkreisen. Aber damit war es natürlich nicht getan. Für eine nachhaltige Veränderung bedurfte es einer Metamorphose.

Wieder sah ich Chalmers vor mir, seinen schwarzen Wuschelkopf und das scheue Lächeln, sah, wie er die Hand hob, um die Zeremonie zu beginnen. Der Sargdeckel wurde wieder abgenommen. Sindi trug eine Beerdigungskrawatte aus schwarzem Samt – das Erkennungszeichen für den Leichnam – und hielt die Augen geschlossen. Gab der »Leichnam« ein Lebenszeichen von sich, wurde die Zeremonie abgebrochen. Es war eine ernste Angelegenheit.

Sämtliche Schülerinnen und Schüler trugen ihre komplette Schuluniform, zumindest soweit ihre bescheidenen finanziellen Möglichkeiten es erlaubten. Die Uniformfarben an der Horizon Heights waren Schwarz und Gold, aber die Zuständigen drückten gnädig ein Auge zu, wenn ein Kind stattdessen Gelb trug und damit sogleich zu erkennen gab, dass seine Eltern zu arm waren, um bei Farrah und Sons an der High Street direkt neben der Schule einzukaufen, wo es die richtigen Farben gab. In meinen schwächeren Klassen war Gelb ziemlich häufig vertreten. Ich hielt stets die Augen offen, wenn es irgendwo gebrauchte Schuluniformen zu kaufen gab, und steckte bisweilen einem Kind ein goldenes Teil zu. Ich glaubte an Uniformen; sie waren vermutlich das Einzige, was so manches Mädchen daran hinderte, in einem Glitzer-Boob-Tube in der Schule aufzukreuzen. Aber Gold … Dennoch hatte ich beschlossen, mich deswegen nicht mit der Schulleitung anzulegen. Ich tat, was ich konnte. Ich hatte meine Nische gefunden. Und im Gegenzug ignorierte die Schulleitung meine bühnenreifen Interventionen.

»Wir sind heute hier zusammengekommen, um feierlich von Sindi Jackson Abschied zu nehmen, die nach einem kurzen Leben wegen Mordes erhängt wurde«, sagte Chalmers. Seine Stimme hallte von den im Schatten liegenden Säulen wider. Der »Leichnam« durfte selbst aussuchen, auf welche Weise er oder sie vorzeitig zu Tode gekommen war; die Ursache musste allerdings glaubwürdig wirken, das war die einzige Bedingung.

»Gehängt«, korrigierte ich ihn. »Sindi verdient eine idiomatische Ausdrucksweise.«

Das Szenario war genial. Ich sah es förmlich vor mir: Sindi, die, nachdem der x-te Wichser sie missbraucht hatte, einen Rappel kriegte und ihn, sobald er eingeschlafen war, mit seinem eigenen Gabelschlüssel erschlug oder ihm einen Schraubenzieher ins Herz stieß. Ich konnte sie mir aber auch gut als Unverstandene zur Zeit der Hexenverfolgungen vorstellen, damals, als Mädchen nicht ungestraft sexy sein durften.

Inzwischen hatte sich Schweigen über die Gruppe gesenkt.

»Obwohl Sindi dabei das Genick gebrochen wurde, mit so viel Wucht, dass der Kopf abriss«, fuhr Chalmers fort, »blieb ihr Gesicht wie durch ein Wunder unversehrt.«

Es herrschte Stille, während wir diese eindringliche Schilderung zu verdauen versuchten.

Sindi verzog keine Miene, gerade so, als säße sie rauchend auf dem Sportplatz.

Chalmers fuhr fort: »Und nun übergebe ich das Wort ihrer Mitschülerin Petra, damit sie ihre Erinnerungen an Sindi mit uns teilen kann.«

»Wisst ihr noch, wie Sindi an meinem Geburtstag das Mikro aus dem Musikraum gemopst hat?«, fragte Petra. Die Umstehenden nickten und glucksten. »Wir haben hier unten Party gemacht und gesungen, und Sindi hat sich ’ne rote Perücke aufgesetzt und ›Dancing Queen‹ geschmettert …«

Sindi lag da, als wäre sie aus Alabaster. Es war sehr beeindruckend.

»Sie hat gesagt, du sollst den Song auf deinem Handy abspielen, weißt du noch, Dwayne? Kurz davor hatte ich ihr erzählt, dass ich voll … down bin, seit mein Dad weg ist, und dass ich … mich ritze und so, aber … ich weiß auch nicht, da musste ich dann echt lachen.« Petra brach ab und biss sich auf die Unterlippe. Dann schob sie hinterher: »Und sie hatte ’ne tolle Stimme.«

»Danke, Petra«, sagte Chalmers. »Wer will als Nächstes?«

Und so ging es weiter. Die Anwesenden traten einzeln vor, um über eine von Sindis positiven Eigenschaften zu sprechen: ihre Gutmütigkeit, ihre sexy Stimme, die sie dem Rauchen verdankte (ein Grenzfall – ich hatte ihnen aufgetragen, sich auf Sindis Leistungen zu konzentrieren, auf ihr Potenzial, ihren Charakter; ihr zu spiegeln, dass sie sexy war, hielt ich für kontraproduktiv).

Ein Junge murmelte zur allgemeinen Überraschung: »Sindi konnte einem genau sagen, wie viele Kippen man für sein Geld kriegen würde. Hat sie immer blitzschnell ausgerechnet, ganz gleich ob einzeln oder ’ne große oder kleine Packung.« Beifälliges Nicken.

»Was hätte sie wohl aus ihrem Leben gemacht, wenn sie noch länger gelebt hätte?«, fragte ich die Gruppe.

Ich kündigte jede Intervention wohlweislich im Vorfeld an. Jeder hier hatte zwei Tage Zeit gehabt, um sich die Antworten zu überlegen. Anderenfalls hätten wir jetzt nur um den Sarg gestanden und Sindi wie hypnotisiert angestarrt, unfähig, uns ein alternatives Leben für sie zu vorzustellen.

»Sindi hätte bestimmt ’ne super Krankenschwester abgegeben, weil sie so fürsorglich war«, sagte Carol.

Wir blickten voller Inbrunst in den Sarg.

»Ich glaube, sie wäre eine hervorragende Künstlerin geworden«, sagte ich. »Ihre Graffiti waren genial. Möchte noch einer von den Jungs etwas sagen?«

Dwayne hob die Hand. »Ich glaub, sie hätte werden können, was immer sie wollte.« Wie es aussah, hatte er sich das nicht vorher zurechtgelegt, sondern aus dem Stegreif gesprochen. Es entstand eine Pause, in der wir uns seine Worte durch den Kopf gehen ließen. Es war ein Segensspruch, wie ihn viele vom Glück verwöhnte Kinder quasi von Geburt an hörten. Ich hatte genau das oft zu meinem kleinen Sohn gesagt.

Über Sindi ausgesprochen, wurde aus dem Wunsch eine Verwünschung. Ihre bis dahin stoische Miene fiel jäh in sich zusammen, aus dem Augenwinkel stahl sich eine Träne, die rasch in ihrem Haar versickerte. Sie schlug die Hände mit den abgenagten Fingernägeln vors Gesicht und begann zu schluchzen. Ich war entsetzt – ich hatte sie noch nie weinen sehen.

Die anderen Kinder schielten ratsuchend zu mir.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Dwayne.

»Nein, Dwayne, das war toll.«

»Macht den Deckel wieder drauf!«, greinte Sindi.

»Aber …«

»Nun macht schon!«

Widerstrebend legte ich die Deckplatte auf den Sarg und lenkte die Aufmerksamkeit der verunsichert herumstehenden Jugendlichen auf die Torte, die es nach jeder Intervention gab und die von allen Beteiligten mit dem heiligen Ernst von Fünfjährigen vertilgt wurde.

»Sie wird sich gleich beruhigen. Esst!«, sagte ich betont fröhlich.

Sindis gedämpftes Schniefen war in jeder Gesprächspause zu hören, bis Chalmers Musik anstellte, die es übertönte. Ab da entspannte sich die Lage allmählich. Ich postierte mich wacker lächelnd neben der im Halbdunkel stehenden Kiste, eine Hand auf dem Deckel. Ich hatte Angst, ihn abzunehmen. War es zu viel des Guten gewesen? Sacht klopfte ich an die Spanplatte. »Sindi? Willst du nicht rauskommen und ein Stück Torte essen?«, fragte ich durch die Lüftungsschlitze.

Zu meiner großen Erleichterung hob sie zögernd den Deckel an und stieg aus dem Sarg, blass, die Augen gerötet, eine zerknautschte Blüte im Haar. Sie ließ sich von mir umarmen und von Dwayne eine Zigarette geben. »Das war ganz schön heftig, Miss«, stellte sie fest.

Ich pflückte die Blüte aus ihrem Haar. »Aber hast du die ganzen tollen Dinge gehört, die sie über dich gesagt haben?«

Sie sah mich an. »Ich wünschte, Sie wären meine Mum.«

Und damit ging sie gemächlich zu den anderen.

DREI

Als wir in die Haltestelle London Bridge einfuhren, riss mich das Quietschen der Bremsen aus meinen Gedanken über Sindi. Ich bewegte mich in Richtung der sich öffnenden Türen, um in die Jubilee Line umzusteigen, doch mein Ansinnen wurde vereitelt von einem regelrechten Menschenstrom, der in den Wagen drängte. Wie unhöflich, dachte ich und wünschte mir zum ersten Mal einen dieser »Baby an Bord«-Aufkleber, damit man etwas Rücksicht auf mich nahm. Warum erinnerte niemand diese Rüpel daran, dass man die Passagiere erst aussteigen lässt?

Erst da registrierte ich, dass sie schrien und dass es auch kein Menschenstrom war, sondern vielmehr eine wuchtige Woge aus Körpern mit rauchenden Haaren. Der Waggon war längst brechend voll, trotzdem schoben sich immer noch mehr Leute herein. Rauch hing in der Luft, und jemand stieß mich so heftig, dass mein Kopf an die Haltestange in der Mitte prallte. Ich legte reflexartig die Hände um meinen Bauch. Bloß das Baby beschützen. Und dann fiel ich hin, obwohl es in dem Gedränge schier unmöglich schien, obwohl ich rundum eingekeilt war. Es wurde dunkel um mich, genau wie in den letzten Minuten der Geburt, wenn sich die Mutter damit abfindet, dass sie sterben wird.

Einen Augenblick fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. In die Zeiten, als mir mein Vater, der Schleppnetzfischer gewesen war, erlaubt hatte, ihn auf seinem Boot zu begleiten, mit der Crew, die er viel besser kannte als seine Familie. Ich hatte es geliebt, unter diesen Menschen zu sein, deren Ölzeug vor Fischschuppen glänzte, wenn sie ihre Meeresschätze an Deck hievten. Ganze Schwärme hatten in den Netzen gezappelt, waren auf die Planken geklatscht, ein Haufen länglicher Silbernuggets. Nun war ich es, die unsanft und ungeplant auf dem Boden gelandet war, eingequetscht unter einem Körper, einer Frau. Die Gürtelschnalle ihres Mantels, die meine Wange versengte – wie das? Und ein Stilettostöckel, gleich einer Nadel unter dem Mikroskop, die eine Zelle eindellt. Die Zelle war mein Bauch, der Stöckel bohrte sich hinein.

Ein Flattern in meinem Unterleib wie beim allerersten Mal, als sich das Baby bewegt hatte; diesmal jedoch fühlte es sich an wie ein Kampf. Ich hustete und versuchte vergeblich, mich aufzurappeln, mich gegen die auf mir liegende Frau zu stemmen, ein Gefühl, als befände ich mich in einem Schützengraben in Flandern, begraben unter einem toten Kameraden. Ich wusste, dass sie tot war; ihre Schwere war die einer Toten. Sie bestand nur noch aus durcheinandergeratenen, gebrochenen Gliedmaßen. Ihr Brustkorb presste den letzten Sauerstoff aus meiner Lunge, ihr Stöckel spießte sich in meinen Unterbauch, ihre metallene Gürtelschnalle brandmarkte mir die Wange. Vielleicht waren es auch mehrere Menschen, ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, jedenfalls packte mich die Wut, weil sich in mir mein Baby wand, um mir etwas mitzuteilen, und ich, bewegungsunfähig wie ein Frosch auf dem Seziertisch, nichts unternahm.

Hinterher hörte ich von anderen Überlebenden, sie seien überzeugt gewesen, dass sie sterben würden, und hätten in diesem Augenblick nur noch eine Sorge gehabt: Was, wenn ich so schwere Verbrennungen davontrage, dass mich meine Angehörigen nicht erkennen? Dank meines Kindes, das in meiner zusammengequetschten Gebärmutterhöhle eben ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, war ich von derartiger Schicksalsergebenheit weit entfernt.

Der Fötus reagierte auf den Rauch, er zuckte wie ein Herz in Panik, wie ein Fisch, der über die Bordkante an Deck geschleift wird. Das Einzige, was sich an der Innenseite meiner geschlossenen Lider abzeichnete, waren die Augen meines ungeborenen Kindes, ebenfalls geschlossen, versiegelt bis zu dem Ta-daa!-Moment der Geburt, in dem ihm die Welt enthüllt wurde. Wir beide, blind und nach Luft schnappend, unter uns der schmutzige Boden des Waggons, auf uns eine Leiche als Sargdeckel.

Ich schrie, aber aus meinem Mund kam kein Laut. Der Stöckel bohrte sich in meinen Unterbauch, die Luft wurde zu Asche.

Dann packte mich etwas am Arm. Ein Ruck. Und noch einer. Zentimeter für Zentimeter wurde ich durch Rauch und Leiber zur offenen Tür gezerrt. Ich trat blindlings um mich, gab alles für die Rückkehr in mein Element. Finger krallten sich in meinen Körper wie die der Sünder in der Hölle.

Mind the gap! Ich stieß ein sardonisches Grunzen hervor, denn im Spalt neben der U-Bahn wehte ein schwacher Luftzug – nur ein Hauch, ein winziges Rinnsal, kratzig vom Gestank nach Diesel und verpufftem Graphitstaub. Aber es war Luft und kein Rauch, und ich sog sie ein mit der Gier eines hungrigen Säuglings. Noch ein Ruck, und ich landete auf dem Bahnsteig. Nein, nein, nein, wimmerte ich, denn sogleich traf Qualm auf mein Gesicht wie eine brennende Kanonenkugel. Irgendwie kam ich auf die Knie. Aus der Hand wurde ein Arm um meine Taille, eine Männerstimme in meinem Ohr. Halten Sie sich an mir fest.

Ich umklammerte den Arm. Er war heiß und aufgerissen; ich wusste nicht, ob ich Stoff oder versengte Haut berührte. Die Luft war wie in einem Brennofen. Ich wagte es nicht, die Augen zu öffnen, aus Angst, meine Augäpfel könnten verschmoren. Oder war das bereits geschehen? Waren das die Nachwehen? War ich blind? Alles schmerzte, vor allem mein Bauch, wo sich mein Baby nun nicht mehr bewegte. Es musste – es musste – daran liegen, dass ich die Bürde auf mich genommen hatte. Ich würde uns retten, gestärkt von dem lebenspendenden Atemzug frischer Luft. Mein Baby konnte sich ausruhen, während ich uns von hier fortbrachte, in Sicherheit.

Am Ende des Bahnsteigs hob mich der Arm auf die Gleise hinunter. Scharfkantiger Schotter bohrte sich in meine nackten Fußsohlen, während ich mich an der warmen, rußigen Tunnelwand entlangtastete. Wir gingen eine ganze Weile, ließen die Wand aus Rauch und Hitze hinter uns. Das schrille Stimmengewirr, das Kreischen und Klagen wurde leiser, je weiter wir uns stolpernd vom Ort des Geschehens entfernten.

»Hier, steigen Sie auf meine Hände.« Ich wurde hochgehoben zu einer Nische in der Wand. Sie war feucht und unbeleuchtet. Dunkel wie ein Grab. Ich kroch hinein.

Das Klicken eines Feuerzeugs. Im Schein der Flamme blickte ich in ein blinzelndes Gesicht: ein Mann, die Wangen rußig, die Brille zerbrochen.

»Ich bin schwanger!«, stieß ich hervor. »Helfen Sie mir!«

Bitte gib, dass sich das Baby noch einmal bewegt. Ich legte die Arme schützend um meinen Bauch.

»Hier sind Sie in Sicherheit«, sagte er. »Wie heißen Sie?«

»Helen«, flüsterte ich.

»Ich bin James. Ich war auf dem Bahnsteig und habe gesehen, wie Sie im Waggon zu Boden gegangen sind. Es gab eine Explosion.« Er brach ab, hustete.

»Ich verstehe nicht …«

»Auf dem Bahnsteig gegenüber ist eine Bombe explodiert, genau in dem Moment, in dem Ihre U-Bahn eingefahren ist. Deshalb wollten alle in die Bahn. Sie ist dann aber gar nicht losgefahren. Stromausfall, schätze ich. Autsch!« Erneut hüllte uns die Finsternis ein. Er hatte das Feuerzeug fallen lassen, weil es seine Daumenkuppe angesengt hatte. Er tastete danach. Wieder ein Klicken, Licht. »Ein Glück, dass ich seit einer Woche wieder rauche, statt zu vapen. Die Zigaretten habe ich allerdings verloren.«

»Wo bin ich?« Ich war inzwischen überzeugt, dass ich hier sterben würde, in dieser Katakombe tief unter der Erde. Mein letzter Kontakt zu anderen Menschen würde dieser Mann sein, dessen Gesicht ich nur mit Mühe ausmachen konnte. Ich würde Nicholas und Frank nie wiedersehen, würde nie mein Baby im Arm halten. Das Flackern an den Wänden zeichnete jede von James’ Bewegungen nach.

Er hielt das Feuerzeug etwas höher, um den Hohlraum zu inspizieren, in dem wir uns befanden. Es handelte sich um eine tiefe Einbuchtung in der Tunnelwand, gerade so hoch und so breit, dass wir uns hineinkauern konnten. An der Hinterseite öffnete sich die steinerne Kammer nach oben hin zu einer Art Kaminröhre, etwas mehr als schulterbreit. Aus ihr drang ein sachter, kühler Luftzug herein, und ich meinte, blecherne Stimmen und Martinshörner in der Ferne zu vernehmen.

»Wir sind in einem Entlüftungsschacht«, erklärte James. »Wir haben Glück, dass es an dieser Haltestelle einen gibt. Früher kannte ich mich damit ganz gut aus. Hätte nie gedacht, dass das mal so hilfreich sein würde. Wussten Sie, dass man solche Schächte überall in London findet? An der Oberfläche stehen über dem Ausgang oft kleine Bauwerke.«

Er lächelte mich im Halbdunkel an.

»Wovon reden Sie?«, keuchte ich. Konnte es sein, dass ich selbst gerade eine Art Intervention erlebte? Ich blinzelte, für den Fall, dass dieser James nur ein Hirngespinst war, doch er löste sich nicht in Luft auf, sondern betrachtete neugierig die Wände.

»Entschuldigen Sie, ich bin ganz perplex. So ein Zufall. Ich hab mich wie gesagt mal ausführlicher mit dem Thema beschäftigt; ein reichlich nerdiges Rabbit Hole, in das ich da gefallen war. Sind Sie verletzt? Ich musste ja ziemlich kräftig ziehen. Hatte echt Angst um Ihre Schulter.«

Ich hob beide Arme, zu seiner wie zu meiner eigenen Beruhigung. Bei jeder Bewegung durchzuckten mich Schmerzen – Gelenke waren gequetscht, Muskelbahnen mit anderen Bestandteilen meines Körpers zu unnatürlichen Verbindungen verpresst worden wie Spanplatten. Das Schreien und Kreischen, das von der Plattform zu uns drang, schwoll noch einmal an, dann verebbte es wie Kreise auf der Wasseroberfläche eines Teichs. Ich fragte mich, ob nicht nur James, sondern auch diese kleine Kammer bloß eine Vision war, wie sie sich bei Sterbenden kurz vor dem Tod angeblich einstellt. Lag ich in Wirklichkeit noch auf dem Boden des Waggons, erdrückt, begraben unter der toten Frau? Doch der Untergrund hier war kalt, mir tat alles weh, und ich sah auch kein gleißendes Licht der Glückseligkeit, sondern nur ein winziges orangegelbes Flämmchen, das unter den Atemzügen meines Gegenübers flackerte.

James fuhr fort: »Ich war auf dem Weg nach King’s Cross – ein Besichtigungstermin in letzter Minute. Wollte mich gerade in die Bahn quetschen, und dann … habe ich Sie gesehen. Wohin wollten Sie?«

»Nach Rotherhithe. Da wohne ich. Ich war auf dem Heimweg von der Arbeit und wollte rüber zur Jubilee Line.«

»Ich … konnte niemandem sonst helfen. Es war einfach zu wenig Zeit.« Er rieb sich hinter der Brille die Augen.

»Mein … mein Baby«, flüsterte ich. Die Schmerzen konzentrierten sich allmählich ganz auf meinen Bauch. Ich musste nachsehen. Ich musste es wissen.

Die Flamme aus der winzigen Öffnung an James’ Feuerzeug loderte auf in Richtung der Sauerstoffzufuhr von oben. Ich fuhr mir mit den Händen über den Bauch, betastete die Stelle, an der sich der Absatz hineingebohrt hatte, und schnitt eine Grimasse. Auf meinem Kleid glänzte ein Fleck. Angetrocknetes Blut.

»Glauben Sie, mein Baby lebt noch?«, fragte ich ihn verzweifelt. »Bestimmt, oder?« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.

Er steckte die nutzlose Brille ein. Seine Augen schimmerten hell in der Dunkelheit, wie bei einem Tier. »Helen, versuchen Sie, sich darauf zu konzentrieren, wie es jetzt weitergeht, ja? Wenn wir in einem Flugzeug säßen, würden Sie auch zuerst sich selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen und erst dann Ihrem Kind helfen. Also: Sie sind bei Bewusstsein, Sie haben sich nichts gebrochen, Sie bluten nicht allzu stark. Das ist gut. Hier, nehmen Sie mal einen Schluck davon, fürs seelische Gleichgewicht.« Er drückte mir einen flachen Gegenstand mit Schraubverschluss in die Hand. Sobald ich ihn aufgedreht hatte, stieg mir Alkoholdunst in die Nase.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Talisker. Ein Malt Whisky.«

»Ich weiß nicht recht …«

»Sehen Sie’s als medizinische Maßnahme, zur Beruhigung Ihrer Nerven, und damit Sie nicht auskühlen. In einer solchen Lage kann man wohl auf behördliche Richtlinien pfeifen, meinen Sie nicht?«, fragte er.

Ich nahm artig einen Schluck und spürte, wie die eisige Leere in mir von Wärme umhüllt wurde.

»Sehr gut. Okay. Ich hab mein Handy verloren. Haben Sie Ihres noch? Die Taschenlampenfunktion wäre hilfreich, mein Feuerzeug ist nämlich fast leer.«

Aber ich hatte gar nichts – keine Tasche, kein Handy, keinen Mantel. Die Sohlen meiner nackten Füße waren aufgerissen und brannten.

»Tut mir leid …«, murmelte ich.

»Keine Sorge.« Er postierte sich unter dem Lüftungsschacht. Die Schatten vergrößerten jede seiner Bewegungen. »Es geht senkrecht nach oben, aber es ist zu schaffen. Wir müssen nur abwarten, bis Sie wieder genügend Energie haben. Alles gar kein Problem!« Er lächelte mich im schummrigen Licht aufmunternd an.

Es war vollkommen ausgeschlossen, dass ich mit den Schmerzen, die von der Wunde in meinem Unterbauch ausgingen, diesen Schacht hinaufkletterte. Ich sank nach hinten an die Wand. James trat wieder zu mir und beäugte mich. »Sehen Sie sich den Flachmann, den Sie in der Hand halten, mal genau an.«

»Was ist damit?« Ich kniff die Augen etwas zusammen und betrachtete das metallene Behältnis.

»In diesem Licht ist es kaum zu erkennen, aber es ist ein richtig edles Stück, versilbert, mit Gravur. Hat meinem Vater gehört.«

Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die aufwendig ziselierte Oberfläche. Ein elegantes Segelschiff mit einem hohen Mast.

»Unten ist eine Inschrift«, fuhr er fort. »I place my hope in the sea.«

»Auf so einer Yacht bin ich gesegelt, als ich jünger war! Sie hieß Innisfree …« Ich spürte, wie die Luft um mich näher rückte, als wäre ich im Begriff einzuschlafen.

Die Flamme aus dem Feuerzeug flackerte noch einmal auf und erlosch. Nun herrschte Dunkelheit, kalt und endgültig wie in einer Gruft.

James’ Stimme ertönte so nah, dass der Hauch seines Atems über meine Lippen strich.

»Reden Sie weiter, Helen. Erzählen Sie mir von Ihrer Zeit auf der Innisfree«, sagte er. »Erzählen Sie mir alles.«

»Ich erinnere mich nicht mehr … Ich …« Ich lehnte mich an ihn. Mein Kopf war wie leergefegt. Ich ließ die Stirn an seine Brust sinken, nahm durch den verbrannten Stoff hindurch vage den Duft von Zitronen wahr und dachte flüchtig an einen Park, den Frank und ich auf Lanzarote besucht hatten. Dort hatte ein Zitronenbaum gestanden, mit riesigen, reifen Früchten, so groß, dass sie Franks Handfläche ausgefüllt hatten. Ich spürte, wie Träume nach mir haschten, spürte die Tränen, die mir über die Wangen strömten. Ich wusste, was geschehen würde, was bereits geschehen war.

»Ich kann nicht leben ohne mein Baby, James«, wisperte ich.

Er legte mir in der Dunkelheit eine Hand auf den Scheitel und strich mir wortlos übers Haar, während ich weinte.

VIER

Franks Stimme. »Da sind überall Absperrungen. Ich bin den ganzen Weg von der Kreuzung bis hierher gerannt.«

Eine Frauenstimme: »Sind Sie James?«

»Nein, ich bin Frank, ihr Mann. Sie haben mich angerufen.«

»Ah. Seltsam, als sie das Bewusstsein wiedererlangt hat, war sie vollkommen außer sich und hat nach einem James gerufen. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht.«

Meine Augen öffneten sich einen Spaltbreit. Ein hell leuchtender Beutel mit Kochsalzlösung. Der stechende Geruch von Desinfektionsmittel. Frank. Meine schlaffe Zunge versuchte vergeblich, seinen Namen zu formen. Ich war so froh, ihn zu sehen. Er würde Ordnung in dieses Chaos bringen. Doch mein Gesicht blieb unbeweglich, meine Arme waren unter der Bettdecke gefangen.

»Sie ist schwanger«, sagte Frank. »Das wissen Sie sicher schon, oder? Ich wollte sie eigentlich nach Hause fahren, aber ich konnte nicht. Ich hatte einen Termin und … Ich war …« Seine Augen waren gerötet und weit aufgerissen, wie die eines Mannes, der in einen mit Rauchschwaden gefüllten Waggon taumelt. »Wird sie wieder gesund?«

Die Krankenpflegerin machte sich an meinem Tropf zu schaffen. Sie befand sich ganz am Rand meines Gesichtsfelds, und obwohl ich sie kaum erkennen konnte, wusste ich, dass sie meinen Mann anstarrte. Es ist durchaus möglich, halb bewusstlos in einem Klinikbett zu liegen und dennoch Franks Wirkung auf Frauen wahrzunehmen. Sie war sehr jung und hatte sich das schwarze gefärbte Haar zu einem voluminösen Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt, wie man es von Stewardessen oder von Jackie Kennedy kennt. »Ihre Frau hat bei der OP viel Blut verloren. Sie hat eine Muskelzerrung in der Schulter und vermutlich auch eine Gehirnerschütterung. Sie wird wieder gesund, James – Frank. Aber Sie sollten sich darauf einstellen, dass sie unter Schock stehen wird, wenn sie zu sich kommt.«

Sie legte meinem Mann eine Hand auf den Arm. Es ist durchaus möglich, aus dem Mund einer Krankenschwester die beruhigende Nachricht, dass man überleben wird, zu vernehmen und ihr zugleich eine Ohrfeige verpassen zu wollen. Frank reagierte weder auf ihre Berührung noch auf ihre Nähe, er schien beides gar nicht zu bemerken. Das Beruhigungsmittel war wie Treibsand; es zog mich nach unten, fort.

»Wollen Sie wissen, was es …«

Nein, das will er nicht! Er nickt bloß, weil … weil …

»Ein Mädchen. Wir konnten die Kleine nicht retten. Es tut mir schrecklich leid.«

Mein Ehemann barg das Gesicht in den Händen und begann zu weinen. Ich betrachtete ihn bekümmert durch die Wimpern hindurch, bis der Schlaf wieder seine Krallen nach mir ausstreckte.

*

Am Tag meiner Entlassung legte Frank eine Packung teurer Pralinen auf den Tresen vor dem Stationszimmer. »Danke für alles«, sagte er.

Eine Woche war vergangen. Man hatte mir die Gebärmutter ausgeschabt und hätte mich zwecks psychologischer Untersuchungen gern noch dabehalten, aber ich war zu einem lebendigen Grabhügel mutiert und verweigerte jede weitere Exhumierung.

Ich hatte bereitwillig zugestimmt, mich einer ambulanten Therapie zu unterziehen, damit das Stirnrunzeln der Weißkittel ein Ende hatte und ich gehen konnte. Aber ich wusste, dass sich das, was auf mich zukam, nicht von Worten bannen oder von Medikamenten zähmen ließ. Schon jetzt war ich mir selbst fremd. Mir war, als wäre ich bei einem Rudel Wölfe aufgewachsen und nun in die Zivilisation zurückgekehrt. Alles wie gehabt, die Welt drehte sich weiter, angetrieben von Bestürzung.

Die drei Pflegerinnen der Station flöteten wie aus einem Mund ein »Dankeschön«. Bestimmt erhielten sie täglich mehrfach sämtliche Arten und Marken von Pralinen, die es gab; blieb zu hoffen, dass uns unsere Einfallslosigkeit nicht undankbar erscheinen ließ. Denn ich war nicht undankbar. Schließlich lebte ich noch. Es war nur so, dass diese Tatsache nun nicht mehr relevant war.

Die Pflegerinnen waren in identische Schwesterntrachten gezwängt und dennoch faszinierend verschieden. Eine hatte eine zerfledderte Taschenbuchausgabe von Game of Thrones aufgeschlagen neben sich liegen, nach der sie immer wieder verstohlen die Hand ausstreckte, sie darauf ruhen ließ wie auf einem kleinen Kissen. Die zweite war meiner Mutter so ähnlich, dass mir in ihrer Gegenwart unweigerlich der Schweiß ausbrach, und die dritte – die fiese, flirtfreudige Jackie O – bedachte Frank mit einem bedauernden Lächeln, als sie nun hinter dem Tresen hervorscharwenzelte, um mir einen Pappkarton zu überreichen. Ich spähte hinein, sah die Kleider, die ich bei der Einlieferung getragen hatte, sah ein Ultraschallbild und knallte den Deckel wieder zu.

Sie legte mir tröstend eine Hand auf den Arm. »Ich weiß, es kommt Ihnen im Augenblick nicht so vor, aber Sie hatten großes Glück. Siebzig Tote! Das sind weit mehr als bei den Anschlägen im Juli 2005.«

»Mein Baby hatte kein Glück«, stellte ich fest.

»Stimmt … Tut mir leid, das war gedankenlos«, murmelte sie.

Frank lächelte betont freundlich, bedankte sich und führte mich behutsam davon.

Da ich nicht imstande war, den Aufzug zu benutzen, gingen wir schweigend die Treppe hinunter. Das Quietschen unserer Schuhsohlen auf dem Boden erinnerte mich an einen Besuch bei meiner Mutter mit Nicholas vor sehr langer Zeit – den einzigen für ihn. Er war damals drei gewesen, und im Haus hatte eine kalte, trostlose Atmosphäre geherrscht. Irgendwann war Nicholas von meinem Schoß gerutscht und zur Haustür marschiert, um dort zu warten, wie ein Hund. Als ich hinausgegangen war, um ihn wieder ins Wohnzimmer zu holen, hatte er geflüstert: »Ich will nach Hause.« Manchmal explodiert die Welt, die du kennst, und du wirst aus heiterem Himmel in eine andere befördert. Über das Baby kannst du nicht sprechen, denn keiner hier kennt diese Sprache. Der Mensch, der dich hergebracht hat, ist fort.

Die Schachtel mit dem Ultraschallbild stopfte ich in einen Mülleimer am Ausgang. Das Glas der automatischen Türen schillerte in der Wintersonne. Ich atmete tief durch und streckte die Hand danach aus. Sobald sie aufschwangen, wurden wir in eisige Luft gehüllt.

Frank drückte meine Hand. »Ich sollte dich vermutlich warnen«, sagte er. »Nicholas freut sich riesig auf dich. Er hat eine regelrechte Willkommensparty organisiert – samt Torte und Luftballons. Kommst du damit klar?«

»Ist ihm das mit dem Baby bewusst?«

»Ich hab’s ihm erzählt. Dein Wohlergehen ist ihm wichtiger.«

»Okay.«

Franks Hand lag die ganze Fahrt über auf meiner, außer wenn er schalten musste. Als wir eine Weile im Stau standen, sagte er: »Wenn ich dich abgeholt hätte … Es tut mir leid, Helen. Es tut mir so leid.«

»Schon gut«, sagte ich. »Ist nicht deine Schuld.«

Als wir schließlich vor unserer Einfahrt hielten, erkannte ich in dem Gebäude mit den Ballons über der Tür nicht gleich mein Zuhause.

FÜNF

Romy, die Trauerbegleiterin, hielt sich sehr aufrecht und war präzise und direkt. Sie hatte elegante Gesichtszüge und üppiges weißes Haar, das zwar streng gescheitelt war, sich aber am Oberkopf lustvoll wippend weigerte, gebändigt zu werden. Ihre Kleidung knisterte wie ein eben erst entfachtes Feuer.

Ich wollte reden – ich floss förmlich über vor Gedanken, die mich beschäftigten –, allerdings beschränkte sich mein Mitteilungsdrang überwiegend auf meine Schulklasse. Ich machte mir Sorgen, vor allem um Sindi, aber auch um die anderen Kinder – wie würden sie die Zeit bis zu meiner Rückkehr überstehen? – und nicht zuletzt um Frank und Nicholas. Die beiden waren meine verbliebene Einheit, die unversehrten Möbel eines imaginären Hauses, dessen Mauern sich in Luft aufgelöst hatten. Über alles Weitere wollte ich schweigen. Die Erde des Grabhügels sollte durch nichts aufgewühlt werden. Wenn ich psychisch einigermaßen stabil wirkte, war die Angelegenheit hoffentlich nach einer Sitzung erledigt.

Doch Romy kam nach einigen höflichen Floskeln geradewegs zur Sache.

»Hatten Sie dem Baby schon einen Namen gegeben?«

Sie nahm ihre Aufgabe ganz offensichtlich sehr ernst und würde sich nicht mit fadenscheinigem Geschwafel abspeisen lassen. So erzielt man schließlich keine Ergebnisse. Ich hatte einen Verlust erlitten, und wir würden darüber reden. Auf dem Schreibtisch hinter ihr lag meine Patientenakte. Sie war ziemlich dünn für jemanden mit derart unverhohlenem Ehrgeiz. Romys Frage hing zwischen uns in der Luft.

Mein Wille wurde weich wie ein gallertartiger Meeresbodenbewohner.

»Cariad«, murmelte ich.

»Ah! Liebling auf Walisisch.« Sie lächelte. »Ich bin selbst halbe Waliserin.«

Hass nagte an mir. Erst entlockte sie mir den Namen, dann machte sie ihn sich auch noch zu eigen.

Ich straffte die Schultern. »Ich werde das Baby nicht beweinen«, sagte ich und dann, um sie mit meiner Entschlossenheit zu schockieren: »Das Baby ist mausetot.«

»Cariad«, sagte Romy.

»Was?«

»Cariad ist mausetot.«