Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Zutiefst faszinierend - Ein Roman über Tiere, der uns in unserem Menschsein berührt." Mareike Fallwickl Für Frieda, eine englische Primatenforscherin, sind Tiger nichts als wilde Tiere, ihr fremd in ihrer rohen Aggression. Aber seit sie in einem kleinen Zoo in Devon arbeitet, begegnet sie den Wildkatzen täglich. Nach und nach beginnt sie sich für das Wesen der Tiger zu interessieren; dann, sie zu verstehen, und schließlich, sie zu lieben. Durch sie lernt sie einen Teil von sich selbst neu zu entdecken und begibt sich auf eine Reise, die sie bis nach Sibirien führt, wo ihr eigenes Schicksal sich mit dem von Tomas, einem einsamen Mann in den Wäldern der Taiga, der kleinen Sina, einem wilden Mädchen, und dem der Tiger auf überraschende Weise verbinden wird. Eine bewegende, abenteuerliche, sinnliche, schlicht gewaltige Geschichte von einem Mann, einer Frau und einem Kind, deren heimlich miteinander verknüpfte Leben tief im Zeichen des Tigers stehen. »Ein eindrucksvoller Roman von zähnefletschender Schönheit.« BRIGITTE
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Das Buch
Für Frieda, eine englische Primatenforscherin, sind Tiger nichts als wilde Tiere, fremd, roh und aggressiv. Aber seit sie in einem kleinen Zoo in Devon arbeitet, begegnet sie den Wildkatzen täglich. Nach und nach beginnt sie sich für das Wesen der Tiger zu interessieren; dann, sie zu verstehen, und schließlich, sie zu lieben. Durch sie lernt sie einen Teil von sich selbst neu zu entdecken und begibt sich auf eine Reise, die sie bis nach Sibirien führt, wo ihr eigenes Schicksal sich mit dem von Tomas, einem einsamen Mann in den Wäldern der Taiga, der kleinen Sina, einem wilden Mädchen, und dem der Tiger auf überraschende Weise verbindet.
Die Autorin
POLLY CLARK wurde in Toronto geboren und lebt abwechselnd an der schottischen Westküste und auf einem Hausboot in London. Ihre Lyrik wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet und ihr erster Roman Larchfield u. a. von Margaret Atwood, John Boyne und Richard Ford hochgelobt. Während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo begann sie sich für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen an Tiger reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35°C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. Tiger stand 2019
POLLY CLARK
TIGER
ROMAN
Aus dem Englischen
Besuchen Sie uns im Internet:
www.eisele-verlag.de
ISBN 978-3-96161-102-7
Die Originalausgabe »Tiger« erschien 2019 bei Riverrun/Quercus, London.
© 2019 Polly Clark
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe
Julia Eisele Verlags GmbH, München
Umschlagsgestaltung: FAVORITBUERO, München nach einem Entwurf von Andrew Smith
E-Book: LVD GmbH, Berlin
FÜR LUCY,
PROLOG
Russische Taiga, Winter1992
Oi, moros … Oh du grimm’ge Kälte,lass mich nicht erfrier’n …Ich habe ein gar missgünstig Weib …Oi, moros …
Dmitri kauerte vor einem Baum und befestigte vergnügt vor sich hin singend eine Falle am Stamm. Egal, wie betrunken er war, eine einwandfreie Schlinge brachte er immer zustande – eine, die sich unter Zug unerbittlich festzurrte und dennoch problemlos lösen ließ. Er schwankte, verstummte kurz, während er sein Werk prüfend betrachtete. Praktische Sache, so eine Schlingenfalle, dachte er. Elegant, einfach, brutal. Am Rande der kleinen Lichtung, die um eine umgestürzte Koreakiefer entstanden war, hatte er vier Schlingenfallen ausgelegt. Dies hier war die letzte. Er bedeckte das Stahlseil mit etwas Reisig und Schnee, dann verwischte er seine Fußspuren.
»Vorsicht, Jana«, sagte er zu dem rostroten Terrierweibchen, das schnüffelnd das Feuer umrundete. »Du hast hoffentlich gut aufgepasst, wo sie liegen.«
Mein liebreizend Weibeharrt meiner zu Haus.Harrt meiner, von Gram erfüllt …Kehr ich abends heime,schließ sie in die Arm’…Oi, moros …
Dmitri kehrte zurück zu seiner Flasche und dem Baumstumpf, der ihm als Sitzgelegenheit diente, und sein Gesang – dank seiner von Polypen übersäten Stimmbänder eher ein heiseres Krächzen – hallte noch eine ganze Weile durch den Wald, bis die Flammen des Lagerfeuers in der Glut versanken und die kalte Luft über ihn herfiel, stechend wie Dolchspitzen, gerade so, als hätten sich zehn mit Kidschal bewehrte Kosaken auf ihn gestürzt.
Um den Moment, an dem er aufstehen und neues Feuerholz holen musste, noch ein Weilchen hinauszuschieben, klopfte sich Dmitri lockend auf die Oberschenkel, doch Jana hatte wie üblich keine Lust, ihm als Wärmekissen zu dienen. Zwischen seinem Schmerbauch und den Knien war kaum Platz, zudem stank sein Atem um diese Uhrzeit schon beißend nach Alkohol. »Nun komm schon, Kleines!«, rief Dmitri, doch die Hündin zierte sich, wich seinen Händen aus.
Er steckte sich grummelnd eine Zigarette zwischen die Lippen. Es dauerte etliche Sekunden, bis er es geschafft hatte, die Flamme und das untere Ende der Zigarette zueinander zu führen.
Dmitri hatte einen Plan, und dieser Plan würde ihn reich machen.
»Und zwar schon sehr bald.« Mit diesen Worten erhob er sich schwerfällig vom Baumstumpf, griff nach seiner Axt und steuerte durch den Schnee wankend auf die Bäume zu. »Oi, moros«, sang er. »Lass mich nicht erfriern …«
Jana hüpfte hinter ihm her, die Ohren gespitzt, die Schnauze in die Luft gestreckt, weil der Schnee ein klein wenig zu hoch lag für ihren Geschmack.
Dmitri kehrte mit einem Armvoll Ästen zurück, kippte etwas Wodka auf die Feuerstelle und nahm selbst einen wärmenden Schluck aus der Flasche. Dann umrundete er einige Male den behelfsmäßigen Unterschlupf, den er sich gebaut hatte. Es war ein armseliges Gebilde unter einem rostigen Stück Wellblech, das im Schnee gesteckt hatte. Er hatte es an den dicken Stamm der umgestürzten Koreakiefer gelehnt, hatte Zweige und Reisig darauf gehäuft und mit Ästen beschwert, hatte weitere Äste geschlagen und damit das eine Ende verschlossen, sodass ein niedriges Schlaflager entstanden war, das den Elementen herzlich wenig entgegenzusetzen hatte, aber er gedachte ohnehin nicht lange zu bleiben. Sein Plan erforderte lediglich Kraft und Mut, und von beidem hatte Dmitri reichlich, was etwaige Schwächen in den Hintergrund treten ließ. Außerdem hatte er Jana, die ihn wärmen würde. Die Hündin beäugte den Unterschlupf argwöhnisch.
In einigen Metern Entfernung hing ein dunkelroter Rehkadaver, der in der Kälte allmählich zu Stein gefror – der Köder für den Tiger, an dem sich Dmitri nun aber selbst gütlich tun musste. Er hackte ein Stück davon ab und hielt es eine Weile mithilfe eines Stocks über das Feuer, ehe er den zischenden, triefenden Brocken verzehrte und mit Wodka nachspülte. Auch Jana gab er etwas davon ab.
»Zeig dich, Tiger!«, röhrte er in die fortschreitende Dämmerung. Die Stille dröhnte in seinen Ohren. Er setzte sich hin, dem Rehkadaver zugewandt, das Gewehr auf dem Schoß, der Hahn gespannt, den Finger am Abzug. Jana legte sich neben das Feuer, die Schnauze auf den Vorderpfoten.
Dmitri war nicht gern allein. Im Dorf hatte er stets Gesellschaft, jemanden, mit dem er auf seinen bevorstehenden Wohlstand anstoßen konnte. Der Wodka machte ihn glauben, dass sein Ziel ganz einfach zu erreichen war, wenngleich er die Einzelheiten verschwimmen ließ. Außerdem war Dmitri müde. Auf einen Tiger zu warten war harte Arbeit. Und dieses Starren in die Finsternis, das Ausschauhalten nach der Bestie, das konnte den wachsamen Blick eines Mannes schon mal in einen fahrigen Hund verwandeln, der, an einen Holzpflock gebunden, blinzelnd und sich duckend hierhin und dorthin springt. Der Wodka torpedierte seine Konzentration.
Schließlich gähnte Dmitri, hob Jana hoch, die widerwillig mit den Hinterläufen strampelte, und robbte vor Anstrengung grunzend in seinen mit Reisig ausgekleideten Unterschlupf. Ein schwerer, dicht gewachsener Fichtenast diente als Tür. Mann und Hund machten es sich in ihrem beengten Lager gemütlich. Dmitris alkoholgeschwängerter Atem hing in der Luft. Neben ihm lag das Gewehr, geladen und einsatzbereit.
Natürlich war es besser, wach zu bleiben, wenn man einen Tiger erlegen wollte, das war Dmitri bewusst, aber er konnte die Augen nicht länger offenhalten, und auf Jana war Verlass. Ein Hund hört schon von Weitem, wenn sich ein Tiger nähert. Sie würde ihn mit ihrem Gebell wecken, und er würde sich sein Gewehr schnappen und dem Tiger das Hirn wegblasen. Ein Kinderspiel, zumal das Vieh in einer Schlingenfalle festhängen würde.
Dann musste er sich nur noch überlegen, ob er das Tier an Ort und Stelle häuten oder lieber ins Dorf schleppen sollte, wo er Helfer hätte, mit denen er sich dann allerdings die Einnahmen würde teilen müssen. Es kam auf die Größe an – vielleicht gelang es ihm ja, den »König« zu erlegen, den größten Tiger, der sich hier in der Gegend herumtrieb, der angeblich um die vierhundert Kilo wog und knapp vier Meter lang war! In diesem Fall konnte er großzügig sein. Mit diesem ausgesprochen beruhigenden Gedanken schlief Dmitri ein, seine Hündin an die Brust gedrückt. Jana winselte noch einmal, dann gab sie den Widerstand auf.
Als Dmitri erwachte, fühlten sich seine Gliedmaßen so steif und taub an, dass er kurz in sich hineinhorchte: War er tot? Jana hatte sich aus seiner Umklammerung gewunden. Fluchend schob er den Ast am Eingang beiseite und spähte hinaus. »Jana!« Etliche Zweige rutschten von seinem Unterschlupf, während Dmitri seinen massigen Körper daraus befreite.
»Was zum Henker …?«
Fassungslos ließ er den Blick über den aufgewühlten Schnee wandern. In einiger Entfernung eine dünne Blutspur und ein rostrotes Fellbüschel. Dmitri wirbelte herum. Der Rehkadaver war verschwunden, die Feuerstelle zertrampelt, und auf der gesamten Lichtung, bis direkt vor seinen Unterschlupf, das unverkennbare Trittsiegel des Tigers: der große Hauptballen, darüber die kleineren Zehenballen.
Dmitri verspürte ein Brennen in der Lunge. Die Sonne sah hart und unbeeindruckt auf ihn hinunter wie ein gleichgültiger Gott. Mit einem flauen Gefühl im Magen eilte Dmitri zu den Fallen. Eine, zwei, drei waren unberührt, doch siehe da, um die vierte war der Schnee niedergetreten und blutig. Aber … Wie konnte das sein?
Das Stahlseil, das sich um die Pranke des Tigers zugezogen hatte, war zernagt. Der Tiger hatte das Stahlseil durchgebissen!
Wie zum Teufel konnte das sein?
Dmitri holte sein Gewehr aus dem Unterschlupf und gab einen Schuss in die Luft ab. »Tiger! Du elender Feigling!« Wieso war er nicht aufgewacht, als sich das Vieh an seinen Unterschlupf herangeschlichen und sich Jana und das tote Reh geholt hatte? Und wenn er so tief geschlafen hatte, warum hatte der Tiger dann nicht auch ihn getötet? Hatte er seine Anwesenheit etwa nicht gewittert?
Natürlich hatte er das.
Eine schockierende Erkenntnis drang jäh durch Dmitris verkaterte Benommenheit, schlug auf wie ein Stein auf dem Grund eines Brunnenschachts: Er saß in der Falle, zwei Tagesmärsche von seinem Dorf entfernt, ohne Hund und ohne Nahrung. Und irgendwo dort draußen lief ein Tiger herum, der Stahlseile durchbeißen konnte und seinerseits einen Plan zu haben schien.
Dmitris Blick folgte der Spur des Raubtiers, die sich zwischen den Bäumen in der Tiefe des Waldes verlor. Sie war von Blutstropfen gesäumt. Wenn er ihr folgte, wäre er dem Tiger schutzlos ausgeliefert. Nein, es war sicherer, hierzubleiben, bei seinem Lagerfeuer, seinem Gewehr und seinen Schlingenfallen.
Die Wodkaflasche war wie durch ein Wunder nicht umgefallen.
Mit zitternden Fingern schraubte Dmitri sie auf und genehmigte sich einen großen, beruhigenden Schluck.
Der Tiger würde zurückkehren. (Nur: Wann?)
Er musste sich bloß bereithalten.
Er spähte zu dem Blutfleck hinüber. Jana musste sich nachts aus seinen Armen gewunden haben. Bestimmt hatte sich der Tiger gegen den Wind angeschlichen und sich die Hündin geschnappt, ehe sie hatte Laut geben können.
Nutzlose Töle. Kann gut drauf verzichten.
Er räusperte sich, versuchte, sich auf den vor ihm liegenden Tag zu konzentrieren. Das vertraute Zittern, das seinen Körper nun jeden Morgen erfasste, setzte ein. Heute fühlte es sich anders an als sonst. Es war nicht nur das Verlangen nach Alkohol, das seine Hände zittern ließ. Doch er hatte keine Angst. Oh, nein. Dieser Tiger hatte einen großen Fehler gemacht.
»Einen großen Fehler!«, schrie er, doch seine Stimme kippte bei der letzten Silbe, knickte wie ein spröder Zweig.
Sollte er die Schlingen anders positionieren? Er entschied sich dagegen, legte sich stattdessen zurecht, wie er den Tag verbringen und sich wachhalten würde. Er musste seinen Holzvorrat aufstocken und ein neues Reh heranschaffen, als Köder, und damit er etwas zu essen hatte. Dmitri nahm einen weiteren großen Schluck und stierte trotzig in den Wald.
Der Wodka entfaltete seine wärmende Wirkung.
»Ich bin hier, du räudiges Vieh«, schrie Dmitri den Bäumen beinahe aufgekratzt entgegen. Der König des Waldes. Der Hauptgewinn. Das Biest hätte ihn töten sollen, als es die Gelegenheit dazu hatte. Eine zweite würde es nicht bekommen.
*
ZIELSTREBIGKEIT. Wenn es ein Wort gab, mit dem sich beschreiben ließ, wie der König des Waldes zwischen den Bäumen hindurch auf Dmitris Lager zuschnürte, dann dieses. Der König war riesig, eine Eigenschaft, die er an seine Tochter vererbt hatte, und von so außergewöhnlicher Schönheit, als wäre er einer anderen Welt entsprungen. Kein Millimeter war verschwendet, kein Detail entbehrlich. Jedes Härchen maß exakt die richtige Länge, jeder Schritt war den Anforderungen des Augenblicks absolut angemessen. Sollte ein Sprint vonnöten sein, konnte er sich mit einer Geschwindigkeit von siebzig Stundenkilometern fortbewegen, was allerdings noch keine fünf Mal in seinem Leben erforderlich gewesen war. Ein Sprint ist beinahe ein Eingeständnis des Scheiterns. Er eröffnet dem Beutetier Möglichkeiten. Ein Wildschwein kann sich schnell wie der Wind zwischen den Bäumen hindurchschlängeln. Ist die Geschwindigkeit erst entfesselt, dann ist sie alles, was dem Tiger noch bleibt. Bis dahin hat er seine Zielstrebigkeit, kombiniert mit der Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.
Der König hatte noch nie zuvor Jagd auf Menschen gemacht. Der Großteil seines gewaltigen Reviers, das einen schier unendlichen Landstrich unberührter Taiga einschloss, lag außerhalb ihrer Reichweite. Außerdem wusste der König von ihren Gewehren, die aus großer Entfernung verletzen und töten konnten; eine Tatsache, die sich tief in das Bewusstsein jedes Tieres im Wald eingegraben hatte. Sie war gewissermaßen in ihren Genen verankert, ebenso wie das Wissen um die Flüsse und die besten Stellen, an denen die Zapfen der Koreakiefer zu finden waren, deren Samen, gleich dem Plankton im Ozean, der Quell allen Lebens waren. Der König hatte die Wahrheit hinter dem Gewehr erkannt: Menschen waren wehrlose, plumpe Eindringlinge, die vergeblich versuchten, sich sein Reich untertan zu machen.
Allmählich wurde es dunkel. Seit dem ersten Besuch des Königs in Dmitris Lager waren zwei Tage verstrichen. Dass er so lange auf sich warten ließ, hatte den Jäger zweifellos verunsichert. Der Platz, am dem er seinen Unterschlupf gebaut hatte, war denkbar schlecht gewählt, umgeben von dichtem Wald, der einem Tiger perfekte Tarnung bot.
Der König glitt durch das Halbdunkel wie ein Hai.
Hätten wir das Pech, ihm in diesem Augenblick zu begegnen – Pech, weil es unsere letzte Begegnung auf Erden wäre – dann würden wir erstarren vor Erstaunen darüber, dass ein Geschöpf dieser Größe, dieser Strahlkraft, vor dem alle anderen Geschöpfe flohen, eine derartige Unauffälligkeit an den Tag legen konnte. Der König war die personifizierte Erhabenheit des Waldes. Das Licht von Sonne, Mond und Sternen, die Schatten, die mannigfaltig gefurchten Borken und uralten Ringe der Baumstämme, die Farbspektren von Schnee und Erde, all das vereinte der König in seiner Gestalt. Ihm zu begegnen hieß, eine fundamentale Wahrheit zu erkennen: In der Natur sind alle Lebewesen Inkarnationen voneinander.
Alle außer menschlichen Jägern. Sie sind eine Inkarnation von nichts, schwach und schlecht angepasst an den Wald. Dieses Wissen erlaubte es dem König, seine Herangehensweise noch weiter zu verfeinern. Der Jäger ist nicht Teil der Natur. Er verändert die Natur zu seinem Nutzen. Er verbrennt, zerhackt, gräbt auf, zerstört. Um seine Schwäche zu kaschieren, baut er Schlingen, Fallen, Gewehre. Er füllt die Wälder mit Abbildern seiner selbst, so wie in dem vor Menschen wimmelnden Dorf, in das kürzlich eines der Weibchen des Königs verschleppt und getötet worden war.
Der König gab nicht den geringsten Laut von sich, als er sich nun von hinten an Dmitris Lager heranschlich. Und hätte er es getan, so wäre dieser vermutlich nicht zu hören gewesen über dem melancholischen Gesang des Jägers, der mit zunehmender Dunkelheit leiser wurde.
»Tiger!«, schrie Dmitri in regelmäßigen Abständen. »Na los, zeig dich, du verfluchter Feigling!« Seine Entschlossenheit, wach zu bleiben, schwand dahin.
Seine Schlinge hatte dem König die Pranke aufgeschlitzt, doch die Temperaturen hatten die Entzündung glücklicherweise abgeschwächt, wenngleich sie auch den Heilungsprozess verlangsamten. Im Sommer wäre die Wunde binnen Stunden von Maden befallen gewesen. Schlingenfallen waren im Grunde nur für Wildschweine geeignet. Für die größte Raubkatze der Welt stellten sie bloß ein Ärgernis dar.
Der Schwanz des Tigers wippte hin und her, als wollte er ihn durch dunkle Gewässer vorwärtstreiben, wippte auf und ab, ein Gegengewicht zum weit nach vorn gereckten Kopf.
Wie gelang es diesem riesigen Geschöpf, sich ganz und gar lautlos zu bewegen?
Wenn sich der Wald in Gestalt eines Tigers manifestiert, ist die Verwandlung vollkommen. Ein Geräusch ist Unvollkommenheit und hat hier nichts verloren.
Der Jäger stocherte im Feuer und murmelte etwas in sich hinein. Das Gewehr hielt er in der Hand.
Er konnte einem beinahe leidtun – er hatte nicht begriffen, dass diesem Tiger, dem König, alles im Wald gehörte. Dass er der Wald war. Um über ein Gebiet von derart enormer Ausdehnung zu herrschen, müssen Grenzüberschreitungen rigoros geahndet werden. Dies ist für den König unumgänglich, um seine Stellung an der Spitze zu behaupten.
Der Schädel des Tigers, der nun hinter Dmitri aufragte, war so riesig, dass ihn ein erwachsener Mann nur mit beiden Armen hätte umspannen können. Sein gebieterisches Antlitz war von der gleichen Regungslosigkeit wie das eines Gottes.
In diesem Augenblick streifte der König jede Ähnlichkeit mit einem imposanten Hai – und mit sämtlichen anderen irdischen Lebewesen – ab.
Wenn du etwas nimmst, was mir gehört, wirst du dafür büßen.
Das ist Herrschaft.
Der König schlich über den Stamm der umgestürzten Koreakiefer.
Dmitri war nicht sonderlich empfänglich für Sinneseindrücke, und sein Wodkakonsum tat ein Übriges. Dafür war er ausgesprochen sentimental. Eben vergoss er in seinem Suff dicke Tränen: Er weinte um seine Hündin, seine Mutter, um die Prostituierten, deren Namen er nie erfahren hatte.
Es war, als wollte der Baumstamm dem König die Sache leichtmachen. Er schien sich zu ducken, als das Tier lautlos darüber hinwegglitt.
Ein kaum hörbares Seufzen. Ein Schneeklumpen, der sich löste.
Dmitri verstummte jäh.
Er wirbelte herum.
Vielleicht war er der größte Glückspilz auf Erden, denn in diesem Augenblick blieb für ihn die Zeit stehen. Der König riss das Maul auf, seine Fangzähne durchzuckten das Dunkel wie Blitze. Dmitri blieb keine Zeit für Angst. Keine Zeit, das Gewehr zu heben. Dmitri blieb nur noch eines: in das Antlitz des Göttlichen bis in alle Ewigkeit zu schauen, und in seinem Blut und jeder Zelle seines Körpers die wahre Ordnung der Natur zu spüren.
TEIL EINS
FRIEDA
EINS
Es musste ja irgendwann so kommen, dass ich mir eines Tages bei der Arbeit zu viel spritzen und auffliegen würde. Dabei war ich mittlerweile außerordentlich geübt – Beschaffung des pharmazeutischen Morphins durch unauffälliges Abzweigen von Tarnbestellungen. Konsum in meiner Lieblingstoilette, draußen im Tierhaus, wo es niemand bemerkte. Die Spritze aus der Packung, diskret entsorgt über den Abfall im Tierhaus, ein kurzes Zusammenkneifen der Haut. Dann Ruhe. Es war die Ruhe, nach der ich mich sehnte. Mit der kleinen, sorgsam berechneten Dosis Morphin konnte ich während der Arbeit ruhen, ohne spürbare Auswirkungen auf meine Tätigkeit, die darin bestand, Statistiken auszuwerten, Fotos zu schießen und mir akribische Notizen zum Mienenspiel der Bonobos zu machen, welches ich über Kameras vom Studio aus verfolgte.
Außerdem schien ich in meinem Ruhezustand etwas an mir zu haben, das auch die Bonobos beruhigte. Die bejahrte Matriarchin Zaire gesellte sich oft zu mir, wenn ich mich an die Gitterstäbe vor dem Schlafbereich lehnte. Eigentlich durfte ich während der Studienphasen nicht ins Gehege, weil es natürlich die Ergebnisse verfälscht, wenn man zu präsent, zu nahe dran ist. So wie in der Physik, wo sich das Licht unter Beobachtung anders verhält, sich in Wellen oder Teilchen verwandelt, wie um dem Zuschauer zu gefallen, so verhält es sich auch bei Bonobo und Forscherin, wenn letztere ihren Beobachterstatus preisgibt. Aber ich liebte Zaire, und sie liebte mich, und gegen Ende der Ruhephasen achtete ich nicht mehr so genau darauf, was erlaubt war und was nicht. Entscheidend war, sich nicht erwischen zu lassen, doch selbst das verlor an Bedeutung. Ich wurde dreister, schlich mich nachts ins Gehege, legte mich auf den Wall aus Heuballen, stets darauf bedacht, nicht von der Kamera erfasst zu werden. Die Bonobos ließen sich, miteinander schwatzend, in meiner Nähe nieder. Zaire setzte sich des Öfteren neben mich. Einmal legte sie mir die Hand auf den Arm, und hätte ich mich nicht so benommen gefühlt, hätte ich geweint. Ich hatte keine Angst, wenn ich ruhte. Es war die Angst, vor der ich in der Ruhe Zuflucht fand.
Oft blickte ich während meiner heimlichen Ruhephasen im Gehege in den schwarzen Nachthimmel empor und fragte mich, ob sich die Bonobos für die Sterne interessierten. Wunderten sie sich darüber, dass der ihnen vertraute Himmel in manchen dunklen Nächten von einem Meer aus winzigen Lichtpunkten übersät war? Bonobos sind intelligent und emotional auf eine Weise, die Menschen verstehen und messen können. Sie leben in Beziehungssystemen, die man als Kultur beschreiben könnte. Sie verfallen oft in tiefe Grübeleien. Und sie sind sich ihrer selbst bewusst. Fragten sie sich, was aus ihren Artgenossen wurde, wenn sie sahen, wie die Alten, Gebrechlichen erkrankten und starben?
Ich argumentierte, als der Zeitpunkt für verzweifeltes Argumentieren gekommen war, dass ich durch eben diese Ruhetrips im Gehege über etwas gestolpert war, das einen wesentlichen Teil unserer Forschung ausmachte. Meine Entdeckung bestand darin, dass Bonobos den Tod als Gruppe verarbeiten, mit einer Art Ritual. Dieses Verhalten hatte zuvor noch nie jemand beobachtet. Ihr natürlicher Lebensraum tief im Kongo ist nur schwer zugänglich, und die Erforschung von Bonobos in Gefangenschaft ist relativ jung. Etwas Ähnliches hatte man erst kürzlich über Elefanten herausgefunden. Die Reviere von Elefanten in freier Wildbahn sind riesig, und die Bedingungen lassen sich in Gefangenschaft nicht reproduzieren, deshalb waren ihre komplizierten Trauerrituale lang unentdeckt geblieben.
Eines unserer Bonobo-Mädchen war seit jeher kränklich gewesen. So etwas kommt vor. Manchmal spürt ein Tier von Geburt an, dass es am falschen Ort ist, im falschen Körper, dass es unter der Herrschaft eines anderen Wesens steht. Solche Exemplare wollen einfach nicht so recht gedeihen. Sie sind schwach und gebrechlich, manchmal entwickeln sie Krankheiten. Doch selbst wenn nicht, sind sie von kleinem Wuchs, wirken von Beginn an verloren und warten, so scheint mir, immerzu auf das Ende, an dem das Bild ihrer Selbsterfahrung und die Wahrheit, die irgendwo dort draußen liegt, im sternenübersäten Himmel vielleicht, zusammenfinden.
So war es bei Dembe, einer Urgroßnichte von Zaire. In letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, im Dunklen zu sitzen, wie am Tor zur Unterwelt. Die anderen ließen sie schon bald in Ruhe, versuchten nicht mehr, sie in die Gruppe zurückzuholen. Gleich einem Bettler, an dem die Menschen geschäftig vorüberströmen, befand sie sich am Rande dessen, was die Gruppe ohne allzu großes Unwohlsein gerade noch ertragen konnte. Für unser Projekt war von Interesse, was das bedeutete. Dembe zeigte keinerlei Krankheits- oder Stresssymptome, zumindest keine, die die Kamera erfassen konnte, doch wenn ich im Gehege ruhte, registrierte ich durchaus etwas. In jüngster Zeit verfügte ich über die Wahrnehmung eines Beutetiers, als wäre ich dem Angriff kleinster emotionaler Signale hilflos ausgeliefert. Diese ließen sich zum größten Teil nicht belegen, sodass ich weniger wie eine Wissenschaftlerin klang, sondern eher wie ein wirrer Pilger, der von seinen Visionen berichtet. Beim Ruhen im Gehege war mir aufgefallen, dass Dembes Blick abwesend, aber nichtsdestotrotz recht friedvoll wirkte, als würde sie die Gruppe durch eine Glasscheibe beobachten. Ihre Mutter Kia schien sie vergessen zu haben und drehte sich meist von ihr weg. Doch ich wusste, sie hatte Dembe nicht vergessen. Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen.
Dembe war bald darauf gestorben. Sie hatte irgendwann einfach die Augen geschlossen und war im Schatten an die Wand gesunken. Binnen Sekunden war sie nur noch ein Bildnis ihrer selbst gewesen.
Die anderen Bonobos merkten sofort, dass der Tod eingetreten war: Von Aufregung erfasst riefen sich die Gruppenmitglieder allerlei zu und näherten sich Dembe, angeführt von Kia. Ihr Sohn, kleiner und jünger als Dembe, umkreiste sie und entblößte grinsend seine quadratischen weißen Zähne. Von meinem Ruheplatz auf den Heuballen aus nahm ich deutlich die Stimmung der Tiere wahr. Klebrig. Violett. Ich bekam Gänsehaut auf Armen und Brust.
Und dann griff Kia nach einer Gemüsekiste aus Holz, die ihr Sohn vorhin durch die Luft gewirbelt hatte, und pfefferte sie (von unten, um nicht dabei gefilmt zu werden – clever) an die Kamera, sodass die Linse zerbrach. Von den darauffolgenden Ereignissen gibt es nur meinen mündlichen Bericht, allerdings waren sie so außergewöhnlich, dass sie ohnehin keine Kamera umfassend hätte aufzeichnen können. Was für ein Jammer, dass ich zu diesem Zeitpunkt keine glaubwürdige Zeugin mehr war.
Sie trugen die tote Dembe in die Mitte des Geheges und räumten den Platz um sie herum frei. Dort lag ihr Körper dann, dunkel und amorph wie eine Qualle an Land.
Wieder schwappte die Stimmung der Gruppe wellenartig über mich hinweg. Meine Nackenhaare sträubten sich. Es war, als würden die Gefühle aus ihren offenen Mäulern sickern und miteinander verschmelzen. In mir machte sich eine Empfindung breit, als würde ein altes schmiedeeisernes Gatter oder ein Mühlrad herunterstürzen und eine rostige Fläche durchschlagen. Trauer hat etwas Metallisches. Dembes Leben war oxidiert, und wir alle konnten es spüren, schmecken, wie man das Eisen im Blut schmeckt.
Dann rannten sie im Gehege umher und suchten nach Material, um sie zuzudecken. Einen Fetzen Sackleinen, zerbrochene Bretter, ein paar Zweige. Sie begruben sie. Dieses Verhalten ist nicht unbekannt bei Wildtieren: Bären etwa bedecken tote Artgenossen mit Erde. Warum sie das tun, weiß man nicht genau. Doch bei Bonobos war derlei bislang nicht beobachtet worden. Zaire schwang sich auf ihren kräftigen Fingerknöcheln anmutig zu mir rüber. Die anderen folgten, und die Männchen, die etwas aggressiver waren, rupften an den Ballen, auf denen ich lag. Schließlich schubste mich Kias junger Sohn sogar leicht. Seine Augen blitzten auf wie Messer, seine Hand, schon jetzt so groß wie meine, fuhr wie eine Frettchenschnauze an meinem T-Shirt entlang.
Dieses wortlose Umkreisen (wortlos, aber nicht ohne eine eigene Grammatik; das Entstehen von Gewalt folgt einer strengen Grammatik, die manche von Geburt an lesen, andere von Geburt an schreiben können) erinnerte mich an die pubertierenden Gangs, die ich als junges Mädchen bisweilen passieren musste, diese Jungs, die schon Mann genug waren, um davon überzeugt zu sein, dass ihnen ein Teil von mir zustand – der Raum, den ich durchschritt, als Vorstufe dessen, was unter meiner Haut lag und was ich für mein Eigentum gehalten hatte. Ich bekam Angst und wälzte mich vorsichtig von meinem Ballen. Sie stürzten sich kreischend darauf, rissen ihn in Stücke und verteilten dann das Heu über Dembe, bis sie eine Erhebung in der Mitte des Geheges war, ein Heuberg, ein Scheiterhaufen. Wer weiß, was sie in freier Wildbahn getan hätten, oder wenn ihnen jemand – ich – ein Feuerzeug hingehalten hätte.
Ich hatte kein Feuerzeug. Ich hatte nichts als die Kleidung, die ich am Leib trug, Schlüssel und Ausweis und eine schmerzende Stelle in der Armbeuge. Sie ließen mich in Frieden, die Stimmung wurde aufs Neue klebrig, und sie sammelten sich in der von Dembes Leichnam am weitesten entfernten Ecke, drängten sich schnatternd zusammen, während Kia heulte – auch Bonobos weinen. Ich wurde von einer Welle der Erschöpfung erfasst, die so stark war, dass ich nicht anders konnte, als mich auf den Fliesen zusammenzurollen und zu schlafen.
So fand man mich am nächsten Morgen. Man beschuldigte mich, die Kamera demoliert zu haben. Man beschuldigte mich, den Leichnam mit Einstreu bedeckt zu haben. Kein Mensch interessierte sich für meinen Augenzeugenbericht. Und es war, wie konnte es anders sein, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich hatte geglaubt, ich hätte meine Ruhephasen erfolgreich vertuscht, doch dem war nicht so, und meine Kollegen – insbesondere Cosima, die selbstgefällige Doktorandin – observierten mich schon seit geraumer Zeit.
Ich beschwor sowohl die Chefin der Personalabteilung als auch den Fachbereichsleiter, führte ins Rennen, dass mir die Tiere vertrauten, dass ich Dinge mitbekam, die unsere Kameras unmöglich erfassen konnten, dass meine Leistungsfähigkeit nicht gelitten hatte. Zugegebenermaßen stellten der Diebstahl von Morphin und die Einnahme während der Arbeitszeit grobes Fehlverhalten dar, daran gab es nichts zu rütteln, aber, aber, aber …
Professor Charlie Grace, mein Mentor und besagter Fachbereichsleiter, wirkte betroffen in dieser Besprechung, bei der man mich über mein Schicksal informierte. Neugierig beobachtete ich ihn. Die Chefin der Personalabteilung, Gina Irgendwas, trug einen Lippenstift, der sich blau zu verfärben schien, während sie sprach. Wir saßen in einem winzigen Besprechungsraum, in dem bisweilen auch Vorstellungsgespräche geführt wurden. Ich versuchte, mich zu verteidigen. Die zwei Pfeiler meiner Argumentation waren:
1. Meine Arbeit hatte nicht gelitten.
2. Mir war es seit dem schrecklichen Vorfall nicht mehr so gut gegangen.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht von dem umfangreichen Dossier über meine Vergehen, das Cosima zusammengestellt hatte. Die Qualität meiner wissenschaftlichen Arbeit stand außer Frage. Ich war, und als ich ihn in diesem Moment ansah, konnte ich mir ein verstohlenes, zärtliches Lächeln nicht verkneifen, Charlies Liebling. Ich hatte nur getan, was ich tun musste, um Ruhe zu finden. Natürlich bereute ich es zutiefst und würde es nie wieder tun. Ich würde mir auf andere Art Hilfe suchen. Wir waren uns alle einig, dass das Entwenden und Spritzen von Morphin am Arbeitsplatz inakzeptabel war.
Dabei behielt ich für mich, was mein Herz schrie: Aber es ging mir noch nie so gut wie jetzt!
Genauso wie die Wahrheit, die sich wie ein Maulwurf durch die Finsternis in meinem Gehirn buddelte: Morphin klebt die Schuppen wieder auf meine Augen.
Ich wusste, dass meine Romanze mit dem segensreichen Narkotikum enden musste. Ich dachte, tief im Herzen würde Charlie verstehen.
Aber seine Bestürzung und Kühle waren äußerst besorgniserregend.
Die beiden lauschten meiner wohlformulierten Argumentation anstelle der sorgsam unterdrückten Wahrheit. Ich lehnte mich erschöpft und mit schmerzenden Gliedern zurück und fügte hinzu: »Aber was sie mit Dembe gemacht haben … Unglaublich! Es war verblüffend. Wir sollten uns eingehender damit befassen, Charlie. Ausdruck der Trauer bei Bonobos.«
Niemand sagte etwas. Charlie sah mich nicht an. Das Unbehagen in dem Kabuff, in dem wir saßen, wirkte auf mich wie ein inertes Gas, das mich zu ersticken drohte.
Gina hustete, ein Zittern ging durch ihre Satinbluse. »Wir haben folgendes Problem, Dr. Bloom: Aufgrund der Schwere Ihres Vergehens ist das Procedere, das bei Disziplinarverfahren für gewöhnlich zur Anwendung kommt, ausgeschlossen. Wir wissen, dass Sie … ähm … seit dem … Vorfall zu kämpfen haben. Auf Geheiß von Professor Grace haben wir über andere Verstöße hinweggesehen, weil er uns versichert hat, dass Sie auf dem Wege der Besserung sind, und weil er uns – völlig zu Recht – an unsere Fürsorgepflicht erinnert hat. Und natürlich kann ich Ihnen versichern, dass wir Sie sowohl fachlich als auch menschlich ungemein schätzen.«
Ihre Augen waren umrahmt von Metallic-Lidschatten, der eine Spur heller war als die Iris. Die Wirkung war sehr irritierend – ihr Gesicht erschien mir so groß wie unser Sonnensystem, ich blickte in zwei Saturne mit ihren Gasringen. Ich nahm keine wie auch immer geartete Wertschätzung von ihrer Seite wahr, weder für meine menschlichen noch für meine fachlichen Qualitäten.
»Doch die Ereignisse der vergangenen Nacht müssen, wie Sie sicher verstehen werden, die sofortige Kündigung zur Folge haben. Sie haben nicht nur auf dem Institutsgelände gegen das Gesetz verstoßen, sondern mit ihrem Verhalten auch unsere Sicherheit gefährdet, ganz zu schweigen von der potenziellen Verfälschung von Forschungsergebnissen. Wir versuchen, kreativen Menschen und ihrer exzentrischen Ader so weit als möglich entgegenzukommen« – an dieser Stelle verriet Ginas abstoßendes Lächeln, dass sie sich für das Musterexemplar einer kreativen Exzentrikerin hielt –, »aber diesmal sind Sie zu weit gegangen. Sie brauchen Hilfe. Professionelle Hilfe.«
Ich stierte Charlie mit offenem Mund an. »Charlie?«
Mein teurer Freund und Mentor holte tief Luft.
»Es tut mir leid«, murmelte er, an seine Knie gewandt.
Draußen sagte er: »Wenn du ein Arbeitszeugnis willst, schreibe ich es dir privat. Lass mich wissen, wie es dir geht.«
Ich sagte: »Darf ich noch einmal zu den Bonobos? Mich von Zaire verabschieden?«
Er schüttelte den Kopf. »Man wird dich nicht mehr reinlassen, Frieda.«
Ich hätte mir gern eingeredet, dass seine Augen feucht glänzten, als er mich umarmte und das Schlüsselband mit meinem Ausweis entgegennahm. Er beharrte darauf, dass ich meine Karriere nicht mit einer Busfahrt beenden dürfe, also stand ich verlegen auf dem Parkplatz herum, während er ein Taxi bestellte. Zu Hause angekommen, rief ich ihn an, um zu eruieren, was da gerade geschehen war. Fast hätte ich gefragt: Ist es zum Schlimmsten gekommen?, obwohl es zum Schlimmsten ja bereits vor ein paar Jahren gekommen war. Nichts konnte auch nur annähernd so schlimm sein. Ich wusste nicht recht, wie ich die Tatsache einordnen sollte, dass ich aufgrund groben Fehlverhaltens meine geliebte Stelle in diesem Pantheon verloren hatte. Es war, als würde ich meine CDs nach ihrer Bedeutung für mich ordnen, obwohl längst das Haus in die Luft geflogen war.
ZWEI
»Sehen Sie ihr in die Augen«, hatte mich Charlie angewiesen, als ich vor langer Zeit als einfache Studentin am Institut angefangen hatte. »Wenn Sie einem Bonobo in die Augen sehen, dann merken Sie, dass gewissermaßen ›jemand zu Hause ist‹.«
Ich hatte mich unbeholfen vornübergebeugt und durch das Glas geblickt, hinter dem Zaire auf mich zugekommen war. Der direkte Kontakt zwischen Wissenschaftlern und Affen war unterbunden, um die Tiere vor Keimen zu schützen (die Erkältung eines Menschen kann bei einem Bonobo eine Lungenentzündung auslösen) und einer Verfälschung der Forschungsergebnisse vorzubeugen. Zaire hatte den Kopf etwas nach hinten geneigt und musterte mich. Ich fing an, mit ihr zu reden, doch Charlie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Nein, sagen Sie nichts. Sehen Sie sie bloß an.«
In ihren lebhaften, weit auseinanderliegenden Augen funkelte eine Intelligenz, die mich ziemlich nervös machte. Ich ließ über mich ergehen, wie sie mich betrachtete, versuchte nicht, den Raum zwischen uns mit Worten oder Deutungen zu füllen, sondern einfach nur präsent zu sein. Ihre Züge waren entspannt, die hellen Lippen geöffnet. Ich spürte, wie sich als Reaktion darauf ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.
Zaire stand auf und beendete unsere Begegnung mit einem lauten Keckern. Sie wirbelte herum, auf die Fingerknöchel gestützt, und machte sich vom Acker. Charlie lächelte mich an. »Bemerkenswert, nicht?«
Allerdings. Und es bereitete mir Unbehagen. Es war nicht messbar. Es war intuitiv und, offen gestanden, sonderbar. Ich war froh um die trennende Scheibe, um den klar erkennbaren Unterschied zwischen uns, und vor allem war ich froh, dass wir ihre Kommunikation untereinander untersuchten. Ich hatte das untrügliche Gefühl, dass das Leben mit diesen Unterscheidungen besser funktionierte.
Bonobos wurden erst in den Siebzigerjahren als eine eigenständige Spezies anerkannt. Im Gegensatz zu ihren gewalttätigen Cousins, den Schimpansen, sind die kleineren und selteneren Bonobos ausgesprochen friedfertig. Sie sind außerdem die einzigen Primaten, die in nennenswertem Umfang Wörter, Sätze und gedankliche Konzepte verstehen können. Prominentestes Beispiel dafür ist der Bonobo Kanzi, der all diese Fertigkeiten im Umgang mit den Forschern lernte, die eigentlich seine Adoptivmutter unterrichteten. Bonobos leben in matriarchalischen Gesellschaften und zeichnen sich durch ihr ausgesprochen sanftmütiges Wesen und einen ausgeprägten Sexualtrieb aus. Sie sind neben dem Menschen die einzigen Primaten, die von Angesicht zu Angesicht und rein zum Vergnügen Sex haben.
Im Zuge meines Doktoratsstudiums begann ich am Bonobo-Projekt des Instituts mitzuarbeiten, das zum Ziel hat, die Kommunikation der Bonobos über mehrere Generationen hinweg zu erforschen sowie deren akustische und körperliche Ausdrucksformen zu entschlüsseln. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern wollten wir ihnen nicht unsere Sprache und Artikulation beibringen, sondern den Informations- und Wissenstransfer innerhalb ihrer Gruppe und von Generation zu Generation dekodieren. Mein Spezialgebiet waren die »Piepser« der jungen Bonobos, die, wie sich in meinen Analysen herausstellte, den präverbalen Lauten menschlicher Babys ähneln und wie diese oft kontextfrei geäußert werden, also ohne Bezug zu einem spezifischen Bedürfnis oder Gefühl.
Zu den von uns untersuchten Fragen gehörten unter anderem die folgenden: Geben die Affen das in Gefangenschaft erworbene Können und Wissen weiter? Ist ihnen die Fähigkeit, Werkzeuge anzufertigen, angeboren, während die Einzelheiten, etwa, was sich als Werkzeug eignet, von ihrem Umfeld und ihrer Kommunikation darüber abhängen? Verfügen sie tatsächlich über etwas, das man als Sprache bezeichnen kann? Mit den Experimenten, die wir entwickelten, ermöglichten wir ihnen neue Arten der Interaktion, um zu eruieren, ob diese von der gesamten Gruppe angenommen und weitergegeben wurden. Zum Beispiel brachten wir Zaire über einen Fernseher bei, wie man ein Schinkensandwich zubereitet – eine ihrer Lieblingsspeisen. Würde sie diese Fähigkeit weitervermitteln? (Antwort: Nein, aber sie machte Sandwiches für die anderen.)
All das wurde durch stille Beobachtung hinter Glas und via Kamera bewerkstelligt. Um die »Piepser« der Babys aufzunehmen, platzierte ich Mikrofone rund um die Stellen, an denen die Bonobo-Jungen von ihren Müttern gesäugt wurden, und analysierte Bandbreite und Art der Laute sowie den Kontext, in dem sie geäußert wurden. Zehn Jahre meiner beruflichen Laufbahn hatte ich der akribischen Beobachtung und statistischen Erfassung von Verhaltensweisen gewidmet. Beides erforderte keinerlei Körperkontakt oder Verbindung. Wir legten sogar großen Wert darauf, die Ergebnisse nicht durch persönliche Beziehungen zu den Bonobos zu beeinflussen, da diverse Versuche, zu beweisen, dass Bonobos die menschliche Sprache erlernen können, wegen uneindeutiger Ergebnisse infolge allzu großer Nähe zwischen Forscher und Forschungsobjekt in Misskredit geraten waren.
Es bekümmerte mich, Filme über Kanzi zu sehen. So geschickt er die fremde Kultur auch übernommen hatte, er wirkte entwürdigt, obgleich er brillierte. Es verschaffte ihm keinen größeren Wirkungsradius, dass er gedankliche Konzepte erlernen und Sätze auf seiner Symboltafel bilden konnte. Er schien stärker isoliert unter Seinesgleichen und abhängig von seinen menschlichen Gefährten, reduziert auf bemerkenswerte Leistungen in unserer Welt, während er in der eigenen ein unverstandener Fremder war. Was mich faszinierte, war die Welt der Bonobos, die mir – selbst in der eingeschränkten Version, die wir unseren Tieren am Institut gestatten – sehr komplex vorkam.
Ein weiterer Aspekt des Projekts bestand darin, die minimalen, flüchtigen Veränderungen im Mienenspiel der Bonobos zu dokumentieren und spezielle Lautäußerungen aufzuzeichnen. An einem ruhigen Nachmittag spielte ich ein wenig an dem Geschwindigkeitsregler herum und vernahm zu unserem Erstaunen – ich hatte Charlie dazu gerufen, und er hatte sprachlos dabeigestanden – klar und deutlich die Worte Orange, Baby, Frieda. Die Bonobos hatten sie aufgegriffen und gaben sie, bedingt durch ihren anderen Körperbau, in einer viel höheren, verzerrten Stimmlage wieder. Dabei verwendeten sie die Worte viel flexibler, als es ihre eigentliche Bedeutung zuließ. In Frieda schienen sie zwar meinen Namen zu erkennen, aber sie verwendeten das Wort auch für alle weiblichen Mitglieder der Gruppe. Dies war in unseren Augen ein weiteres Beispiel dafür, wie sich diese hochintelligenten Geschöpfe sämtliche Beobachtungen in ihrer Umwelt zu eigen machten, und veranlasste uns, das Phänomen näher zu erforschen.
Die Welt des Instituts und der Bonobos war mein Leben. Und ich war gut: Ich erhielt Fördergelder und bekam eine Festanstellung in Aussicht gestellt. Charlie sprach mit mir darüber, ob wir unsere Projekttätigkeiten auf den bislang unerforschten Bereich der Interspezies-Kommunikation ausdehnen sollten, ein, wie er fand, ausgesprochen wichtiges Thema. Ich zog die klar abgegrenzte Art der Erforschung vor, wie wir sie bereits betrieben.
Klar positioniert innerhalb der wissenschaftlichen Grenzen gab es einen festen Platz für mich sowie für alle anderen, einschließlich der einzelnen Bonobos. Doch ich wusste nicht, wie ich zurechtkommen würde, wenn wir in Interaktion mit den Bonobos traten, uns ohne Spielregeln auf unbekanntes Terrain wagten. Wer wie ich außerhalb fester Familienstrukturen aufgewachsen ist – wie geziert das klingt, aber ich schämte mich immer, das Wort Waise auszusprechen, sogar vor mir selbst – der hat vermutlich nie richtig gelernt, ein Teil dieser Welt zu sein. Das Projekt bot mir einen Rahmen, innerhalb dessen ich üben konnte, mich einzubringen und einzugliedern. Hätte mich jemand danach gefragt (was nie geschah), dann hätte ich gesagt, dass ich keine Kindheit hatte. Ich war ein unbeschriebenes Blatt von der falschen Sorte, und das hätte schlimm enden können. Menschen wie ich entfernen sich im Laufe ihres Lebens tendenziell immer weiter von jeglicher Art von Ordnung und Erfolg, als habe der Urverlust, gleich einer Unterwasserbombe, einen langsam anschwellenden Tsunami an Konsequenzen verursacht, dem man sich letztlich nicht widersetzen kann. Ich wusste um mein Glück. Nur wenige von uns finden einen Ort, an dem sie sich entfalten können und sich zugehörig fühlen. Ich war jeden Tag dankbar für mein einfaches Leben mit seinen beantwortbaren Fragen.
Doch dann, eines Tages, wurde meine geordnete Welt zerschmettert und ich ins Chaos geschleudert, und während ich stürzte, streckte ich wortlos die Hände nach einem anderen Geschöpf aus.
POLIZEIBERICHT
AKTENZEICHEN:12748PX
DIENSTHABENDE/R BEAMTIN/BEAMTER: Carey Munro
TATORT: Spikers Unterführung, Parkerton, London
DATUM UND UHRZEIT:08. 08. 10,00:57 Uhr
BEWEISMATERIALIEN: Kaputtes Mobiltelefon (Beweisstück 1). Schädelfragment (BS2). Orangefarbene Wollmütze, blutig (BS3). Geldbeutel (BS4). Aufnahmen vom Tatort (BS5).
Der Bezirk Parkerton liegt in Nord-London, nordöstlich des Bezirks Haringey. Die Bevölkerung ist gemischt und setzt sich zusammen aus polnischen, rumänischen und türkischen Immigranten sowie einer großen Anzahl an Studenten und anderen jungen alleinstehenden Menschen, die der Innenstadt auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum den Rücken gekehrt haben. Der Anteil der Singlehaushalte in privat vermieteten Unterkünften ist hoch. Rund um den Momentum Park gibt es mehrere Straßenzüge mit großen Wohnheimen. An der nördlichen Grenze befinden sich Sozialwohnungen. Es ist eine moderate Kriminalitätsrate bei Drogendelikten zu verzeichnen, überwiegend im Umfeld der Sozialwohnungen und Wohnheime. Der Bezirk hat keinen U-Bahn-Anschluss, ist aber gut durch Busse angebunden. Das Zusammenleben der diversen Gemeinschaften gestaltet sich ruhig und größtenteils harmonisch und konzentriert sich auf die Straßen mit den jeweils bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten. Insgesamt ist es keine Gegend mit hoher Kriminalitätsrate.
Die Spikers-Unterführung verläuft unter dem kleinen Greenblatt-Kreisverkehr an der westlichen Grenze von Parkerton. Besagter Kreisverkehr war früher der wichtigste Verkehrsknotenpunkt der Gegend, wurde aber von der Endhaltestelle der Buslinie abgelöst, die etwas weiter im Zentrum von Parkerton liegt, wo es außerdem ein Einkaufszentrum gibt. Dort befindet sich der große Fußgängertunnel. Die Spikers-Unterführung ist nicht mit Überwachungskameras ausgestattet; für gewöhnlich ist es dort ruhig, insbesondere nachts, da die meisten Menschen an der Endstation aussteigen. In der Nacht des Vorfalls gab es ein Unwetter mit sintflutartigem Regen, der zu Überschwemmungen auf der Hauptstraße geführt hatte, weswegen der Nachtbus nicht bis zur Endhaltestelle fuhr.
Ich wurde am Sonntag, den08. 08. 10 um00:45 Uhr zum Tatort gerufen, als ich in der Wohngegend um den Momentum Park auf Streife war. Es regnete stark. Ich kam vor dem Krankenwagen an, der infolge der Überschwemmungen sehr lange unterwegs war. Das Opfer lag zusammengekrümmt auf der linken Körperseite in einer Blutlache (BS5.1) unter einer defekten Straßenlaterne, etwa fünf Meter von der Unterführung entfernt. Der Regen hatte einen Teil des Blutes über den leicht abschüssigen Gehweg zu einem etwa drei Meter entfernten, verstopften Abfluss gespült. Der Belag ist dort an mehreren Stellen aufgeplatzt, in den Ritzen am Rand wuchert allerlei Unkraut, darunter Fingerhut. In eine Staude davon war das Opfer gefallen. Es befand sich niemand in der Nähe. Der Notruf war von einer Telefonzelle am anderen Ende der Unterführung abgesetzt worden, der Anrufer hatte jedoch seinen Namen nicht genannt und war verschwunden. Ich rief sofort Verstärkung. Es war sehr dunkel am Tatort, die einzigen Lichtquellen in der Nähe waren eine schwache Deckenleuchte in der Unterführung sowie eine Straßenlaterne in zehn Metern Entfernung. Alle anderen Lampen in dem Tunnel waren defekt. Die Straßenlaterne, unter der das Opfer lag, war offenbar schon vor längerer Zeit vorsätzlich eingeschlagen worden. Die Fliesen im Außenbereich der Unterführung waren gesprungen, und die Wände innen wie außen mit Graffiti besprüht.
Das Opfer atmete, war aber nicht ansprechbar. Es handelte sich um eine etwa einen Meter fünfundsechzig große, schlanke Frau, weiß, schulterlanges dunkles Haar, zusammengebunden mit einem Haargummi aus schwarzem Samt, der sich mit Blut vollgesogen hatte. Ihre Augen waren geschlossen. Als ich eines der Lider nach oben schob, verdrehte sich das Auge. Sie waren blau und sie hatte Sommersprossen auf Nase und Stirn, einen leichten Überbiss und ausgeprägte Wangenknochen. Ich konnte riechen, dass sie Alkohol konsumiert hatte. Sie trug weder an Ohren noch Händen Schmuck und hatte keine Ohrlöcher. Im Licht meiner Taschenlampe sah ich, dass sie einen dunkelblauen Regenmantel trug, darunter ein dunkelgrünes Abendkleid, eine transparente Feinstrumpfhose und schwarze Stöckelschuhe. Sie war bis auf die Haut durchnässt. Ein kaputtes Mobiltelefon lag drei Meter entfernt von ihr auf dem Boden (BS1). In der rechten Manteltasche steckte eine Geldbörse mit einer Oyster-Card und einer EC-Karte, ausgestellt auf den Namen Dr. Frieda Bloom. Kein Bargeld. Kein Hinweis auf ihr Alter. Ich schätzte sie auf dreiunddreißig, was sich später bestätigte.
Nichts deutete auf einen Kampf oder einen Fluchtversuch hin: Sie trug noch beide Schuhe, wobei der rechte nur noch am Zeh hing. Sie hatte beide Hände um den Kopf gelegt, wie um ihn beim Sturz zu schützen. Ich blickte unter ihren Regenmantel und tastete, ohne sie zu bewegen, Rippen, Becken und Rücken ab auf der Suche nach weiteren Verletzungen. Sie wies zwei Verletzungen auf: Eine stark blutende Wunde am Kopf, auf der dem Boden zugewandten Seite; die andere – eine tiefe Abschürfung quer über sämtliche Fingerknöchel der linken Hand, in der sich Schmutzpartikel befanden – entdeckte ich, als ich ihren Kopf anhob.
Ich richtete den Kegel meiner Taschenlampe auf die Kopfverletzung, schob das blutverklebte Haar beiseite und legte dabei eine Fraktur in Form einer Delle von etwa zwei Zentimetern Durchmesser frei, vermutlich verursacht von einem Hammer. Bei Gewalteinwirkungen dieser Art entstehen, ähnlich wie beim Aufschlag eines Steins auf einer Eisplatte, rund um die Wunde strahlenförmige Bruchlinien. Ich konnte besagte Linien spüren und schloss daraus, dass es sich um eine lebensbedrohliche Verletzung handelte. Blut strömte aus der Wunde. Ich drückte die Hand darauf, um den Blutfluss zu stoppen, und sagte: »Dr. Bloom, ich bin Polizistin. Der Krankenwagen ist unterwegs. Bleiben Sie bei mir.« Sie versuchte, meine Hand wegzuschieben und durch die eigene zu ersetzen. Ich nannte ihr meinen Namen und wiederholte, dass der Krankenwagen unterwegs war, doch sie reagierte nicht. Stattdessen begann sie zu weinen, als hätte sie erst jetzt den Schmerz registriert, dann verdrehte sie plötzlich die Augen und wurde erneut ohnmächtig. Sie kam nicht wieder zu Bewusstsein, solange sie auf dem Boden lag.
Ich verharrte in dieser Position, eine Hand auf ihrem Kopf, bis um01:12 Uhr der Krankenwagen eintraf. Um01:15 Uhr stießen Officer Adam und Officer Methuen dazu, sicherten den Tatort mit Absperrband und spannten zum Schutz vor dem Regen eine Plane darüber. Ich begleitete das Opfer im Krankenwagen in die Notaufnahme und später auf die Intensivstation des Whittington Hospital, um meine Ermittlung fortzusetzen.
DREI
Bestimmt glaubte nicht einmal Charlie, dass ich das Gebäude verlassen hatte, ohne etwas mitzunehmen, das mir helfen würde, das, was als Nächstes geschehen würde – oder eben nicht geschehen würde – durchzustehen. Mein Bedürfnis zu ruhen – tief, und zwar bald – wurde angeheizt von der Erkenntnis, dass tatsächlich alles vorbei war, dass man mich wirklich gefeuert hatte. Ich hatte meinen Job verloren, das Einzige, was meinem Leben einen Sinn verliehen hatte. Ich schluckte einen winzigen Löffel voll in der Toilette meiner Wohnung (warum tat ich das immer in Toiletten, selbst, wenn ich allein zu Hause war? Womöglich ein flüchtiges Eingeständnis meiner Sucht?) und ging dann in den Garten, während sich die Ruhe allmählich in mir breitmachte. Draußen gab es eine kleine, für alle Bewohner zugängliche Grünfläche, die vollkommen vernachlässigt war, weil besagte Bewohner entweder mittellose Berufseinsteiger oder mittellose Rentner waren. Immerhin zeugten ein Komposthaufen und ein ehemaliges Wildblumenbeet, in dem inzwischen nur noch Ampfer wucherte, davon, dass es früher ein richtiger Garten gewesen war. Das Beeindruckende war der Baum, der darin stand. Keine der anderen Grünflächen der Gegend konnte mit einem Baum aufwarten. Es war eine riesige, uralte Eibe, verwahrlost und verhasst bei den Nachbarn wegen ihrer beklemmenden Düsternis und ihrer Stattlichkeit, die den Rasen optisch schrumpfen ließ.
Aber ich liebte sie. Ich hatte, während ich mich von dem Überfall erholte, viele Sommernachmittage an ihren Stamm gelehnt gedöst, hatte daran mit der Zeit sogar eine glänzende Stelle hinterlassen, und im Boden darunter eine kleine Mulde. Dorthin kehrte ich auch jetzt zurück, ließ mich auf die Erde sinken, atmete ihren Modergeruch ein. Die Sonne glitzerte durch die Nadeln.
In meiner Jackentasche steckte etwas, das ich immer mit mir herumtrug: eine zerfledderte Karte mit Genesungswünschen, doppelt zusammengefaltet. Auf der Vorderseite grinste ein Schimpanse (Charlie hatte auf die Schnelle keinen Bonobo auftreiben können), und innen hatten all meine Kollegen rund um den Wunsch »Gute Besserung« unterschrieben.
Die Karte hatte in den Wochen auf der Intensivstation über meinem Bett gehangen. Ich hatte über das Bild gelacht, als die Krankenschwester sie mir gegeben hatte – das erste Lachen meines neuen Bewusstseins.
Charlie hatte einen unleserlichen Krakel an den unteren Rand gemalt. Keine persönlichen Worte. Aber hinter seinen Namen hatte er merkwürdig entschieden einen Punkt gesetzt, der sich in den Karton eingedrückt hatte, als hätte sich dort eine Botschaft auf die kleinstmögliche Ausdehnung zusammengezogen. Ich konnte damals lange alles nur verschwommen sehen und ertappte mich immer wieder dabei, wie ich diesen Punkt hinter seinem Namen betrachtete. Ich konnte nicht lesen oder viel reden, weil es mich zu sehr anstrengte, aber der Punkt hinter Charlies Namen schlug mich in seinen Bann. Er war zugleich etwas und nichts. Mir war das Gespür für meine Größe abhandengekommen; ich kam mir vor wie Alice im Wunderland: Mal fühlte ich mich wie ein riesiger Kadaver, mal schrumpfte ich auf ein einzelnes Blutkörperchen zusammen. Manchmal war ich winzig genug, um auf dem Kraterrand dieses Punktes zu sitzen und in seinen mikroskopisch kleinen Abgrund zu blicken, und in diesen merkwürdigen, unwirklichen Momenten hatte ich das Gefühl, Bedeutung, Absicht, ja, selbst Trost seien in greifbare Nähe gerückt. Und dann zoomte ich mich heraus, von der subatomaren auf die universelle Ebene, wie in einer Animation, und meine ausgetrockneten Augen brannten. Es war bloß eine Unterschrift, und der Punkt dahinter nicht Ausdruck eines Vorhanden- oder Zugegenseins, sondern vielmehr eines Nichtvorhandenseins, einer Abwesenheit.
Über Charlies Namen standen die Unterschriften der anderen, mit kleinen Herzchen (von Cosima) oder aufmunternden Worten. Ich betrachtete ihre Namen gern. All diese Leute waren an jenem Abend dabei gewesen, an dem sich alles für immer geändert hatte. Charlie hatte zu einem Essen geladen, um die Bewilligung einer Förderung zu feiern. Die Innenseite der Karte glich dem durcheinandergeratenen Sitzplan einer Hochzeit, den ein Ehepaar noch ab und an zur Erinnerung zur Hand nimmt. Und ich wollte mich erinnern. Ich wollte so sehr im Davor bleiben. Das Institut, die Bonobos, Charlie, meine Arbeit … Sie waren Teil des Lebens, das ich mir geschaffen hatte. Es war so schön gewesen.
Im Davor hatte es kein Warum gegeben. Das Warum machte mir mehr zu schaffen als die körperlichen Folgen, sprich, die Fragilität meines Schädels und der Blutgefäße darin. Wechselnde Ärzte erklärten mir in ernstem Tonfall und anhand von CT-Scans, ich dürfe meinen Körper nie mehr belasten. Es könne jederzeit eine Hirnblutung auftreten. Deshalb dürfe ich auch niemals Kinder haben. Es war eine niederschmetternde Nachricht, die ich nur widerstrebend akzeptieren konnte, aber noch schlimmer war das Warum, das in meinen Gedanken metastasierte und sich zu einem großen Klumpen unbeantwortbarer Fragen verhärtete.
Warum habe ich an jenem Abend so viel getrunken?
(Ich war glücklich?)
Warum habe ich nicht auf Charlie gehört und ein Taxi genommen?
(Ein Ende, das ich nicht wollte?)
Warum hat mich Charlie allein nach Hause fahren lassen?
(Ich kann dich nicht begleiten, Frieda.)
Warum hat der Angreifer ausgerechnet mich gewählt?
(…)
Als ich die Karte nun, unter dem Baum sitzend, betrachtete, stellte ich fest, dass sie mich nicht mehr tröstete. Sie weckte allzu schmerzhafte Erinnerungen an das Leben davor, genau wie der Sitzplan einer Hochzeit es tut, wenn man mittlerweile geschieden ist. Nicht, dass ich Schmerz empfand, wenn ich ruhte. Ich schwebte darüber, mit unbeteiligtem Interesse, wie ein Vogel über einem Floß, auf dem bäuchlings ein Mensch – ich? – liegt und sich an den durchnässten Tauen festklammert, während das Floß auf einen schäumenden Wasserfall zutreibt.
Ich zerriss die Karte.
Augenblicklich geriet ich in Panik und suchte unter den auf der Erde liegenden Fetzen nach dem einen Namen.
Meine Gedanken begannen zu rasen, durchbrachen wild durcheinanderwirbelnd die Grenzen meines Verstandes, Unausgesprochenes drängte nach außen, Wahrheiten und Lügen, die ich nicht mehr unterscheiden konnte:
Man hat mir gekündigt; ich bin morphinabhängig; ich ertrage es nicht, die Bonobos zu verlassen; ich habe Angst; seit dem Überfall nehme ich die Empfindungen der Bonobos wahr, gerade so, als hätte sich eine Pforte geöffnet; wir sind verbunden, wir sind verwandt; es geht mir blendend; ich habe den Überfall verwunden; ich komme damit klar, wenn der Täter nicht gefunden und bestraft wird; das Forschungsprojekt läuft hervorragend, und ich bin emotional in keiner Weise involviert; alles wird gut …
Dann: »Oh!«, als ich das Fitzelchen mit Charlies Unterschrift fand. Wie schrill das klang, schrill und zugleich gedehnt, wie in Zeitlupe; wie eine Raupe, wenn Raupen sprechen könnten. Ich steckte das Fitzelchen in meine Handyhülle. Es war alles, was von meinem früheren Leben geblieben war, ein Fetzen Asche nach einem Waldbrand.
Eine Nachbarin kam über den Rasen auf mich zu. Es war Danda, pensionierte anglikanische Vikarin, Kettenraucherin. Die Schlittenfahrt meiner Gedanken endete jäh in einer Schneeverwehung, der Aufprall rüttelte mich wach.
Danda ließ sich mir gegenüber nieder. Ihr graubraunes, faltiges Gesicht verzog sich zu einem sandfarbenen Lächeln. Sie hatte eine wunderbar rauchige Stimme. »Ist etwas passiert?«
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ganz schief am Baumstamm lehnte. Ich setzte mich gerade hin. »Ich wurde gefeuert.«
Ihre grauen Brauen wölbten sich sanft nach oben. »Tut mir leid, das zu hören. Auch wenn es mich nicht sonderlich überrascht. Zigarette?« Sie hielt mir die Schachtel hin. Ich rauchte nicht, aber wenn mir Danda eine anbot, sagte ich immer ja. Ich nahm zwei, schüttelte den Kopf, als sie mir das Feuerzeug geben wollte, und steckte die Zigaretten ein.
Danda musterte mich prüfend.
»Ich wurde auch mal gefeuert – naja, soweit das in der anglikanischen Kirche möglich ist. Ich wurde zu einer peinlichen Besprechung bei billigen Keksen einbestellt, bei der niemand etwas sagte, und dann hat mich der Bischof in eine neue Gemeinde versetzt.«
»Warum hat man Sie gefeuert?«
»Es gab Tratsch. Eine weibliche Vertreterin der Kirche, die raucht und nicht kritisch genug auftritt. Der neue Pfarrbezirk war viel besser. Innenstadt. Da waren die Leute zu sehr mit den Härten des Lebens beschäftigt, um sich an mir zu stören. Sie kamen sogar, um sich von mir trösten zu lassen. Von mir! Unglaublich. Dort war ich bis zum Eintritt in den Ruhestand. Dass ich gefeuert wurde, war das Beste, was mir je passiert ist. Was haben Sie ausgefressen?«
»Fixen am Arbeitsplatz.«
Dandas Lachen klang scheppernd, wie Steine, die in einen Blecheimer gekippt werden. »Okay, so geht es natürlich auch … Soll ich jemanden anrufen? Ihre Eltern vielleicht?«
»Ich bin außerhalb fester Familienstrukturen aufgewachsen«, murmelte ich.
Am Institut hatte sich mein abgekoppeltes Dasein im Laufe der Jahre eingefügt, eines von unzähligen Molekülen. Aber das war nun vorbei. Ganz gleich, ob ich es aussprach oder nicht, das Wort Waise würde mich von nun an umschwirren wie eine gottverdammte Hornisse. Alle um mich herum würden instinktiv vor mir zurückschrecken.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte Danda sanft.
»Als ich fünf war, sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, erklärte ich. »Nur mein Chef – mein ehemaliger Chef, mein Ex-Chef – weiß davon. Ich bin in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen. Ich habe das seit vielen Jahren nicht mehr erklären müssen. Es gibt niemanden, den Sie anrufen könnten. Das klingt jetzt sicher, als wäre ich wütend, aber das bin ich nicht. Ich war nur lange keine Waise mehr. Jetzt bin ich es wieder.«
Ich hob den Kopf und hatte das Gefühl, in die harten Augen eines Vogels zu blicken. Eine entsetzliche Sekunde lang sah ich mich ganz und gar in mir selbst verortet, in all meiner Furcht, all meinem Schmerz.
»Kommen Sie doch mit rein zu mir«, schlug Danda vor. »Ich koche uns etwas.«
Ich schüttelte den Kopf. Mit einem Mal war ich unendlich müde. Gegen Ende der Ruhephase überkam mich oft Erschöpfung, gefolgt von Angst.
»Danke für die Zigaretten.« Ich rappelte mich auf, wobei ich mich haltsuchend am Stamm der Eibe abstützte, winkte Danda zum Abschied betont fröhlich und kehrte in meine Wohnung zurück.
Dort genehmigte ich mir einen Drink – einen ziemlich abgestandenen Portwein, etwas anderes hatte ich nicht im Haus. In letzter Zeit hatte Morphin dem Alkohol den Rang abgelaufen. Dann wartete ich schläfrig auf dem Sofa darauf, dass etwas passierte. Meine Haut war köstlich warm von der Sonne.
Lange Zeit bewegte ich mich nicht. Was, wenn ich einfach gar nichts tat? Wenn ich liegenblieb, hier auf dem Sofa, und nichts tat? Nach einer Weile lagen Wände und Boden im Zwielicht, der Schein der Straßenlaternen fiel schräg ins Zimmer.
Ich betrachtete die Indizien eines Lebens davor und danach: Stapelweise Bücher und Ausgaben des New Scientist, geologische Staubschichten, die Vorhänge, die ich unvorstellbarerweise selbst genäht hatte, von Hand, in einer fiebrigen Nacht, beherrscht von dem Gefühl, nie wieder schlafen zu können und in Form von winzigen Stichen wieder und wieder Sicherheit herstellen zu müssen, die ganze Nacht hindurch.
Vielleicht sollte ich ins Bett gehen. Schließlich war der Tag vorbei. Ich schleppte mich ins Schlafzimmer und schälte mich aus der Kleidung. Im spärlichen Licht streifte mein Blick eine blasse, magere Frau, deren Haar auf einer Seite des Kopfs nicht mehr als ein bisschen Flaum war, als hätte es dort aufgehört zu wachsen. Unsere Blicke trafen sich. Ihre Pupillen waren so groß, dass ich nicht sehen konnte, welche Farbe ihre Augen hatten.
Ich zündete mir eine von Dandas Zigaretten an. Sie schmeckte nach überholten schlechten Neuigkeiten. Dennoch öffnete ich vorsichtig den Mund und blies einen perfekten Rauchring in die Luft. Die magere Frau im Spiegel tat es mir gleich. Mein Rauchring stieg, wabernd wie Schall, bis zur Decke empor, breitete sich aus wie ein Atompilz. Es sah wunderschön aus. Die andere Frieda hielt den Blick auf etwas jenseits des Rahmens gerichtet, während ihr Rauchring am Spiegelrand verschwand.
VIER
Vier Wochen später stieg ich vor einem weiß getünchten Steinbogen, der sich über dem Eingangstor zum Torbet Zoological Park spannte, aus dem Bus. Ich befand mich im tiefsten Devon und war im Begriff, meine neue Stelle als Tierpflegerin in diesem kleinen privaten Zoo anzutreten. Ich verdankte sie Charlie – der Besitzer war mit dem Freund eines Freundes von ihm bekannt und stellte nicht allzu viele Fragen. Hier wurden immer Leute gebraucht, um den Betrieb am Laufen zu halten.
»Bist du vom Morphin runter?«, hatte mich Charlie gefragt, als ich ihn angerufen und um Hilfe angefleht hatte, weil ich ohne meinen Job durchzudrehen drohte. All meine Gedanken kreisten um Zaire. Nicht einmal der Vorrat an Ampullen, den ich im Institut hatte mitgehen lassen, konnte mich lange ruhigstellen. Also griff ich zum Hörer in der Hoffnung, dass mir Charlie versichern würde, er setze alle Hebel in Bewegung, damit ich meine Arbeit an unserem Projekt schon bald fortsetzen könne.
»Natürlich bin ich vom Morphin runter«, log ich. Ich war sehr sparsam mit den Ampullen umgegangen, hatte mir vorsorglich Diazepam besorgt, das mir den Entzug erleichtern würde. Meine Hausärztin hatte keine Einwände erhoben, als ich sie um ein Beruhigungsmittel gebeten hatte.
»Ich bin nicht depressiv«, hatte ich betont. »Ich leide an schrecklichen Angstzuständen seit …« Ich sprach es nur ungern aus, aber es ging nicht anders. »Seit dem Überfall.«
Sie wusste alles darüber. Es war nicht nötig, die Angelegenheit noch einmal durchzukauen – die Operationen, die lange Reha-Phase. Ich hatte eine kahle Stelle seitlich am Kopf, die ich bislang notdürftig hatte kaschieren können, die aber neuerdings deutlicher zutage trat, weil mir die Haare ausgingen. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass mich niemand darauf ansprechen würde.
Sie nickte verständnisvoll.
»Seit dem Überfall kann ich nicht schlafen. Ich wurde entlassen. Ich brauche einfach mal … etwas Ruhe.«
Und so kam ich an einen recht knapp bemessenen Diazepam-Vorrat (»Wenn Sie Nachschub brauchen, müssen Sie wieder vorbeikommen«, hatte sie gesagt) und außerdem an ein Rezept für verschreibungspflichtiges, extrastarkes Codein, weil ich unter heftigen Entzugserscheinungen leiden würde, wenn die Ampullen erst endgültig aufgebraucht waren. Zur Überbrückung besorgte ich mir die stärksten wasserlöslichen Schmerztabletten, die rezeptfrei erhältlich waren, und ließ mein Interesse an Wodka wiederaufleben. Als sich Charlie also telefonisch erkundigte, ob ich vom Morphin runter sei, war die Tatsache, dass ich mit einer Lüge antwortete, meiner Ansicht nach nicht der Hinterhältigkeit einer Suchtkranken geschuldet, sondern vielmehr eine Vorwegnahme der Tatsachen. Ich war auf dem besten Weg, das Morphin abzusetzen. Bis zu meiner Rückkehr ans Institut würde ich absolut clean sein. Der Großteil der Ampullen war bereits aufgebraucht, und ich hatte Ersatzdrogen und eine solide Strategie für den Entzug.