Octavia - Der achte Kontinent - Sarah Lianson - E-Book

Octavia - Der achte Kontinent E-Book

Sarah Lianson

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Beschreibung

Ein Flugzeugabsturz bringt Oliver nach Octavia, den achten Kontinent. Verborgen vom Rest der Welt leben dort Menschen und Feen in Frieden zusammen. Die Feen teilen einen Teil ihrer Magie mit den Menschen, in dem sie jedem Kind gleich nach Geburt einen Seelenstein überreichen. Diese auf der Stirn getragenen Steine vermitteln ihren Trägern spezielle Gaben. Oliver wird in Octavia freundlich empfangen und lässt sich in der Waldprovinz nieder. Er stellt jedoch schnell fest, dass auch der achte Kontinent seine dunklen Seiten hat...

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Octavia - Der achte Kontinent

PrologIKapitel 1 - TamiraKapitel 2 - ArdenKapitel 3 - OliverKapitel 4 - TamiraKapitel 5 - OliverKapitel 6 - ArdenIIKapitel 7 - OliverKapitel 8 - TamiraKapitel 9 - ArdenKapitel 10 - OliverIIIKapitel 11 - ArdenKapitel 12 - TamiraKapitel 13 - OliverKapitel 14 - ArdenKapitel 15 - TamiraKapitel 16 - OliverKapitel 17 - ArdenIVKapitel 18 - OliverKapitel 19 - TamiraKapitel 20 - OliverKapitel 21 - ArdenVKapitel 22 - OliverKapitel 23 - TamiraKapitel 24 - ArdenImpressum

Prolog

Es war kurz nach Sonnenaufgang an einem herbstlichen Tag. Noch lag ein leichter Nebel zwischen den Bäumen, erste Sonnenstrahlen ließen jedoch bereits die Blätter des Waldes in goldenen Farben leuchten. Arden saß auf seinem Lieblingsfelsen am Bach und spielte mit seinem Holzboot. Sein Vater hatte ihm trotz der frühen Morgenstunde erlaubt, aus dem Haus zu gehen. Arden war noch zu jung, um zu begreifen, dass dies ausnahmsweise sogar sehr erwünscht war, denn in jenem Moment erblickte im Haus seine kleine Schwester Tamira die Welt.

Arden und seine Eltern gehörten dem Waldvolke an. Schon seit Generationen wohnten sie etwas außerhalb des Städtchens Nordwald am Eisbach. Im Sommer war ihr Haus ganz vom Grün der Wälder umhüllt, aber im Winter konnte er von seiner Baumhütte bis in die roten Berge sehen.

Wäre Arden in dem Moment im Haus gewesen, so hätte er die Ankunft der Feen miterlebt. Jedes neugeborene Kind in Octavia wurde gleich nach seiner Geburt von den Feen besucht und erhielt einen Seelenstein. Mit diesem auf der Stirn getragenen Geschenk teilten die Feen einen gewissen Teil ihrer Kräfte mit den Menschen. Wie alle anderen Abkömmlinge des Waldvolkes trug Arden einen grünen Stein auf seiner Stirn. Der Stein gehörte so sehr zu ihm wie seine Augen oder Nase. Er wäre daher erstaunt gewesen, dass die kleine Tamira in dem Augenblick mit kahler Stirn das erste Mal Atem schöpfte.

Die Feen hatten diesen Moment bereits erwartet. Gleich zwei von ihnen kamen in ihrer menschenähnlichen Gestalt aus dem Schatten des Waldes hervor und betraten behutsam das Haus. Die größere der beiden berührte sanft Tamiras Stirn, wodurch sich ohne einen Tropfen Blut ein Loch öffnete. Die kleinere Fee nahm den grünen Stein aus ihrer Tasche und platzierte ihn in der Stirn.

Als Arden kurze Zeit später zurück ins Haus kam, waren die Feen bereits verschwunden. Stattdessen traf er auf seine erschöpften aber glücklichen Eltern, die ihn mit seiner kleinen Schwester bekannt machten.

Der Tag begann wie jeder andere. Sie stand auf einem kleinen Hügel und sah zu, wie die Sonne sich langsam über den Horizont hob und die Welt in ihr rötliches Licht tauchte. In den kommenden Jahren würde sie sich in dunklen Nächten oft an diesen Tag zurück erinnern und sich fragen, ob sie wichtige Anzeichen übersehen hatte. Aber in dem Moment gab es nichts, dass sie vor der nahenden Katastrophe warnte.

Kapitel 1 - Tamira

Es war ein heißer Sommerabend und die steinernen Straßen von Stonetown schienen die Hitze noch weiter zu verstärken. Vor allem an solchen Tagen sehnte sich Tamira nach ihrer Heimat im Wald und dem kühlen Haus ihrer Eltern. Sie hatte jedoch vor einigen Jahren beschlossen, in Stonetown an die Universität zu gehen und wie viele andere war sie nach Abschluss des Studiums in der Stadt geblieben. Sie riss alle Fenster des kleinen Apartments auf, das sie sich mit ihrem Bruder Arden teilte. Die erhoffte Abkühlung blieb aber leider aus. Wie sie selbst hatte auch Arden sein Studium in der Stadt absolviert und sich danach entschieden, einen Job im Rathaus anzunehmen.

»Hallo Schwesterchen, du hast die großen Neuigkeiten verpasst.«

Arden betrat schwungvoll die Wohnung und strich sich seine dunklen Haare aus dem Gesicht. Selbst in dieser Hitze schaffte er es, überraschend frisch auszusehen.

»Was habe ich verpasst?«, erkundigte sich Tamira ohne großes Interesse. Sie hatte in der Zwischenzeit die Hoffnung auf eine kühle Brise aufgegeben und begann, die Fenster wieder zu schließen.

»Nun, scheinbar hat man einen unbekannten Steinlosen am Strand außerhalb von Ostwald aufgegriffen.«

»Was?«, fragte Tamira entsetzt. Trotz der Hitze lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Neuigkeiten über Steinlose in Octavia bedeuteten meist nichts Gutes.

»Kein Grund zur Sorge«, warf Arden ein. »Es hat sich schnell herausgestellt, dass es gar kein wirklicher Steinloser war, sondern effektiv ein Mensch ohne Stein.«

»Du meinst jemand, der aus der äußeren Welt hierhergekommen ist?« Tamiras Angst verwandelte sich sogleich in Begeisterung.

»Ja, so scheint es zumindest. Angeblich war er in einem dieser metallenen Vögel unterwegs. Dieser ist ganz in der Nähe unserer Küste vom Himmel gefallen. Der arme Mann war vermutlich halb tot, als er am Strand gefunden wurde.«

»Die heißen Flugzeuge«, unterbrach ihn Tamira.

»Wie bitte?«, fragte Arden verwirrt. »Ah in Ordnung, was auch immer du sagst. Du bist definitiv die Expertin für solche Dinge. Daher habe ich gedacht, dass es dich interessiert, davon zu hören.«

Tamira hatte nach Abschluss ihres Studiums einen Job beim Ministerium für die nationale Sicherheit angenommen. Das Sicherheitsministerium war unter anderem dafür verantwortlich sicherzustellen, dass die Bewohner der anderen sieben Kontinente keine Ahnung von der Existenz Octavias hatten. Im Normalfall funktionierte dies hervorragend. In sehr seltenen Fällen kam es jedoch vor, dass sich ein Mensch aus der äußeren Welt bis an ihre Küste verirrte.

»Weißt du, wer ihn gefunden hat und was nun mit ihm geschehen wird?«

»Ich glaube, eine Frau vom Waldvolke hat ihn gefunden und nach Stonetown gebracht. Morgen muss er zur Befragung vor den Großen Rat treten.«

»Wirst du dort sein und das Protokoll der Versammlung erstellen?«, fragte Tamira in hoffnungsvollem Ton.

»Ja, ich werde da sein«, antwortete ihr Bruder lächeln. »Und bevor du fragst, ja, ich kann dich als meine Assistentin reinschmuggeln, falls du mitkommen möchtest, um ihn dir anzusehen.«

»Du bist der Beste, danke!«

Am nächsten Morgen machten sich Arden und Tamira früh auf den Weg zum Rathaus. Es stellte sich bald heraus, dass auch noch andere die Neuigkeit vom steinlosen Mann aus der äußeren Welt vernommen hatten. Der große, steinerne Platz vor dem Rathaus war überfüllt mit Schaulustigen, die hofften, einen kurzen Blick auf den Unbekannten zu werfen. Glücklicherweise erkannten die Türsteher Arden sofort als einen der Ratsassistenten und ließen ihn durch die große, hölzerne Pforte eintreten. Sie betrachteten Tamira misstrauisch, waren jedoch zu sehr damit beschäftigt, alle anderen Zuschauer am Eintreten zu hindern, um sich Gedanken über sie zu machen.

Das Rathaus war ein prunkvolles, kreisrundes Gebäude. Für den Bau waren die typischen Materialen der vier Provinzen von Octavia verwendet worden. Die Böden bestanden aus Lehm von den großen Ebenen, die Wände waren eine Mischung aus Holz aus den Wäldern und Steinen aus den Gewässern der Seenplatte und die Decke bestand mehrheitlich aus dem roten Gestein der Berge. Stonetown selbst gehörte zu keiner der vier Provinzen. Die Einwohner Octavias hatten vor tausend Jahren entschieden, ihre Hauptstadt in der Mitte der Insel auf neutralem Territorium zu errichten.

Arden führte seine Schwester durch einen Seitengang in das kleine Büro, welches er sich mit zwei jüngeren Ratsassistenten teilte. Die alltäglichen Aufgaben der Assistenten, mehrheitlich Briefe schreiben und Protokoll führen, war meist nicht besonders interessant. Arden war jedoch schon einige Jahre dabei und wurde inzwischen auch bei wichtigen und streng geheimen Gesprächen involviert. Außerdem galt die Arbeit eines Ratsassistenten als hervorragender Einstieg in den Ratsbetrieb und so manche wichtige politische Persönlichkeit in Octavia hatte ihre Karriere auf diesem Weg gestartet. Tamira nickte den beiden anderen Assistenten zu. Petro schien sie nicht wahrzunehmen, während sich Yara das Lachen nur schwer verkneifen konnte.

»Wieso bin ich nicht überrascht, dich hier zu sehen, Tamira?«, fragte sie grinsend. »Arden, ich glaube, das wird die am besten protokollierte Versammlung, die Stonetown je gesehen hat, wenn selbst die Ratsassistenten noch zusätzliche Assistenten haben.«

Arden grinste zurück und führt Tamira in den großen Ratssaal. Der Saal bestand ganz aus Stein und bot genug Platz für mehrere hundert Leute. Arden setzte sich auf den für ihn vorgesehenen Stuhl am Rande der Ratssitze. Tamira zwängte sich dahinter in den kleinen Zwischenraum zwischen Stuhl und Wand. Es war nicht sonderlich bequem, aber dafür hatte sie eine hervorragende Sicht auf die Bank, wo jeden Moment der steinlose Mann Platz nehmen würde. Die Zuschauerbänke auf der hinteren Saal Seite waren bereits prall gefüllt. Nur außerordentliche Frühaufsteher oder sehr wichtige Leute hatten es geschafft, einen Platz zu ergattern.

»Petro hat dir wohl noch immer nicht verziehen, dass du nicht mit ihm zum Sommerball gegangen bist?«, frage Arden seine Schwester mit einem Zwinkern in den Augen.

Tamira warf ihm einen vernichtenden Blick zu und suchte nach einer passenden Antwort. Doch in dem Moment ging ein Raunen durch die Menge und der steinlose Mann wurde hereingeführt. Tamira war überrascht, wie normal er aussah. Er war ein gutaussehender Mann, groß und schlank mit hellen Haaren. Abgesehen vom fehlenden Stein und seinen eher sonderbaren Kleidern, sah er aus wie einer von ihnen. Seine Haut war sehr blass und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Aber dies war wohl verständlich, wenn man gerade einen Flugzeugabsturz überlebt hatte und auf einem unbekannten Kontinent gestrandet war. Er war vermutlich ein paar Jahre älter als ihr Bruder, wirkte in dem Moment jedoch eher wie ein verlorenes Kind. Eine Frau vom Waldvolke mit braunen, gelockten Haaren hatte neben ihm platzgenommen. Tamira vermutete, dass sie den Mann gefunden hatte. Sie schien beruhigend auf ihn einzureden, was aber nur bedingt Wirkung zeigte. Tamira warf auch einen Blick auf die gegenüberliegende Seite der Ratssitze. Dort befand sich die Loge der Feen. Im Moment war niemand zu erkennen, was aber nichts heißen musste, da Feen es oft vorzogen, unsichtbar zu bleiben.

Plötzlich wurde es still im Saal und Tamira sah, wie die Ratsmitglieder den Saal betraten. Sie trugen die offiziellen, dunkelblauen Gewänder des Großen Rates sowie um den Hals je nach Rang ein silbernes oder goldenes Amulett, welches das Wappen Octavias darstellte. Die Ratsälteste Avena von Kornstadt nahm den zentralen Platz in der ersten Reihe der Ratssitze ein. Der gelbe Stein auf ihrer Stirn verriet, dass sie ursprünglich aus der Provinz der großen Ebenen stammte. Ihre Stimme hallte durch den Saal, als sie sich an den steinlosen Mann wandte.

»Steinloser Mann der äußeren Welt, wir begrüßen dich in unserer Mitte. Wie du vermutlich bereits weißt, bist du hier in Octavia, dem achten Kontinent. Wir geben uns große Mühe, dass unsere Existenz von den Leuten in der äußeren Welt verborgen bleibt. Da du nun aber hier bist, werden wir deine Geschichte anhören und anschließend entscheiden, was mit dir geschehen soll. Erzähl uns bitte, wie du hierhergekommen bist.«

Der steinlose Mann nickte und richtete sich auf.

»Mein Name ist Oliver Anderson«, sagte er mit erstaunlich fester und angenehmer Stimme. »Ich stamme aus dem Kontinent, der zumindest bei uns Europa genannt wird. Vor ein paar Tagen war ich in einem Flugzeug unterwegs. Wir waren über dem offenen Meer, als das Flugzeug plötzlich an Höhe verlor. Was dann geschah, weiß ich nicht. Ich muss wohl beim Absturz das Bewusstsein verloren haben. Ich kann mich erst wieder daran erinnern, dass ich in einer Hütte lag und eine Frau«, er nickte dabei in Richtung der Frau vom Waldvolke, »sich über mich beugte.«

Die Ratsälteste musterte ihn durchdringlich und drehte sich zu einem Mann zu ihrer rechten.

»Sicherheitsminister Kaya, kannst du die Geschichte bestätigen?«

Ein großer, breitschultriger Mann mit rotem Stein erhob sich von seinem Stuhl und Tamira drängte sich im selben Moment noch etwas weiter gegen die Wand. Kaya war ihr oberster Chef und nicht gerade für seine Sanftmütigkeit bekannt. Es war sehr unwahrscheinlich, dass er sie erkennen würde. Falls doch, wäre er aber vermutlich nur wenig erfreut, dass sich eine seiner jüngsten Mitarbeiterinnen unter nicht ganz ehrlichen Umständen Zugang zum Saal verschafft hatte.

»Ich kann die Aussagen des steinlosen Mannes bestätigen, Ratsälteste. Wir haben Kenntnis davon, dass sich ein sogenanntes Flugzeug in unmittelbarer Nähe unserer Küste aufhielt. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Insassen des Flugzeuges uns sehen oder in einer anderen Form wahrnehmen konnten. Aus uns noch nicht bekannten Gründen hat das Flugzeug plötzlich an Höhe verloren. Wir gehen davon aus, dass es sich um eine mechanische Fehlfunktion handelte und kein aktiver Versuch war, nach Octavia zu gelangen«, erklärte Kaya. »Es war ein unglücklicher Zufall, dass dieser Mann Octavia erreichen konnte. Einer unserer Schilde weist auf Meereshöhe eine Lücke von einigen Metern auf. Dieser Mann wurde genau an dieser Stelle ins Meer geworfen und konnte daher die Bucht von Ostwald erreichen. Unsere Techniker arbeiten bereits daran, die undichte Stelle zu schließen...«

»Danke Sicherheitsminister Kaya«, fiel ihm die Ratsälteste ins Wort. »Eine separate Untersuchung bezüglich der undichten Stelle wird noch eingeleitet werden.«

Der Sicherheitsminister nickte etwas geknickt. Er war es offensichtlich nicht gewohnt, unterbrochen zu werden.

»Wissen wir, was mit den anderen Insassen des Flugzeuges passiert ist?«, fuhr Avena fort.

»Abgesehen von diesem Oliver Anderson konnten wir keine Überlebenden ausfindig machen. Wir gehen daher davon aus, dass die anderen Insassen beim Absturz ums Leben gekommen sind«, antwortete Kaya erleichtert.

Die Ratsälteste wandte sich nun der Frau des Waldvolkes zu. Diese schaute etwas besorgt den steinlosen Mann an, der nach der letzten Aussage des Sicherheitsministers wieder jegliche Farbe im Gesicht verloren hatte.

»Bitte erkläre uns, wer du bist und wie es dazu kam, dass du diesen Mann gefunden hast.«

Die Frau vom Waldvolke richtete sich auf.

»Ich bin Elana von Ostwald. Am besagten Tag war ich bereits am frühen Morgen am Strand unterwegs, um zu meiner Arbeit auf einer Birkenplantage zu gehen, solange es noch kühl war. Dabei entdeckte ich einen Mann, der regungslos im Sand lag. Ich merkte sofort, dass er noch lebte und habe ihn daher in meine Hütte gebracht. Dort hat er kurz darauf das Bewusstsein wiedererlangt.«

»Hattest du keine Angst, als du bemerkt hast, dass er steinlos ist?«, fragte die Ratsälteste leicht verwundert.

Elana schien die Frage erwartet zu haben und erwiderte ohne Umschweife: »Nein, hatte ich nicht, er war ja bewusstlos. Außerdem trug er Kleidung, die ich in Octavia noch nie gesehen hatte. Ich vermutete daher, dass es sich bei ihm nicht um einen normalen Steinlosen handelte.«

»Und ich nehme an, du hast nach dieser Erkenntnis sofort deinen lokalen Wachtmeister verständigt?«

Elana schien diesmal einen kleinen Augenblick zu zögern, bevor sie antwortete. »Ich bin bei ihm geblieben, bis er aufgewacht ist. Danach konnte ich mich vergewissern, dass er tatsächlich aus der äußeren Welt stammt. Mit dieser Information habe ich den Wachtmeister von Ostwald aufgesucht. Soweit ich weiß, hat dieser umgehend eine Nachricht zum Großen Rat geschickt und mich gebeten, Oliver nach Stonetown zu begleiten.«

»Danke Elana, das wäre dann alles«, sagte die Ratsälteste. »Nun dann, Oliver Anderson, der Rat und die Feen werden sich zur Beratung zurückziehen und dir in Kürze unsere Entscheidung mitteilen.«

Mit diesen Worten erhob sie sich und mit ihr die vierzig Mitglieder des Großen Rates. Tamira warf erneut einen Blick in Richtung der Feenloge und stellte erstaunt fest, dass sich diese in der Zwischenzeit gefüllt hatte. Mindestens fünfzehn Feen hatten dort in ihrer menschlichen Gestalt Platz genommen. Auf den ersten Blick sahen sie aus wie normale Männer und Frauen. Doch anstelle eines grünen, blauen, roten oder gelben Steines war ihre Stirn mit farblosen Steinen besetzt, die bei Sonnenlicht in allen Farben funkelten. Obwohl Tamira schon viele Feen in menschlicher Gestalt gesehen hatte, war sie bei jeder Begegnung aufs Neue fasziniert. Feen waren überirdisch schön und verströmten ein Gefühl von Freundlichkeit und Güte. Gleichzeitig hatten sie jedoch etwas Kaltes und Unberechenbares an sich. Tamira würde es nie zugeben, aber es gab durchaus Momente, in denen ihr die Feen Angst einjagten.

Arden und Tamira nutzten die Unterbrechung, um sich in Ardens Büro etwas zu trinken zu besorgen. Petro war zu Tamiras Erleichterung nirgendwo zu sehen, während Yara sie schon aufgeregt erwartete.

»Wie war es? Wie sieht er aus? Woher kommt er? Sie werden ihn doch nicht töten, oder?«

Arden schüttelte den Kopf. »Das glaube ich kaum, aber eine Entscheidung ist noch nicht getroffen worden. Der Rat und die Feen haben sich zur Besprechung zurückgezogen. Vermutlich werden sie ihn zurück in die äußere Welt schicken und dabei sein Gedächtnis löschen. Er war in einem dieser komischen metallenen Vögel unterwegs, mit denen die Menschen der äußeren Welt so gerne fliegen. Der Sicherheitsminister Kaya hat bestätigt, dass dieser gleich vor unserer Küste ins Meer gestürzt ist.«

»Und er sieht ganz normal aus«, fügte Tamira hinzu. »Abgesehen vom fehlenden Stein sieht er aus wie wir. Er wurde am Strand in Ostwald von einer Frau des Waldvolkes gefunden.«

»Hast du sie nicht erkannt?«, fragte Arden erstaunt.

»Nein, sollte ich?«, meinte Tamira überrascht.

»Elana ging auf die gleiche Schule wie wir, bevor sie nach Ostwald zog. Es erstaunt mich, dass sie in einer Birkenplantage arbeitet. Wenn ich mich recht erinnere, war sie eine unglaublich gute Schülerin.«

Yara, eine Vertreterin des Wasservolkes, warf ihm einen bösen Blick zu. »Immer diese Waldmenschen und ihre Vorurteile. In einer Birkenplantage zu arbeiten, hört sich doch ganz gut an. Zumindest schattig und nicht so wahnsinnig heiß wie hier in der Stadt.«

In diesem Punkt waren sich alle einig und die drei verbrachten den Rest der Wartezeit damit, die kühlsten Orte von Octavia aufzulisten und sich vorzustellen, wie schön es dort gerade wäre.

Ein Gongschlag verkündete, dass der Rat und die Feen auf dem Weg zurück zum Saal waren. Tamira und Arden gingen wieder auf ihre Plätze und warteten gespannt, bis die Ratsälteste Avena das Urteil verkündete.

»Oliver Anderson aus der äußeren Welt, soweit wir beurteilen können, bist du ohne böse Absichten nach Octavia gekommen. Dir stehen daher zwei Möglichkeiten offen. Du kannst dich entscheiden, Octavia sofort zu verlassen. In diesem Fall werden wir alle deine Erinnerungen an Octavia löschen und dich auf einer kleinen Insel in der äußeren Welt absetzen. Die Insel wird oft von Frachtschiffen passiert. Somit stehen die Chancen gut, dass du innert kürzester Zeit gerettet wirst. Du kannst dich aber auch dazu entschließen, vorerst hierzubleiben. Sollte dies deine Entscheidung sein, so würden wir uns in einem knappen Jahr am längsten Tag wieder hier treffen. Wir können dann erneut beurteilen, ob dein Aufenthalt in Octavia weiterhin erwünscht ist. Hast du deine Möglichkeiten verstanden?«

Oliver nickte zögerlich.

»Gut, und wie lautet deine Entscheidung?«, fuhr die Ratsälteste Avena sogleich fort.

Oliver war von der Frage offensichtlich überrumpelt und Tamira konnte es ihm nachfühlen. Sie hatte ebenfalls erwartet, dass man ihm zumindest etwas Bedenkzeit für seine Entscheidung zugestehen würde.

Oliver richtete sich unter dem harten Blick der Ratsältesten langsam auf. »Ich… Nun… Ich glaube, ich…«, fing er zögerlich an und holte dann tief Luft. »Ich würde gerne vorerst hierbleiben.«

Ein Raunen ging nach seiner Antwort durch die Zuschauermenge und einige Leute klatschten Beifall. Elana warf Oliver einen überraschten Blick zu und die Ratsälteste Avena wirkte nur mäßig begeistert ab dieser unerwarteten Entscheidung.

»Gut, so sei es«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Aber sei gewarnt, dass wir dich im Auge behalten werden.« Sie richtete sich an Elana. »Wer ist der Bürgermeister von Ostwald?«

»Ostwald ist Teil der nördlichen Waldgebiete«, antwortete Elana. »Es gehört daher in die Zuständigkeit der Bürgermeister Silvia und Silvan von Nordwald.«

»Dann liegt es an ihnen zu entscheiden, wo er untergebracht werden soll. Elana, bringe ihn bitte so schnell wie möglich nach Nordwald. Die Versammlung ist hiermit beendet.«

Avena und die anderen Ratsmitglieder erhoben sich. Arden hatte sich bei ihren letzten Worten mit vielsagendem Blick zu Tamira umgedreht. Die Bürgermeister Silvia und Silvan von Nordwald waren ihre Eltern. Es schien nun ganz so, als ob sie sich den steinlosen Mann der äußeren Welt doch noch genauer anschauen konnten.

Kapitel 2 - Arden

Die Hitze vor dem Rathaus war erdrückend. Zudem standen nach wie vor hunderte von Leuten auf dem Vorplatz, in der Hoffnung, doch noch einen Blick auf den steinlosen Mann zu werfen. Da seine Eltern nun für Oliver zuständig waren, begann Arden ebenfalls, sich für ihn verantwortlich zu fühlen.

»Ich denke, wir sollten Elana unsere Hilfe anbieten«, schlug er mit Blick auf die Menschenmenge vor. »Der arme Mann wird ansonsten bereits beim Verlassen des Rathauses von all den Leuten zerquetscht werden. Wir könnten Elana vorschlagen, sie nach Nordwald zu begleiten. Mir ist ehrlich gesagt jede Ausrede recht, um ein paar Tage zu unseren Eltern in den kühlen Wald zu fahren.«

Tamira war sofort einverstanden und schaute sich nachdenklich auf dem Platz um. »Wenn ich Elana wäre, würde ich mit Oliver noch eine Weile im Rathaus warten und erst später durch einen Hinterausgang verschwinden.«

Arden nickte und wenig später trafen sie in einem der Seitengänge tatsächlich auf Elana und Oliver. Wie zu erwarten war, wurde dieser von einer kleinen Schar der Zuschauer aus dem Ratssaal belagert.

»Ist es wahr, dass die Menschen in der äußeren Welt ihre Seele in viereckigen Kästchen herumtragen?«, fragte ein älterer Mann.

Zur gleichen Zeit versuchte ein kleines Mädchen Olivers Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie wollte wissen, wie es die Menschen geschafft hatten, die metallenen Vögel zu zähmen. Arden ging auf Elana zu, die ihn sofort erkannte.

»Arden von Nordwald, lange ist es her«, sagte sie lächelnd. »Ich bin wirklich froh, dich hier zu sehen. Und dies ist wohl deine Schwester?«

Tamira nickte freundlich und unterbreitete Elana mit leiser Stimme ihren Plan.

»Wir möchten euch unsere Hilfe anbieten und begleiten euch gerne zu unseren Eltern. Aber erstmals braucht ihr wohl einen sicheren Ort hier in der Stadt. Unsere Wohnung ist nur ein paar Straßen entfernt. Wenn wir geschickt vorgehen, wird keiner der Schaulustigen wissen, dass Oliver dort ist.«

Elana stimmte dankend zu und stellte den beiden Oliver vor. Dieser schien mit der ganzen Situation etwas überfordert zu sein, begrüßte Arden und Tamira aber dennoch herzlich. Arden fand ihn auf Anhieb sympathisch und war erneut überrascht, wie wenig er sich von ihnen unterschied. Kurz darauf schafften sie es, Oliver von der Menge fortzureißen, nachdem er auch noch die letzte Frage, ob es Elefanten tatsächlich gibt, erfolgreich geklärt hatte.

Der Wachtmeister von Ostwald hatte Oliver für die Reise nach Stonetown die Augen verbunden. Somit sah Oliver die Stadt auf dem Weg zu ihrer Wohnung zum ersten Mal und konnte seine Begeisterung nur schwer verstecken. Vor allem die hohen, steinernen Türme neben dem Rathaus beeindruckten ihn. Scheinbar hielt er sie für eine Art Burg oder Festung. Arden brachte es nicht übers Herz, ihm zu erklären, dass es sich dabei bloß um Getreidesilos handelte.

Glücklicherweise erreichten sie unbemerkt ihre Wohnung. Dort angekommen betrachtete Oliver voller Bewunderung die Leuchtfalter. Diese warteten an der Decke darauf, dass es dunkel wurde und sie wieder nach ihrem Licht gefragt wurden. Auch die kleinen Feuerkäfer im Küchenherd schienen ihm fremd zu sein. Arden begann sich zu fragen, wieso die Menschen in der äußeren Welt zwar metallene Vögel bauen konnten, aber dabei nicht einmal die simpelsten Hilfsmittel für Licht und Wärme kannten. Er nahm sich vor, Oliver bei Gelegenheit danach zu fragen. Tamira bot den Gästen Honigkuchen an und Arden stellte erfreut fest, dass auch Oliver dem Waldhonig ihrer Eltern nicht widerstehen konnte.

»Ich kann gar nicht genug betonen, wie dankbar ich euch bin«, sagte Oliver aufrichtig zwischen zwei Stück Kuchen. »Zumindest in meiner Welt ist es nicht selbstverständlich, dass man einen Fremden so umsorgt. Ich weiß es sehr zu schätzen.«

»Keine Ursache«, erwiderte Arden lächelnd. »Und ich muss zugeben, dass wir vermutlich alle nicht ganz uneigennützig handeln. Es verirren sich nur selten Menschen aus der äußeren Welt nach Octavia und es ist ein Vergnügen, dich kennenzulernen.«

»Wie kommt es, dass ihr hier in Octavia verborgen vom Rest der Welt lebt?«, fragte Oliver.

»Das ist eine längere Geschichte«, begann Tamira zu erklären. »Die Legenden besagen, dass es vor über tausend Jahren einen großen Krieg zwischen mehreren Völkern gab. Alle Beteiligten versuchten dabei, ihr Territorium zu vergrößern. In Folge wurden abertausende von Leuten aus ihrem Zuhause vertrieben und machten sich in Schiffen auf die Suche nach einer neuen Heimat. Unter den Vertriebenen waren auch die Feen, die vorher in einem eigenen Gebiet abseits der Menschen gelebt hatten. Mit den eroberungsfreudigen Menschen alleine wären sie sicher zurechtkommen, aber ihr Gebiet wurde gleichzeitig von einer immensen Naturkatastrophe heimgesucht. Am Ende blieb ihnen daher nur noch die Flucht übrig. Octavia ist so weit von anderen Landmassen entfernt, dass es mit den damaligen Booten eigentlich unmöglich war, hierher zu gelangen. Die fliehenden Feen und Menschen schlossen aber einen Pakt. Die Menschen steuerten ihre handwerklichen Fähigkeiten bei und die Feen ihre Magie. Mit so vereinten Kräften schafften sie es sicher bis ans Ufer von Octavia. Sie ließen sich hier nieder und als Dank für die Hilfe der Menschen entschieden die Feen, einen Teil ihrer Magie mit diesen zu teilen. Deshalb erhalten hier alle kurz nach ihrer Geburt einen Seelenstein überreicht, der gewisse Kräfte der Feen enthält.«

Bei diesen Worten tippte sie auf den grünen Stein in ihrer Stirn und Oliver musterte diesen fasziniert.